eReader zum Kurzgeschichten-Wettbewerb von "Freunde fürs Leben e.V."

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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“

Sagen die Anderen Nora Gormanns

Selbstbewusst scharwenzelt der Herbst durch die Straßen und streichelt den

hohen Gebäuden gönnerhaft die Köpfe, wie ein Herrchen seinen gehorsamen Schoßhunden. Erste Blätter haben sich schon ins Gewand des gegen Ende neigenden Jahres geworfen und in einem Tanz entlang der Bordsteinrillen verloren. Der Herbst mag, wie sie ihm bedingungslos folgen – ganz gleich, welchem Winter er sie auch ausliefert. In der Buchhandlung scheint es nur geringfügig wärmer zu sein als draußen. Einem Frösteln nachgebend, zieht die junge Frau instinktiv den Kopf tiefer zwischen die Schultern. In geübter Manier hält sie ihr Buch so geschickt, dass sich ihre Finger überlappen und gegenseitig Wärme spenden. Hinter den gläsernen Fensterfronten verabschiedet sich der späte Nachmittag allmählich in den Feierabend. Um sie herum ist es still; in dieser Abteilung ist es das immer. Der junge Mann wird von ihrer Wahrnehmung bereits als Fremdkörper eingestuft, lange bevor sie ihn überhaupt zu Gesicht bekommen hat. Dabei beschränkt sich sein Dasein zunächst auf eine Gestalt hinter dem Regal, vor dem sie steht. Eine sich langsam, aber dynamisch bewegende Gestalt. Da hat sich jemand in der Abteilung geirrt, möchte sie ihm durch die Bücher hindurch hämisch zuflüstern, auf dass er ertappt herumwirbelt, sich seiner selbst bewusst wird und die Beine in die Hand nimmt. Vorerst hält sie sich aber geschlossen. Er kommt derweil am Ende des Ganges an, vor einer weiteren Bücherwand, die ihn wie an einer stark befahrenen Straße nach rechts, nach links und wieder nach rechts schauen lässt. Nur sich umdrehen, das tut er nicht. Er hat die einzige Anwesende offenbar nicht bemerkt und sie amüsiert das glatt. Sein Profil ist vorbildlich und kennt das Problem einer Charakternase ebenso wenig wie das mangelnder Ausstrahlung. Der Rucksack baumelt leger wie ein gottgegebenes Accessoire über seiner rechten Schulter. Instinktiv tastet ihr Blick die Etage ab; sucht die Traube an Studenten, aus der er gepurzelt sein muss. Denn einen wie ihn, den gibt es nicht alleine. Den gibt es nur in Gruppen: morgens in der Vorlesung, mittags in der Kantine und abends auf dem Trainingsplatz oder im Club. Sport oder Sportmedizin kommen ihr spontan in den Sinn, als sie sein Kreuz genauer betrachtet. Alles an ihm scheint so symmetrisch, so ideal aufeinander abgestimmt und in sich gefestigt, dass sie ihn augenblicklich davonjagen möchte. 50

Freunde fürs Leben e.V. 2011


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