UN 2021-2

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Wer ist mein Nächster? Nachdenken über Nächstenliebe Nächstenliebe hat im Ethos des Christentums einen sehr hohen Stellenwert, der von der Haltung Jesu abgeleitet wird. Dabei hat sich Jesus in der meistzitierten Bibelstelle auf die jüdische Tora bezogen: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin JHWH.“ So steht es im Buch Levitikus (19,18b). Der Evangelist Lukas beschreibt die Szene folgendermaßen (Lk 10,25ff): „Ein Gesetzeslehrer stand auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben! Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?“ Jesus beantwortet diese Frage mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Der Nächste dessen, der unter die Räuber gefallen war, ist einer, der zufällig vorbeikommt. Dieser Fremde ist der einzige, den die Notlage bewegt, selbstlos zu helfen.

wendigkeit ‚not to get involved‘, und so können heute gerade in den größten Großstädten Raub, Mord und Vergewaltigung bei hellem Tage und auf dicht belebten Straßen vor sich gehen, ohne dass ein ‚Passant‘ einschreitet.“

Was könnte mich so betroffen machen, dass ich mehr tue, als 5 Euro für Adveniat zu spenden? In einem Taschenbuch, das mir nach fast fünfzig Jahren wieder in die Hände kam, gibt der Verhaltensforscher Konrad Lorenz folgende ernüchternde Beschreibung1, die mich wegen ihrer Aktualität beeindruckt: „Sicherlich trägt das Zusammengepferchtsein von Menschen in den modernen Großstädten einen großen Teil der Schuld daran, wenn wir in der Phantasmagorie der ewig wechselnden, einander überlagernden und verwischenden Menschenbilder das Antlitz des Nächsten nicht mehr zu erblicken vermögen. Unsere Nächstenliebe wird durch die Massen der Nächsten, der Allzunahen, so verdünnt, dass sie schließlich nicht einmal mehr in Spuren nachweisbar ist. Wer überhaupt noch herzliche und warme Gefühle für Mitmenschen aufbringen will, muss sie auf eine geringe Zahl von Freunden konzentrieren, denn wir sind nicht so beschaffen, dass wir alle Menschen lieben können, so richtig und ethisch die Forderung ist, dies zu tun. Wir müssen also eine Auswahl treffen, das heißt, wir müssen uns so manche andere Menschen, die unserer Freundschaft gewiss ebenso würdig wären, gefühlsmäßig ‚vom Leibe halten‘. ‚Not to get emotionally involved‘ ist eine der Hauptsorgen mancher Großstadtmenschen. Diesem, für keinen von uns ganz vermeidbaren Verfahren haftet aber bereits ein böser Hauch von Unmenschlichkeit an… Geht diese absichtliche Abschirmung gegen menschliche Kontakte weiter, so führt sie… zu jenen entsetzlichen Erscheinungen der Teilnahmslosigkeit, von denen die Zeitungen uns alltäglich berichten. Je weiter die Vermassung der Menschen geht, desto dringender wird für den einzelnen die Not-

Als Studenten haben wir halb scherzhaft und halb ernst gesagt, dass die Übernächstenliebe doch viel leichter sei, und es stimmt ja auch: Wir spenden anonym, scheuen uns aber, der Hartz-IV-Familie nebenan konkret zu helfen. Warum? Vielleicht weil wir die Bilder des Elends der verhungernden Kinder im Jemen, der Familien in den zerbombten Städten in Syrien und sogar der Migranten auf Lesbos leichter verdrängen

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