KJK 4 2016_Komplettausgabe

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Kinder jugend

WolfGaNG GrooS Ein Kinderbuch-Klassiker kommt ins Kino. Anlass für ein Gespräch mit Wolfgang Groos, dem Regisseur von „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“.

Film

„WillkommeN im kiNo!“

Korrespondenz

GroSSe NameN, kleiNe ZuSchauer

04 2016

Von Fatih Akin bis Andreas Dresen: Immer mehr renommierte Regisseure drehen Kinofilme für Kinder und Jugendliche.

Regelmäßige Beilage des FILMDIENST www.filmdienst.de

Film dienst

InfoS

Vielen Flüchtlingen, vor allem Kindern und Jugendlichen, bietet das Kino ein Fenster zur Welt. Über die Chancen der Filmarbeit mit Geflüchteten.

Kuratorium junger deutscher Film Förderverein deutscher KinderFilm aKademie Für Kindermedien stiFtung lesen


DER SUNDANCE FESTIVAL HIT

AB 3. NOVEMBER

IM KINO

“CHARMANT” KINO-ZEIT.DE

“EINE SCHONUNGSLOS CHARMANTE DRAMÖDIE”

“WARMHERZIG” NEW YORK POST

“BISSIG UND HERZLICH” ROLLING STONE

VANITY FAIR

.MORRISAUSAMERIKA.DE

WWW

/MORRISAUSAMERIKA


Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_04/2016

Editorial

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Kino lesen!

Zwei Jahre „Neue“ KJK

Foto: Susanne Duddeck

Foto: UPI

Wenn Du blinzelst Im Februar 2015 gab es die erste „neue“ „Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz“ als FILMDIENST-Beilage. Seitdem erschienen nun zwei Jahrgänge, insgesamt acht Ausgaben, in denen wir das Geschehen um Filme für ein junges Publikum begleiteten, getragen von der Hoffnung, dass sich der „Zuspruch für Kinder- und Jugendfilme auch mit publizistischen Mitteln befördern ließe“ (Editorial 1/15). Vieles ist seitdem geschehen. Der Kinderfilm in Deutschland hat einen deutlichen Aufschwung erfahren (nicht nur dank Rico und Oskar), er feiert kommerziell bemerkenswerte Erfolge, und auch engagierte Stoffe fassen Fuß, dank der Initiative „Der besondere Kinderfilm“. Festivals öffnen derweil Fenster in die Welt, verändern sich sogar selbst mit neuen partizipativen Ansätzen. Vor allem der Bildungsarbeit ist eine bedeutsame „Herkulesarbeit“ erwachsen: die Kommunikation mit jungen Geflüchteten. Bei alldem blieb unser Schwärmen für Kinderfilm, die Lust an Entdeckungen, das Staunen angesichts von Ereignissen, wie sie uns aktuell „Kubo“ beschert: spannendes (Genre-)Kino mit großer emotionaler Tiefe. „Das Sehen und die Wahrhaftigkeit sind eng verbunden“, schreibt Stefan Stiletto in der Kritik. „Wer jedoch blind ist, der verschließt sich vor dem Mitgefühl und vor der Schönheit des Lebens. ‚Wenn du blinzeln musst, tu es jetzt‘, heißt es deshalb programmatisch.“

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Horst Peter Koll, Chefredakteur

Gegründet 1980 von Christel und Hans Strobel. Die vorliegende Ausgabe ist Nr. 148-4/2016 im 37. Jahrgang.

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Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_04/2016

Inhalt

Debatte 6 Die Kategorie „Kinderfilm“ Von Bettina Henzler In Kürze 8 Aktuelle Infos & Meldungen

26 JUngeS licHt

eIn fIlm, auf Den wIr uns freuen 24 „Sieben Minuten nach Mitternacht“ Im fOKus 26 Große Namen, kleine Zuschauer Von Reinhard Kleber 30 Nur die Kamera steht tiefer Von Stefan Stiletto 32 Mobiles Kino in Spanien Von Antje Knapp 34 Integration (1): Kino darf kein Zwang sein! Von Holger Twele 36 Integration (2): Ins Kino gegangen, gelernt! Von Marguerite Seidel

34 integration

38 wallace & groMit

aKteure 38 Reihe: Den kenn‘ ich doch (8) Von Christian Exner 39 Reihe: Der persönliche Klassiker (8) Von Stefan Stiletto 40 Interview: Wolfgang Groos Von Uta Beth festIVal 42 doxs! Geschichten aus dem Leben Von Barbara Felsmann 43 LUCAS - Jung und cinephil Von Holger Twele 44 Schlingel - Alte Märchen, neue Tierarten Von Holger Twele 45 Festival-Entdeckungen Von Holger Twele, Katrin Hoffmann, Reinhard Kleber breVIer 46 Förderverein Deutscher Kinderfilm e.V. 48 Aktuelles Förderverein Deutscher Kinderfilm e.V. 50 stIftung lesen

40 wolfgang grooS

KuratOrIum junger Deutscher fIlm InformatIonen no. 76 52 Editorial: Fokus Dokumentarfilm Von Anne Schoeppe & Andreas Schardt 53 „Palastgeflüster“ – Unterhaltung für die ganze Familie 54 Besondere Dreharbeiten: „Sandmädchen“ Von Veronika Raila 58 Interview mit Sonia Kennebeck Von Reinhard Kleber 61 5 Filme… Von Stefan Ludwig 62 News & Meldungen 63 DVD-Tipps

32 Mobil in Spanien


Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_04/2016

Inhalt

KrItIKen (KInO & DVD) VOrschule 10 Louis & Luca und die Schneemaschine Von Katrin Hoffman 6+ 11 Störche - Abenteuer im Anflug Von Thomas Lassonczyk 12 Pettersson und Findus: Das schönste Weihnachten überhaupt Von Katrin Hoffmann 13 Burg Schreckenstein Von Reinhard Kleber 14 Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt Von Barbara Felsmann 15 Der Geheimbund von Suppenstadt Von Anja Flade-Kruse 10+ 16 Kubo - Der tapfere Samurai Von Stefan Stiletto 17 Tini: Violettas Zukunft Von Natalia Wiedmann 18 Allein gegen die Zeit Von Thomas Lassonczyk 19 Morris aus Amerika Von Kirsten Taylor 17 In Kürze

12 petterSSon UnD finDUS

23 SparrowS

14+ 20 Radio Heimat Von Ulrich Kriest 21 Ein Lied für Nour Von Kathrin Häger 22 Die Mitte der Welt Von Horst Peter Koll 23 Sparrows Von Heidi Strobel 15 Hinweise auf weitere Filmstarts

15 Der geHeiMbUnD Von SUppenStaDt

Impressum Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz (KJK)

dreipunktdrei mediengesellschaft mbH, Heinrich-brüning-Straße 9, 53113 bonn (0228) 26 000-163 (redaktion), (0228) 26 000-257 (anzeigen), (0228) 26 000-251 (Vertrieb) Die KJK erscheint viermal im Jahr als ständige beilage des filMDienSt geschäftsführer: theo Mönch-tegeder chefredakteur: Horst peter Koll redaktion: Stefan Stiletto layout: wolfgang Diemer, frechen anzeigenverkaufsleitung/Verantwortlich für den inhalt der anzeigen: Martin werker (werker@dreipunktdrei.de) Vertriebs- und Marketingleitung: Urs erdle (erdle@dreipunktdrei.de) bestellungen und anfragen: vertrieb@filmdienst.de e-Mail: redaktion@filmdienst.de, internet: www.filmdienst.de

22 Die Mitte Der welt

gefördert durch:

16 KUbo

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„Jacquot“ von Agnès Varda (Frankreich 1991) erzählt die Kindheitserinnerungen des französischen Regisseurs Jacques Demy


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Debatte: Was ist Kinderfilm?

Die Kategorie »Kinderfilm« Wer über Kinderfilme spricht, hat bereits bestimmte Vorstellungen und Erwartungshaltungen im Kopf. Diese werden zum Problem, wenn sie zu stark normierend sind – und dadurch einem kindlichen Publikum Erfahrungen mit Filmen nicht ermöglichen, sondern vielmehr ver-

Foto: Plakat zu “Jacquot” von Agnès Varda/ciné-tamaris

schließen.

Von Bettina Henzler

„Kinderfilm“ ist eine normative Kategorie: Sie basiert auf Vorannahmen über Kinder, denen bestimmte Sehgewohnheiten, Vorlieben, Wahrnehmungs- und Verstehensweisen zugeschrieben werden. Diese Annahmen haben auf die Auswahl und Produktion von Filmen für Kinder Einfluss, sie geben oftmals sogar Plotstrukturen und Ästhetiken vor. Aber es ist zu bezweifeln, dass solche normativen Vorgaben für kreative Prozesse förderlich sind. In der Praxis führen sie oft dazu, dass wohlmeinende Botschaften in die gerade „modernen“ Konventionen filmischen Erzählens gekleidet werden. Ebenso problematisch sind die Auswirkungen auf die Auswahl von Filmen für Kinder. So besteht die Gefahr, dass Filme, die nicht etablierten Vorstellungen des Kinderfilms entsprechen, für Kinder häufig gar nicht in Betracht gezogen werden – beispielsweise nicht-narrative Genres wie Experimental- oder Dokumentarfilme, Filme

aus anderen Zeiten, mit ungewohnten ästhetischen Formen, Filme, die rätselhaft bleiben und nicht in einfache Botschaften übersetzbar sind. Damit wird das bildende Potenzial von Filmen, welche aufgrund ihrer audiovisuellen Form Seherfahrungen ermöglichen, die nicht (allein) über das Verstehen verlaufen, und welche erst in ihrer ästhetischen Vielfalt auch eine Vielfalt an Welt-Anschauungen eröffnen, ausgeklammert. Unbeachtet bleibt zudem die Erkenntnis zeitgenössischer Erziehungswissenschaft, dass Fremdheitserfahrung – also die Konfrontation mit dem, was ungewohnt und nicht sofort verständlich ist, was Fragen nicht beantwortet, sondern aufwirft – Bildung erst ermöglicht. Die Kategorie des Kinderfilms scheint mir darüber hinaus noch einen weiteren Effekt zu haben: Sie verleitet dazu, „Kinderfilme“ als „nicht für Erwachsene“ einzustufen – was in der Auswertung dazu führen mag, dass es beispielsweise Autorenfilme mit Kindern in den Hauptrollen schwer haben, ein erwachsenes Publikum zu finden. Auch in Frankreich gab es in den 1970er-Jahren Debatten um die Produktion und Auswahl qualitativ hochwertiger Filme für Kinder. Allerdings entschied man sich von Seiten der öffentlichen Filmförderung CNC und des Programmkinoverbandes AFCAE dafür, nicht in die Produktion von Filmen für Kinder, sondern in den Vertrieb und die Vermittlung von Filmen aus aller Welt zu investieren, die auch (und nicht ausschließlich) für Kinder geeignet sind. Dementsprechend hat sich die Kategorie des Kinderfilms dort nicht in gleichem Maße wie in Deutschland durchgesetzt. Das Äquivalent „film pour enfants“ (Film für Kinder) ist offener und weniger besitzanzeigend als das deutsche „Kinderfilm“ oder auch das englische „children’s film“. Und es fordert einen kontextualisierenden Zusatz (etwa: Filme, die für Kinder produziert, ausge-

wählt, geeignet sind), anstatt eine Eigenschaftsbestimmung zu suggerieren. Während in Deutschland auch die Filmbildung an den Schulen gerade bei jüngeren Kindern auf einschlägige Kinderfilmproduktionen setzt, wird in Frankreich seit Ende der 1980er-Jahre Filmbildung anhand einer Vielfalt von Werken der internationalen Filmgeschichte gefördert – auch in den Grundschulen. Es mag daher auch kein Zufall sein, dass in Frankreich eine bemerkenswerte Anzahl an Autorenfilmern mit Kindern in Hauptrollen gearbeitet haben, von François Truffaut und Agnès Varda über Maurice Pialat und Jacques Doillon zu Sandrine Veysset – hier scheint Kindheit ein Thema zu sein, das alle angeht, nicht ausschließlich Kinder, Eltern und Pädagogen. Werden Kinder nicht gerade dann ernst genommen, wenn Regisseure sich im Produktionsprozess mit Kindheit befassen? Wenn sie sich in der Arbeit mit individuellen Kindern als Darstellern und mit der Erinnerung an die eigene Kindheit auseinandersetzen und dabei die passenden Formen und ästhetischen Mittel erst suchen – anstatt von bewährten Mustern von Kinderfilmen oder Annahmen über ein „normiertes“ kindliches Publikum auszugehen? In diesem Sinne plädiere ich dafür, zwischen dem Kinderfilm (als einem für Kinder als Zielgruppe produzierten Film), und Filmen, die Kindern gezeigt werden können, zu unterscheiden. Das könnte dazu beitragen, den Horizont dessen zu erweitern, was Kinder heute sehen und was ihren Blick auf das Kino und die Welt prägt. • Bettina Henzler Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Bremen, Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik. Derzeit arbeitet sie an dem DFG-geförderten Forschungsprojekt „Filmästhetik und Kindheit“. Seit 1998 ist sie zudem freiberuflich als Autorin, Referentin und Projektleiterin im Bereich der Filmvermittlung tätig, unter anderem von 2003 bis 2011 als Projektleiterin von Cinéfête. Sie hat zu den kulturgeschichtlichen und theoretischen Kontexten der Filmvermittlung von Alain Bergala promoviert („Filmästhetik und Vermittlung“, Marburg 2013).

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In Kürze

„Der lange Weg nach Norden“

Preise & Auszeichnungen

DrehBuchPreis

Internationaler Preisregen

Kindertiger 2016

Mit „LUCAS“ und „Schlingel“ fanden im Herbst zwei große Kinder- und Jugendfilmfestivals in unmittelbarer zeitlicher Nähe statt. Eine Auswahl der wichtigsten Preisträger:

Bereits zum neunten Mal wird in diesem Jahr der Drehbuchpreis „Kindertiger“ von Vision Kino und KiKA verliehen, mit dem das Drehbuch eines im vergangenen Jahr im Kino gelaufenen Kinderfilms ausgezeichnet wird. in diesem Jahr basiert jedes der drei nominierten Drehbücher auf einer erfolgreichen literarischen Vorlage. Für die fünfköpfige Kinderjury zur Auswahl stehen die Drehbücher zu „ritter Trenk“ von gerrit hermans (nach dem roman „Der kleine ritter Trenk“ von Kirsten Boie), zu „heidi“ von Petra Volpe (nach den romanen von Johanna spyri) sowie zu „rico, Oskar und der Diebstahlstein“ von Martin gypkens (nach dem roman von Andreas steinhöfel). Die Preisverleihung findet im rahmen des 6. Vision Kino Kongresses am 7. Dezember in erfurt statt.

Beim „LucAs“-Langfilmwettbewerb wurde in der Kategorie 8+ der deutsche Beitrag „Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel“ von Florian schnell ausgezeichnet, in der Kategorie 13+ „sparrows“ („Prestir“) von rúnar rúnarsson aus norwegen (Kritik in dieser KJK). Der „sir Peter ustinov Award“ für eine „Außergewöhnliche cineastische Leistung“ ging an Leyla Bouzid für „Kaum öffne ich die Augen“ („À peine j’ouvre les yeux“), der Preis der ecFA an die türkische Produktion „rauf“ von Bariş Kaya und soner caner. Beim „schlingel“ wurden im Kinderfilmwettbewerb das tschechische Märchen „Kronprinz“ („Korunní princ“) von Karel Janák und „gelbe Blumen auf grünem gras“ („Yellow Flowers on the green grass“/„Tôi thay hoa vàng trên co xanh“) von Victor Vu aus Vietnam ausgezeichnet. Preisträger im Juniorfilmwettbewerb waren die us-thailändische co-Produktion „Der Büffelreiter“ („Buffalo rider“) von Joel soisson, „Komm mit!“ („Pojdi z mano“) aus slowenien von igor Šterk sowie Taika Waititis „hunt for the Wilderpeople“ (aus neuseeland. im Jugendfilmwettbewerb gingen Preise an „Das bin ich, emily“ („My name is emily“ von simon Fitzmaurice aus irland. im Animationsfilmwettbewerb wurde die französischdänische co-Produktion „Der lange Weg nach norden“ („Tout en haut du monde“) von rémi chayé prämiert, den Preis der FiPresci-Jury erhielt die us-Produktion „The eagle huntress“ von Otto Bell, den ecFA-Preis „Verdammtes glück“ („Les enfants de la chance“) von Malik chibane aus Frankreich. Auf mehreren Festivals wurde zudem die Andreas-steinhöfel-Adaption „Die Mitte der Welt“ von Jakob M. erwa ausgezeichnet (Kritik in dieser Ausgabe), u.a. als bester Jugendfilm auf dem Marburger Kinder- und Jugendfilmfestival „Final cut“ sowie auf der Leipziger Filmkunstmesse.

„Kaum öffne ich die Augen“

PersOnALie

Neue Geschäftsführerin Seit Oktober ist Nicola Jones Geschäftsführerin der Kindermedienstiftung „Goldener Spatz“ und damit zugleich die neue künstlerische Leiterin des jährlich in Gera und Erfurt stattfindenden gleichnamigen Kindermedienfestivals. Das Thema Kinderfilm war bereits während des studiums ein schwerpunkt der Kommunikationsund Medienwissenschaftlerin, die zuletzt bei der Filmförderungsanstalt als referentin des Vorstands und Ansprechpartnerin für internationale Filmbeziehungen tätig war. nicola Jones tritt die nachfolge von Margret Albers an.


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In Kürze

Termine

„Moritz aus der Litfaßsäule“

nAchruF LiTerATur

Von Mäusen und Zeichnern Der Name „Walt Disney“ ist der Inbegriff des Zeichentricks und weder aus der Kinderfilm- noch aus der Animationsfilmkultur wegzudenken. nun liegt beim TAschen Verlag das von Daniel Kothenschulte akribisch zusammengestellte (erste) „Walt Disney Filmarchiv“ vor, ein prachtvoll illustriertes, mächtiges Buch in Übergröße, das die geschichte des Animationsstudios über Kurzund Langfilme von 1921 bis ins Jahr 1968 verfolgt und sich auf die suche danach begibt, was den von so vielen Künstlern geprägten Disney-stil ausmacht. Man kann die sachkundigen Texte in diesem Buch lesen und sich in die geschichte klassischer oder wenig bekannter Disney-Filme und -projekte vertiefen. Vor allem aber kann man sich überwältigen lassen von all den entwurfszeichnungen und skizzen, den hintergrundzeichnungen, storyboards und Fotos von den Dreharbeiten. eine visuelle enzyklopädie für Disney- und Animationsfilmfans, zum Blättern und zum staunen. Stefan Stiletto „Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 1921–1968“, herausgegeben von Daniel Kothenschulte, TAschen Verlag, 620 seiten, 150 euro.

Rolf Losansky 18.2.1931-15.9.2016 „Kinder – die sind wie Frühling und Sonne und Blumen und Leben überhaupt, man muss auf sie aufpassen.“ und: „ich möchte Filme über Menschen machen, die es schwer im Leben haben. Aber von der heiteren seite gesehen.“ Mit solchen sätzen beschrieb rolf Losansky seine Ansprüche an die Arbeit als Kinder- und Jugendfilmregisseur und diese haltung spiegelte sich in allen seinen fast zwanzig spielfilmen wider. Losanskys Filme sind heiter, aber nie banal, sie geben den Träumen raum, ohne die schwierigkeiten der realität zu ignorieren, und sie vermitteln Lebensorientierung, ohne einen erhobenen zeigefinger spüren zu lassen. Beginnend mit seinem zweiten Film „Die suche nach dem wunderbunten Vögelchen“ (1964) hat er Maßstäbe für den deutschen Kinderfilm gesetzt, die ihre gültigkeit auch zukünftig noch lange behalten werden. Wer rolf Losansky bei der Arbeit erleben konnte, wer ihm in Filmgesprächen oder auch am Biertisch begegnete, der war schnell von dessen optimistischer grundhaltung eingenommen. selbst in zeiten höchster Anspannung sorgte sein trockener humor für entlastung und damit für ein konstruktives umgehen mit herausforderungen. und er übernahm immer wieder Verantwortung für andere. so, als er nach der deutschen Wiedervereinigung 1991 als „rangierer, der zwei züge zusammenzuführen hatte“, wie er selbst sagte, die Präsidentschaft des Festivals „goldener spatz“ übernahm und damit die Voraussetzung dafür schuf, dass die traditionsreiche Veranstaltung in Thüringen noch heute Bestand hat. im september 2016 ist der regisseur nach schwerer Krankheit verstorben. Klaus-Dieter Felsmann

doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche Duisburg, 7.11.-13.11. www.do-xs.de Cinepänz Köln, 12.11.-20.11. www.cinepaenz.de Internationales Kinderfilmfestival Wien Wien, 12.11.-22.11. www.kinderfilmfestival.at KUKI – Internationales Kinder- und Jugendkurzfilmfestival Berlin Berlin, 13.11.-20.11. www.interfilm.de/kuki2016 YOUKI – Jugend Medien Festival Wels, 22.11.-26.11. www.youki.at Uelzener Filmtage – Niedersächsisches Schüler- und Jugendfestival uelzen, 25.11.-27.11. www.uelzener-filmtage.de Stuttgarter Kinderfilmtage stuttgart, 6. 12.-11.12. www.stuttgarter-kinderfilmtage.de Vision Kino 16: Film – Kompetenz – Bildung (Kongress) erfurt, 7.12.-9.12. www.visionkino.de Internationale Filmfestspiele Berlin (Sektion „Generation“) Berlin, 9.2.-19.2. www.berlinale.de

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Kritik Vorschule

Louis & Luca und die Schneemaschine Louis und Luca sind zwei sprechende, sich menschlich verhaltende Tiere. Gemeinsam mit dem Erfinder Alfie leben sie in einem kleinen Haus in einem norwegischen Ort namens Flåklypa – was so viel wie „Hintertupfingen“ bedeutet. Louis ist ein draufgängerischer, leicht angeberischer Vogel, eine Mischung aus Ente und Rabe, der immer mutig Alfies neueste Erfindungen ausprobiert und vor nichts Angst hat: ziemlich cool, aber auch ein wenig arrogant. Ganz im Gegensatz zu Luca, dem kleinen pessimistischen Herrn Igel. Seit ihm einst eine Sense die oberen Kopfstacheln weggesäbelt hat, lebt Luca ständig in Furcht und traut sich im Dunkeln nicht mehr nach draußen. Zusammen mit Alfie freuen sich die beiden Freunde auf Weihnachten und warten auf den ersten Schnee, der aber in diesem Winter einfach nicht kommen will. Auch für den ortsansässigen Zeitungsverleger Frederick Hansen ist das eine Katastrophe. Schon mehrmals hatte er Schneefall angekündigt, doch weil die Vorhersage jedes Mal falsch war, vertrauen ihm seine Leser nicht mehr. Nun erlebt seine Lokalzeitung eine Flaute sondergleichen. Ob Alfie für ihn eine Schneemaschine konstruieren und damit die ab 5

Zeitungsauflage retten kann? Natürlich kann er das. Aber schon bald steht das Dorf vor einem neuen Problem: Alfies Maschine verselbstständigt sich und produziert solche Schneemassen, dass ganz Flåklypa darunter zu ersticken droht. Nun schlägt Lucas Stunde, denn letztlich liegt es an dem ängstlichen Igel, dem Treiben nach allerlei rasanten Verwicklungen ein Ende zu bereiten. „Louis & Luca und die Schneemaschine“ ist ein liebevoll arrangierter Stop-Motion-Puppentrickfilm, der in Diarückblenden die Lebenslinien der drei Freunde vorstellt und deren Hintergrundschichte erzählt. Nicht zuletzt die bekannten Charaktereigenschaften von Louis und Luca machen es Kindern leicht, diese besser einzuordnen. Doch man kann sich nicht nur mit den drei Helden identifizieren. Auch der ehrgeizige Hansen trägt als Nebenfigur vertraute Züge. Das überschaubare Universum von „Louis & Luca“ ist einerseits zeitlos, andererseits rekurriert es ironisch auf unsere moderne Technik. Wenn Alfie an seiner alten Schreibmaschine „recherchiert“, greifen Arme von der Maschine aus ins Regal und wählen, analog zu Suchmaschinen, das richtige Buch aus; Alfies Telefon blättert in

Karteikarten, um auf Anhieb den richtigen Anrufer zu präsentieren. Derweil erinnert Alfies Erfinderkosmos in vielen Versatzstücken an die Welt von „Wallace und Gromit“, sowohl im harmonischen Zusammenleben von Mensch und Tier als auch im schöpferischen Geist, der durch die Geschichte weht. Nicht zuletzt entwickelt auch in „Louis & Luca“ eine Maschine ein Eigenleben, ganz ähnlich wie das auch die Konstruktionen des Erfinders Wallace gern tun. In diesem Fall gibt es neben der Schneemaschine noch einen durchtriebenen Reporterroboter, der auf Knopfdruck stets dieselben Fragen stellt, eine hintergründige Kritik am vorherrschenden Journalismus. Wir werden sehen, in welches Abenteuer sich die drei Freunde als nächstes stürzen. Denn die Geschichte mit Louis, Luca und Alfie geht weiter. „Louis & Luca: Das große Käserennen“ läuft derzeit bereits auf Festivals. Katrin Hoffmann

Auf dvd. SOLAN OG LUDVIG - JUL I FLAKLYPA Norwegen 2013. Produktion: Maipo Film AS. Regie: Rasmus A. Sivertsen. Buch: Karsten Fullu. Kamera: Janne Hansen, Morten Skallerud. Musik: Knut Avenstroup Hougen. Länge: 76 Min. (DVD). FSK: ab 0. Veröffentlichung: 27.10.2016. Anbieter: Universal. Empfohlen ab 5.


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Kritiken 6+

Störche – Abenteuer im Anflug der Titel lässt an eine Naturdokumentation im Stil von „die Reise der Pinguine“ (2004) denken. Dahinter aber verbirgt sich ein aufwändig produziertes CGI-Abenteuer, mit dem Studioriese Warner, der sich bisher auf das „Lego“-Franchise fokussiert hatte, auf dem Animationsfilmsektor mitmischen will. Tatsächlich hat „Störche – Abenteuer im Anflug“ trotz einer Geschichte, die durch diverse Nebenhandlungen immer wieder aus dem Rhythmus gebracht wird, einiges an Schauwerten, witzigen Szenarien und originellen Ideen zu bieten. Im Kern geht es um das gigantische Storchen-Imperium Cornerstone.com, das vor langer Zeit die Auslieferung von Babys gestoppt hat und ins wesentlich lukrativere Online-Versandgeschäft eingestiegen ist. Der vorbildhafte Storch Junior rechnet sich gute Chancen aus, auf der Karriereleiter nach oben zu fliegen, dann aber kommen ihm zwei Dinge in die Quere: das schusselige menschliche Waisenkind Tulip, das Junior eigentlich hätte feuern sollen, und ein zuckersüßer Säugling, der durch die versehentliche Wiederinbetriebnahme der Babyfabrik nun auf seine Zustellung wartet. In der Folge erlebt das ungleiche Trio ab 6

auf der Reise zur rechtmäßigen Familie des Wonneproppens haarsträubende Abenteuer, die jedes für sich für viel Amüsement sorgen und deren Höhepunkt ein Wolfsrudel darstellt, das sich weniger durch zähnefletschende Gefährlichkeit als erstaunliche Wandlungsfähigkeit auszeichnet. So können sich die wilden Tiere in kürzester Zeit in ein Schiff, ein U-Boot oder gar eine Hängebrücke transformieren. Ruht für einen Moment die Action, die ein atemberaubend hohes Tempo anschlägt, kommen die Ersatzeltern Junior und Tulip zum Zug, die mit „ihrem“ Baby typische Situationen junger Mamas und Papas wie Füttern, Wickeln oder In-den-Schlaf-wiegen durchleben. Da dies vorwiegend auf der Dialogebene stattfindet, sind hier insbesondere die Synchronsprecher gefragt. In der deutschen Fassung liefern sich Nora Tschirner und Sebastian Schulz einen unglaublich witzigen, in seiner emotionalen wie sprachlichen Vielfalt beispiellosen verbalen Schlagabtausch. Weiter aufgewertet wird die deutsche Version durch die markante Stimme von Klaus-Dieter Klebsch, der den mit herzallerliebsten runden Babyvögeln als Ballersatz golfenden Firmenchef spricht, und die Star-

Köche Frank Rosin und Nelson Müller, die als Alphawolf und Betawolf ebenfalls ein großartiges Dialogduell ausfechten. Allein der erfahrene Synchronsprecher Rick Kavanian schießt als Sidekick „Taube Nuss“ mit seinem manierierten irischen Akzent etwas übers Ziel hinaus. Das wiederum könnte man auch vom Regie-Duo Nicholas Stoller (wie in „Bad Neighbors“ zuständig für schräge Komik) und Doug Sweetland (leitender Animator bei „Cars“) behaupten. Besser hätten sich die beiden zuweilen dem Motto „Weniger ist mehr“ verschrieben, hätten die eine oder andere Figur weggelassen, nicht jeden Gag ausgereizt und auf den Nebenplot um ein gestresstes Elternpaar, das seinen Sohn vernachlässigt, verzichten sollen. Animationstechnisch ist „Störche – Abenteuer im Anflug“ auf höchstem Niveau, hinzukommen ein Soundtrack mit vielen Pop-Ohrwürmern und ein tränenreiches Happy End. Thomas Lassonczyk Im KIN0. STORKS 3D. USA 2016. Produktion: RatPac-Dune Ent./Warner Bros. Animation. Regie: Nicholas Stoller, Doug Sweetland. Buch: Nicholas Stoller. Musik: Jeff Danna, Mychael Danna. Schnitt: John Venzon. Länge: 87 Min. FSK: ab 0. Start: 27.10.2016. Verleih: Warner. Empfohlen ab 6.

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Kritiken 6+

Pettersson und Findus: Das schönste Weihnachten überhaupt Nach dem Erfolg des ersten „Pettersson und findus“ Realfilms aus dem Jahr 2012 („Pettersson & findus – Kleiner Quälgeist, große freundschaft“) kommt nun die zweite Adaption der genialen schwedischen Erfolgsbücher von Sven Nordqvist um den alten Pettersson und seinen pfiffigen Kater findus in die Kinos. Das Wichtigste vorweg: Ulrich Noethen spielt nicht erneut den alten Pettersson. Muss uns das traurig stimmen? Nein, überhaupt nicht, stand Noethen doch in der ersten Verfilmung immer ein wenig neben sich. Nun gibt Stefan Kurt den alten Zauselbart und fühlt sich sichtlich wohl in der Rolle. Um komplexe Weihnachtsvorbereitungen geht es in der Fortsetzung, die wieder von Ali Samadi Ahadi inszeniert wurde und sinnvollerweise die zwei Nordqvist-Bücher „Pettersson kriegt Weihnachtsbesuch“ und „Morgen, Findus, wird’s was geben“ zusammenfasst. Zunächst ist das kleine Pettersson-Haus vollkommen eingeschneit und als der Alte mit seinem Kater endlich einen Weihnachtsbaum holen könnte, verstaucht er sich auch noch den Fuß. Nichts scheint diesmal zu klappen. Könnte das Weihnachtsfest, auf das Findus sich schon ab 6

so sehr freut, womöglich ins Wasser fallen? Der sprechende Kater ist für Pettersson wie ein Kind und so verhält er sich auch. Nörgelnd, bittend, schimpfend und einschmeichelnd versucht er den Alten dazu zu bringen, sich hilfesuchend an die Nachbarn zu wenden – denn ohne Essen im Haus und ohne Weihnachtsbaum droht der Heilige Abend die absolute Katastrophe zu werden. Pettersson gilt bei den Nachbarn seit jeher als ein wenig verrückt, weil er mit seinem Kater spricht und auch als erfinderischer Tüftler, der merkwürdige Gegenstände wie etwa Skier für Findus konstruiert, nicht ganz ernst zu nehmen ist. Umso mehr erzählt dieser Film von Freundschaft, guter Nachbarschaft und Zusammenhalt, denn als es drauf ankommt, sind alle für den Alten da und feiern mit ihm wirklich das „schönste Weihnachten überhaupt“. Endlich gelingt es dem kauzigen Eigenbrötler, seine Zurückhaltung und Schüchternheit aufzugeben und die Hilfe dankbar anzunehmen. Das Universum dieser wunderbaren Bilderbücher lässt sich nicht leicht eins zu eins auf die Kinoleinwand übertragen, weil allein die Details der Zeichnungen nicht in die Realverfilmung übernommen werden können. Da

kamen die vier bislang entstandenen Zeichentrickfilme „Pettersson & Findus“ (1999), „Neues von Pettersson und Findus“ (2000), „Morgen, Findus, wird’s was geben“ (2005) und „Kuddelmuddel bei Pettersson & Findus“ (2009) dem Look des Nordqvist-Kosmos schon näher. Aber das, was die Kinder am meisten lieben, ist dank behutsam eingesetzter CGI-Effekte nah an den Büchern geblieben: Einerseits natürlich Findus, vor allem aber die Mucklas, jene kleinen Wesen, die nur der Kater sieht. Sie leben in ihrer eigenen Parallelwelt unter dem Dielenboden und stibitzen gern Dinge aus dem Haushalt. Fehlt bei Pettersson eine Schraube, holt Findus sie von den Mucklas wieder zurück. Mit viel Liebe zum Detail gelingt es Ahadi, die Welt dieser schwedischen Landidylle mitsamt ihrer Bewohner charmant und kurzweilig vor unseren Augen lebendig werden zu lassen. Katrin Hoffmann Im KIN0. PeTTeRSSON UND FINDUS: DAS SchöNSTe WeIhNAchTeN übeRhAUPT Deutschland 2016. Produktion: Tradewind Pic./Senator Film/ZDF. Regie: Ali Samadi Ahadi. Buch: Thomas Springer, nach den Büchern von Sven Nordqvist. Kamera: Mathias Neumann. Musik: Ali N. Askin. Schnitt: Andrea Mertens. Darsteller: Stefan Kurt (Pettersson), Marianne Sägebrecht (Beda Andersson), Max Herbrechter (Gustavsson). Länge: 82 Min. FSK: ab 0. Start: 3.11.2016. Verleih: Wild Bunch. Empfohlen ab 6.


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Kritiken 6+

millionenfach wurde die Kinderbuchreihe „Burg Schreckenstein“ bislang verkauft, die der Schriftsteller, Kabarettist und Schauspieler Oliver Hassencamp zwischen 1959 und seinem Tod im Jahr 1988 über das gleichnamige Jungeninternat geschrieben hat. Doch obwohl seit den 1970er-Jahren mehrere Hörspiele und Hörbücher (von Rufus Beck gelesen) produziert wurden, stand eine Filmadaption noch aus. Für diese hat der Autor Christian Limmer nun Elemente und Figuren aus mehreren der insgesamt 27 Bände kombiniert und den Stoff kräftig modernisiert. So kommen unter anderem Drohnen, Smartphones und PCs zum Einsatz. Die Schulnoten des elfjährigen Stephan lassen zu wünschen übrig. So beschließen seine getrennt lebenden Eltern, ihn auf ein Internat zu schicken. Stephan ist von der alten Burg zunächst nicht begeistert, wird jedoch nach bestandener Mutprobe schnell in den Rittergeheimbund aufgenommen, den seine Zimmergenossen Ottokar, Mücke, Strehlau und Dampfwalze gebildet haben. So ist er auch sofort ab 6

dabei, als die Jungs einen Streich gegen die eingebildeten Mädchen vom benachbarten Internat Rosenfels aushecken. Während der liberale Direktor Rex die wechselseitigen Streiche zwischen den Internaten gelassen sieht und der Graf der Burg ständig mit seinem Heißluftballon experimentiert, bringt die Disziplinlosigkeit der Jungen die strenge Rosenfels-Leiterin Dr. Horn in Rage. Das hält Bea, Inga und Alina vom Rosenfels aber nicht davon ab, es den „Schreckies“ mit eigenen Streichen ordentlich heimzuzahlen. Als bei einem Gegenschlag der Jungen ein schwerer Wasserschaden entsteht, müssen die Mädchen behelfsweise in die Burg umziehen. Die Jungen sind davon natürlich nicht begeistert und neue Konflikte vorprogrammiert. Bei der durchgreifenden Modernisierung ließen sich Limmer und Regisseur Ralf Hüttner („Vincent will meer“) von dem Gedanken leiten, dass auch heutige Jugendliche sich mit den Figuren, die ja schon in den 1950er-Jahren konzipiert wurden, identifizieren können. Dementsprechend spielt der anachro-

Burg Schreckenstein

nistische Ritterkodex der Bücher, in denen die Jungen Werte wie Fairness, Ehrlichkeit und Wahrheit hochhielten, kaum noch eine Rolle. An seine Stelle treten Team- und Sportgeist. Hüttner konnte in dem Film, der in Südtirol und Bayern gedreht wurde, ebenso an seine eigene Erfahrungen als Internatsschüler anknüpfen wie Jahrzehnte vor ihm Hassencamp, der seinerzeit Deutschlands größtes Internat, Schloss Salem am Bodensee, besuchte. So sinnvoll manche Entstaubungsaktion auch sein mag, überspannen die Filmemacher im Zuge der Modernisierung zuweilen aber den Bogen. Manch witzig gemeinter „Streich“ entpuppt sich eher als mutwillige Sachbeschädigung. Und warum die Kinder in beiden Internaten anders als in der Buchreihe Schuluniformen tragen müssen, erschließt sich nicht, zumal dies gerade auf Schreckenstein dem fortschrittlichen pädagogischen Ansatz von Direktor Rex zuwiderläuft. Für Irritationen sorgt auch der etwas kuriose Mix der Schauspielstile. Während die typengerecht besetzten Jungdarsteller sowie Henning Baum als Direktor Rex weitgehend natürlich spielen, wirkt das Gebaren anderer Erwachsenenfiguren, etwa das hysterische Getue der stockkonservativen Miesmacherin Dr. Horn und die exzentrischen Auftritte des Ex-TVLate-Night-Talkers Harald Schmidt als schrulliger adeliger Ballonfahrer, ziemlich exaltiert. Abgesehen von solchen Schwächen ist Hüttner eine kurzweilige Adaption gelungen, die in den gegenwärtigen unsicheren Zeiten Werte wie Freundschaft, Solidarität und Wahrhaftigkeit in modernem Gewand hochhält und allemal Appetit auf die Lektüre der Hassencamp-Bücher macht. Reinhard Kleber Im KIN0. bURG SchRecKeNSTeIN Deutschland 2016. Produktion: Roxy Film/Violet Pic./TeleMünchen Film- und Fernsehproduktion. Regie: Ralf Huettner. Buch: Christian Limmer, nach der Buchreihe von Oliver Hassencamp. Kamera: Armin Dierolf. Musik: Ralf Hildenbeutel, Stevie B-Zet. Schnitt: Kai Schröter. Darsteller: Maurizio Magno (Stephan), Chieloka Nwokolo (Dampfwalze), Benedict Glöckle (Ottokar), Caspar Krzysch (Mücke), Eloi Christ (Strehlau), Henning Baum (Rex), Sophie Rois (Frau Dr. Horn). Länge: 96 Min. FSK: ab 0. Start: 20.10.2016. Verleih: Concorde. Empfohlen ab 6.

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Kritiken 6+

Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt vor fast 50 Jahren, im Jahr 1967, gab der Sylter Bildhauer Boy Lornsen mit dem Kinderbuch „Robbi, Tobbi und das fliewatüüt“ sein debüt als Schriftsteller. Inzwischen sind viele Generationen mit der Geschichte um das kleine Erfindergenie Tobbi und seinen Freund, den Roboter ROB 344-66/IIIa, aufgewachsen. Anfang der 1970erJahre wurde sie als Puppentrickserie für den WDR adaptiert, es folgten Hörspiel- und Hörbuchfassungen. Nun kommt die erste Realverfilmung des Kinderbuchklassikers in die Kinos. Drehbuchautor Jan Berger hat dabei den Kern der Vorlage, die außergewöhnliche Freundschaft zwischen zwei Außenseitern, übernommen. Das Umfeld aber, in dem die beiden Freunde agieren, wurde ins Hier und Jetzt, ins digitale Zeitalter übertragen. So lernen sich der elfjährige Tobbi Findteisen und Robbi deshalb kennen, weil der kleine Roboter beim Absturz seines Raumschiffs direkt vor den Füßen des Jungen landet. Robbi wurde von seinen Eltern getrennt und will sich auf die Suche nach ihnen begeben. Und deshalb muss er – wie in der Vorlage – zum Nordpol reisen. Natürlich spielt auch hier das rote ab 6

Wunder-Fahrzeug Fliewatüüt eine wichtige Rolle, allerdings wird es von den schweren Jungs einer Motorradgang auf deren Schrottplatz gebaut – ein witziger Einfall, bei dem die Kind gebliebenen Muskelprotze so wunderbar ironisch gezeichnet werden, dass Kinder wie Erwachsene ihren Spaß haben. Neu ist auch, dass Sir Joshua sich als gefährlicher Konzernchef entpuppt und es auf das Herz des kleinen Roboters abgesehen hat. Das würde er gern in seine digitale Technik verpflanzen, damit diese Geräte Gefühle zeigen können und er so Riesengewinne erzielen kann. Freilich macht sich Sir Joshua nicht selbst die Hände schmutzig, sondern engagiert zwei der weltweit besten Spezialagenten: die langbeinige Sharon Schalldämpfer und den smarten Brad Blutbad. Doch die stehen sich mit ihrem Ehrgeiz immer wieder selbst im Wege, können nicht kooperieren und verpatzen jede Gelegenheit, Robbi und Tobbi zu erwischen. Bis Tobbi für einen Moment seinen Freund Robbi und dessen Nöte vergisst und ihn allein lässt. Die Entscheidung, die Geschichte in die Gegenwart zu verlegen, war gut und wirkt überhaupt nicht aufgesetzt. Regisseur Wolfgang Groos, bekannt

durch seinen frisch-charmanten Inszenierungsstil – etwa bei „Systemfehler – Wenn Inge tanzt“ (2013) –, schafft eine gute Mischung aus spannungsgeladenen Actionszenen, ruhigen und besinnlichen Momenten sowie humorvollen Szenen, die von Slapstick-Einlagen und einem herrlichen Wortwitz ganz im Sinne von Boy Lornsen leben. Das macht den Film auch für ältere Kinder interessant, ohne Sechsjährige zu überfordern. Mit der Rolle des Tobbi wurde der elfjährige erfahrene Kinderdarsteller Arsseni Bultmann betraut. Obwohl er vom Typ her gut zu Tobbi passt, wirkt er mitunter recht unbeholfen, vor allem wenn es um Emotionen und tiefere Gefühle geht. Das liegt aber weniger an seinem Können, sondern eher an den Schwächen des Drehbuchs. Denn so frisch und modern wie diese Inszenierung auch daher kommt, werden die inneren Konflikte des Außenseiters, der am liebsten in Ruhe forschen will, aber unbedingt Freunde haben soll und zudem von seinen Mitschülern gemobbt wird, hier nur oberflächlich behandelt. So bleibt es bei der recht einfachen Botschaft, dass Freundschaft wichtig ist, die noch dazu ständig verbalisiert wird, statt sich visuell zu vermitteln. Den Wert von Freundschaft kennen bereits Fünfjährige. Interessant wäre daher eher die Frage, wie schwer es ist, Freundschaften zu pflegen; für Lornsen gab sie den Ausschlag, „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ zu schreiben. Schade, dass dieser für Kinder so wichtige Aspekt in der ansonsten recht aufwändig gestalteten Produktion keinen ernsthaften Niederschlag findet. Barbara Felsmann

Im KIN0. RObbI, TObbI UND DAS FLIeWATüüT Deutschland 2016. Produktion: Wüste Film/MMC Independent/StudioCanal/Walking the Dog. Regie: Wolfgang Groos. Buch: Jan Berger, nach dem Kinderbuch von Boy Lornsen. Kamera: Armin Golisano. Musik: Helmut Zerlett. Schnitt: Martin Wolf. Darsteller: Arsseni Bultmann (Tobbi), Alexandra Maria Lara (Agentin Sharon Schalldämpfer), Sam Riley (Agent Brad Blutbad), Friedrich Mücke (Sir Joshua), Jördis Triebel (Tobbis Mutter). Länge: ca. 90 Min. Start: 1.12.2016. Verleih: Studiocanal. Empfohlen ab 6.


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Der Geheimbund von Suppenstadt sind. Das ist zwar dramaturgisch richtig gedacht, emotional aber nicht nachvollziehbar. Da hatte die alte Pippi mit ihrem Papa mehr Glück. Der war zwar auch oft weg, aber er hat nie an Pippis Abenteuergeschichten gezweifelt. So ist diese finnisch-estnische Co-Produktion kein perfektes, aber doch ein beachtliches Spielfilmdebüt, das mit seiner fantasievollen Geschichte das Kinderpublikum sicherlich trotzdem begeistern wird. Anja Flade-Kruse Im KIN0.

Stark, mutig und unerschrocken: das ist mari, die Heldin des films. Eine moderne Pippi Langstrumpf, die nicht reitet, sondern auf einem BMX-Rad durch die estnische Stadt Tartu brettert und mit ihren drei Freunden einen Geheimbund gründet. Leider haben Maris Eltern wenig Verständnis für ihre fantasievolle Tochter und sehen sie lieber beim Ballett als auf Schatzsuche. Die denkt sich Maris Opa Peeter, ein kreativer Wissenschaftler, für sie aus. Als ein mysteriöser Maskenmann auf dem Sommerfest die Getränke vergiftet, benehmen sich die Erwachsenen plötzlich kindisch. Maris Opa weiß, was es damit auf sich hat und gibt Mari ein altes Notizbuch. Nun liegt es an Mari und ihrem Geheimbund, die Rätsel des Notizbuchs zu lösen und das Gegengift zu finden. Diese Aufgabe gelingt ihnen fast zu mühelos. Dabei werden sie nicht nur vom Maskenmann, sondern auch von Leo und seiner Bande verfolgt, die alle das Notizbuch haben wollen. Aber die unerschrockene Mari wirft nichts aus der Bahn, nicht mal, dass der Maskenmann in ihr Zimmer einsteigt und sie mit ihm um das Notizbuch ringen muss. Als sie ihrer Mutter davon berichtet, dass gerade ein Mann in ab 9

ihrem Zimmer war, reagiert diese unaufgeregt und erklärt alles zu einem Traum ihrer Tochter. Warum nur gibt sich Mari, die sich sonst so gut durchsetzen kann, damit zufrieden? Oder hat sie ihre Eltern, die ihr nie glauben, schon als Vertraute abgeschrieben? Das wäre traurig. Natürlich schaffen die Kinder am Ende das Unmögliche und retten die Stadt. Maris Eltern erkennen, dass sie ihre Tochter verkannt und unterschätzt haben. Während der Abenteuer-Plot passabel funktioniert, kann die emotionale Geschichte nicht überzeugen. Das Verhalten von Maris Eltern, die ihre Tochter ziemlich im Regen stehenlassen, um am Ende etwas begreifen zu können, ist zu konstruiert. Vermutlich soll die orchestrale, nahezu dauerhaft eingesetzte Filmmusik die fehlenden Emotionen kaschieren. Dabei hätte sich Regisseur Margus Paju (Jahrgang 1983) mehr auf seine romantisch-schönen Bilder verlassen können, in denen er die moderne und die alte Welt mühelos miteinander verbindet. Ebenso überzeugen die Kinder- wie auch die Erwachsenendarsteller, wenngleich deren Charaktere nicht vielschichtig genug gestaltet und nur mit den für die Geschichte relevanten Eigenschaften ausgestattet

SUPILINNA SALASeLTS Estland/Finnland 2013. Produktion: Nafta/Solar Films. Regie: Margus Paju. Buch: Mihkel Ulman, Christian Gamst Miller-Harris, nach der Buchreihe von Mika Keränen. Kamera: Meelis Veeremets. Musik: Liina Kullerkupp. Schnitt: Marion Koppel, Harri Ylönen. Darsteller: Olivia Vikant (Mari), Arabella Antons (Sadu), Hugo Soosaar (Olav), Karl Jakob Vibur (Anton), Mirtel Pohla (Kadri Heller), Evelin Voigemast (Reet Haljandi). Länge: 105 Min. FSK: ab 0. Start: 20.10.2016. Verleih: Barnsteiner. Empfohlen ab 9.

WeiTeRe FiLmSTARTS Ausführliche Besprechungen zu den folgenden Kinder- und Jugendfilmen finden Sie zum Kinostart im FILMDIENST. 10.11.2016 Drei Wünsche von handloh (Trickfilmkinder) 17.11.2016 Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind (Warner) 8.12.2016 Die Vampirschwestern 3 (Sony) 22.12.2016 Vaiana (Disney) 12.1.2017 ballerina (Wild Bunch/Central) 19.1.2017 Ritter Rost 2 (Universum) 26.1.2017 Wendy – Der Film (Sony) 2.2.2017 Timm Thaler (Constantin) 9.2.2017 Sieben Minuten nach Mitternacht (Studiocanal)

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Kubo – Der tapfere Samurai Schon in „Coraline“ (2009) spielten die Augen eine besondere Rolle. Hier traf die zehnjährige Titelheldin in einer Wunschwelt auf eine wahnwitzig perfekte Mutter mit nur einem Makel: Dort, wo eigentlich Augen sein sollten, befanden sich leblose Knöpfe. Um in dieser Traumwelt bleiben zu dürfen, sollte auch Coraline ihre Augen opfern. Kubo, Held des mittlerweile vierten Animationsfilms aus dem USamerikanischen Studio Laika, das sich vor allem der Stop-Motion-Technik verschrieben hat, ist dagegen schon von Anfang an gezeichnet: Seine linke Gesichtshälfte wird von einer Haarschippe verdeckt, unter der sich eine Augenbinde befindet. Sein linkes Auge wurde ihm genommen – von seinem Großvater, dem Mondkönig, und dessen Zwillingstöchtern. Seit jenem tragischen Vorfall verfällt Kubos Mutter oft in einen geradezu katatonischen Zustand und hat in ihren wachen Momenten große Angst um ihren Sohn. Auf keinen Fall dürfe er nach Einbruch der Dämmerung noch draußen sein, weil man ihm auch nach dem zweiten Auge trachte. Kubo aber hält sich nicht an diese Anweisung. Als er beim traditionellen Obon-Fest sehnsüchtig darauf wartet, von seinem verstorbenen Vater Hanzo ein Zeichen zu bekommen, vergisst er die Zeit. Und schon heften sich die bösartigen Tanten in der heraufziehenden Dämmerung an seine Fersen. Mit letzter Kraft entfesselt Kubos Mutter ab 10

einen magischen Sturm, der ihren Sohn rettet, und trägt ihm auf, die Rüstung seines Vaters zu suchen, die ihn schützen soll. Im Grunde folgt „Kubo – De tapfere Samurai“ über weite Strecken einer recht einfachen Dramaturgie, die an Computerspiele erinnert: Finde das Schwert (das sich im Kopf eines riesigen lebendigen Skeletts befindet), finde die Rüstung, finde den Helm! Und doch weiß Travis Knight, LaikaGeschäftsführer, Animator und Regiedebütant von „Kubo“, diese geradlinige Erzählweise geschickt zu kaschieren. Die prächtigen Schauwerte überspielen das Bekannte. Sensibel zitiert das Fantasy-Road-Movie visuell und akustisch Einflüsse der japanischen Kultur und verweist auf Künstler wie Hokusai oder Filmemacher wie Kurosawa, nimmt sich dabei aber ebenso viele Freiheiten wie Miyazaki, wenn dieser auf Europa Bezug nimmt. Zudem beschränkt sich Knight keineswegs nur auf eine Hommage. Das Authentische und das Fiktive gehen Hand in Hand, ebenso wie die Grenzen zwischen traditionellem Stopptrick und moderner CGI-Animation ineinanderfließen und mit bloßem Auge nicht mehr erkennbar sind. Dem haptischen Charme des Handgemachten stellt der Film die Freiheiten des Digitalen gegenüber. Kantig sind indes die Figuren, ungewöhnlich und nicht notwendig schön. Die Gesichtszüge von Kubos Mutter erinnern an eine Kabuki-

Maske, ein in ein menschengroßes Insekt verwandelter Samurai wird zum Vater-, ein sprechender Affe zum Mutter-Ersatz. Und doch ist es gerade dieser Mut der Darstellung, durch den sich „Kubo“ auszeichnet und von den oftmals süßlichen Figurendesigns anderer Animationsfilme abhebt. Von einem jungen Kinopublikum fordert „Kubo“ eine Menge, konfrontiert es mit augenraubenden Verwandten, dem Tod sympathischer Figuren, riesigen kämpfenden Skeletten und dunklen Unterwasserwelten. Dabei ist er mehr an differenzierten Gefühlen als an einem klassischen Happy End interessiert. Wie bei „ParaNorman“ (2012), der an der Oberfläche von einer animierten Zombie-Invasion erzählt, wird auch bei „Kubo“ die emotionale Tiefe der Geschichte auf wunderbare Weise zur Geltung gebracht. Das epische Abenteuer wird auf die Liebe eines Kindes zu seinen Eltern zurückgeführt und die Möglichkeit der Vergebung aufgezeigt. Das Sehen und die Wahrhaftigkeit sind eng verbunden. Wer jedoch blind ist, der verschließt sich vor dem Mitgefühl und vor der Schönheit des Lebens. „Wenn du blinzeln musst, tu es jetzt“, heißt es deshalb programmatisch, noch bevor der ebenso phänomenal animierte wie berührende Film die Tür zu seiner fantastischen Welt öffnet. Stefan Stiletto Im KIN0. KUbO AND The TWO STRINGS 3D. USA 2016. Produktion: Laika. Regie: Travis Knight. Buch: Marc Haimes, Chris Butler. Kamera: Frank Passingham. Musik: Dario Marianelli. Schnitt: Christopher Murrie. Länge: 102 Min. FSK: ab 6. Start: 27.10.2016. Verleih: Universal. Empfohlen ab 10.


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tina „Tini“ Stoessel als auch ihr „Filmprinz“ Jorge Blanco sind bei der Plattenfirma der Walt Disney Company unter Vertrag, Stoessels Debütalbum erschien in diesem Frühjahr, Blancos Debüt dürfte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Allem kann man in diesem Film entfliehen, nur dem Konsum nicht: „Tini: Violettas Zukunft“ ist nichts anderes als ein 99 Minuten währender Werbeblock in Hochglanzoptik. Natália Wiedmann

Tini: Violettas Zukunft Eigentlich hat es die weltweit beliebte junge musikerin violetta (bekannt aus der gleichnamigen disney-Telenovela) schon schwer genug: Obwohl sie von den letzten Auftritten noch völlig erschöpft ist und unter einer Schreibblockade leidet, soll sie in nur wenigen Tagen bereits mit den Aufnahmen zu ihrem neuen Album beginnen. Doch als die junge Frau bei einem Promotion-Fernsehauftritt mit Bildern aus der Sensationspresse konfrontiert wird, die zu belegen scheinen, dass ihre große Liebe León sie verlassen hat, kündigt sie kurzerhand nicht ihre neuen Songs an, sondern ihren Rückzug aus dem Musikgeschäft. Dass es sich hierbei nur um ein Missverständnis handelt, ahnen die Zuschauer freilich schon längst – und dürfen sich daher in Sicherheit darüber wiegen, dass dieser Inkarnation einer rehäugigen und gutherzigen Disney-Prinzessin und ihrem Prince Charming genau das Happy End vergönnt ist, das jedes Märchen in Aussicht stellt. Während in Märchen jedoch auch das Böse seinen Platz hat, das Grausame und Erschreckende, zeichnet sich „Violettas Zukunft“ dadurch aus, dass echte Konflikte durch einfache Missverständnisse ersetzt werden und sich jedes Problem schließlich in Wohlgefallen auflöst. Selbst vermeintliches Unglück ist nur zu Violettas Bestem. Um ihren Liebeskummer zu lindern, schickt ihr Vater sie nach Sizilien in ein Künstlerrefugium. Dieses wird sich nicht nur als ein Ort erweisen, an dem Violetta mehr über ihre verstorbene ab 12

Mutter erfährt und schließlich zu neuer Inspiration findet, hier knüpft sie auch Freundschaften zu anderen jungen Menschen mit exakt jenen Begabungen, die man – welch glückliche Fügung des Schicksals – ganz wunderbar bei der Umsetzung einer großen Bühnenshow einsetzen könnte. Von da an ist recht offensichtlich, auf welches Finale die seifige Geschichte zuläuft, auch wenn beim besten Willen nicht vorherzusehen ist, mit welchen Albernheiten sie bis dahin noch aufwartet. Etwa dann, wenn ein Piano an einen malerischen Küstenabschnitt gezogen wird, damit Violetta im Schein eines riesigen Mondes und unter dem Blattwerk eines großen Baumes (und nein, das ist nicht irgendein Baum, er wird sich noch als eine Art „Baum der Erkenntnis“ erweisen) ein Stück komponieren kann, das so ergreifend ist, dass sich sogar ein kleiner CGI-Vogel auf einen Baumzweig herablässt und zu zwitschern beginnt. Eine Parodie hätte bereits ihre liebe Mühe damit, das noch zu überbieten. Aber der weitere Filmverlauf setzt dem zuckersüßen Sahnehäubchen eine kitschige Kirsche nach der andere auf. Was sich an der Oberfläche als eskapistisches Rührstück über die große Liebe und die Suche nach einem „authentischen, wahren Ich“ präsentiert, ist eher eine Geschichte über genau das, was der Film in seinen ersten Minuten in Ansätzen zu kritisieren vorgibt: das große Geschäft und die Suche nach einem perfekten Produkt. Sowohl Hauptdarstellerin Mar-

Im KIN0. TINI: eL GRAN cAMbIO De VIOLeTTA Spanien/Italien/Argentinien 2016. Produktion: Gloriamundi Prod./Producciones Audiovisuales. Regie: Juan Pablo Buscarini. Buch: Ramón Salazar. Kamera: Josu Inchaustegui. Musik: Federico Jusid. Schnitt: Pablo Mari. Darsteller: Martina Stoessel (Violetta Castillo/Tini), Jorge Blanco (León), Mercedes Lambre (Ludmila Ferro), Adriàn Salzedo (Caio), Clara Alonso (Angie), Diego Ramos (Germán). Länge: 99 Min. FSK: ab 0. Start: 3.11.2016. Verleih: Walt Disney. Empfohlen ab 12.

in Kürze 10+

Das kalte Herz Anfang des 19. Jahrhunderts erleidet ein junger Köhler im Schwarzwald durch die erniedrigungen reicher bürger sowie seine unerfüllte Liebe zur schönen Tochter eines Glasmachers große Qualen. Als ihm ein Waldgeist seine Wünsche erfüllt, mit denen er so gedankenlos umgeht, dass ihm das neu gewonnene Glück wieder aus den Händen rinnt, verfällt er einem anderen bösen Geist, dem er sein Herz gegen einen Stein verpfändet. Ein bild- und klanggewaltiger Genrefilm, der die Vorlage von Wilhelm Hauff konsequent zur sozialkritischen Auseinandersetzung mit „Zeiterscheinungen“ wie ungehemmter Profitgier nutzt. FantasyElemente und historisch genaue Beobachtungen verbinden sich zu einem spannenden, grimmig-düsteren Kino-Märchen. Ab 12. ab 10

(Start: 20.10., Weltkino, FSK: ab 12)

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Allein gegen die Zeit Wenn es um großes Actionkino für ein junges Publikum geht, dann muss man in der Regel darauf warten, was vom uSamerikanischen markt zu uns herüberschwappt. Von einheimischen Produzenten werden gerade die etwas älteren Jugendlichen, die an der Schwelle zum Erwachsensein stehen, mit Genre-Kost kaum oder gar nicht berücksichtigt. Diesem Trend stemmt sich nun „Allein gegen die Zeit“ entgegen. Das Leinwandabenteuer folgt der gleichnamigen Fernsehserie (2010-12), die gerne als „Thrillerserie für Kids im Stil von 24“ (inklusive Echtzeit-Handlung) apostrophiert wird und bereits eine erstaunliche Anzahl von wichtigen Preisen erringen konnte, darunter der „Goldene Spatz“, der „Emil“ und eine „Emmy“-Nominierung. Die Kinoversion, für die die Stammbesetzung des Fernsehformats gewonnen werden konnte, beginnt mit einem an „James Bond“-Filme erinnernden Teaser, in dem die fünf Protagonisten nachts gewaltsam in ein Gebäude eindringen. Obwohl sich kurz darauf herausstellt, dass es sich dabei um ihre ab 12

Schule handelt, in der sie nur heimlich ein paar Szenen zur Bebilderung eines Referats drehen wollten, ist man als Zuschauer sofort mittendrin in diesem deutschen Action-Adventure. Der anschließende Klassenausflug in den Dom von Hildesheim bringt die etwas unübersichtliche Geschichte in Gang. Eine mysteriöse Sekte hat es auf die ominöse Irminsul-Statue abgesehen, die ewiges Leben verspricht und mit der während der kurz bevorstehenden Sonnenfinsternis ein grausames Ritual durchgeführt werden soll. Das Freundes-Quintett Ben, Özzi, Jonas, Leo und Sophie versucht nun, diese Katastrophe zu verhindern. Regisseur Christian Theede, der unter anderem für das originell-schräge, vom Publikum aber ignorierte Musical „Im weißen Rössl“ (2013) verantwortlich zeichnet, lässt in der Folge nichts unversucht, seine Zuschauer mit Filmzitaten von der „Indiana Jones“-Reihe über „The Da Vinci Code“ (2006) bis zur „Star Wars“-Saga bei der Stange zu halten. Das gelingt nicht immer, weil es etwa bei den Actionsequenzen – wohl budgetbedingt – an der profes-

sionellen Umsetzung mangelt. Allerdings verleihen die Filmemacher um Kameramann Felix Kramer und Cutter Martin Rahner mit Ransprüngen, Stopptricks und Zeitlupen dem Film eine eigene optische Note. Gut ist „Allein gegen die Zeit“ auch dann, wenn er sich um seine Charaktere und deren Gefühlswelten kümmert. Parallel zu Verfolgungsjagden, Versteckspielchen und Passwort-Knacken etwa gibt es eine Dreiecksbeziehung zwischen zwei Jungen und einem Mädchen, eine lange unterdrückte Liebe, die sich im Lauf der Handlung Bahn bricht, und die fatale Verbindung von Jonas zu dem Sektenführer Teiwaz (Stipe Erceg setzt das schauspielerische Highlight), der sich einst als SS-Scherge Albrecht Stürmer ewige Jugend erschlich. Geschichtsunterricht findet indes nur am Rand statt, Epochen wie jene Karls des Großen oder der Nationalsozialismus werden lediglich gestreift. Denn Theede hat genug damit zu tun, den Plot am Laufen zu halten und seine Standardfiguren wie den hochgradig gefährdeten Allergiker, die keifende Prolo-Zicke oder den cleveren Kerl mit Migrationshintergrund zu bedienen. Die Dialoge sind frisch und zeitgemäß, neigen aber dazu, in Allgemeinplätze wie „Gewalt ist keine Lösung“ oder „Ich bin noch viel zu jung zum Sterben“ abzudriften. Die Jugendlichen um Janina Fautz („Das weiße Band“) und Timmi Trinks („Meier Müller Schmidt“) handhaben ihre aus der Serie vertrauten Rollen gut, lediglich Neuzugang Violetta Schurawlow als „falsche“ Lehrerin, die sich als Ercegs Handlangerin entpuppt, ist ein schauspielerischer Totalausfall. Ebenfalls ganz vorne liegt der Soundtrack mit einigen eingängigen Pop-Nummern, die bei der anvisierten Zielgruppe der Teenager Gefallen finden dürfte. Thomas Lassonczyk Im KIN0. ALLeIN GeGeN DIe ZeIT Deutschland 2016. Produktion: Askania Media/ARD/arte. Regie: Christian Theede. Buch: Michael Demuth, Ceylan Yildirim. Kamera: Felix Cramer. Musik: Christoph Zirngibl, Volker Hinkel, Heiko Maile, Pivo Deinert. Schnitt: Martin Rahner. Darsteller: Janina Fautz (Leo), Stephanie Amarell (Sophie), Timmi Trinks (Jonas), Timon Wloka (Ben), Ugur Ekeroglu (Özzi), Stipe Erceg (Albert Stürmer/Teiwaz). Länge: 87 Min. FSK: ab 12. Start: 27.10.2016. Verleih: X Verleih. Empfohlen ab 12.


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morris aus Amerika Eben noch in Richmond, New York, und nun in Heidelberg, Baden-Württemberg: das Leben von morris hat sich mit einem Schlag verändert. Ein Neuanfang soll es werden nach dem Tod der Mutter. Deshalb hat Vater Curtis in der Stadt am Neckar einen Job als Fußballtrainer angenommen, und klar, das Kind muss mit. Doch es läuft nicht besonders gut für den Witwer und seinen Sohn. Schon gar nicht für Morris. Der ist 13 Jahre alt, und das allein ist oft schon Herausforderung genug. Dieses Alter, in dem der richtige Sitz der Frisur die Grundstimmung des Tages bestimmen kann, sich der Blick auf Mädchen oder Jungen verändert und man unbedingt dazugehören will. Nur zu was? Und zu wem? Morris gehört in Heidelberg nirgends dazu: Er ist pummelig, hat dunkle Haut und spricht kaum Deutsch. Er steht auf Hiphop und nicht wie alle anderen auf Elektro. Vor allem der Gangsta-Rap hat es Morris angetan. Aber statt durch die Bronx läuft er an gepflegten Rosenhecken vorbei, lässt sich von Rentnern anrempeln oder von gleichaltrigen Jungs als „Big Mac“ dissen. „Morris aus Amerika“, der beim diesjährigen Sundance Festival mit zwei ab 13

Preisen bedacht wurde, ist also eine typische Coming-of-Age-Geschichte, in der ein Pubertierender zu sich selbst finden muss. Und das geschieht – ganz klassisch –, indem er sich das erste Mal verliebt. Im Fall von Morris ist die Auserwählte ein „Fräulein Wunder“: Katrin ist sehr blond, sehr cool, und es ist ihr mit ihren 15 Jahren schon viel zu eng in Heidelberg geworden. Natürlich ist sie eine Nummer zu groß für Morris, was dieser erst noch selbst herausfinden muss. Aber irgendwie frisst dieses Mädchen, vor dem alle Mütter ihre Söhne warnen würden, auch einen Narren an diesem Morris aus Amerika. Diesem Jungen, der nicht gerne tanzt, kein Basketball spielt und offenbar auch andere Eigenschaften, die afroamerikanischen Jungen und Männern gerne angedichtet werden, nicht erfüllt, der aber wie Notorious B.I.G. über „dicks“ und „bitches“ rappt und der sie, Katrin, gnadenlos anhimmelt. Emotional getragen wird der – lobenswerter Weise durchweg zweisprachige – Film weniger von der Geschichte einer ersten Verliebtheit als vielmehr von der einfühlsam erzählten VaterSohn-Beziehung. Wie geht man um mit einem Kind, das sich in Richtung

Erwachsener bewegt? Vater Curtis, der wie sein Sohn auf Rap steht, aber wenig von Gangster-Attitüden hält, verdonnert seinen Junior schon mal zu Stubenarrest, weil dieser einen schlechten Musikgeschmack hat, hebt die Strafe aber schnell auf, weil ihm danach nur die Gesellschaft seines Handys bleibt. Soll er seinem Sohn Kumpel sein oder Vater? „Morris aus Amerika“ lotet diese Frage aus und zeigt auch mal einen verunsicherten Vater, der seine Rolle im Leben seines Sohns neu definieren muss. Erzählt der Film auf dieser Ebene vielschichtig, stellt er die gesellschaftliche Realität in Deutschland doch eigenartig weltfremd dar. Sowohl Morris’ niedliche Deutschlehrerin Inka wie auch der Leiter im Jugendzentrum, beide eher jung als alt, haben beispielsweise keinen Schimmer davon, dass das „F-Wort“ zu jedem anständigen Rap dazugehört. Dass Deutschland mittlerweile eine multikulturelle Gesellschaft ist (was bekanntermaßen nicht allen hierzulande passt), dass Morris und Curtis keineswegs die ersten Amis in Heidelberg sein können, befand sich dort schließlich mal ein Hauptquartier der US-Streitkräfte in Deutschland, ist Regisseur Chad Hartigan irgendwie entgangen, und das macht das Setting zuweilen – zumindest aus hiesiger Sicht – etwas unglaubwürdig. Nicht alle afroamerikanischen Jungs können gut tanzen, und nicht alle deutschen Mädchen sind blond. Es geht in „Morris aus Amerika“ auf vielen Ebenen um Klischees und Vorurteile. Nicht alle sind beabsichtigt thematisiert. Aber man sieht ja alles aus der Sicht der Titelfigur. Und mit 13 Jahren fühlt man sich eben meist irgendwie unverstanden und kann sicher auch das Gefühl haben, man sei der einzige Amerikaner in Heidelberg. Kirsten Taylor

Im KIN0. MORRIS AUS AMeRIKA Deutschland/USA 2016. Produktion: Beachside Films/ Lichtblick Media/INDI Film/SWR. Regie und Buch: Chad Hartigan. Kamera: Sean McElwee. Musik: Keegan DeWitt. Schnitt: Anne Fabini. Darsteller: Markees Christmas (Morris), Craig Robinson (Curtis), Carla Juri (Inka), Jakub Gierszal (Per), Lina Keller (Katrin), Patrick Güldenberg (Sven). Länge: 91 Min. FSK: ab 12. Start: 3.11.2016. Verleih: Farbfilm. Empfohlen ab 13.

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ein Lied für Nour mit ihrer umgekehrten Baseball-Cap, den hinter die Ohren gesteckten Haaren und dem blauen Pulli passt Nour perfekt zur Clique ihres Bruders mohammed. Als zwölfjähriges Mädchen in den Palästinensischen Gebieten des Jahres 2005 wäre sonst auch vieles nicht möglich: Unbekümmert spielen Nour, Mohammed, Omar und Ahmad auf selbst gebastelten Instrumenten vor den Nachbarskindern und durchkreuzen auf BMX-Rädern Gaza-Stadt. Beschränkt werden sie allein durch den kilometerlangen Zaun zu Israel – und durch die Nachbarin, die ihnen beim Hofkonzert Wasser über die Köpfe schüttet: „Es sterben Menschen und ihr macht hier Musik!“, herrscht sie die Kinder an. Nour, die bei den Auftritten als fahrende Hochzeitsband vor den männlichen Tänzern zunehmend hinter einem aufgespannten Banner spielen muss, glaubt an die Zukunft der kleinen Band, die von der berührenden Stimme ihres Bruders lebt. „Wir werden groß rauskommen und die Welt verändern“, wird zum Credo der Geschwister – auch als ihnen ein Hehler das letzte Geld abknöpft, als Omar nicht mehr Teil der „Teufelsmusik“ sein will und als Nour durch eine Nierenschwäche an die Dialyse gefesselt wird. „Ein Lied für Nour“ will nicht wie „Das Mädchen Wadjda“ (2012) von den Träumen eines Mädchens erzählen, das sich im Patriarchat dazu aufschwingt, das zu ab 10

leben, was für seine männlichen Altersgenossen ganz selbstverständlich ist. Nur der deutsche Filmtitel und die erste Hälfte von Hany Abu-Assads Film lassen diese Assoziation zu, bevor ein tragischer Umbruch den zuvor schön entwickelten Jugendfilm nicht nur politisch, sondern auch kitschig werden lässt. Wäre Abu-Assads Perspektive dabei weniger einseitig, man würde ihm beides gerne nachsehen. In „The Idol“, so der internationale Titel, geht es nach einer wahren Begebenheit jedoch allein um den Traum von Mohammed Assaf, den eine ganze Region zu teilen begann. 2012 schaffte es der junge Mann als einziger Teilnehmer aus dem Gazastreifen in den arabischen Ableger von „Pop Idol“, hierzulande bekannt als „Deutschland sucht den Superstar“. Also lässt Abu-Assads Film Nour sterben und setzt sieben Jahre später ein: Gaza ist zerstörter und die Menschen sind verzweifelter denn je. Mit qualmenden Generatoren wird gegen Israels Stromkappen angekämpft. Männer mit amputierten Beinen und durch die Trümmer springende Parkour-Sportler kreuzen den Weg von Mohammed, der sich als Taxifahrer durchschlägt. Allein die Worte von Jugendfreundin Amal bestärken den jungen Mann, sich trotz aller Restriktionen ins glitzernde Kairo zu mogeln, wo das „Arab Idol“-Casting stattfindet. Ein Lied für Nour wird zu einem Lied für Palästina, und der Film damit zur Nach-

erzählung eines Triumphs, der real war, während das Nierenleiden, die Bühnenauftritte und der Tod der Schwester im Bereich der Fiktion anzusiedeln sind. Das sind die Teile, die einem Film, der sich durchaus gegen religiösen Fanatismus positioniert und den Unterdrückten eine Stimme geben will, auch international die Türen geöffnet haben mögen. Der reale Mohammed Assaf sprach sich bereits gegen die Gesangskarriere seiner noch lebenden Schwester aus, weil dies den Traditionen in Gaza widerspräche. Umso mehr enttäuscht, dass Hany Abu-Assad („Paradise Now“, 2005) nicht einmal zur Sprache kommen lässt, warum dieser Zaun Gaza von Israel, die „Besatzer“ von den „Flüchtlingen im eigenen Land“ trennt. Kein einziges Mal ist von den Aggressionen der Hamas die Rede, die nach dem Abzug der Israelis 2005 den Gaza-Streifen in ihre Gewalt brachten, die Zivilbevölkerung drangsalierte und Israel unter täglichen Raketenbeschuss geraten ließ. Das Leid in den Palästinensischen Gebieten ist unbestritten. Nur dass es zwei Seiten in diesem furchtbaren Konflikt gibt, aus dem Mohammeds Stimme wie ein Pflänzchen der Hoffnung ragt, verschweigt „Ein Lied für Nour“ völlig. Das aber wäre vor allem in einem Film für ein junges Publikum, das sich solcher Hintergründe kaum bewusst ist, wichtig. Stattdessen wird sich auf eine klassische Underdog-Geschichte konzentriert, die dem emotionalisierten Erfolgskonzept der „Idol“-Shows gar nicht so unähnlich ist und damals Abertausende Menschen jubelnd auf die Straßen trieb: Und da, in den Archivaufnahmen der Public Viewings, sind wieder nur Männer zu finden – dieselben, die von einem talentierten Mädchen wie Nour verlangen, sich mit ihrer Gitarre hinter einem Banner zu verstecken. Kathrin Häger

Im KIN0. YA TAYR eL TAYeR Niederlande/Großbritannien/Katar/Argentinien/Israel 2015. Produktion: Cactus World/Fortress Film Clinic/Full Moon/Idol/Key/Mezza Terra/September. Regie: Hany AbuAssad. Buch: Hany Abu-Assad, Sameh Zoabi, Kamera: Ehab Assal. Musik: Hani Asfari. Schnitt: Eyas Salman. Darsteller: Tawfeek Barhom (Mohammed Assaf), Ahmed Al Rokh (Omar), Hiba Attalah (Nour). Länge: 100 Min. FSK: ab 0. Start: 1.12.2016. Verleih: Koch. Empfohlen ab 10.


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Radio Heimat Ja, nee, is’ klar! Watt ’ne geile Gegend. der Pott mit seinen Typen und Sprüchen. Alles Originale, hart, aber herzlich. Mit lustigen Rivalitäten zwischen FußballClubs wie Schalke, Borussia oder auch dem VfL. Denn in Bochum spielt „Radio Heimat“ – und zwar gleich zweimal: 1983 und 1964. In seinem Spielfilmdebüt hat sich Matthias Kutschmann der einschlägigen Erzählungen von Frank Goosen angenommen und daraus mit Unterstützung der alten Pott-Film-Recken Adolf Winkelmann und Peter Thorwarth einen liebevoll ausstaffierten und anspielungsreichen Katalog einschlägiger Klischees gebastelt, der sich temporeich nicht so recht zwischen Selbstironie, Genre-Comedy und Liebeserklärung entscheiden mag. „Radio Heimat“ erzählt die Geschichte der vier Freunde Frank, Mücke, Pommes und Spüli, denen es neben ihrem Schulalltag hauptsächlich darum geht, die erste Freundin klar zu machen, oder besser: die darüber reden, wie es überhaupt gelingen könnte, die erste Freundin klar zu machen. Weil die Jungs – Popper, Punk oder Normalos – nette Kerle mit großer Klappe sind, wird allerlei ausprobiert: Rock-Band, Tanzkurs, Klassenfahrt. Als Objekt der Begierde fungiert zunächst die schöne Carola, bis andere Mädchen oder auch Jungen ab 14

viel interessanter sind. Diese freundliche und nicht gerade überraschende Coming-of Age-Geschichte von 1983 wird vor reichlich Lokal- und Zeitkolorit mit allerlei einschlägigem Personal von Elke Heidenreich über Ralf Richter, Jochen Nickel, Ingo Naujocks und Heinz Hoenig bis Peter Lohmeyer verhandelt, die sich allesamt für den ein oder anderen Sketch einfinden. Es bleibt sogar noch Platz für Pott-Originale wie Manni Breuckmann, Willi Thomczyk, Peter Nottmeier oder Hans-Werner Olm. Hinzu kommt die 1964 spielende Liebesgeschichte zwischen Franks Eltern, die einerseits zeigt, dass die erste Liebe auch damals schon zwischen Macho-Posen, Unsicherheit, Currybude und Tanzschule changierte, andererseits aber auch den Bedeutungsverlust des Fußballs illustriert. War es 1964 noch eine mittlere Katastrophe, wenn ein Junge gleich nach der Geburt beim falschen Verein (hier: Schalke 04) angemeldet wurde, so spielt der Sport im Leben der Jugendlichen von 1983 überhaupt keine Rolle mehr. An seine Stelle treten eine Auswahl zeitgenössischer Pop-Songs von Falco über Fehlfarben und James Brown bis Captain Sensible und Heaven 17, dazu Pop-Insignien wie Poster von Nena oder John Travolta. Aber nie ist mit der Auswahl der Musik ein bestimmter Habitus oder eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur verbunden. Von Politik gar nicht erst zu reden. Dass Carola sich für Angelo Branduardi begeistert, ist lediglich ein Indiz dafür, dass sie nicht

zu Frank passt, obwohl er sie anbetet. So geht hier nichts in die Tiefe, nichts zielt auf Substanz, sondern alles wird solange unterhaltsam und nostalgisch nebeneinander gestellt, bis letztlich der Rekurs auf die Pennäler-Komödie mit Klassenfahrt, lustigen Streichen, viel Alkohol und romantischen Einlösungen sogar das forciert eingesetzte Lokalkolorit lässig hinter sich lässt. An der Nordsee spielen Bergbau-Romantik und polnischer Pütt-Adel keine Rolle mehr. Die komplette Unverbindlichkeit des Anekdotischen erscheint auch als doppelte Kommentarspur: Mal wird das lustig-einschlägige Geschehen aus dem Off kommentiert, mal sprechen die Figuren direkt in die Kamera. Immer geht es um ironische Distanz zu den Figuren, die doch eigentlich gefeiert werden sollen. Hier, in der Region des sprichwörtlichen fortwährenden Strukturwandels, ist alles möglich: Kumpel-Romantik, Coming-of-Age-Komödie, Coming-out und Kulturhauptstadt. Hauptsache sentimental. Ulrich Kriest

Im KIN0. RADIO heIMAT Deutschland 2016. Produktion: Westside Filmprod./TMG/ Rat Pack Filmprod./A Track Film/Berghaus Wöbke Filmprod./Donar Film/Winkelmann Filmprod. Regie: Matthias Kutschmann. Buch: Matthias Kutschmann, nach Büchern von Frank Goosen. Kamera: Gerhard Schirlo. Musik: Riad Abdel-Nabi. Schnitt: Georg Söring, Ueli Christen. Darsteller: David Hugo Schmitz (Frank), Jan Bülow (Pommes), Hauke Petersen (Spüli), Maximilian Mundt (Mücke), Milena Tscharntke (Carola Rösler), Stephan Kampwirth (Franks Vater). Länge: 85 Min. FSK: ab 12. Start: 17.11.2016. Verleih: Concorde. Empfohlen ab 14.

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Die mitte der Welt Eines ist auch nach diesem schönen, so bewegenden wie temperamentvollen film gewiss: Andreas Steinhöfels Roman „die mitte der Welt“ bleibt weiterhin unverfilmbar. Das mag nach einem Widerspruch klingen, ist es aber nicht. Denn eigentlich ist der Film gar keine Romanverfilmung, zumindest nicht im konventionellen Sinne, vielmehr die sinnliche Verdichtung einiger zentraler Handlungs- und Themenmotive der literarischen Vorlage. Womit der Film ganz wunderbar neben dem Roman bestehen kann. Was Andreas Steinhöfel, dem Autor u.a. der „Rico & Oskar“-Geschichten, mit seinem (bisherigen) literarischen Glanzstück gelang, würde man andernorts mit Romanciers wie John Irving vergleichen: „Die Mitte der Welt“ kreiert ein überbordendes „Himmelsgewölbe“, kunstvoll gewebt aus zahllosen Episoden, Anekdoten und wagemutig verdichteten Erzählsträngen, getragen von lakonischem Humor, entschieden auf Effekte setzend, mutig und ermutigend, zum Lachen tröstlich, zum Weinen traurig. Ein Buch nicht zuletzt darüber, wie sich Wirklichkeit in Fiktion wandelt und Fantasie Realitäten schafft; denn die Mitte der Welt, das ist in Steinhöfels Roman auch die Bibliothek im Haus „Visible“, jener Ort, „an dem Geschichten beginnen und enden“. Nun war die Frage nach der Mitte der Welt bereits für Steinhöfel nur mehrdeutig zu beantworten, und der österab 15

reichische Regisseur Jakob M. Erwa folgt mit seinem Film einer dieser weiteren Lesarten, die freilich nicht minder spannend ist. Der 17-jährige Phil verortet diese Mitte der Welt als „magisches“ Zentrum seines Fühlens, Denkens und Handelns in seiner Familie, die eine sehr besondere ist: ein dysfunktionales Sammelsurium aus Verwandten und Freunden, schrägen Individualisten, gesellschaftlichen Außenseitern, Lebenskünstlern, die das Leben lieben und zugleich an ihm leiden. Es sind vor allem die Frauen, die dabei das „Lebenstempo“ vorgeben, während die Männer eher kommen und gehen, oder abwesend sind wie Phils Vater: ein blinder Fleck, „eine merkwürdige Leere“, wie Phil es empfindet. Seine Mutter Glass schweigt sich rigoros über ihn aus, seit sie mit Phil und seiner Zwillingsschwester Dianne die USA verließ, um am Rand eines kleinbürgerlichen deutschen Kaffs die heruntergekommene, verführerisch-verwunschene Märchenschloss-Villa „Visible“ zu beziehen. Hier wachsen Phil und Dianne auf, immer wieder führen Rückblenden in ihre gemeinsame Vergangenheit zurück, als ihnen Glass’ Erziehung alle möglichen Freiräume und Freiheiten ließ, was sich indes als große Bürde und als alles andere als leicht und konfliktfrei erweist. Zu Beginn des Films kehrt Phil aus den Ferien im Sommercamp in den Schoß der Familie zurück. Am Ende wird er sie erneut verlassen, um (irgendwann) wie-

derkommen zu können. Die Zeit dazwischen wird für ihn zu einer entscheidenden Lebensphase voller Gefühle und Gefühlsverwirrungen. Es gilt, düstere Geheimnisse zu lösen, schmerzhafte Erkenntnisse zu verkraften – und zu verstehen, was es denn heißt, „ein bisschen schwuler als andere“ zu sein. Denn Phils Homosexualität ist neben Familie das zweite zentrale Thema des Films, wobei er sich ganz entscheidend von redlich bemühten „Coming out“Geschichten abhebt: Phils Empfindungen sind in seiner „militant“ toleranten Familie wie auch bei seiner engsten Freundin Kat vorbehaltlos anerkannt, sodass er sich mit großem Vertrauen und aller Leidenschaft in seine Liebe zum neuen Mitschüler Nicholas fallen lassen und sie auskosten kann. Glückstrunken radelt Phil nach dem ersten Date durch den (sinnbildhaft durch einen Sturm „gepflügten“) Wald, sinnlich ohne falsche Scham fängt die Kamera die Liebe der beiden ein, scheut sich auch nicht vor dem vermeintlichen Kitsch „schwärmerischer“ Körperlichkeit und erfindet gar fantastische Spielereien, etwa wenn die unsichtbaren Buchstaben, die Phil auf Nicholas’ Rücken malt, zu leuchten beginnen. Angesichts solcher Intensität verkümmern die anderen Figuren dann doch allzu oft zu konturärmeren Nebenfiguren, gerät so mancher Blick auf die Außenwelt zur Wahrnehmung im Zeitraffermoment – aber was soll’s? Genau das ist doch letztlich Phils Sichtweise, bis er allmählich erkennt, dass er seine Mitte der Welt doch jenseits aller körperlichen Liebe zu suchen hat. Und genau hier ist der Film wieder ganz nah am Roman: in seiner Zärtlichkeit gegenüber den Personen und in der Einsicht, dass das Risiko von Gefühlen alternativlos im Leben ist. Horst Peter Koll

Im KIN0. DIe MITTe DeR WeLT Deutschland, Österreich 2016. Produktion: Neue Schönhauser Filmprod./Prisma Film- und Fernsehprod./ mojo:pictures/Universum Film. Regie: Jakob M. Erwa. Buch: Jakob M. Erwa, nach dem Roman von Andreas Steinhöfel. Kamera: Ngo The Chau. Musik: Paul Gallister. Schnitt: Carlotta Kittel. Darsteller: Louis Hofmann (Phil), Sabine Timoteo (Glass), Jannik Schümann (Nicholas), Ada Philine Stappenbeck (Dianne), Inka Friedrich (Tereza), Nina Proll (Pascal). Länge: 115 Min. FSK: ab 12. Start: 10.11.2016. Verleih: Universum. Empfohlen ab 15.


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Sparrows Als der 16-jährige Ari auf Geheiß seiner mutter von Reykjavík zu seinem vater in ein dorf im Nordwesten Islands ziehen muss, steht er einsam im Ausgang des flachen flughafengebäudes. Er wartet auf einen ihm fremd gewordenen Mann. Zur Begrüßung klopft ihm der lederbejackte Bärtige kurz und aufmunternd auf den Oberarm, schon geht es los. Er steuert das Auto durch einen Tunnel hindurch, geradewegs auf das neue Zuhause zu. Wieder im Freien, weiten sich der Blick und der Raum. Ein umwölkter Berg mit moosigem Grün und kleinen Schneefeldern hebt sich aus der Landschaft monumental empor. Sinnbildlich wird der Junge in eine phallische Szenerie hineingetrieben, wo man aus ihm einen richtigen Mann machen will. Der Vater hat sich für den Sprössling bereits ein passendes Programm ausgedacht. Gleich am nächsten Tag wird Ari in der Fischfabrik anfangen. Zukünftig soll er, der Muskeln wie ein kleines Mädchen hat, kräftig zupacken können. Ein verwegener Plan. Denn Ari war bisher ein talentierter Sänger in einem Kirchenchor. Auf dem einsamen Land erwachsen zu werden, war für junge Leute schon immer nicht einfach, zuweilen sogar schlichter Horror. Zumal, wenn dieser Lebensabschnitt in nördlichen Gefilden spielt. Man denke nur an den ab 16

dänischen Film „When Animals Dream“ (2014) von Jonas Alexander Arnby, in der ein Mädchen sich gegen die Zumutungen der Erwachsenenwelt nur noch zu helfen weiß, indem sie sich in einen Werwolf verwandelt. Auch in „Sparrows“ sind die Erwachsenen und Mitheranwachsenden nervig, bevormunden oder werden zudringlich. Aber Ari nimmt dieses Verhalten zumeist still in sich auf. In einem langsamen, ruhigen Bilderfluss begleitet Rúnar Rúnarsson Ari auf seinem Weg und erforscht immer wieder in dessen Mienenspiel, wie er auf die Welt reagiert. Eine weitere Hauptrolle spielt die imposante, raue Landschaft, deren Weite mit der Enge im Haus, mit knappen Bildausschnitten, durch Türen oder Wände begrenzt, mit Aris Figur eingefangen in hohen, schmalen Spiegeln kontrastiert wird. Die isländische Landschaft spiegelt diese spannungsreiche Entwicklungsphase, und Rúnarsson macht sich ihren erhabenen Anblick bildästhetisch formvollendet zunutze. Sie verändert ihr Aussehen ständig, ist immer in Bewegung: Wolkengebirge ballen sich, werden von Sonnenstrahlen umspielt und lösen sich gefällig in einem blauen Himmel auf. Alles ist im Fluss, wie bei einem jungen, beweglichen Menschen, der darum auch für Verlorenes noch Ersatz finden kann.

Seit der Junge auf dem Land lebt, hat er kein einziges Mal mehr seine Kopfhörer aufgesetzt und Musik gehört. Dabei war die Musik zuvor so wichtig für ihn. Nur einmal überkommt ihn die Lust, und er betritt ein leeres Getreidesilo. Klar und rein hebt sich seine Stimme zum Licht empor, das wie im römischen Pantheon durch ein Kuppelauge einströmt. Aber solch ein Kunsterlebnis hat im Leben des Dorfs keinen Platz, auch wenn seine Stimme sogar den Vater rührt. Für diesen – und zugleich für diesen Flecken Erde, der unter dem globalisierten Kapitalismus leidet – zählt nur selbstverdientes Geld, nur das macht aus einem Jungen einen Mann. Bei der Großmutter dagegen findet Ari Verständnis, sie lehnt den „Macho-Quatsch“ des Vaters ab. Aber sie entstammt auch einer älteren Generation und vermittelt die vom Vater als altmodisch verunglimpften Werte. Sie hält ihren Sohn dazu an, Vorbild zu sein, und spricht sich für durchlässigere Geschlechterrollen aus. Ein Junge darf schon einmal Mädchensachen machen und auch weibliche Freunde haben. Doch alles Alte stirbt, so auch die Großmutter. Der Bewältigung ihres Todes weist der Regisseur einen zentralen Platz in der Mitte des Films zu. Innerlich völlig aufgewühlt, steigt Ari in die Höhe, steht einsam vor einem der grandiosen Berge, mit Tränen in den Augen, die goldfarbene Sonne umstrahlt seinen Kopf. In der sinnlichen Erfahrung der erhabenen Landschaft kann sich großer Schmerz also genauso lösen wie in der Musik. Und sie versetzt den Jungen am Ende in die Lage, in einem dramatischen emotionalen Konflikt eine moralische Entscheidung zu treffen, die reichlich Stoff für eine Diskussion bietet. Heidi Strobel

Im KIN0. PReSTIR Island/Dänemark/Kroatien 2015. Produktion: Brigitte Hald Prod./Nimbus Film Prod./Nimbus Iceland/MP Films/Pegasus Pic./Halibut. Regie und Buch: Rúnar Rúnarsson. Kamera: Sophia Olsson. Musik: Kjartan Sveinsson. Schnitt: Jacob Secher Schulsinger. Darsteller: Atli Oskar Fjalarsson (Ari), Ingvar Eggert Sigurdsson (Gunnar), Nanna Kristín Magnúsdóttir (Kristjana), Rade Serbedzija (Tomislav), Kristbjörg Kjeld (Großmutter). Länge: 99 Min. FSK: n.n. Start: 24.11.2016. Verleih: Peripher. Empfohlen ab 16.

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Ein Film, auf den wir uns freuen: „Sieben Minuten nach Mitternacht“

Wenn das Monster ruft Wir leben in gruseligen Zeiten. Wenn heute Filme über Monster gedreht werden, dann befinden wir uns keineswegs immer im Genre des Horrorfilms. Schon längst haben Monster den Kinder- und Jugendfilm erobert, und auch Juan Antonio Bayona stellt in seiner Adaption des Romans „A Monster Calls“ von Patrick Ness ein solches Wesen in den Mittelpunkt: einen zum Leben erwachten Baum, der einem Jungen beisteht, nachdem dessen Mutter unheilbar erkrankt ist. Um den Tod geht es also, um die Begegnung mit der Angst und den Ausbruch aus der Realität. Die Bilder machen große Lust, dem Ruf des Monsters zu folgen und in die fantastische Welt des düsteren Märchens einzutauchen. „Sieben Minuten nach Mitternacht“ startet am 9.2.2017 (Verleih: Studiocanal). •


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Fotos: Apaches Entertainment/cbj Verlag

„A Monster Calls“ (dt. „Sieben Minuten nach Mitternacht“). Die atmosphärischen Buchillustrationen von Jim Kay spiegeln sich deutlich in den Bildern des Kinofilms.


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„Auf Augenhöhe“

Arthouse-Regisseure entdecken Kinder und Jugendliche

Große Namen, kleine Zuschauer Fatih Akin, Andreas Dresen, Detlev Buck – ihre Namen stehen exemplarisch für ein Arthouse-Kino, das sich vorwiegend an ein erwachsenes Publikum richtet. Wie viele andere prominente Regisseure haben sie nun Kinder- und Jugendstoffe verfilmt. Ein Blick darauf, warum es in Deutschland immer attraktiver wird, Filme für ein junges Publikum zu drehen. Seit etlichen Jahren erfreuen sich Kinder- und Jugendfilme beim deutschen Kinopublikum großer Beliebtheit. In die Liste der 100 besucherstärksten deutschen Filme der letzten 15 Jahre haben es 26 Produktionen geschafft. In den Top 50 sind von 2001 bis 2015 nach Angaben der Filmförderungsanstalt (FFA) immerhin zehn Arbeiten vertreten. Die meisten Zuschauer zog in diesem Zeitraum der Abenteuerfilm „Wickie und die starken Männer“ (2009) mit 4,9 Mio. Besuchern an, gefolgt vom Zeichentrickfilm „Der

Von Reinhard Kleber

kleine Eisbär“ (2001) mit 2,7 Mio. Besuchern. Die starke Stellung des deutschen Kinderkinos setzt sich auch 2016 fort. Mit fast zwei Mio. verkauften Eintrittskarten ist „Bibi & Tina – Mädchen gegen Jungs“ im ersten Halbjahr 2016 sogar der erfolgreichste deutsche Film. Kein Wunder, dass der Besuchermagnet „Kinderfilm“ in letzter Zeit verstärkt auch prominente Regisseure auf den Plan ruft, die sonst nur oder fast nur Filme für Erwachsene drehen. Am 15. Mai 2016 brachte Adolf Winkelmann seine Verfilmung des Romans

„Junges Licht“ von Ralf Rothmann über die Erlebnisse eines zwölfjährigen Bergarbeitersohns im Ruhrgebiet der 1960er-Jahre in die Kinos. Am 15. September lief Fatih Akins „Tschick“, die Verfilmung des gleichnamigen Jugendromans von Wolfgang Herrndorf, mit beachtlicher Resonanz in den deutschen Kinos an. Am 20. Oktober folgten Ralf Huettner („Vincent will meer“) mit „Burg Schreckenstein“, der ersten Verfilmung der populären Jugendbuchreihe von Oliver Hassencamp, und Johannes Naber („Der Albaner“) mit der moder-


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Im Fokus: „Große“ Regie für junges Publikum

„Junges Licht“

nen Interpretation des Wilhelm HauffMärchens „Das kalte Herz“. Im kommenden Jahr (am 2.2.2017) geht dann Andreas Dresen mit der Neuverfilmung des James-KrüssRomans „Timm Thaler“ an den Start. Detlev Buck drehte unlängst mit „Bibi & Tina – Tohuwabohu Total“ bereits den vierten Film der 2014 begonnenen Reihe ab, die auf der gleichnamigen Kinderhörspielserie beruht. Auch Katja von Garnier ist in dem Metier weiter aktiv: Sie dreht gerade in Andalusien mit „Ostwind – Aufbruch nach Ora“ die dritte Folge der erfolgreichen Pferdefilmreihe.

PoPuläre MarKen erhöhen die Förderchancen Auffällig ist, dass praktisch alle Kinderkinohits und die genannte Filmstaffel namhafter Regisseure auf Bestsellern oder populären Marken beruhen. Deren Bekanntheit erhöht die Chancen der Projekte, Finanzierungszusagen der Filmförderer und Fernsehsender zu erhalten. Buck, Dresen,

Akin und andere haben auch kein Problem, Stars für ihre Kinderfilmprojekte zu gewinnen. Dass prominente Schauspieler gerne in familienaffinen Filmen auftreten, lässt sich schon seit Jahren bei den Märchenverfilmungen von ARD und ZDF beobachten. Filme nach Originalstoffen tun sich dagegen sehr viel schwerer, das Interesse des Publikums zu finden. Umso wichtiger ist die Initiative „Der besondere Kinderfilm“, ein Bündnis von öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern, Filmförderungen, Produzenten- und Branchenvertretern. Ziel ist es, dem Kinderfilm in Deutschland mit originären Stoffen und Gegenwartsgeschichten zu größerer Vielfalt zu verhelfen (vgl. KJK 03/16). Auch Fatih Akin möchte diesen Fördermechanismus in Anspruch nehmen: 2017 will er mit seiner Hamburger Produktionsfirma bombero international die Verfilmung von Ruth Tomas Drehbuch „Die Geister aus dem 3. Stock“ aus dem zweiten Jahrgang des Förderprogramms produzieren. Paradebeispiel für einen „besonderen Kinderfilm“ ist „Auf Augenhöhe“ (2016) über einen zehnjährigen

Heimjungen, der entdeckt, dass er einen kleinwüchsigen Vater hat. Die erste lange Regiearbeit von Evi Goldbrunner und Joachim Dollhopf wurde von Christian Becker und Martin Richter von der Produktionsfirma Rat Pack produziert. Für Becker, der mit den beiden „Wickie“-Filmen (2009 & 2011), den drei „Vorstadtkrokodile“-Filmen (2008-2010), „Hui Buh – Das Schlossgespenst“ (2005) und „Das Haus der Krokodile“ (2011) hierzulande zu den fleißigsten Family-Entertainment-Produzenten gehört, ist es wichtig, „neben Mainstream-Produktionen auch solche relevanten Themen wie in ‘Auf Augenhöhe’ anzupacken“. Ohne die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ hätte es diesen Film freilich nicht gegeben, sagt er.

KindheitS- und Jugenderinnerungen alS Motiv Doch was reizt Produzenten, immer wieder für die junge Zielgruppe Filme herzustellen? Christian Becker: „Kinder lieben Abenteuer, und es gibt nichts

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„Burg Schreckenstein“

Schöneres, als mit hunderten Kindern im Kino zu sitzen, die staunend und schreiend mitgehen. Und es macht großen Spaß, diese Abenteuer für die Kinder und Jugendlichen zu verfilmen, um ihnen den gleichen Spaß, die Aufregung und Begeisterung mitzugeben, die wir selbst als Kinder bei solchen Filmen verspürt haben.“ Für die Hochkonjunktur des Kinderfilms gibt es stichhaltige strukturelle Gründe. Der Erfolg von BestsellerAdaptionen ist leicht planbar, denn viele Eltern gehen gern mit ins Kino, wenn sie die Vorlagen aus ihrer Kindheit kennen. Kinder wiederum sind treue Zuschauer, sie kommen gerne wieder, wenn ein Erfolgsfilm Fortsetzungen hervorbringt, und sehen sich ihren Lieblingsfilm auch mehrfach im Kino an. Zudem stellen MerchandiseProduktlinien zu Erfolgsmarken wie „Die Wilden Kerle“ eine nicht unerhebliche zusätzliche Erlösquelle dar. Im individuellen Fall kommen andere Motive, etwa autobiografische Erfahrungen hinzu. So wurde der Ruhrgebietsspezialist Adolf Winkelmann („Die Abfahrer“) durch zwei junge Autoren, Till und Nils Beckmann, auf

den Roman „Junges Licht“ aufmerksam. „Ich war von der ersten Seite an gefangen. Da gab es keine Figur, keine Szene, die mich nicht an meine eigene Kindheit erinnert hätte. Mein Großvater hat auf einem Stahlwerk gearbeitet, wo er kostenlos immer so viel Sprudelwasser trinken durfte, wie er wollte. Und dann meine Lehrer, die am letzten Tag vor den Schulferien immer dieselben Kriegserlebnisse erzählten.“ Andreas Dresen, der 1993 die Fernsehdokumentation „Kuckuckskinder“ über ein 14-jähriges Berliner Heimkind realisierte und 2015 mit der Romanverfilmung „Als wir träumten“ über Leipziger Jugendliche in der Nachwendezeit im „Berlinale“-Wettbewerb vertreten war, sagte bereits vor vier Jahren, dass er „unheimlich gern mal für Kinder drehen würde“. Mit dem „Timm Thaler“-Film habe er sich einen lang gehegten Traum erfüllt, der Roman von James Krüss sei eines seiner Lieblingskinderbücher. Das Buch, in dem Krüss den Materialismus der Wirtschaftswunderjahre verarbeitet habe, besitze eine noch heute gültige Botschaft, sagt Dresen:

„Es geht darum, dass man nicht unbedingt glücklicher wird, wenn man der reichste Mann der Welt ist.“ Der 53-Jährige wundert sich ohnehin, „dass es in Deutschland so eine scharfe Trennung gibt: Bestimmte Regisseure drehen nur für Kinder, andere nur für Erwachsene“. Diese „unsichtbare Barriere“ sei absurd. Manchmal kommen Filmprojekte auch nur durch einen Zufall zustande. So hat Fatih Akin den Roman „Tschick“ vor fünf Jahren auf der Buchmesse in Frankfurt kennengelernt, war begeistert, bekam aber die begehrten Filmrechte nicht. Im Sommer 2015 trudelte überraschend dann doch ein Verfilmungsangebot ein. Weil ihm die Finanzierung eines anderen Projekts gerade weggebrochen war, entschied er sich kurzfristig für die Verfilmung. Dabei interessierte ihn weder der „Wilde Osten“ noch die BuddyGeschichte oder das Road Movie, sondern dass die zwei Protagonisten noch Teenager sind. Sie sind weder Kinder noch Erwachsene und müssen ihren Weg erst noch finden – eine Suche, mit der sich auch Akin noch identifizieren kann.


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Im Fokus: „Große“ Regie für junges Publikum

„Timm Taler“

Fotos: Tobis/Weltkino/Concorde/Constantin

dreharBeiten, die SPaSS Machen Mit „Burg Schreckenstein“ gab Ralf Huettner sein Kinderfilmdebüt. Hier trafen gleich mehrere Motive zusammen: zum einen der Wunsch von Huettners Sohn, sein Vater solle endlich einmal einen Film für Kinder drehen, zum anderen Huettners eigene Internatserfahrung. So habe er sich gut in den Protagonisten Stephan hineinversetzen können, der neu ins Internat kommt. Zugleich räumt der Regisseur ein: „Die Chance, ‘Burg Schreckenstein’ zu verfilmen, bekommt man nur einmal. Ein Jungeninternat auf einer echten Ritterburg, Harald Schmidt als Graf, Henning Baum als lässiger Direktor, wie ich ihn mir immer gewünscht hätte, Sophie Rois als superstrenge Schulleiterin und Gegenspielerin, Alexander Bayer als Burgmanager, das sind doch schon mal eine Menge guter Gründe. Die Jungen auf Burg Schreckenstein, die Mädchen auf Schloss Rosenfels, der Kampf der Schulsysteme: Das ist eine eigene Welt, aus der sich viele

Geschichten entwickeln lassen. Das für den Film in die Gegenwart zu adaptieren, war eine sehr schöne und spannende Aufgabe.“ Detlev Buck wiederum reizt bei „Bibi & Tina“ die künstlerische Herausforderung. Die Pferdemädchen-Hörspielreihe verwandelt er in ein verspielt inszeniertes Pop-Musical, das deutlich Bucks Handschrift trägt. Ob er nun für ein Kinder- und Jugendpublikum oder für Erwachsene dreht, spielt für ihn keine Rolle: „Ich versuche, beides so zu machen, dass es mir gefällt“, sagt er und schließt weitere Kinder- und Jugendfilme auch jenseits von „Bibi & Tina“ nicht aus. „Weil ich keine Unterscheide mache, bin ich da offen. Wenn mich eine Geschichte interessiert!“

auch BerühMte regiSSeure Sind eine MarKe Macht es der aktuelle Trend Filmemachern nun leichter, Kinder- und Jugendfilmprojekte zu finanzieren? Der Münchner Produzent Philipp Bud-

weg, der u.a. die „Edelstein“-Trilogie (2013-2016) sowie die drei „Rico & Oscar“-Kinderfilme (2012-2016) produzierte, meint: „Es geht einfacher, wenn man eine Marke hat. Die großen Verleiher wollen die Marke, aber auch einen Regisseur, der dafür steht, ein großes Publikum zu erreichen. Deswegen war Neele Leana Vollmar mit ihrer Expertise von ‘Maria, ihm schmeckt’s nicht!’ genau die Richtige für ‘Rico, Oskar und die Tieferschatten’, zumal sie ohnehin einen Kinderfilm machen wollte. Den zweiten ‘Rico’-Film hat dann Wolfgang Groos realisiert, der mit den beiden ‘Vampirschwestern’Filmen bewiesen hat, dass er auch in diesem Segment gute Unterhaltung und Zuschauerzahlen liefert. Da wäre ein Berufsanfänger schwieriger durchzusetzen gewesen.“ Aus Budwegs Sicht nimmt der jüngste Boom schon fast überhand: „In manchen Sitzungen der Fördereinrichtungen werden schon so viele Kinderfilme eingereicht, die auf Marken beruhen und berühmte Regisseure an Bord haben, dass nicht alle gefördert werden können. Da droht eine Kannibalisierung.“ •

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Im Fokus: „Große“ Regie für junges Publikum

Nur die Kamera steht tiefer Mit Regisseuren wie Martin Scorsese, Danny Boyle oder Spike Jonze verbindet man eigentlich keine Kindergeschichten. Dennoch haben sie wie viele andere renommierte Filmemacher in den vergangenen Jahren Kinderstoffe adaptiert. Eine Bereicherung für das Kinderkino – und für seine Wahrnehmung. Von Stefan Stiletto

Als die Verfilmung von Brian Selznicks Kinderbuch „Die Entdeckung des Hugo Cabret“ angekündigt wurde, war das Erstaunen groß: Mit der Regie wurde Martin Scorsese betraut, ausgerechnet jener Regisseur, dessen Werk gerne – und nicht ganz gerechtfertigt – mit blutigen Mafia-Filmen assoziiert wird. Egal, für wie durchlässig man die Grenze zwischen Genres und Zielgruppen auch halten mag: Wenn ein renommierter Regisseur, der für einen besonderen Stil bekannt ist, einen Kinderstoff verfilmt, dann findet das immer besondere Beachtung. Was Scorsese an „Hugo Cabret“ (2012) gereizt hat, liegt auf der Hand. Schließlich erzählt Selznick in seinem Roman, in dem narrative Texte und doppelseitige filmähnliche Bildfolgen einander ergänzen, auch eine Geschichte der Kinematografie. Die Magie des frühen Kinos wird dabei in der Gestalt des gealterten und desillusionierten Stummfilmpioniers Georges Méliès personifiziert. Wenn das Waisenkind Hugo ihn im Paris des Jahres 1931 im Bahnhof Montparnasse kennenlernt, nimmt es die Rolle eines Stellvertreters fürs Publikum ein, das so in die zauberhafte Welt des Films eintauchen kann. Zitatenreich erweckt Scorsese die alten Werke zum Leben, bietet sogar eine

„BFG - Big Friendly Giant“

neue Version der Ankunft eines Zugs an einem Bahnhof, mit dem er den ersten Lumière-Filmen Tribut zollt. Es gibt ein wenig Slapstick – vermittelt über einen von Sacha Baron Cohen gespielten Bahnhofsaufseher – und viele fließende Kamerafahrten durch das imposante Bahnhofsgebäude, die den Raum plastisch werden lassen. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Suche des Jungen nach seiner Bestimmung – Scorsese indes nutzt dies als Folie für seine Liebe zum Kino.

SpiElBErg liEBt SopHiE wEnigEr AlS DEn frEunDliCHEn riESEn. Ähnlich verhält es sich mit Steven Spielberg, der mit „E.T. - Der Außerirdische“ (1982) schon früh in seiner Karriere großes Family-Entertainment gemacht und Kinderherzen erobert hat (und der es danach schwer hatte, sich als Regisseur ernster Stoffe zu empfehlen). Erst 2016 hat er mit der Roald-Dahl-Verfilmung „BFG – Big Friendly Giant“ erneut daran angeknüpft. Findet der junge Elliott in „E.T.“ im zerknautschten, versehentlich auf der Erde zurückgelassenen Alien einen Seelenverwandten, so ergeht es dem Waisenkind Sophie in „BFG“ nicht anders. Im Reich der Riesen landet

„Hugo Cabret“


Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_04/2016

Fotos: Constantin/Paramount/Twentieth Century Fox

Im Fokus: „Große“ Regie für junges Publikum

Sophie bei dem einzigen freundlichen Giganten, der sie beschützt. Doch Spielberg ist gar nicht so sehr an der Kinderfigur interessiert: Er liebt Sophie weniger als den freundlichen Riesen – und hat vielleicht auch schon Elliott weniger als E.T. geliebt. Bei so mancher Hollywood-Produktion geraten die kindlichen Protagonisten durch die prominenten Nebenfiguren bisweilen ein wenig ins Hintertreffen. Anders verhält es sich bei Spike Jonzes „Wo die Wilden Kerle wohnen“ (2009), der Adaption von Maurice Sendaks Bilderbuchklassiker. Richtet sich das Buch noch an Kleinkinder und adressiert das oft widersprüchliche und unbändige Gefühlschaos, derer sie erst Herr werden müssen, spricht der Film eher Kinder im älteren Grundschulalter an. Dabei ist er kein „Konsens-FamilyEntertainment“, vielmehr ArthouseKino für Kinder mit behutsamen Abgründen, in dem das Kind weiterhin im Mittelpunkt steht. Max, der sich nach seinem Vater sehnt, mit seiner Mutter streitet, der oft wütend ist und nicht weiß, wo er hin soll mit seiner Energie und dann bei Monstern landet, die ihm ähnlicher sind, als es zunächst scheint, ist immer noch der Dreh- und Angelpunkt des Films – eine starke, vielschichtige Identifikationsfigur. Das Drehbuch von Dave Eggers und

Spike Jonze ist psychologisch komplex, der Film dennoch emotional leicht zugänglich. Jonze und Eggers übertragen die Ecken und Kanten, die in der Vorlage enthalten sind, auf ihre Adaption und fordern damit Kinder als Zuschauer heraus. Ein „echter“ JonzeFilm ist „Wo die Wilden Kerle wohnen“ nichtsdestotrotz. Wie in seinen markanten Musikvideos und Spielfilmen vermischt er auch hier das Reale und das Fantastische und lässt das Fantastische real und alltäglich wirken.

rEgiEStArS BringEn EinE ViSuEllE QuAlität inS KinDErKino, DiE EngAgiErtE unD inHAltliCH oriEntiErtE KinDErfilmrEgiSSEurE oft VErmiSSEn lASSEn. Über die hohen Budgets hinaus, die durch die „großen Namen“ auf einmal möglich werden, ist es diese persönliche Handschrift der Filmemacher, die eine neue visuelle Qualität ins Kinderkino bringen kann – und die engagierte, inhaltlich orientierte Kinderfilmregisseure oft vermissen lassen. „Millions“ (2004) etwa, Danny Boyles Film über ein sieben und neun Jahre altes Geschwisterpaar, das zufällig in Besitz eines Sacks voller Geld kommt

„Millions“

und nur 17 Tage Zeit hat, um es entweder auszugeben oder zu verteilen, ist ein ästhetischer Vergnügungspark. Die videoclipähnliche Montage, das Gespür für die Wirkung ungewöhnlicher Kameraperspektiven und -einstellungen, das Gespür für die Wirkung der Filmmusik – all das, was vor allem die frühen „Erwachsenenfilme“ von Danny Boyle auszeichnet, findet sich auch hier, einschließlich des teils makaber-abgründigen Humors. Die verspielte Inszenierung unterstreicht die absurd-komische Handlung, unter deren Oberfläche ernsthafte Themen wie Verlusterfahrungen und Glaube aus Kindersicht verhandelt werden. Scorsese und Spielberg, Jonze und Boyle: Sie alle mussten sich ganz offensichtlich nicht verbiegen, um ihre Kindergeschichten zu erzählen, und biedern sich auch nicht bei einem jungen Publikum an. Weil sie an diese Kinderstoffe herangehen wie an ihre anderen Werke auch, bleiben sie so angenehm unpädagogisch. Das ist der Vorteil, wenn Kinderfilme nicht als Sondergattung betrachtet werden. An der Handschrift der Regisseure hat sich auch angesichts des deutlich jüngeren Publikums, an das sich die neuen Filme (auch) richten, erst einmal nichts verändert. Und das ist so beruhigend wie bereichernd. •

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Puck Cinema Caravana

Wieder Kind sein – im kleinsten Kino der Welt Um ihren animierten Lieblingsfilmen die gebührende Aufmerksamkeit zu bescheren, haben sich zwei katalanische Künstler einen Traum erfüllt: Wenn das Publikum nicht ins Kino kommt, muss das Kino eben zum Publikum gehen. So entstand ein mobiles Kino, in dem sich nun die unterschiedlichsten Generationen treffen. Es war einmal, so beginnt die Geschichte dieses märchenhaften Kinos, eines schönen Tages, dass Carles Porta, Illustrator des katalanischen Animationsfilmfestivals Animac in Lleida feststellte, dass man auf den Filmfestivals doch sehr unter sich ist und immer wieder dieselben Leute im Publikum antrifft. Und er fand, es sei an der Zeit, mehr Menschen in den Genuss richtig guter Filme kommen zu lassen. Vor allem kleinen und großen Kindern wollte er die unbekannte Fülle der animierten Bilderwelt jenseits von Disney und Pixar präsentieren. Er dachte, es wäre doch recht praktisch, ein sehr kleines Kino zu haben, das man überall mit hinnehmen könne. Und mit Abenteuerlust wurde die Idee des Wohnwagenkinos geboren: des wohl kleinsten Kinos der Welt. In Toni Tomas von der Kreativwerkstatt „Tombs Creatius“, einer „Kompanie der Künste der Straße“, fand er den idealen Partner. Toni kennt die

Dynamiken der Straße, Carles die guten Filme. Bald war ihnen klar, dass ihr Wanderkino nicht in irgendeinem Wohnwagen untergebracht werden sollte, sondern in einem Klassiker: einem Puck von Hymer, klein, rund und retro. Schließlich musste ein größeres Model her, doch der Name blieb: Puck Cinema. Was folgt, ist so schlicht wie genial: alles raus aus dem Wagen und Kino rein. Eine aufklappbare Leinwand, etwa 2 auf 1,5 Meter. Dahinter die Soundinstallation. Der Projektor wird außen angebracht, wegen des Lärms und der Hitze. Eine Klimaanlage sorgt für Wohlfühltemperatur, das ist vor allem im spanischen Sommer wichtig. Die Fenster sind mit schwarzen Jalousien abgedunkelt. Platz zum Sitzen bietet eine Bank an der Rückwand und ein paar Baumstümpfe. Den Boden bedeckt eine Liegewiese aus Kunstrasen, die mit einer bunten Lichtorgel unterlegt ist. Zeichnungen von Carles geben

Von Antje Knapp

dem Mobil das gewisse Etwas: den Hauch einer vergessenen Zauberwelt, die jeden Besucher wieder zum Kind werden lässt.

„DEr AuFTrITT DEs PuCK CInEmA wIrD zu EInEm EChTEn hAPPEnInG.“ Das Ergebnis lässt sich irgendwo zwischen dem Bauwagen von Peter Lustig, dem Kinozug von Medwedkin und den frühen Wanderkinos verorten. Sein Auftritt wird zu einem echten Happening. Kaum auf dem Dorfplatz angekommen, wird der Puck gleich von einer Menge Kinder umringt. Die hübschen roten Absperrkordeln erinnern an ein Theaterfoyer im Freien. Toni präsentiert lautstark das kleinste Kino der Welt, und Carles bespricht mit den Wartenden das Menü für heute, denn das Programm wird von den Zuschauern à la carte gewählt. Sieben Kinder und Erwachsene müssen sich für einen Kurzfilm entscheiden.


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Fotos: Tombs Creatius

Im Fokus: Mobiles Kino in Spanien

spaniens Kultur in der Krise Im Zuge der Wirtschaftskrise erhöhte die rechtskonservative Partido Popular (PP) im September 2012 die Mehrwertsteuer des Kultur- und Freizeitsektors sprunghaft von vormals reduzierten acht auf 21 Prozent. Damit stieg die Besteuerung der Kultur deutlich über das europäische Mittel von zehn Prozent (zum Vergleich: Deutschland sieben Prozent). Seit 2010 litt der Sektor bereits unter dem starken Einbruch öffentlicher Fördergelder. Die Folgen: Besonders die Kinos haben erhebliche Einbußen zu verzeichnen, viele Betriebe schließen. Noch ist keine Besserung in Sicht. Seit Dezember 2015 steht die spanische Politik im Zeichen einer Regierungskrise, die zu einem Stillstand jeglicher Entscheidungen geführt hat. www.tombscreatius.com/puck-cinema-caravana

Dann ist es endlich soweit. Die Tür des Wohnwagens öffnet sich. Carles knipst unsere Eintrittskarten ab, wir können einsteigen. Drinnen machen wir es uns gemütlich. Davon überzeugt sich auch der Vorführer noch einmal persönlich. Hinter dem schwarzen Vorhang des Rückfensters grinst plötzlich Carles Sohn Pau in den Wagen und schüttelt uns die Hände. Alles bestens, Film ab! In gestochen scharfer Projektion und mit überraschend gutem Sound ziehen uns die Bilder in ihren Bann. Das Außen hört auf zu existieren, wir tauchen in eine wundersame Animationswelt ein. Im Schummerlicht der Projektion sitzen wir auf der Lichtung eines Zauberwalds. Um uns herum sprießen nie gesehene Pflanzen empor. Lichtreflexe huschen über die Liegewiese, die den Kindern kleine „Ohs!“ und „Ahs!“ entlocken. Auf der Leinwand folgt Rotkäppchen den Waldbewohnern in ein Minikino. Der märchenhafte Trailer des Puck Cinema trifft den Nagel auf den Kopf. Hier sitze ich, Rotkäppchen, und hoffe, es kommt kein Wolf, damit ich nie aus diesem Kino aussteigen muss. Es folgt der Hauptfilm, acht Minuten, poetisch, verspielt, tiefsinnig. Wir teilen einen intimen Moment des Realitätsverlusts, das Gefühl, gemeinsam den Eingang zu einer anderen Dimension gefunden zu haben. Dann kommt doch der Abspann, es öffnet sich die Tür. Aussteigen bitte! Wir stolpern ins grelle Sonnenlicht. Der Geräuschpegel der Wartenden dringt wieder an unsere Ohren. Was bleibt, ist ein leichtes Lächeln ganz tief drinnen – und das Gefühl, man könne durch ein einfaches Zusammenkneifen der Augen noch etwas ganz Anderes hinter den Dingen erkennen.

„KIno ALs orT DEs GEmEInsAmEn ErLEbEns, DEr InTEGrATIon unD InKLusIon. DEr PuCK mAChT KEInE unTErsChIEDE.“ Die ersten Fahrten unternahm das Puck Cinema 2009. Station macht es seitdem mitten im Wald und auf Dorffesten. Von den Pyrenäen reist es bis zur Küste. Es wird auf Film-, Theaterund Zirkusfestivals eingeladen, ist auf

Messen zu sehen, in Museen. Es tourt durch Spanien, Frankreich, die Schweiz und Italien, sogar mit dem Schiff bis nach Costa Rica. (In Deutschland war es bisher noch nicht zu sehen.) Das Publikum ist sehr unterschiedlich, mal mehr Kinder, mal mehr Jugendliche, hier ein Bergdorf, dort ein Problemviertel. Rentner teilen sich das Kinoerlebnis mit Kindern mit Migrationshintergrund, Jugendliche mit Kleinkindern. Kino als Ort des gemeinsamen Erlebens, der Integration und Inklusion. Der Puck macht keine Unterschiede. Da die Dörfer und Institutionen, die ihn einladen, die Kosten übernehmen, ist der Kinobesuch fürs Publikum gratis. So ist es möglich, den Film erwartungslos in sich aufzunehmen, anstatt ihn nach dem Euro zu bewerten, den man dafür ausgegeben hat. Die angebotenen Kurzfilme kommen in der Regel gut an. Aber auch wenn mal jemand unzufrieden aus der Vorstellung geht, kann er seine Meinung äußern, sich wieder hinten anstellen und einen weiteren Film probieren. Appetithäppchen eines freien, unabhängigen, gewagten Animationskinos. Jedes Jahr hat Carles andere Autoren unter Vertrag und kreiert ein neues Programm. Zurzeit gibt es „Von Sympathie bis Absurdität“ zu sehen, das Kurzfilme aus Finnland, Frankreich, Israel, den Niederlanden, Singapur und Spanien präsentiert. Eines aber immer: Der Puck ist der Animation gewidmet. In Zeiten der Krise wie derzeit in Spanien ist die Kultur auf Innovationen wie den Puck angewiesen. Hier gehen zwar nicht Massen ins Multiplex, aber eine Handvoll Neugieriger erlebt auserlesenes Filmvergnügen abseits des Mainstreams. Keine leichte Kost, aber richtig gutes Animationskino. Das Minikino wird zu einem Punkt der Begegnung, der die Lust am Entdecken und den direkten Kontakt mit den Mitmenschen fördert. Da ist es kein Wunder, dass sich bereits ein Pärchen im Puck Cinema gefunden hat. Das ist doch ein richtiges Happy End! • Das Puck Cinema im Internet (spanische Website) http://cargocollective.com/puckcinema

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Im Fokus: Integration

Anmerkungen zur kulturellen FilmArbeit mit geFlüchteten

Kino darf kein Zwang sein! Angebote der kulturellen Filmarbeit mit Geflüchteten werden aktuell breit gefördert. Dieses Engagement ist begrüßenswert. Doch das Verhältnis von gut gemeinter Kulturvermittlung und Integration sollte stets kritisch hinterfragt werden. Wobei man auch nicht vergessen sollte, dass eine Sensibilität für die individuellen Bedürfnisse des Publikums schon immer wichtiger Bestandteil der Filmbildung war.

Von Holger Twele

„Wintertochter“ (2011): Die sensible Geschichte über Flucht und Vertreibung ist im „Cinemaya“-Filmkoffer für junge Geflüchtete enthalten

Im Grunde müssten alle, die in der filmkulturellen Arbeit tätig sind, dankbar dafür sein, dass im letzten Jahr so viele Geflüchtete zu uns nach Deutschland kamen. Denn inzwischen steht nicht nur Geld für entsprechende Filmprojekte zu Verfügung, das verhältnismäßig breit gestreut ist, sondern auch die Sensibilität im Umgang mit Filmen in der filmrezeptiven und filmpraktischen Arbeit wird abseits

curricularer Erwägungen und inklusiver Anstrengungen plötzlich wieder zu einem zentralen Thema. Fast könnte man denken, das Rad wurde in diesem Bereich gerade neu erfunden. Und traumatisierte Kinder und Jugendliche gäbe es erst seit dem Stellvertreterkrieg in Aleppo. Immerhin: Das Geld fließt, und jede Institution, die etwas auf sich hält, möchte selbstverständlich ihren Teil

dazu beitragen, die Geflüchteten zu unterstützen, sie womöglich gar zu „integrieren“. Dabei ist es nicht mal vorrangig, ob dies aus sozialem Verantwortungsbewusstsein, einem inneren Bedürfnis, einem kulturellen Auftrag oder politischem Kalkül erfolgt, wobei letzteres auch aus den anderen Quellen gespeist sein kann. Dank der umfangreichen Fördermittel, die schon seit einigen Jahren insbesondere


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Im Fokus: Integration „Beeman“ (2014), eine interkulturelle Jugend-Eigenproduktion des Medienzentrums St. Pauli

durch die vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Initiative „Kultur macht stark“ für „sozial benachteiligte Jugendliche“ fließen, ließen sich bereits viele Filmprojekte realisieren – von Filmveranstaltungen speziell für neu zugewanderte Immigranten bis zu Filmprojekten mit jungen Geflüchteten, die auf diese Weise nicht nur etwas inneren Halt fanden, sondern auch lernten, sich mit dem Medium auseinanderzusetzen, ihre Bedürfnisse und Gefühle zu artikulieren, Freunde und Gleichgesinnte zu finden, die ihnen das Leben in der Fremde unter erschwerten Bedingungen erleichterten. Fast monatlich kommen neue Projekte hinzu, denen zu wünschen ist, dass sie auf Nachhaltigkeit angelegt und nicht nur ein Strohfeuer zur Beruhigung des eigenen Gewissens sind. Mit den Projekten ist stets auch die Hoffnung verbunden, Geflüchtete schneller integrieren zu können, sie mit der deutschen Sprache, insbesondere mit der deutschen Kultur vertraut zu machen. Dabei reicht es nicht, ihnen einfach nur ein paar schöne

Stunden im Kino zu bereiten und sie von der harten Alltagsrealität abzulenken, was ein deutsches Kinopublikum als selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen würde.

Durch einen rein pädagogisch orientierten Ansatz kann das Kino leicht zum Objekt filmkultureller Bestandssicherung werden. Durch einen rein pädagogisch orientierten Ansatz kann das Kino jedoch leicht zum Objekt filmkultureller Bestandssicherung werden. So weist der Berliner Migrationsforscher Mark Terkessidis auf die Gefahr hin, dass auch gute Filmprojekte in die falsche Richtung laufen, wenn sie ihren Kunstanspruch aufgeben und sich bedingungslos in den Dienst der Integration und des Spracherwerbs stellen. Sie erfüllen dann vielleicht die Erwartungshaltungen der Geldgeber und einiger Projektleiter, befinden sich aber nicht annähernd auf Augenhöhe der Zielgruppe und verfestigen oft

Entdeckt beim Kurzfilmfestival Mo & Friese: „Ali und der Ball“ von Alex Holmes (Australien 2008)

unbewusst oder sogar ungewollt ein destruktiv wirkendes Machtverhältnis. Die Vermittler von deutscher Kultur und Kunst maßen sich in solchen Fällen an, den vermeintlich „armen ungebildeten“ Geflüchteten etwas zu vermitteln, wovon sie bisher keine Ahnung hatten. Mit Integration hat das rein gar nichts zu tun. Und selbst wenn in einigen arabischen Ländern das Kino nicht denselben Stellenwert wie in Westeuropa hat, kommt ein Großteil der Geflüchteten doch aus Ländern, in denen das Fernsehen und das Smartphone genauso zum Alltag gehören wie bei uns.

Inzwischen setzt sich die Ansicht durch, nicht von integrativen Filmprojekten, sondern von interkulturellen Projekten zu sprechen. Immerhin setzt sich inzwischen die Ansicht durch, nicht weiter von integrativen Filmprojekten als vielmehr von interkulturellen Projekten zu sprechen, um auf diese Weise zu unterstreichen, dass es sich immer um die Begegnung zweier oder mehrerer Kulturen handelt. Da viele Geflüchtete Schreckliches erlebt haben, manchmal noch unter Schock stehen oder posttraumatische Belastungsstörungen aufweisen, muss die filmkulturelle Arbeit diesen Aspekt mit berücksichtigen und in der Lage sein, angemessen darauf zu reagieren. So genannte Trigger, also Auslösefaktoren in Bild, Ton oder einer Filmszene, die ein Trauma möglicherweise wieder aufleben lassen, verlangen eine besondere Aufmerksamkeit. Sie dürfen aber auch nicht überschätzt werden und sollten immer im Gesamtzusammenhang des Films und seines dramaturgischen Handlungsbogens gesehen werden. Die neue Sensibilität im Umgang mit Triggern ist wünschenswert, wirkt im historischen Rückblick jedoch etwas befremdlich, so als hätte es traumabelastete Kinder und Jugendliche in der filmkulturellen und schulischen Arbeit früher nicht gegeben. Zählt allein die Masse? Oder verweist nicht jedes Trauma auf ein ganz konkretes Einzelschicksal, unabhängig

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Im Fokus: Integration

davon, aus welchen Krisenherden der Welt die Geflüchteten der vergangenen Jahrzehnte kamen, von Vietnam über Bosnien bis zu Tschetschenien, um nur einige zu nennen? Darüber hinaus gibt es viele Kinder, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, selbst wenn sie nicht unmittelbar Krieg erlebten und auch keine Bootsflüchtlinge sind. Kinder, die einen schweren Unfall hatten, deren Eltern gestorben oder drogensüchtig sind, die geschlagen oder vernachlässigt werden, oder deren Eltern sich einfach „nur“ scheiden lassen. Unlängst erwähnte ein Jury-Mitglied der Initiative „Der besondere Kinderfilm“, dass bisher überwiegend Drehbücher über dysfunktionale Familien zur Förderung eingereicht wurden. All diesen Kindern pauschal erklären zu wollen, ihr persönliches Leid sei weniger wichtig als jenes der Geflüchteten, klingt absurd.

Eine gute filmkulturelle Arbeit behält den Film als Kunstwerk und die aus Individuen bestehende heterogene Zielgruppe gleichermaßen im Auge. Mit anderen Worten: Statt neue Berührungsängste zu wecken und den Fokus auf die Gefahren eines Filmbesuchs zu legen, sollten die einzigartigen Möglichkeiten des Mediums hervorgehoben und genutzt werden. Eine gute filmkulturelle Arbeit, die den Film als Kunstwerk und die aus Individuen bestehende heterogene Zielgruppe gleichermaßen im Auge behält, musste schon immer solche Faktoren mit berücksichtigen, nicht erst seit dem Jahr 2015. Weiterhin gilt: Niemand darf zu einem Kinobesuch gezwungen werden, und bei auftretenden Problemen muss jemand da und in der Lage sein, angemessen zu reagieren. Vielleicht war das früher zumindest in der nichtkommerziellen Filmarbeit einfacher, als das gleichmäßige Surren und Rattern der Projektoren irgendwie beruhigend wirkte und die erforderliche Licht-Pause beim Wechseln der Spulen auch für solche Zwecke genutzt werden konnte. •

Fotos: Zorro/Medienzentrum St. Pauli/Mo & Friese KinderKurzFilmFestival

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WillkOmmen: Der erSte kinObeSuch

Ins Kino gegangen, gelernt! Wie ein kurzer Film auf unterhaltsame Weise eine neue Perspektive eröffnet: Zu Besuch beim „Mo & Friese KinderKurzFilmFestival“ mit einer Willkommensklasse

Wer eine neue Sprache lernt, entdeckt eine neue Welt. Wer ins Kino geht ebenfalls. Der in der Fremdsprachendidaktik häufig zitierte Satz bezieht sich freilich darauf, dass mit dem Erwerb einer Fremdsprache auch der Zugang zu einem anderen Kulturraum geöffnet wird. Die audiovisuellen Bilderwelten im Kino ermöglichen es auf andere, aber gewissermaßen verwandte Art, sich für die Dauer eines Films in eine neue Welt zu begeben und diese kennenzulernen. Mehr noch: Als universell verständliche Bildsprache bietet Film dem Publikum mehrere Verstehensebenen an – intellektuell wie emotional. Gerade in heterogenen Lerngruppen, wie sie in Willkommensklassen die Regel sind, können Filme als authen-

Von Marguerite Seidel

tische Sprachproduktionen deshalb nicht nur den Spracherwerb unterstützen. Sie ergänzen zudem den Unterricht als vielschichtige Bildungs-, Kultur- und Werte-Mittler, die dank der ihnen innewohnenden Multimedialität im Prinzip alle erreichen können: verschiedene Lernertypen mit unterschiedlichen Kulturen, Bildungshintergründen, Sprachniveaus und Alphabetisierungsgraden. So die Theorie. Doch wie kann der „Allround-Effekt“ von Film in der Praxis aussehen?

Der Kinobesuch als aufregendes Neuland Der erste Kinobesuch mit einer Hamburger Willkommensklasse der Jahrgangsstufe 7/8 zeigte, dass es letztlich


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Im Fokus: Integration

„Sieben Berge“

vor allem auf die Qualität eines Films ankommt, um die Schüler nachhaltig anzusprechen. Zunächst stellte bereits der Kinobesuch an sich ein außergewöhnliches Erlebnis dar. Obwohl die meisten Schüler erklärte Filmfans sind, kannten sie Filme häufig nur von DVD oder aus Online-Angeboten – nicht zuletzt, weil Kinos in manchen ihrer Herkunftsländer kaum existent sind oder gar als „anrüchig“ gelten. Durch den Kinobesuch lernten sie eine in Deutschland wichtige kulturelle Institution und ihre Funktionsweise kennen. Bei der Gestaltung ihrer eigenen Freizeit können sie nun an diese Erfahrung anknüpfen.

Hürden und Vorbehalte können fallen Auch während des Filmbesuchs stießen die Jugendlichen auf Neuland. Anders als die geläufige Gattung des abendfüllenden Spielfilms bot das Programm des „Mo & Friese KinderKurzFilmFestival“ in Hamburg eine Mischung aus kurzen Spiel-, Dokumentar- und Animationsfilmen rund um die Themen Identitätsfindung, Neuverortung und Selbstbestimmung. Die Sehgewohnheiten der Schüler wurden mal durch experimentellere Werke gebrochen, mal durch gefälligere Inszenierungen bedient. So hatten selbst die Schwächsten Erfolgserlebnisse beim Verstehen der Filme, während die Stärksten ausreichend gefordert wurden.

Bei der klasseninternen Abstimmung nach der Vorführung über den besten Film waren sich freilich fast alle einig: „Gewonnen“ hatte der Kurzfilm „Sieben Berge“ („Zevenbergen“) von Janneke van Heesch (2015), eine tragikomische Geschichte aus den Niederlanden über eineiige Zwillingsbrüder, die von ihren Eltern und der Schule dazu gedrängt werden, sich möglichst oft zu trennen, um ihre eigene Individualität zu entwickeln. Auf Augenhöhe der ungefähr zwölfjährigen Protagonisten räumt der Film in 22 Minuten quasi en passant mit weltweit verbreiteten gesellschaftlichen Normvorstellungen auf. Es ist okay, sich als eineiiges Brüderpaar alles zu teilen, sogar dieselbe Freundin. Es ist okay, wenn weiße und schwarze Jugendliche sich ineinander verlieben. Es ist okay, wenn die Lehrerin das Ehebett mit einer Frau teilt. Es ist aber nicht okay, wenn andere bestimmen wollen, wer man ist – auch wenn es die eigenen Eltern sind. Angesichts dieses mit intelligentem Humor und kreativen Ausstattungsdetails gestalteten Unterhaltungsfilms verschwanden interessanterweise jegliche Hürden und Vorbehalte der mehrheitlich muslimischen Schüler, obwohl sie bisher in Ländern und Familien aufwuchsen, in denen die Themen des Films tabu sind. Im wahren Leben tun sie sich außerdem teils bereits mit koedukativem Unterricht schwer, auch damit, jugendliche beziehungsweise interkulturelle, interreligiöse oder gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen zu akzeptieren. Das Plädoyer von „Sieben Berge“ für generationenübergreifende Toleranz, Individualität und freie Partnerwahl leuchtete jedoch allen grundsätzlich ein. Selbst die Herausforderung, deutsche Untertitel zu lesen und den niederländischen Originalton zu hören, bereitete in Verbindung mit der einnehmenden Handlung und pointierten Regieeinfällen keine Probleme beim globalen Verständnis. Wie in Regelklassen auch kann ein einziger guter Film unter Umständen mehr bewirken als langwierige Projektarbeit. •

moundfriese.shortfilm.com

Vision Kino 16: Film – Kompetenz – Bildung

Vom 7. bis 9. Dezember findet in Erfurt der 6. Kongress von Vision Kino – Netzwerk für Film- und Medienkompetenz statt. Mehrere der zahlreichen Panels und Workshops widmen sich in diesem Jahr dem Themenkomplex „Integration und Filmbildung“. So steht die Eröffnungsrunde am 7.12. (9.30 h) unter dem Tehma „Integration durch Film“. Es diskutieren Mirjam Kruppa, Beauftragte des Landes Thüringen für Integration, Migration und Flüchtlinge; die Schauspielerin Almila Bagriacik (u.a. „Hördur“, „Die Fremde“, „Mitten in Deutschland“), die Regisseurin Yasemin Şamdereli („Almanya - Willkomen in Deutschland“) sowie die Regisseure Hüseyin Tabak („Das Pferd auf dem Balkon“, „Deine Schönheit ist nichts wert“) und Burhan Qurbani („Shahada“, „Wir sind jung, wir sind stark“). Am selben Tag wird unter dem Thema „Filmbildung in der Migrationsgesellschaft“ diskutiert: „Die Entwicklungen im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen sowie die Debatten um Migrations- und Asylpolitik verschaffen der Film- und Medienbildung in der Migrationsgesellschaft erweiterte Aufgabenstellungen. Angesichts der großen Zahl von Geflüchteten sind die Bedeutung interkultureller Filmarbeit und die Herausforderungen kultureller Integration und gesellschaftlicher Teilhabe gewachsen. (...) Diskutiert werden soll, welche film- und kinobezogenen Ansätze es auf diesem Felde bereits gibt, welche Konzepte und Angebote mit Blick auf die heterogenen Gruppen von Geflüchteten und Asylsuchenden sich herausgebildet und bewährt haben.“ Diskussionsteilnehmer: Ali Samadi Ahadi, Regisseur und Autor, Prof. Dr. Horst Niesyto, Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge, Mechthild Eickhoff, Leiterin des Zentrums für Kulturelle Bildung im Dortmunder U, Bernd Wolpert, Leiter des Evangelischen Zentrums für entwicklungsbezogene Filmarbeit (EZEF), Alexandra Treske, Klassenleiterin einer Willkommensklasse an der Ferdinand-Freiligrath-Schule, Berlin. Die Teilnahme am Kongress ist kostenlos. Das vollständige Programm und die Anmeldung zum Kongress gibt es im Internet. •

www.visionkino.de

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Reihe: Den kenn‘ ich doch!

Fotos: Senator/Concorde

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Erfinder im Kinderfilm

Einsteins kauzige Brüder Erfindungen im Kinderfilm sind eine Sache der Wirrköpfe und der Nerds mit Liebe zur Mechanik. Und: Sie machen Wissenschaft zur einer durch und durch fantastischen Angelegenheit. Eine Begegnung mit dem scheinbar Unmöglichen und dem Chaos.

Von Christian Exner

Hat man im Kinderfilm jemals einen Erfinder gesehen, der nicht komplett abgedreht ist? Irgendwie scheinen diese Erfinder – Typ zerfahrener Professor, Nickelbrille, wirres Haar, schlampig gekleidet und in Gedanken immer bei märchenhaften Weltverbesserungsmaschinen – aus dem Holz zu sein, aus dem Albert Einstein geschnitzt war, der mit seinem Wuschelhaar und seinem verschmitzten Blick zur Ikone wurde. Im Kinderfilm können sich Einsteins Epigonen so richtig austoben. Sie sind noch dem Zeitalter von Daimler, Edison und Tesla verhaftet, wo Technik dampft, rumort und Funken schlägt. Zwar dichtet man auch den Genies des

Digitalzeitalters eine gewisse „Nerdigkeit“ an; doch der rustikale Ingenieursmensch aus der Dampfmaschinen-Ära muss Pate stehen für all die verrückten Erfinder, die sich im Kinderfilm tummeln und mit einem Steve Jobs wenig gemein haben. Nehmen wir etwa den Titelheld aus der „Doktor Proktor“-Reihe, der aussieht, als ob er in eine Steckdose gegriffen hätte. Ein Strohkopf, der aber bei aller Schusseligkeit ein großer Meister seines Fachs ist – denn sein Pupspulver verleiht Flügel. Der Glaube an grenzenlose technische Machbarkeit paart sich mit den Allmachtsfantasien von Kindern und mündet in einer schrankenlosen Slapstick-Turbulenz. Katapultieren, Explodieren, meilenweit durch die Luft fliegen: Wenn Erfinder am Werk sind, dann regiert Murphy’s Law, und es geht alles schief, was schiefgehen kann. Das grenzenlose Chaos bricht aus, die Gesetze der Naturwissenschaft werden wunderbar missachtet. Dass die Aardman-Studios mit Wallace aus der „Wallace & Gromit“-Reihe eine der beliebtesten Erfinderfiguren schufen, muss eigentlich nicht verwundern. Wer mit solcher Genialität den Animationsfilm neu erfindet, der hat gewiss eine Affinität zu einer Figur, deren Tag von einem mechanischen Butler eingeläutet wird. Aufstehen, Anziehen und Frühstücken, alles in einem Fluss und alles mechanisch geregelt. Technik, die das Leben erleichtert. Das ist der Traum und die große Verheißung moderner Zeiten. Aber wehe, wenn das Steuerungsprogramm sich verselbstständigt. Wie der Mensch sich zum Affen der Maschine macht, das hat schon Charlie Chaplin in „Moderne Zeiten“ (1936) in Szene

gesetzt. Der Traum wird zum Albtraum. Wenn sich dagegen der Erwachsene zum Affen macht, dann ist man garantiert im Kinderfilm. Schließlich können Kinder groß auftrumpfen, wenn sich die Maschinen verselbstständigen und der erwachsene Wirrkopf ohne die überragenden Ideen und ohne die Tatkraft der kleinen Helden aufgeschmissen wäre. Nur Kinder können das Chaos bändigen. Oftmals bleiben die Erfinder ewige Kindsköpfe wie Pettersson aus der „Pettersson & Findus“-Reihe, der Inbegriff schwedischer Kauzigkeit. Doch auch wenn sie zunächst Witzfiguren sind, so erlebt man sie doch auch als Verbündete und Vertraute der Kinder. Denn Wissenschaft und Technik sind im Kinderfilm nicht in der nüchternen Sphäre der Ökonomie oder des Erwerbslebens angesiedelt, sondern in einem überbordenden Reich der Fantasie. So kann auch ein exzentrischer und kreativer Wissenschaftler wie Professor Weissinger in „Mara und der Feuerbringer“ (2014) ein echter Sympathieträger sein, weil er auf das abfährt, was andere für Fantasterei halten. Als ausgemachter Fantast erscheint auch Regisseur Veit Helmer. In seinem überdrehten Film „Quatsch und die Nasenbärbande“ (2014) läuft alles zusammen. Senioren mit Düsenantrieb und Kindergartenkinder, die Lokomotiven zum Abheben bringen. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, dass Helmer diesen Film drehte, hat er doch bereits mit jedem seiner Vorgängerwerke in hinreißend-poetischer Verrücktheit das Kind im Erwachsenen adressiert. Ein spinnerter Film-Erfinder hat auf dem Regiestuhl Platz genommen und gibt dem Affen Zucker. Herrlich! •


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Reihe: Der persönliche Klassiker

Die Erinnerung beginnt mit Eiskonfekt, in einem Trierer Kino, das mittlerweile entweder einem Supermarkt oder einer Bank gewichen ist. Und setzt sich fort mit Bruchstücken aus einer Szene, in der eine kleine Feldmaus in großer Gefahr schwebt. Weil Timmy an einer Lungenentzündung erkrankt ist, kann er die Behausung der Mäusefamilie nicht verlassen, die bald den Pflugarbeiten auf dem Feld zum Opfer zu fallen droht. Also macht sich die verwitwete MamaMaus Mrs. Brisby auf den Weg, um Hilfe zu holen – bei den Ratten, die in den Höhlen unter einem Rosenbusch leben und unter denen erbitterte Machtkämpfe ausgetragen werden. Don Bluths Zeichentrickfilm „Mrs. Brisby und das Geheimnis von NIMH“ ist ein wuchtiger Film für einen sechsjährigen Jungen, der im Juli 1982 zum ersten Mal mit seiner Mama ins Kino geht. Und auch heute noch sind einige Szenen überaus unheimlich. Mrs. Brisbys nächtlicher Besuch bei einer weisen Eule etwa, die sie um Rat fragen muss und auf deren Speiseplan sie eigentlich steht. Die Rattenwelt, in der selbst die Unterstützer von Mrs. Brisby noch gruselig wirken. Oder jene Szene in dem National Institute of Mental Health (NIMH), einem Tierversuchslabor, aus dem die Ratten schließlich fliehen. Weil Bluth mit seinem damaligen Arbeitgeber Disney immer unzufriedener war, verließ er 1979 das Studio und gründete sein eigenes. Letztlich entstand sein Debütfilm in Zusammenarbeit mit mehreren ehemaligen Disney-Zeichnern, die ihm folgten. So findet sich in „Mrs. Brisby“ die handwerkliche Disney-Expertise, ja in Form einer kurzen Gesangsszene und eines liebenswert-schusseligen KrähenSidekicks auch der Disney-Stil, der jedoch zugleich um neue Elemente angereichert wird. Durch seine düstere Stimmung und den schonungslosen Umgang mit den Protagonisten, der auch deren Tod nicht ausspart, nimmt „Mrs. Brisby“ eine Vorreiterrolle ein für all jene Animationsfilme, die auch einem jungen Publikum den Umgang mit gruseligen und spannenden Szenen zutrauen. Die Qualität der Animation ist noch immer große Zeichentrickkunst: wie

Eiskonfekt und große Angst um Timmy Für den ersten Kinobesuch war „Mrs. Brisby und das Geheimnis von NIMH“ eine Herausforderung. Aber auch 34 Jahre später haben die dunklen Höhlen aus Don Bluths Regiedebüt nichts von ihrer Magie verloren.

fließend die Bewegungen der Figuren sind, wie ausdrucksstark ihre Mimik und Gestik ist. Durch die Experimente mit Backlit Animation erhält der Film zudem einen ganz eigenen Look. Regelrecht zu strahlen beginnen die Augen der kleinen Ratten, die durch die Versuche intelligent geworden und den großen Menschen nicht länger ausgeliefert sind. Mit „Feivel, der Mauswanderer“ (1986) und „In einem Land vor unserer Zeit“ (1988) hat Bluth später seine größten Erfolge gefeiert. Für mich ist „Mrs. Brisby und das Geheimnis von NIMH“ aber – sicher auf biografisch bedingt – durch seine außergewöhnliche Stimmung, die faszinierenden Schauplätze und die tolle Protagonistin der schönste sei-

Von Stefan Stiletto

ner Filme. Eine Mama-Maus als tapfere Heldin – so etwas gibt es selten. Elternfiguren als Vorbilder müssen ganz und gar nicht kitschig sein und sprechen den Erfahrungshorizont von Kindern auf ganz andere Art an. Mitte der 1980er-Jahre habe ich „Mrs. Brisby“ bei dem besten Freund auf VHS wiederentdeckt, knapp zwei Jahrzehnte später ihn zum ersten Mal als Erwachsener auf DVD gesehen. Und das nächste Mal? Sehe ich ihn mir mit meiner Tochter an. Wenn sie alt genug ist, um mit Mrs. Brisby Timmy zu retten. Und mit Eiskonfekt. • THE SECRET OF NIMH USA 1982. Produktion: Don Bluth Prod. Regie: Don Bluth. Buch: Don Bluth, John Pomeroy, Will Finn, Gary Goldman. Kamera: Joe Juliano, Charles Warren, Jeff Melquist. Musik: Jerry Goldsmith. Schnitt: Jeffrey Patch. Länge: 82 Min. (DVD). FSK: ab 6. Anbieter: Fox. Empfohlen ab 9.

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Im Fokus: Wolfgang Groos

Wolfgang Groos

Eine Geschichte für Kinder mit Robotern, Außerirdischen und Raumschiffen Vor 44 Jahren wurde Boy Lornsens Kinderbuchklassiker „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ bereits einmal als Puppentrickserie fürs Fernsehen verfilmt. Nun hat Wolfgang Groos sich an einen Kinorealfilm gewagt. Ein Interview mit ihm über den besonderen Reiz des Stoffs, die Modernisierungen und die unnötige Angst des deutschen Kinderfilms vor internationalen Vergleichen. Das Gespräch führte Uta Beth.

Wie und wo haben Sie „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ kennen gelernt? Groos: In den 1970er-Jahren, als Boy Lornsen bei uns in Hofgeismar bei Kassel daraus gelesen hat. Damals war eine Geschichte für Kinder mit Robotern, Außerirdischen und Raumschiffen absolutes Neuland, weshalb der Titel heute immer noch präsent ist. Wenn man dann nachfragt, wissen die meisten allerdings nicht mehr so genau, was da passiert. Und das kommt uns gelegen.

Was hat Sie an der Verfilmung gereizt? Groos: Dass es immer noch eine großartige Geschichte ist, die vom Filmischen her sehr viel bietet. Und da inzwischen fast 50 Jahre vergangen sind, seit Robbi im norddeutschen Tütermoor gelandet ist, hatten wir die Freiheit, alles ganz neu zu erschaffen. Was haben Sie anders gemacht? Groos: Zunächst einmal haben wir dem Roboter eine spannende Backstory gegeben und stärker ausgebaut, was

ihn so außergewöhnlich macht und zugleich gefährdet: dass er nämlich keine bloße Maschine ist, sondern ein Herz hat. Was sofort die Bösewichte auf den Plan ruft. Uns schien das Interesse an dieser Technologie zeitgemäßer, als wenn es nur wie im Roman um die Schulaufgaben geht. Aber wir behalten die Stationen und Funktionen der Figuren. Wir lieben den Leuchtturm und Matti, den Leuchtturmwärter, den Nordpol und das Inuit-Mädchen, das bei uns noch stärker in die Geschichte eingebunden wird, und natürlich brauchen


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Fotos: Studiocanal

Im Fokus: Wolfgang Groos

wir auch Sir Joshua, den Zauberer. Der ist jetzt eine Mischung aus Steve Jobs und Mark Zuckerberg, dem ein Multimedia-Unternehmen gehört, das er mithilfe von Robbi zum alles beherrschenden Weltkonzern machen will. Sein „Gold“ ist jetzt die Maschine mit Gefühl, ein Roboter, der lieben kann. Kommt da ein wenig „James Bond“ in den Kinderklassiker? Groos: Ein bisschen, aber das war bei „Robbi, Tobbi“ ja eigentlich schon immer. Erst recht, wenn man an die mediale Wirkung denkt, die die Puppentrick-Fernsehserie aus dem Jahr 1972 hatte: Damals wurde das Visuelle ja überhaupt erst entwickelt. Aber in unserem Film geht es um mehr als nur um ein Abenteuer. Zum Beispiel darum, wie der Außenseiter Tobbi allmählich entdeckt, dass er nicht nur schlau und erfinderisch ist, sondern auch mutig. Und so, wie er zunehmend selbstbewusster wird, lernt Robbi, was ein Witz ist, und entwickelt Sinn für Humor. Wie unterscheidet sich Ihr Robbi vom Original? Groos: Unser Robbi ist ein realer Roboter, den Tobbi auch wirklich umarmen kann. Manchmal müssen wir ein bisschen herumtricksen, aber eigentlich ist der Robbi im Film auch der, der in Tütermoor auf dem Marktplatz steht. Dabei durfte keinesfalls der Eindruck entstehen, als hätte Tobbi ihn sich selbst gebaut oder bauen können. Ein Kind, das sich einen Freund baut, wäre mir ein zu dramatischer Ansatz gewesen. Und dann muss man glauben, dass er von weit herkommt und Dinge kann, die mit

irdischer Physik nicht vereinbar sind. Andererseits wollten wir aus ihm auch keinen stromlinienförmigen HightechRoboter machen. Er sollte schon eine gewisse Kantigkeit haben, etwas Haptisches, wobei wir uns nicht an der Science-Fiction-Welt und auch nicht an der Fernsehserie orientiert haben, sondern am Retro-Look der damaligen Buchausgabe, an diesen eckigen Formen der Roman-Illustrationen. Und wie war das beim Fliewatüüt? Groos: Da wurde lange daran geknobelt, bis es sich tatsächlich mit Rotorblättern und Außenbordmotor durch die Luft, auf dem Wasser und zu Lande bewegen konnte. Die Antriebswelle aus einem Ventilator wurde so mit Autoteilen zusammengebaut, wie das wahrscheinlich ein Junge von heute machen würde. Für mich als Filmemacher war natürlich toll, dass wir uns da in einer Fantasy-Ebene bewegen konnten, die jedoch ganz klar in einer norddeutschen Kleinstadt verortet ist. Und dass wir nicht nur Robbi, sondern auch das Fliewatüüt neu kreieren konnten. Wie lange haben Sie wo gedreht? Groos: Insgesamt 39 Tage. In Friedrichstadt und in Nordrhein-Westfalen, wobei Friedrichstadt deswegen als Motiv so toll ist, weil es eigentlich ziemlich undeutsch aussieht, eher holländisch mit diesen Grachten und Kanälen. Aber an bestimmten Sachen merkt man eben doch, dass wir in Norddeutschland sind. Unser Nordpol wiederum liegt in Island, wo es wunderbare Gletscher gibt, die ins Meer brechen. Und Lagunen, die zugefrorene Eisflächen mit Eisbergen bilden.

Wie groß war Ihr Budget? Groos: Weil wir einen Realfilm drehen wollten, war das nicht einfach zu finanzieren. Wir hatten knapp sieben Mio. Euro zur Verfügung, was sich nach viel anhört, es im Verhältnis gesehen aber nicht ist. Ein ähnlich aufwändiger Film würde in England oder Amerika mindestens 25 oder 30 Mio. Euro kosten. Manchmal mussten wird deshalb noch ein bisschen effizienter tricksen und konnten nicht das ganz große Rad drehen. Aber ich finde, es macht auch den Charme guter deutscher Kinderfilme aus, dass wir noch irgendwie verwurzelt sind. Wir brauchen den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. •

WOlFgang gROOS geb. 1968 in Kassel, kam während seines Medizinstudiums als Produktionsfahrer zum Film und studierte bis 2003 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Noch während des Studiums arbeitete er als Aufnahmeleiter und Regieassistent bei mehreren Filmproduktionen, bis Sönke Wortmann bei „Das Wunder von Bern“ (2003) die Begabung von Groos als Regisseur erkannte und 2008 dessen ersten Spielfilm „Hangtime – Kein leichtes Spiel“ produzierte. Nach verschiedenen Fernsehproduktionen folgten ab 2010 die Kinder- und Jugendfilme „Vorstadtkrokodile 3“ (2010), „Die Vampirschwestern“ (2012), „Systemfehler – Wenn Inge tanzt“ (2013 ), „Die Vampirschwestern 2“ (2014) – ausgezeichnet mit dem Preis der TIFF KIDS Young Peoples Jury 2013 in Toronto – und „Rico, Oskar und das Herzgebreche“ (2015). Am 1.12. startet „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ im Kino, 2017 dreht Groos „Hexe Lilli rettet Weihnachten“.

BOy lORnSen Und daS FlIeWaTüüT Nach dem Erfolg seines ersten, 1967 veröffentlichten Kinderbuchs „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ beschloss der 1922 in Keitum auf Sylt geborene Steinbildhauermeister, ganz vom Schreiben zu leben. Bis zu seinem Tod 1995 folgten etliche Bücher für Kinder und Erwachsene, von denen die meisten inzwischen vergessen sind. Der Titel seines ersten Buchs aber ist es nicht, wozu nicht zuletzt die 1972 vom WDR produzierte Puppenserie über die wunderbare Freundschaft zwischen dem elfjährigen Roboter Robbi und dem gleichaltrigen Tobias Findteisen beigetragen hat. Mit ihrem fantastischen „Fliewatüüt“ bestehen sie Abenteuer zu Wasser, zu Lande und in der Luft – zehn Jahre, bevor Steven Spielberg seinen Alien „E.T.“ auf die Erde schickt. Buch: „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“. Thienemann (Thienemann-Esslinger), Stuttgart 1967/dtv, München 2000. DVD: „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“. Deutschland 1972. Regie: Armin Maiwald. 263 Min. Anbieter DVD: Studio Hamburg Enterprises. FSK: ab 0.

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Im Fokus: Festival

doxs!, Duisburg

Geschichten aus dem Leben doxs!, das Dokumentarfilmfestival für Kinder und Jugendliche in Duisburg, feiert in diesem Jahr seine 15. Ausgabe (7.-13.11.) – mit einem neuen Preis und dem gewohnt spannenden Einblick in authentische Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen.

Von Barbara Felsmann

Im Jahr 2002 als kleine Reihe mit Dokumentarfilmen für Kinder im Rahmen der Duisburger Filmwoche entstanden, hat sich doxs! im Lauf der Zeit unter der Leitung von Gudrun Sommer zu einem eigenständigen Dokumentarfilmfestival für Kinder und Jugendliche entwickelt. Es ist nach wie vor eng mit dem Festival des deutschsprachigen Dokumentarfilms verwoben und findet zeitgleich im Duisburger filmforum statt. Zum 15. Jubiläum wird neben dem europäischen Filmpreis „Große Klappe“, gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung und vergeben von einer Jugendjury, erstmals der „ECFA Documentary Award“ für den besten europäischen Kinderdokumentarfilm von einer internationalen Fachjury überreicht. Im Jubiläumsjahr präsentiert doxs! 29 Dokumentarfilme aus Deutschland und anderen europäischen Staaten, in denen wie gewohnt für dieses Festival die unterschiedlichsten Lebenswelten und Lebensentwürfe von Kindern sowie Jugendlichen im Mittelpunkt stehen. So zeigen einige Filme auf, wie junge Menschen mit Tod und Sterben konfrontiert werden. Da ist die krebskranke zehnjährige Pien im niederländischen Wettbewerbsbeitrag „Pien,

„Not Without Us - Nicht ohne uns“

die Bienenkönigin“ („Pien de Bijenkoningin“, 2015), die selbst ums Überleben kämpft und sich als Imkerin um Bienen kümmert, die durch die Umweltverschmutzung bedroht sind. Oder die zwölfjährige Vilde in „Tanz für das Leben“ („Dans for Livet“, 2015), eine Co-Produktion von Norwegen, Schweden und Dänemark, die es sich in den Kopf gesetzt hat, die erste norwegische Meisterin im traditionellen Männertanz Halling zu werden. Das Mädchen weiß, dass seinem geliebten Großvater nicht mehr viel Zeit zum Leben bleibt, und wünscht sich sehnlich, dass er Vildes Auftritt bei der Landesmeisterschaft noch erleben kann. Regisseur Erlend E. Mo begleitet Vilde nicht nur bei den anstrengenden Proben, sondern filmt auch die Gespräche zwischen Großvater und Enkelin, in denen die beiden auf berührende Weise Abschied voneinander nehmen. Andere Filme stellen die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt, so der bewegende Dokumentarfilm „Freier Mensch“ (2016) von Andreas Hartmann über einen 22-jährigen Obdachlosen in Kyoto oder „Not without us – Nicht ohne uns“ (2016) von Sigrid Klausmann. In diesem 87-minütigen Doku-

„Pien, die Bienenkönigin“

mentarfilm begleitet die Regisseurin Kinder aus 16 Ländern der Welt auf dem Weg zur Schule und lässt sie von ihrem zum Teil schweren Leben erzählen. Im niederländischen Beitrag „Hotspot“ (2015) von Willem Baptist geht es um einen Jungen, der mit seiner Mutter vor dem gewalttätigen Stiefvater fliehen musste und nun, abgeschottet und isoliert von der Welt, in einem Heim lebt. Bemerkenswert, mit welcher Kraft diese Kinder die sie belastenden Schwierigkeiten bewältigen und optimistisch in die Zukunft blicken. Alle Filme, die bei doxs! zu sehen sind, haben eines gemeinsam: Sie machen ihrem Publikum Mut, Problemen und Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen, sondern an deren Lösung zu arbeiten. Auch auf die Gefahr hin, dass man als eigenwilliger Außenseiter gilt, wie der neunjährige Bücherwurm im Dokumentarfilm „Guillaumes wundersame Welt“ („Guillaumes wondere Wereld“, 2015) von Els van Driel. Der bezaubernde Junge lebt auf der Karibikinsel Bonaire und schreibt für seine Altersgenossen, die nicht gern lesen und die offizielle Amtssprache nur schlecht beherrschen, zweisprachige Bücher – auf Papiamentu und auf Niederländisch. • Im Internet: www.do-xs.de


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Im Fokus: Festival

LUCAS - Internationales Festival für junge Filmfans

Jung und cinephil Das Kinderfilmfestival LUCAS wurde umstrukturiert: Seit 2016 räumt es auch der Partizipation des Zielpublikums an der Programmgestaltung einen Platz ein und lässt unter dem Label „Young European Cinephiles“ Jugendliche ihr Von Holger Twele

Foto: Holger Twele

eigenes Programm kuratieren.

hintere Reihe: Christine Kopf (DIF), Nils Bestehorn, Daniel Neumayer; mittlere Reihe: Ester Palmieri, Eleonora Fioravanti, Bente Niemeijer, Merel Booleman (Koordinatorin); vordere Reihe: Mina Lecuyer, Quita Felix

Immer wieder fragen sich Filminstitutionen in Deutschland und Europa, wie sie die nachwachsenden Generationen für das filmkulturelle Erbe interessieren können. Beim vom Deutschen Filminstitut (DIF) ausgerichteten Filmfestival LUCAS in Frankfurt/Main, das sich in diesem Jahr in völlig neuem Gewand präsentierte und den Schwerpunkt ganz auf filmpädagogische Vermittlung legt, kam man auf eine bestechende Idee: Warum sollten Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren aus mehreren europäischen Ländern nicht selbst eine eigene Filmreihe kuratieren? Da das DIF schon seit geraumer Zeit mit den Kollegen im europäischen Cinematheken-Verband ABCinema zusammenarbeitet, konnten die Cineteca di Bologna, das EYE Filminstitut Amsterdam, die Cinémathèque Royale in Belgien und Les Enfants de Cinema in Paris für die Idee gewonnen werden. So wurde der seinerzeit entwickelte Botschafter-Gedanke in dem konkreten Projekt „Young European Cinephiles“ realisiert.

Christine Kopf, Abteilungsleiterin für Filmbildung und -vermittlung beim DIF, fühlte sich zusätzlich durch die Erfahrungen mit einer Jugendlichen inspiriert, die sich nach dem Film „Carol“ (2015) auch gleich noch „Blau ist eine warme Farbe“ (2013) anschaute und auf diese Weise ihr eigenes Double Feature zusammenstellte. So entstand die Idee, dass die beteiligten europäischen Partnerorganisationen aus Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden je zwei Jugendliche entsenden, die für die Abendveranstaltungen bei „Lucas“ ein solches Double Feature kuratieren. Die Filme mussten weder aktuell sein noch aus dem jeweiligen Land stammen. Auch die Auswahl war komplett frei. Einzige Bedingung sollte sein, dass die Jugendlichen für eine Woche zum LUCAS kommen, sich austauschen, ein Netzwerk bilden und ihre Filme dem Publikum selbst präsentieren. Alle beteiligten Jugendlichen hatten schon Programmerfahrung, etwa

durch Praktika, oder bereits eigene kurze Filme gedreht. Fast alle Jugendlichen wählten für ihr Double Feature Filme in Überlänge – eine Herausforderung für ein Publikum, das möglichst beide Filme im Vergleich sehen sollte. Darüber gab es beim DIF lange Diskussionen, aber am Ende wurden alle Filme akzeptiert. Für die Jugendlichen war die Länge der meisten Filme kein Problem, auch nicht für Célia und Mina aus Paris, die mit „Brazil“ (1984) und „Pans Labyrinth“ (2006) Filme mit einer Gesamtspieldauer von 260 Minuten aussuchten. Nils und Daniel aus Frankfurt entschieden sich für „Victoria“ (2015) und „Birdman“ (2014), weil viele ihrer Freunde „Victoria“ noch nicht gesehen hatten und „Birdman“ stilistisch gut dazu passte. Auch die beiden Italienerinnen Ester und Eleonora wählten ihre Favoriten „Der Butler“ (2013) und „The Help“ (2011) vor allem deswegen aus, weil sie sehr ähnlich waren, was von immerhin 36 Zuschauern am ersten Abend honoriert wurde. Für Quita und Bente aus Amsterdam, die „Yeelen – Das Licht“ (1987) und „Kiriku und die Zauberin“ (1998) präsentierten, passten beide Filme vom Erzählstil und vom Thema her gut zusammen – und sind zudem selten im Kino zu sehen. Ihre kuratorische Arbeit als Botschafter des Films liegt allen am Herzen, wobei sie nicht auf die Gunst des Publikums schielen. Bente aus Holland fasst das mit den Worten zusammen: „Wenn auch nur ein Mensch im Publikum diesen Film plötzlich für sich entdeckt, war das allein schon die Sache wert.“ http://lucas-filmfestival.de

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Im Fokus: Festival

Filmfestival „Schlingel“

Alte Märchen, neue Tierarten Der „Schlingel“, das Internationale Filmfestival für Kinder und junges Publikum in Chemnitz, präsentiert klassische Kinderfilmstoffe und Kinderlieblingsthemen, ebenso Filme, die durch ihre besondere Gestaltung mit Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten brechen. Von Holger Twele

Die ganze Bandbreite des Kinderfilms: „Hunt for the Wilderpeople“ (ganz links) und „Kronprinz“

Auch im 21. Jahr seines Bestehens bleibt das Internationale Filmfestival für Kinder und junges Publikum „Schlingel“ auf Erfolgskurs, mit etwa 21.000 Zuschauern konnte es einen neuen Besucherrekord verbuchen. In den verschiedenen Sektionen waren 181 Produktionen aus 44 Ländern zu sehen. Angesichts dieser Vielfalt ist das Festival ein verlässliches Barometer für den augenblicklichen Zustand der internationalen Produktion für Kinder- und Jugendfilme, selbst wenn sich besonders tiefgreifende oder nachhaltige Entwicklungen nur schwer an einzelnen Filmen festmachen lassen. Ungebrochen scheint das Interesse des jungen Zielpublikums an Märchenfilmen, die an vergangene Zeiten erinnern. Auch der von 16 Kindern aus acht Nationen vergebene Europäische Kinderfilmpreis ging an eine Märchenverfilmung, an „Kronprinz“ („Korunni princ“, 2015) von Karel Janák aus der Tschechischen Republik. Die mit vergleichsweise wenig Geld produzierte Fernsehproduktion entführt in die magische Welt von Burgen, Drachen und Rittern, handelt vom Bruderzwist zweier Prinzen um den Thron, von bösen Zauberern und guten Knappen, auch von einer romantischen Liebe, die nach unglaublichen Hinder-

nissen ihre Erfüllung findet. Das ist nett, liebevoll und witzig in Szene gesetzt – ein großer Kinofilm mit einprägsamen Bildern ist es nicht. Sehr beliebt scheinen zudem Filme, in denen es um eine Schatzsuche geht oder wertvolle Gegenstände aus einem Museum entwendet werden, also Kinderkrimis, in denen die jungen Darsteller den Erwachsenen zeigen, was in ihnen steckt. Darüber hinaus gab es eine ganze Reihe außergewöhnlicher Filme mit überraschenden Themen, Formen und Inhalten, die gängigen Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten widersprechen und gleichwohl von den verschiedenen Jurys mit Preisen bedacht wurden. Gleich dreimal ausgezeichnet, darunter von der Junior-Jury, wurde der neuseeländische Film „Hunt for the Wilderpeople“ (2016) von Taika Waititi, eine bildgewaltige, actionreiche, witzige und skurrile Abenteuergeschichte, in der ein übergewichtiger Maori-Junge mit seinem ergrauten Pflegevater über ein halbes Jahr in die Wälder flüchtet, um den Zugriffen des Jugendamts und der Polizei zu entkommen. Auch im slowenischen Film „Komm mit!“ („Pojdi z mano“) von Igor Šterk findet die Kamera hinreißende Bilder, als sich vier

Jugendliche in der Abgeschiedenheit der Natur verirren und paranoide Züge entwickeln, die ihre Freundschaft an die Belastungsgrenze bringt. Eine Literaturverfilmung, obwohl sie in vielen Details an den Horrorfilmklassiker „The Blair Witch Project“ (1999) erinnert, hier jedoch mit Schülern, die sich auf eine gemeinsame Foto-Tour begeben. Neben der unberührten Natur als Handlungsträger und quasi Hauptdarsteller einer ganzen Reihe sehenswerter Filme aus Osteuropa, Thailand, Vietnam und Neuseeland erobern nach unzähligen Hunden und Pferden inzwischen auch seltenere oder unbekanntere Tierarten die Leinwand: ein thailändischer Wasserbüffel in „Der Büffelreiter“ („Buffalo Rider“, 2015) von Joel Soisson mit einem spannenden Büffelrennen; ein Adler in „The Eagle Huntress“ (2016), der dokumentarisch erzählten authentischen Geschichte eines 13-jährigen mongolischen Mädchens, das als erste Frau offiziell mit dem Adler jagen darf; oder gar ein Stör im iranischen Film „Beluga“ (2016) von Mehdi Jafari, der beweist, dass der Iran inzwischen auch den Umweltschutz als Filmthema entdeckt hat. • http://ff-schlingel.de


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Im Fokus: Festival-Entdeckungen

Zaineb hasst den Schnee Zaineb takrahou ethelj/Zaineb Hates the Snow. Tunesien/ Frankreich/Qatar/Libanon/Arabische Emirate 2016. Regie: Kaouther Ben Hania. Entdeckt auf dem Festival del film Locarno 2016.

Eine wunderbare Coming-of-AgeGeschichte aus der Perspektive eines tunesischen mädchens, das der mutter zuliebe nach Kanada emigriert. Im Jahr 2009 lebt die neunjährige Zaineb mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder noch in Tunis. Der Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Als die Mutter einen neuen Lebensgefährten findet und zu ihm nach Kanada ziehen möchte, ist Zaineb ganz und gar nicht einverstanden. Sie misstraut dem Stiefvater, der bereits eine eigene Tochter hat, mit der sich Zaineb nun wohl oder übel arrangieren muss. Obendrein hasst sie das fremde Land – und den Schnee, den sie nicht einmal aus eigener Erfahrung kennt. In ihrem zweiten Langfilm begleitet die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania in einer Mischung aus Dokumentation und Inszenierung über fünf Jahre hinweg die vorwitzige Zaineb und ihre Familie, die in ein fremdes Land emigriert und sich dort langsam heimisch fühlt. Durch die poetische Bildsprache und die liebenswerte Protagonistin entsteht das einfühlsame und universelle Porträt eines aufgeweckten Mädchens an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Ein kleines arabisches Pendant zu Richard Linklaters „Boyhood“, nur hier nicht vor der Folie der amerikanischen Gesellschaft, sondern aus weiblicher tunesischer Perspektive, die gängige Klischees über Emigranten aus Nordafrika infrage stellt. – Ab 10. Holger Twele

Komm mit! Pojdi z mano/Come Along. Slowenien 2016. Regie: Igor Šterk. Entdeckt bei „Schlingel“ – Internationales Filmfestival für Kinder und junges Publikum 2016.

Das „blair witch Project“ für Jugendliche – auf diese knappe beschreibung kann man den slowenischen Film herunterbrechen. Gemeinsam unternehmen Manc, Mina, Oto und Špurč einen spannenden Trip in die Einsamkeit des Waldes, um mit dem Fotoapparat ihre unbekannte Heimat zu erkunden. Dort geraten sie in einen Strudel unerklärlicher Ereignisse, von denen weder sie noch die Zuschauer wissen, ob diese nur in der Imagination der Schüler stattfinden oder reale Bedrohungen sind. Auf dem Weg zu einer Höhle, die sie auskundschaften wollen, kommen sie an einer schauerlichen Bauernhoffamilie vorbei: der brutale Vater blutverschmiert vom Schlachten, der Sohn offensichtlich verrückt, die Tochter am Bein verletzt. Sie wirken wie Wächter, die den Eintritt in ein unbekanntes Terrain bewachen – den Wald. Die vier Klassenkameraden verlaufen sich im dichten Gehölz, in dem es keinen Handyempfang gibt. Bei jedem Einzelnen brechen unschöne Erinnerungen an die Kindheit oder Zukunftsängste hervor, und die Ausweglosigkeit der Situation bringt sie dazu, sich den andern mitzuteilen. Dann verschwindet Minas Handy, eine ihrer Jacken hängt plötzlich auf dem Weg, an dem sie noch gar nicht vorbeigekommen sind – oder etwa doch? Der Wald steht düster und dunkelgrün über den Dingen, mal fährt die Kamera in die Höhe und wir erkennen: Es gibt tatsächlich kein Entrinnen. Das Grauen überträgt sich endgültig auch auf den Zuschauer. – Ab 12. Katrin Hoffmann

Das letzte halbe Jahr Deutschland 2016. Regie: Anna Wahle. Entdeckt bei „Lucas“ – Internationales Festival für junge Filmfans 2016.

In ihrem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm begleitet die Kölner regisseurin Anna wahle sechs zehntklässler aus dem nordhessischen neukirchen und umgebung, die sich an einer Gesamtschule auf ihren Abschluss vorbereiten. Der stellt für die 16-Jährigen einen tiefen Lebenseinschnitt dar: Danach müssen sie ihr Oberstufen- oder Lehrstellenglück woanders versuchen. Die Zuschauer werden Zeuge, wie die Jugendlichen erste Erfahrungen mit der Liebe sammeln, was sie an der Schule erleben und in der Freizeit mit ihren Freunden treiben, wie sie über ihre Zukunft nachdenken. Dokumentarische Aufnahmen und nachgestellte Szenen kombiniert die Regisseurin mit Erzählertexten aus dem Off, Traumsequenzen und WhatsApp-Konversationen. Konsequent aus der Sicht der Teenager erzählt, gewinnt der charmante Film durch die extensive Partizipation der jungen Protagonisten einen sehr persönlichen Charakter – vor allem auch, weil diese den Zuschauern über einen Voice-OverKommentar wie in einem Tagebuch ihre privaten Sehnsüchte, Sorgen und Gedanken anvertrauen. Aufgelockert werden die Impressionen aus einer Phase der Identitätssuche und des Gefühlsüberschwangs durch liebevolle Animationen und jugendaffine verspielte Bildbearbeitungen. Dass bei dem stetigen Wechsel zwischen den Figuren zu wenig Platz für Vertiefungen bleibt, lässt sich leicht verschmerzen. – Ab 14. Reinhard Kleber

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Aktuelles aus dem Förderverein Deutscher Kinderfilm e.V.

Neuigkeiten aus dem Förderverein Termin Mitgliederversammlung: Die nächste Mitgliederversammlung findet im Rahmen der BERLINALE am 11. Februar 2017 von 09:45 - ca. 11:30 Uhr statt. Ort: Vertretung des Freistaats Thüringen beim Bund; Mohrenstraße 64; 10117 Berlin

Initiative „Der besondere Kinderfilm“: Vom 13. Februar bis 22. April 2017 startet die Initiative, zu der sich mittlerweile 24 teilnehmende Institutionen bekennen, eine fünfte Ausschreibungsrunde. Eingereicht werden können Treatments für fiktionale Kinderfilme (live action und/oder Animation). www. der-besondere-kinderfilm.de Hierzu findet am 11. Februar von 12:00 - ca. 13:00 Uhr eine Auftaktveranstaltung im Rahmen der BERLINALE statt: „Kick-Off Der besondere Kinderfilm 2017/18“ - Juroren der ersten Förderstufe teilen Erfahrungen der letzten vier Ausschreibungen und stellen den Bedarf an Stoffen vor. Ort: Vertretung des Freistaats Thüringen beim Bund; Mohrenstraße 64; Berlin Aus dem ersten Jahrgang, BKF 201314, feierte WINNETOUS SOHN, der bereits 2015 in den Kinos lief und auch auf DVD/Blu-ray erhältlich ist, am 14. Oktober im KiKA mit großem Erfolg seine TV-Premiere. Mit einem Marktanteil von 24 Prozent und 340.000 Zuschauern im Segment Kinder drei bis 13 Jahre war KiKA fast durchweg

Neue Mitglieder: Als neues Mitglied begrüßen wir sehr herzlich die Illustratorin, Designerin und Autorin Viola Lippmann.

Marktführer am Abend. Online wurde das Video zu WINNETOUS SOHN im Zeitraum vom 14. bis 16. Oktober insgesamt 3.608 Mal abgerufen und belegte damit Platz 1 der Videoabrufe bei KiKA Online an dem Wochenende. Der zweite geförderte Film ENTE GUT! MÄDCHEN ALLEIN ZU HAUS erhielt auf dem Kinderfilmfestival FIFEM in Montreal den Publikumspreis. Die Darstellerin Lynn Dortschack wurde im Rahmen des Filmfest München 2016 mit dem Weißen Elefanten als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet. Im November wird ENTE GUT! als „Film des Monats“ bei den Schulkinowochen in Berlin beworben. Der dritte Film AUF AUGENHÖHE, BKF 2014-15, startete am 15. September im Verleih von TOBIS im Kino und gewann beim SCHLINGEL den Preis „Blickpunkt Deutschland Spielfilm national“. Aktuell setzt AUF AUGENHÖHE seine Festivaltour fort: Nach dem GOLDENEN SPATZ, Filmfest München, SCHLINGEL u.a., ist er nun nach Mumbai eingeladen. Danach geht es weiter nach Armenien, Japan, Estland und Russland. Beide Filme ENTE GUT! und AUF AUGENHÖHE haben von der FBW das Prädikat „besonders wertvoll“ erhalten und wurden darüber hinaus von der FBW Jugendfilmjury bewertet und empfohlen. Von allen drei Filmen gibt es Zusatzmaterial wie Filmhefte und Filmtipps, weiterführende Artikel und pädagogisches Begleitmaterial auf www.kinofenster.de

Am 16. September ist ein überaus interessanter Artikel zu den Beweggründen der Initiative auf SPIEGEL ONLINE erschienen: „Qualitätsoffensive gegen Kommerz im Kinderkino“, von Oliver Kaever. (www.spiegel.de/kultur/ kino/besondere-kinderfilme-aufaugenhoehe-mit-dem-kino-nachwuchs-a-1112304) Die Projekte DIE GEISTER AUS DEM DRITTEN STOCK unter der Regie von Fatih Akin sowie DIE UNSICHTBAREN unter der Regie von Markus Dietrich befinden sich derzeit in Vorbereitung. Zu UNHEIMLICH PERFEKTE FREUNDE sollen die Dreharbeiten 2017 unter der Regie von Marcus H. Rosenmüller starten.


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Aktuelles aus dem Förderverein Deutscher Kinderfilm e.V.

Produktionsinitiative „Fernsehen aus Thüringen“: Im vierten Jahrgang haben sechs TV-Serienkonzepte für Kinder und Jugendliche jeweils 15.000 Euro für eine Weiterentwicklung erhalten: 1QUADRATMETER – Dokumentation von Christian Rost und Peter Helling (Mingamedia Entertainment, München); FINDHER – Webserie von Kai Schöttle (bigchild, Weimar/Isseroda); FLIP-UNITY – Mystery-Serie von Jan Fusek und Martina Sakova (Projektor23, Berlin); iXPEDITION IN DIE WELT DER 2BEINER – Dokuserie von Claus Strigel (DENKmal Film,

Neuer Akademie-Jahrgang 2016/17 gestartet – 12 Stipendiaten sind ausgewählt 20 Kandidaten wurden in die thüringische Landeshauptstadt Erfurt eingeladen, um in der Einführungs- und Qualifizierungswoche (2. bis 6. Oktober) erste persönliche Gespräche zu ihren eingereichten Projekten mit den Mentoren und den Mitgliedern der Studienleitung zu führen. Dabei war die Bandbreite der Stoffe sehr originell und äußerst vielfältig: Geschichten über Brotdosen, Piraten, Gangs und tierische Helden waren genauso vertreten wie das Thema Flucht und Integration. Bis zum Ende der Woche erhielt jeder Teilnehmer ein individuelles und umfassendes Feedback zu seinem Projekt. Insgesamt 12 Bewerber konnten sich durchsetzen und erhalten das Stipendium an der AKM 2016/17. Jeweils vier Projekte werden in den Bereichen FILM, BUCH und SERIE entwickelt. Zudem wird von allen Stoffen das trans- und crossmediale Potential ausgelotet. Qualifiziert haben sich: Lydia Franziska Bienias, Gregor Eisenbeiß, Sabina Gröner, Sarah Manon Kempen, Kathrin Köller, Barbara Kronenberg, Undine Kunath, Leticia Milano, Stefanie Sycholt, Katrin Walschek, Susanne

München); NULL PROBLEMO! – Kinderserie von Ulrike Bliefert, Rajko Jazbec und Kerstin Polte (Serienwerk, Berlin) sowie PSYCHOS – Kinderserie von Niko Ballestrem und Christoph Menardi (NEOS Film, München). www.fat-tv.de In die engere Auswahl schafften es schlussendlich Projekte, die Einblicke in verborgene Welten gewähren lassen: Angefangen von Verschwörungen und unbekannten Mitbewohnern über Online Datings und Psychosen bis hin zum Alltagschaos einer Patchwork-Familie oder dem Geheimnis unserer Zivilisation. In zwei Workshopmodulen im März und Juni mit besonderem Fokus auf die Zielgruppe und den Markt werden die sechs Gewinner-Projekte

durch die individuelle Betreuung der Mentoren Paul Schwarz und Sarah Winkenstette weiterentwickelt, wobei Eric Huang das transmediale Potential der Serien ausloten wird. Eine Präsentation vor der Fachjury bildet dann den Abschluss des Wettbewerbs. Diese vergibt final am 14. Juni 2017 im Rahmen des 25. Deutschen Kinder-Medien-Festivals GOLDENER SPATZ an bis zu zwei Projekte insgesamt 100.000 Euro, die damit die Entwicklung eines Serienpiloten finanzieren können. Um den Standort und die Weiterentwicklung des „Kindermedienlands Thüringen“ zu fördern, sind die Preisgelder an eine Realisierung in Thüringen gebunden.

Wiegand und Marie Wilz. Innerhalb der vier einwöchigen PräsenzModule im November, Januar, März und Juni wird ein umfangreiches Programm mit Fachvorträgen, Kreativ-Workshops und Praxisprojekten angeboten. So können Gastreferenten wie die Alumni Valentina Brüning (2015/16) und Johannes Groschupf (2001/02) sowie die Autorin Vanessa Walder und der Produzent Philipp Budweg begrüßt werden. Darüber hinaus vermittelt Produzentin Roshanak Behesht Nedjad (Achtung Panda! Media GmbH) den Stipendiaten wichtige Grundregeln für ein erfolgreiches Pitching und Networking. Auch stehen die Themen „Angebote für Kinder in Kino und Fernsehen“, „Schreiben für Kinder“, „Spielfilme für Kinder“ und „Kreatives Arbeiten“ auf dem Programm. Die Praxisprojekte werden mit externen Kooperationspartnern durchgeführt, zu denen der KiKA in Gemeinschaft mit dem MDR, das ZDF und der Boje Verlag gehören. So werden vom KiKA die beiden Redakteure Sebastian Debertin und Tina Sicker ein Kooperationsprojekt für die Gruppe SERIE begleiten. Hier entwerfen die Autoren gemeinsam mit den Redakteuren Folgen für ein bestehendes Serienformat und können Arbeitsweisen unter realistischen Bedingungen erfahren. Die Gruppe FILM hingegen entwickelt Folgen für die ZDF Reihe “Löwenzähnchen”, betreut

von der ZDF-Redakteurin Susanne Kaupp. Julia Przeplaska erarbeitet mit den Stipendiaten im Bereich BUCH neue Kinderbuch-Ideen im Auftrag des Boje Verlags. Ende August wurde beispielsweise unter dem Titel JETTE ODER NIE! der zweite Band der JETTE-Reihe von Alumna Fee Krämer (2012/13) bei Fischer Sauerländer veröffentlicht. Dieses Projekt entstand während der AKM-Kooperation mit dem Boje Verlag unter Linde Mueller-Siepen. Zum Abschluss des Akademie-Jahrgangs werden die entwickelten Projekte in Erfurt im Rahmen des 25. Deutschen Kinder-Medien-Festivals GOLDENER SPATZ: Kino-TV-Online, welches vom 11. bis 17. Juni 2017 stattfindet, vor Verlegern, Produzenten und Filmförderern präsentiert. Der beste Stoff erhält den Förderpreis der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) in Höhe von 15.000 Euro. Zudem wird zum fünften Mal der Baumhaus/Boje-Medienpreis verliehen. Die Akademie für Kindermedien ist eine Initiative des Fördervereins Deutscher Kinderfilm e.V. mit Sitz in Erfurt. Sie wird aktuell gefördert von: Mitteldeutsche Medienförderung, Medienboard Berlin-Brandenburg, Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Thüringer Staatskanzlei, Thüringer Landesmedienanstalt, KiKA, der Kinderkanal von ARD und ZDF und Baumhaus Verlag.

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Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_04/2016

Förderverein Deutscher Kinderfim e.V. Info Nr. 4/2016

Aus der Tätigkeit unserer Mitglieder Thomas Heinemann von superNeun wird die Präsidentschaft der internationalen Jury auf dem 19th Olympia International Filmfestival for Children and Young People in Pyrgos, Griechenland, übernehmen (3. bis 10. Dezember). Unter der Leitung von Gudrun Sommer ist im November zum 15. Mal das doxs! Festival in Duisburg über die Bühne gegangen. Preisträger der mit 5.000 Euro dotierten GROSSEN KLAPPE 2016, gestiftet von der bpb, ist BLACK SHEEP von Christian Cerami. Eine lobende Erwähnung spricht die Jugendjury für den Film EIN AUS WEG von Simon Steinhorst und Hannah Lotte Stragholz aus. Erstmalig wird auch der ECFA DOCUMENTARY AWARD durch die ECFA Jury (Viola Gabrielli, Marta Nieto Postigo, Gert Hermans) für den besten europäischen Kinderdokumentarfilm vergeben. Der Kinderspielfilm VERTEUFELTE WEIHNACHTEN erhält von nordmedia eine Drehbuch- und Stoffentwicklungsförderung in Höhe von 15.000 Euro. Die Buchvorlage stammt von Anna Tollkötter alias Anna Lott. Produzentin ist Jessica Landt von Beleza Film (Hamburg). Darüber hinaus erscheint im Mai 2017 ihr Buch MOPPI UND MÖHRE. ABENTEUER IM MEERSCHWEINCHENHOTEL bei Carlsen. Esther Kaufmann hat die Projektleitung von Bettermakers, einer Hamburger Initiative für Menschenrechte, übernommen, zur Erstellung einer Plattform mit audiovisuellen Inhalten für und mit Jugendlichen. Außerdem ist sie Dramaturgin beim Wilhelmsburger Wintermärchen und erarbeitet das Stück in Schulworkshops mit Kindern.

Am 30. September feierte Johannes Schmid mit seiner Inszenierung von IL RATTO DAL SERRAGLIO PER I BAMBINI („Entführung aus dem Serail für Kinder“) sein Debüt am Mailänder Teatro alla Scala. Am 28. Oktober folgte die Premiere von KÄPT›N BONE, einer Piratenoper für Kinder nach Rossini, am Festspielhaus BadenBaden. Ferner war er am 22. Oktober mit seinem Film AGNES zu Gast auf dem Panel der ARD auf der Frankfurter Buchmesse. Im November wird AGNES u.a. auf dem German Film Festival Singapore zu sehen sein.

ment.de) erhältlich. Ausgestattet mit Untertiteln in Deutsch, Englisch, Arabisch und Persisch ist der Film somit auch für den Einsatz bei der Flüchtlingsarbeit geeignet.

Die MFG Filmförderung Baden-Württemberg fördert DAS LEBEN MEINER TOCHTER, den neuen Film von Steffen Weinert (Buch und Regie), mit 275.000 Euro. Produziert wird das Drama um einen Familienvater, der auf illegalem Weg versucht, ein Spenderherz für seine todkranke Tochter zu organisieren, von Alexander Funk (Oberon Film) in Koproduktion mit SWR, WDR und ARTE. Christoph Bach und Alwara Höfels spielen die Hauptrollen. Drehbeginn ist für 2017 angesetzt. Darüber hinaus erscheint sein Roman DIE NETTEN SCHLAFEN ALLEIN am 25. November im Rowohlt Verlag.

KUNTERBUNTE SCHREIBWERKSTATT MIT ROXY SAUERTEIG heißt das 48 Seiten starke Heft vom AOL Verlag, empfohlen für den Unterricht in den Klassenstufen 3 und 4. Die Hauptfigur aus Katharina Reschkes im Baumhaus Verlag erschienene Buchserie animiert Kinder, sich als Schriftsteller, Detektive und Sprachkünstler zu probieren.

Der Kurzfilm ROTKÄPPCHEN FÜR DEUTSCHLEHRER, produziert von steelecht in Zusammenarbeit mit dem Animationsdesigner Tim Fernée, wurde von der FBW mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ ausgezeichnet und ist ab sofort über den Lehrfilmanbieter Filmsortiment (www.filmsorti-

Viola Lippmann präsentiert auf dem CARTOON Springboard in Halle (15.18.11.) ihr in der Akademie für Kindermedien entwickeltes und mit dem MDM Förderpreis in Höhe von 15.000 Euro ausgezeichnetes Pre-school TVSerienprojekt ERNA RÄUMT AUF. Auch wird sie auf verschiedenen Ausstellungen mit eigenen Kunstobjekten zu sehen sein: Vom 19.11.2016 bis 15.01.2017 bei FANTITASTISCH 2: Design aus Sachsen-Anhalt - nicht nur für Kinder, sowie vom 3.12.2016 bis 7.01.2017 bei CREATURES & CREATORS. In ihrem 20. Jahr erweitert die Medienfachzeitschrift tv diskurs unter der Chefredaktion von Joachim von Gottberg ihre Präsenz im Internet. Bisher war der Onlineauftritt in der Website der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen integriert. Von nun an bietet tvdiskurs.de neben den Downloads der Printversionen auch exklusive Onlinebeiträge.


Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_04/2016

Förderverein Deutscher Kinderfim e.V. Info Nr. 4/2016

Im KiKA gibt es im Advent das neue Format SCHNITZELJAGD – MIT CHRISTUS UM DIE WELT (ab 4.12.) zu sehen: Von der gigantischen JesusStraßenparty in Sao Paulo bis zur stillen Andacht der rumänischen Nonne Gabriela… Darüber hinaus wird der KUMMERKASTEN neu aufgestellt und ist ab sofort nicht nur im TV-Programm, sondern auch online erreichbar. Der erste „KUMMERKASTENTalk“ findet am 20. November um 20:10 Uhr auf kika-kummerkasten.de statt. Daneben wurde die Dokumentation MARLENY – UND ES GIBT MICH DOCH! aus der Sendereihe SCHAU IN MEINE WELT mit dem Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte ausgezeichnet. Ferner findet am 17. November der 1. KiKA-PRODUZENTENTAG FÜR KINDERPRODUKTIONEN im Erfurter Kindermedienzentrum statt. Eingeladen sind Produzenten von Kinderprogrammangeboten aus dem gesamten Bundesgebiet. Im Oktober war Dr. Rüdiger Hillmer als Experte bei Filmplus in Köln auf dem Panel „Zwischen Schutz und Spannung – Zielgruppengerechte Montage im Kinder- und Jugendfilm“ geladen. Am 5. November verantwortete er die Panelmoderation „Case Study: MOLLY MONSTER im Kino. Das Abenteuer Vorschul-Kinderfilm“ auf der VeDRA Fachtagung FilmStoffEntwicklung 2016. Im Rahmen des Internationalen CoProduktionsmarktes MIA fand am 23. Oktober erstmalig in Rom mit dem MIA Young Audience Spotlight eine Fachveranstaltung zum Thema Kinderfilm statt. Unter der Leitung von Viola Gabrielli präsentierte KIDS Regio mit Unterstützung von The Financing Forum for Kids Content neue internationale Filmprojekte für Kinder in der Entwicklung. Zu Gast waren: Philipp Budweg (Lieblingsfilm GmbH); Nicholas Sando (Filmbin AS, Norwegen); Froukje Tan (Autorin und Regisseurin, Niederlande); Diana Mikita (Nafta Filmproduction, Estland); Carlotta Calori (Indigo Film, Italien); Anna Knochenhauer (Nice Drama, Schweden); Elli Toivoniemi (Tuffi Films, Finnland);

Kai Nordberg (Making Movies Oy, Finnland); Sigrid Klausmann (Schneegans Productions, Deutschland). Der nächste KIDS Regio Berlinale Meeting Point findet am 11. Februar 2017 von 14:00 - ca. 15:30 Uhr in der Vertretung des Freistaats Thüringen beim Bund, Berlin, statt.

DAS SINGENDE, KLINGENDE BÄUMCHEN, produziert von der studio.tv. film GmbH im Auftrag der ARD unter Federführung des rbb und Beteiligung des SR für Das Erste wird am 25. Dezember um 14:45 Uhr in der ARD ausgestrahlt.

neue Leinwandabenteuer DIE HÄSCHENSCHULE – JAGD NACH DEM GOLDENEN EI ab dem 16. März 2017 im Kino zu sehen sein. Regie führt Ute von Münchow-Pohl; das Drehbuch stammt von Katja Grübel und Dagmar Rehbinder. Förderer sind: FFF, MFG, FFHSH, Filmstiftung-NRW, MBB, nordmedia, FFA, DFFF und MEDIA. Im Oktober fand bereits zum 10. Mal in Rheinland-Pfalz die Kinderfilmtour Popcorn im Maisfeld von medien.rlp Institut für Medien und Pädagogik e.V. statt. Zwei Wochen lang wurden an außergewöhnlichen Orten jeweils passende Filme gezeigt. Schiffe, Museen, Bergwerke, Schlösser, Burgverliese und Scheunen waren unter den Aufführungsorten, wodurch Kindern auf dem Land, für die das nächste Kino weit weg ist, Film mit besonderer Erlebnisqualität vermittelt werden konnte. In zehn Jahren hat Popcorn im Maisfeld mehr als 200 Orte zwischen Eifel und Elsass besucht.

Von Anne C. Voorhoeve ist aktuell bei Fischer-Sauerländer das Kinderbuch WIR 7 VOM REUTERKIEZ erschienen. Im Oktober ging das 34. KinderFilmFest Münster mit knapp 2.400 Besuchern zu Ende. Mit dem Preis der Kinderjury JULE wurde der Film MEERESRAUSCHEN aus Sri Lanka ausgezeichnet. DER KLEINE RABE SOCKE – DIE SERIE feiert Premiere bei KiKA: Vom 1. bis 26. Dezember wird täglich um 18:40 Uhr eine neue 12-minütige Folge zu sehen sein. Die Titelrolle des Rabe Socke spricht der preisgekrönte Nachwuchsschauspieler Louis Hofmann. Die 52-teilige Serie basiert auf der gleichnamigen, millionenfach verkauften Buchreihe von Nele Moost und Annet Rudolph, erschienen im Thienemann-Esslinger Verlag Stuttgart und ist eine Koproduktion von Akkord Film mit der ARD unter Federführung von SWR (Redaktion: Benjamin Manns) und NDR (Redaktion: Birgit Ponten). Voraussichtlich im Frühjahr 2017 folgen die nächsten 26 Episoden. Regie führt Josselin Ronse. Ferner wird das

Gemeinsam mit der Redakteurin Hilla Fitzen und Kollegin Ulrike Rogler entwickelte und schrieb AKM Alumni Simone Veenstra (Jahrgang 2008/09) die Hörspielreihe DER KLEINE HUI BUH für Kinder ab 3 Jahren. Das bekannte Schlossgespenst ist darin noch Spukanfänger und hat mit seiner Freundin, dem Hexenmädchen Hedda Hex und ihrem Lehrmeister Frederik Fledermaus so einige Spuk-Katastrophen und Abenteuer zu bestehen. Inzwischen sind 6 Geschichten geschrieben; 4 davon sind bereits bei Europa erschienen. Redaktion: Katja Imhof Haus Dacheröden, Anger 37, 99084 Erfurt Tel. 0361-66386-0; Fax 0361-66386-29; E-Mail fdk@kinderfilm-online.de Geraer Bank: Konto-Nr. 4122852, BLZ 83064568

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Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_04/2016

Stiftung Lesen

Vom Buch zum Film

„Die Mitte der Welt“

„Lesefreude wecken, Lesekompetenz stärken“ – seit mehr als 25 Jahren steht die Stiftung Lesen für erfolgreiche Leseförderung in Deutschland. In jeder KJKAusgabe gibt die Stiftung Lesen Lektüreund Kinotipps sowie Empfehlungen für kreative und erkenntnisreiche Entdeckungen an der Schnittstelle von Buch und Film. www.stiftunglesen.de

Jetzt auf der Leinwand:

„Burg Schreckenstein“ Der elfjährige Stephan ist zunächst alles andere als begeistert, als ihn seine Eltern ins Internat schicken wollen. Doch für sie ist Burg Schreckenstein die letzte Hoffnung darauf, dass seine miserablen Schulnoten endlich wieder besser werden. Und entgegen Stephans Befürchtungen entpuppt sich die Burg bald schon als herrlicher Ort mit vielen gleichgesinnten Jungs, die auch eher Flausen als Lernen im Kopf haben. Schnell freundet er sich mit Ottokar, Mücke, Strehlau und Dampfwalze an und gemeinsam führen sie eine erbitterte Fehde mit den Mädchen vom benachbarten Internat Rosenfels. Klar, dass die mit jeder Menge Streichen einhergeht! „Burg Schreckenstein“ – diese Buchreihe kennen bereits Generationen von jungen Leserinnen und Lesern. Seit dem 20.10.2016 auch auf der großen Leinwand zu bestaunen. Marc Stichler: „Burg Schreckenstein. Der Roman zum Kinofilm“, Egmont Schneiderbuch, Köln 2016, 189 Seiten, EUR 10,00, ab 8 Jahren. Unterrichtsimpulse zum Film gibt es unter www.stiftunglesen.de/schreckenstein.

Nach den charmanten „Rico, Oskar“-Filmen kommt nun ein weiteres Buch von Autor Andreas Steinhöfel auf die Kinoleinwand. Eines, über dass er selbst einmal sagte: „Es gibt jede Menge Bücher, die rund und in sich abgeschlossen sind, viele davon liebe ich sehr. Noch mehr aber liebe ich jene Geschichten, die mich nicht loslassen nach dem Lesen, die mich über ihr Ende hinaus gedanklich beschäftigen. Eine solche Geschichte wollte ich schreiben.“ Das ist ihm mit den im Jahr 1998 erschienen Roman DIE MITTE DER WELT zweifelsohne gelungen. Er erzählt die Geschichte des 17-jährigen Phils, der sich in einem undurchschaubaren Netz aus Familiengeheimnissen rund um seine unkonventionelle Mutter Glass und seine Zwillingschwester Dianne zurechtfinden und noch dazu mit dem Verliebtsein in den unnahbaren Nicholas zurechtkommen muss. Von Beginn an begeisterte der Jugendroman junge und erwachsene Leser gleichermaßen. Darunter auch Regisseur und Drehbuchautor Jakob M. Erwa (u. a. „Homesick“), in dessen Herzen er sich nach eigener Aussage „sofort eingenistet“ hat. Entsprechend hartnäckig warb er um die Verfilmungsrechte und blieb sogar am Ball, als bereits mehrere Optionen vergeben worden waren und der Stoff sogar verkauft worden war. Doch die Verfilmung schien ein schwieriges Unterfangen und es glückte nicht, den Roman auf die Leinwand zu bringen. Schließlich bekam Erwa tatsächlich noch den Zuschlag für die Verfilmung des Romans. Die besondere Herausforderung, der er beim Verfassen des Drehbuchs und dem anschließenden Dreh gerecht werden wollte, war es, eine eigene filmische Sprache zu finden und dennoch dem Geist der Vorlage gerecht zu werden und ihre Atmosphäre zu bewahren. Der Film wird diesem Anspruch mehr als gerecht und bringt die vielschichtigen Charaktere facettenreich und glaubwürdig auf die Leinwand – nicht zuletzt dank des wunderbaren Casts rund um Hauptdarsteller Louis Hofmann. Und auch die besondere Atmosphäre des Buches wird visuell eindrucksvoll umgesetzt. Autor Andreas Steinhöfel bescheinigt dem Film: „In DIE MITTE DER WELT ist alles drin, drum und dran, was mir wichtig ist und was Fans des Romans erwarten werden.“ Andreas Steinhöfel: „Die Mitte der Welt - Filmausgabe“, Carlsen Verlag, Hamburg 2016, 480 Seiten, EUR 9,99, ab ca. 13 Jahren. Im Kino ab dem 10.11.2016. Unterrichtimpulse zum Film gibt es unter. www.stiftunglesen.de/mitte-der-welt

Ab auf die Leinwand! Ein Buch, das unbedingt verfilmt werden sollte:

„Die schwarzen Musketiere – Das Buch der Nacht“ Der Krieg ist schon fast so alt wie Lukas selbst und schon vor all den furchtbaren Ereignissen in seinem Leben hatte er manchmal das Gefühl, dass das Kämpfen nie aufhören wird. Doch nach der Ermordung seiner Eltern und der Verschleppung seiner Schwester wird der Kampf zur Mission: Lukas muss die Ehre der Familie Lohenstein wiederherstellen und seine Schwester aus den Fängen des abgründig bösen Inquisitors Waldemar von Schönborn befreien. Fechtkünste sind zwar nur ein kleiner Teil dessen, was Lukas für seinen Rachefeldzug benötigt – aber sie erweisen sich durchaus als segensreich, als er auf die bunt zusammengewürfelte Gauklertruppe des ehemaligen Schwarzen Musketiers und Schwertmeisters Dietmar von Scherendingen trifft … Hier werden auch StarWars-Fans zu Lesern! Die nicht gerade zimperliche Mantel-und-DegenGeschichte wartet mit klassischen Genre-Elementen sowie einem Schuss dunkler Magie, flapsigem Witz und vor allem jeder Menge Action auf. Der jugendliche Held erinnert nicht nur von weitem an einen gewissen Luke S. und an Verfilmungspotenzial der Jung-Musketier-Saga vor der Kulisse des Dreißigjährigen Krieges mangelt es auch nicht – im Gegenteil: Beim Lesen springt direkt das Kopfkino an! Ausgezeichnet mit dem Leipziger Lesekompass 2016. Oliver Pötzsch: „Die schwarzen Musketiere – Das Buch der Nacht“. Bloomoon, München 2015, 320 Seiten, EUR 14,99, ab ca. 12 Jahren.


Kuratorium junger deutscher Film

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Informationen No. 76

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„Palastgeflüster“

„Sandmädchen“

52 Editorial: Fokus Dokumentarfilm 53 Für die ganze Familie: „Palastgeflüster“ 54 Besondere Dreharbeiten: „Sandmädchen“ 58 Interview mit der Regisseurin Sonia Kennebeck 61 5 Filme… von Stefan Ludwig 62 News & Meldungen 56 „National Bird“

Das Kuratorium junger deutscher Film ist eine öffentliche Stiftung und die einzige von den Ländern gemeinsam getragene Filmförderinstitution. Seine Aufgabe ist es, den filmkünstlerischen Nachwuchs zu fördern, zur künstlerischen Entwicklung des deutschen Films beizutragen und diese anzuregen. KuratoriuM juNgEr dEutSchEr FiLM Schloss Biebrich, Rheingaustraße 140, 65203 Wiesbaden Internet: www.kuratorium-junger-film.de

56 „Der Prozess von Budapest“

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Kuratorium junger deutscher Film

Editorial: Fokus Dokumentarfilm

Foto: “Bruder Jakob”, DOKOMOTIVE-Fimkollektiv

Liebe Freunde des Kuratoriums, in den vergangenen Ausgaben haben wir immer wieder Dokumentarfilme und ihre Macher vorgestellt. Vielleicht erinnern Sie sich z.B. an die beeindruckenden Bilder von Surfern an der Küste des Gazastreifens. Der Regisseur Philip Gnadt und der Produzent Michael Dupke berichteten von den außergewöhnlichen Bedingungen ihres Drehs im Gazastreifen. Inzwischen hat „Gaza Surf Club“ Weltpremiere in Toronto gefeiert und läuft in diesen Tagen beim Hawaii International Film Festival und auf dem International Documentary Film Festival Amsterdam (idfa). Aktuell gibt es in allen Förderstufen – von der gerade begonnenen Projektentwicklung bis zur Festival- und/oder Kinoauswertung – Dokumentarfilme, die uns in unbekannte Welten entführen, die uns begeistern und bewegen; deshalb widmen wir diese Ausgabe den geförderten Dokumentarfilmen. Die Regisseure nehmen uns mit auf andere Kontinente, in die menschliche Seele, hinter die Bühne und auf die Suche nach Antworten. So unter-

schiedlich ihre inhaltlichen Fragestellungen sind, so verschieden sind auch ihre künstlerischen Ansätze. So können Sie in dieser Ausgabe mehr über amerikanische Drohnenpiloten (Regisseurin Sonia Kennebeck über „National Bird“), die besondere Herangehensweise an einen Dokumentarfilm mit einer Protagonistin, die sich nur mittels einer ganz eigenen Sprache ausdrücken kann (Veronika Raila über die gemeinsame Arbeit mit dem Regisseur Mark Michel an „Sandmädchen“) und Kinder auf der großen Showbühne („Palastgeflüster“) erfahren. Vor fast zwei Jahren hat der Regisseur Philipp Hartmann in der ersten Ausgabe der neu ausgerichteten „Kinderund Jugendfilmkorrespondenz“ fürs Kuratorium von der Kinotour mit seinem Dokumentarfilm „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe” berichtet. In 66 Kinos quer durch die ganze Republik hat er mehrere Monate lang seinen Film begleitet und ist darüber mit Publikum und Kinobetreibern ins Gespräch gekommen. Diese Tour war für ihn mehr als eine andere Form der

Herausbringung ganz ohne Verleih, es war eine Reise in die Kinoseele unseres Landes. Dabei heraus gekommen ist ein neuer Film: „66 Kinos“, der bei der Viennale im Oktober Premiere gefeiert hat und ebenfalls vom Kuratorium unterstützt wurde. „Bruder Jakob“ von Elí Roland Sachs erzählt die Geschichte von Jakob, seinem Bruder, der zum Islam konvertiert ist und sich als Salafist sieht. Eine außergewöhnlich persönliche Herangehensweise an eine Fragestellung, die nicht aktueller sein könnte. „Bruder Jakob“ feiert seine Uraufführung beim diesjährigen Dok Leipzig. Hier fehlt leider der Platz um weiter zu erzählen von den wunderbaren kurzen Dokumentarfilmen, den Hybridfilmen, den experimentellen Filmen, den Dokumentarfilmen für Kinder und vielen, vielen anderen Projekten, die es sich lohnt anzuschauen. Wir wünschen viel Freude beim Lesen und empfehlen: Gucken Sie mehr Dokumentarfilme, es lohnt sich! Anna Schoeppe und Andreas Schardt


Foto: Friedrichstadt-Palast

Kuratorium junger deutscher Film

Über die Entstehung von „Palastgeflüster“

Kinoabenteuer für die ganze Familie „Palastgeflüster“ wurde in der Frühjahrsfördersitzung vom gemeinsamen Ausschuss des Kuratoriums mit der BKM in der Projektentwicklung gefördert. Die Entstehung dieses Hybrid-Films, der von der Gebrüder Beetz Filmproduktion realisiert wird, verfolgen wir gespannt. „Palastgeflüster“ erzählt die Geschichte von fünf Kindern des jungen Ensembles des FriedrichstadtPalasts während der Entstehung des neuen Kinderstücks „Von Zeit zu Zeit”. Vom Casting bis zum großen Premierenabend vor 2.000 Zuschauern erleben wir, wie die Kinder vor immer neue Herausforderungen gestellt werden: Probenstress, Lampenfieber, Konkurrenz, die erste Liebe. Und als wäre das nicht schon turbulent genug, wird das Thema des neuen Stücks plötzlich Realität: Die Kinder können durch ein Zeitloch in die Vergangenheit des FriedrichstadtPalasts reisen. „Palastgeflüster“ ist ein Hybrid-Film, in dem Realität und Fiktion zu einem fantastischen Kinoa-

benteuer für die ganze Familie verschmelzen. Oskar (13), Matthis (12), Raissa (10), Luna (8) und Raissa (8) sind alle Mitglieder des Jungen Ensembles und teilen trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere die Leidenschaft für die große Bühne. Neben ihrem gemeinsamen Alltag am Palast, stehen sie privat vor ganz unterschiedlichen Herausforderungen: Hänseleien, ein Familiengeheimnis, eine Fluchtgeschichte oder Probleme in der Schule. Der Palast mit seinen endlosen Fluren, zahlreichen Hinterbühnen und Werkstätten ist der Hauptschauplatz, an dem die Geschichten der Kinder zusammengeführt werden. Diese schillernde, bunte Welt steht für das Univer-

sum der Kinder, in dem sie ein zweites Zuhause gefunden haben. Hier ist nur wenig Platz für fantasielose Erwachsene. Gleichzeitig ist der Palast ein Ort, an dem Zeitgeschichte eine große Rolle spielt. Von den Goldenen 20er Jahren mit Auftritten von Marlene Dietrich oder Josephine Baker, der Säuberung des Ensembles während der Nazi-Zeit, der Zerstörung im Krieg bis zum Wiederaufbau zum Prachttheater der DDR, hat der Friedrichstadt-Palast eine bewegte Historie hinter sich. Diese nutzen wir für die Zeitreisen der Kinder. Ihre Erlebnisse innerhalb der Zeitebenen basieren auf wahren historischen Ereignissen, die jedoch kindgerecht und im Sinne der Figurenentwicklung fiktionalisiert werden. •

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„Das Sandmädchen“: Der Dreh

Bon Voyage Veronika Raila hat gelernt, sich auf eine ganz eigene Weise und durch ein ausgeklügeltes Zeichensystem mit ihrer Umwelt zu verständigen. Bereits vor einigen Jahren hat der Regisseur Mark Michel sie für seinen Dokumentarfilm „Veronika“, der 2011 u.a. beim Dok Leipzig lief, portraitiert. Im vergangenen Jahr haben die beiden nun, u.a. unterstützt durch eine Produktionsförderung des Kuratoriums, gemeinsam den langen Dokumentarfilm „Sandmädchen“ gedreht – Veronika ist Protagonistin und Co-Regisseurin. Ich will diesen Film, koste es mich, was es wolle. Kraft, Nerven, Arbeit und letztendlich Freude über das Gelingen. Es ist mir nicht in die Wiege gelegt, an einem Film zusammen mit anderen zu arbeiten. Aber nachdem der Kurzfilm („Veronika“), den Mark Michel über mich und mit mir drehte, so ein Erfolg wurde – war der Weg, zwar schon noch mit großen Steinen gepflastert, aber letztendlich hatten Mark und unsere Produzenten die Hauptarbeit übernommen, und alles bereitgestellt. Die Technik war das eine, und ich muss gestehen, ich habe nur die Kamera und den Ton am Set gesehen, alles andere blieb mir verborgen. Die Finanzen, die

zum Großteil von der Filmförderung und zu einem kleineren Teil durch Crowdfunding aufgebracht wurden, waren das andere. Warum ich diesen Film wollte? Ich muss vorausschicken, dass ich eine schwere Körperbehinderung habe, die mit einem Autismus in Gesellschaft lebt. Aus dieser Konstellation heraus ist es nicht üblich einen Film zu machen – dass es aber möglich ist, will ich zeigen – und nicht nur das, ich will Menschen an meinem Leben teilhaben lassen, ich möchte Mut machen. Zeigen, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg finden kann, um glücklich zu werden. Und ja, das bin ich, glücklich, richtig glücklich.

„Und ja, das bin ich, glücklich, richtig glücklich.“

Von Veronika Raila

Oft haben Mark und ich uns getroffen, entweder zu Hause bei mir, oder auch am Rande eines Filmfestivals. Unsere Emails kreuzten sich sogar manchmal. Mark machte sich viele Gedanken, wie meine Synästhesie, meine Wahrnehmung überhaupt zu visualisieren wäre. Und er fragte mich Löcher in den Bauch. „Veronika, wie siehst du dies? Veronika, wie siehst du das?“ – „Wie liest du Texte, wie hörst du Musik?“ Es war aber auch für mich immer interessant, er fragte Dinge, über die ich mir bis jetzt eigentlich keine Gedanken gemacht habe, die eigentlich selbstverständlich für mich waren. Mir war zwar bewusst, dass ich einige Eigentümlichkeiten der Wahrnehmung und der Verarbeitung habe, aber durch das konkrete Fragen von Mark wurde es mir immer klarer, wie mein Oberstübchen arbeitet, oder auch nicht. Durch diesen Dialog konnte ich mein Gehirn neu kartographieren. Ich habe mir viele Gedanken um die Struktur gemacht, denn ich wollte ein „Roadmovie“ daraus machen. Zum einen sollte mein Weg in die Gesellschaft beschrieben werden, dann mein Weg, den ich ging, um mich zu finden und letztlich auch der Weg von Mama zu mir. Und wichtig war mir, dass alles im Leben auf Begegnung basiert. Eine Persönlichkeit kann sich nur im Spiegel eines anderen Menschen entwickeln. Vom „Ich“ zum „Du“ und wieder zurück. Endlich konnte begonnen werden. Die erste Begegnung mit der Kamerafrau


Kuratorium junger deutscher Film

Ines Thomsen und dem Ton, der von Christian Schunke aufgenommen wurde, war in Leipzig – und zugleich mit dem Puppenspieler. Der Begriff bzw. die Bezeichnung Puppenspieler trifft nicht im Entferntesten die Kunst von Micheal Vogel. Er spielt nicht nur mit seinen Puppen, er ist auch der Künstler, der diese Figuren erschafft. Ich sollte aus dem Auto steigen, die Kamera lief, durchbohrte mich mit der Linse. Vati und Mama bemühten sich um Normalität und Entspannung, trotzdem bohrte sich der Blick der Linse wie ein Dolch in mein Innerstes, in mein Mark. Vati hob mich aus dem Auto, setzte mich in meinen Rolli. Meine Angst war so groß, dass ich verkrampfte, so verkrampfte, dass ich nicht mehr gerade auf der Sitzfläche zum Sitzen kam. Ich hing, wie Mama zu sagen pflegt, wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Vati fuhr mich zügig rein ins Gebäude, mit dem Aufzug nach oben, dort warteten wir. Der Puppenspieler war ein weicher ruhiger Mann, der meine Situation sofort erkannte, verstand und mich in der Werkstatt in ein Gespräch führte. Nach und nach löste sich meine Verkrampfung, ich spürte die Sitzfläche wieder eben unter mir. Ich war so intensiv konzentriert im Gespräch, dass ich nur am Rande wahrnahm, wie die Linse der Kamera jetzt mein Gesicht streichelte. Ich war so entrückt, dass ich die Zeit vergaß. Und die Kamera lief und lief und schnurrte vor sich hin. Ich konnte es also, die Kamera, vor der ich große Angst hatte, vergessen und ganz in mir sein, an nichts, als nur den Augenblick denken. Ich war angedreht. Aufgedreht oder besser abgedreht waren die Aufnahmen in Leba, Polen. Am Veto von Mama wäre diese Sequenz beinahe gescheitert. Geplant war, dass ich mit meinem Rolli auf einer Sanddüne stehen sollte – ein Bild, als ob ich auf einem anderen Planeten wäre. Ja, haben Sie schon einmal versucht, einen Rollstuhl durch Sand zu schieben? Diese Erfahrung ist erhellend und erklärt sofort, warum Mark sich mit meinem Vater kurzschloss, um ein Verfahren auszutüfteln, welche Unterlage man bauen

müsste, wie viele Männer man anheuern müsste, um mich mitten auf die Düne zu bringen. Einige gewagte Konstruktionen wurden schlichtweg von Mama abgelehnt, da sie es als zu stressig für mich einstufte, außerdem erwähnte sie immer wieder den „Fitzcarraldo“ und betonte, dass sie ihn sehr wohl kenne. Ich schaute Mama flehend an, ich wollte doch auch diese Aufnahme. Mark und Vati hatten schließlich eine gute Idee, zu der auch Mama ihre Zustimmung gab – nicht gerne, weil sie wirklich Angst hatte, ich würde überfordert sein.

Aber einmal dort angekommen, fühlte ich mich in den Dünen so geborgen, geborgen wie in Mutters Schoß. Die Aufnahmen waren sehr entspannend und bleiben mir in Erinnerung. In Erinnerung bleibt auch die Frage von Mark, welches Bild ich gerne noch im Film hätte? Das fühlte sich gut an, hier war ich kein Objekt des Betrachtens, hier war ich ein Subjekt, das mitbestimmte. Das ist übrigens das Bild, das auf meinen Wunsch entstanden hin ist (unten):

„Das ist das Bild, das auf meinen Wunsch hin entstanden ist.“

Die nächsten Drehtage waren im Wasser, genauer gesagt im Pool des Hotels „Venezia“ in Abano Therme (Italien) – auch wieder auf meinen Wunsch hin. Das Bild, das ich im Kopf hatte, war das eines Käfers, der auf dem Rücken liegt und dessen Beine in die Luft stehen – Käfer in Anlehnung an Kafkas Verwandlung. In meinem Leben begann ich als Käfer, und so nach und nach verwandelte ich mich, vor allem durch die Fähigkeit kommunizieren zu können, in einen Menschen. Nebenbei wollte ich jedem das Kunststück zeigen, dass ich, obwohl ich so eine schwere Körperbehinderung habe, mich nur mit drei kleinen Auftriebhilfen alleine im Wasser halten kann. Glücklich war ich, als es mir gelang – das Foto ist der Beweis:

Hier, in Abano Therme, fühlte ich mich ganz in meiner Rolle, ich führte das Kamerateam noch an zwei meiner Lieblingsplätze – zum ersten in ein kleines Museum für Kristalle. Kristalle sind klar aufgebaut: gerade Kanten, ebene Flächen und genau definierte Winkel. Nichts ist überraschend, nichts ist bedrohlich – deshalb fühle ich mich

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„Der zweite Lieblingsort ist die Kirche des heiligen Antonio in Padua. Sobald ich sie betrete, fühle ich mich leicht, um nicht zu sagen, angehoben.“

wahrscheinlich dort auch sehr wohl. Der zweite Lieblingsort ist die Kirche des heiligen Antonio in Padua. Sobald ich sie betrete, fühle ich mich leicht, um nicht zu sagen, angehoben. Mir ist, als ob ich schwebe, als ob ich meinen Leib verlassen könnte und dem Himmel so nah komme. In San Antonio haben wir ruhige Bilder gemacht, fast statisch, den Moment eingefangen und die Zeit gedehnt, zu einer halben Ewigkeit aufgedreht. Dieser Moment ist immer noch in meinem Herzen. Was macht einen guten Film aus? Ich denke, es ist genau wie bei einer guten Geschichte – es müssen die vier Elemente vorhanden sein: Wasser, Erde, Feuer und Luft. Es fehlte also nur noch das Feuer – und bei diesem Gedanken fiel mir sofort Mamas Kochen ein. Wenn sie in der Küche steht, kocht, dampft, raucht und qualmt es. Für des Element des Feuers ein wunderbares Bild. Natürlich ist für viele Menschen meine Art zu kommunizieren etwas fremd, und deshalb gewöhnungsbedürftig. Aber stellen Sie sich bitte vor, Sie hätten einen Körper, den Sie nicht steuern könnten, der oft das Gegenteil vom dem macht, was Sie wollen. Mein Gehirn sagt z.B.: „Hebe die Hand.“ Mein Körper macht nichts, mein

Gehirn sagt dies ein zweites Mal, mein Körper macht immer noch nichts, ich werde etwas ärgerlich, befehle meinem Körper ein drittes Mal die Hand zu heben, ich werde zornig, verspanne und verkrampfe mich, meine Hand ignoriert diesen Befehl noch immer. Sobald ich aber mich nicht mehr darauf konzentriere, und ich aus der Verspannung komme, kann es sein, dass mein Körper für den Bruchteil einer Sekunde bereit ist, die Handlung auszuführen. Oder auch nicht. Sie können sich vorstellen, wie ärgerlich und wütend man mit so einem Körper werden kann. Diese Unfähigkeit liegt in der Tatsache begründet, dass ich meinen Körper nicht spüre, es fehlen angeblich die sogenannten Neurotransmitter. Aber dazu befragen Sie am besten meine Mama. Eine große Hilfe für das Überwinden dieser Handlungsstörung ist ein Mensch, der Druck auf meine Hand ausübt. Der Druck bewirkt, dass ich mich spüre, und sobald ich mich spüre, kann ich auch, für eine sehr kurze Zeit meine Hand steuern bzw. meinen Zeigefinger auf eine Buchstabentaste drücken. Die Kunst des Stützers ist, mir gerade so viel Druck auf die Hand zu geben, dass ich mich spüre, aber dennoch so frei bin, um zu

steuern. So entstehen meine Texte. Für kurze Gespräche im Alltag, beim Einkaufen oder z.B. unter der Dusche, ist dies aber etwas umständlich, so dass wir uns noch eine zweite Art der Kommunikation, basierend auf Hand-Fingerzeigen erarbeitet haben. Meine Mimik funktioniert auch sehr präzise, so dass manche Menschen mein Gesicht lesen können. Das gestützte Schreiben fordert von mir höchste Konzentration, denn ich weiß, wenn ich nicht, sobald ich mich spüre, losschreibe, es in der nächsten Sekunde schon wieder weg sein kann und ich dann wieder warten muss. Beim Drehen ist man sowieso aufgeregt, aufgedreht. Und jetzt kommt auch die volle Konzentration und Aufregung des Schreibens dazu. Ich kann Ihnen versichern, dass dies enorme Anstrengung kostet. Sobald ich beim Schreiben gefilmt wurde, kam ich ins Schwitzen, denn ich wollte alles perfekt zeigen. Diese Passagen waren mit Abstand die anstrengendsten. Aber ich will diesem Film als Vehikel benutzen, um diese Art der Kommunikation bekannter zu machen, aus einer nebulösen Ecke herausholen und ins Licht zu stellen. Es gibt doch sehr viele Menschen, die nicht über eine Lautsprache verfügen und die deshalb


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nicht mit der Welt in einen differenzierten Kontakt treten könnten. Wenn dieser Film bewirkt, dass nur ein Einziger aus seinem stummen Kerker herausgeholt wird, ist der Film bereits ein Erfolg.

Mark wollte unbedingt auch meinen Alltag zeigen, den ich aber für sehr unspektakulär halte. Aber er hat meine Wünsche mit aufgenommen, also wollte ich ihm auch die seinen nicht nur gewähren, sondern diese auch unterstützen. Die obenstehende Aufnahme zeigt meine Oma, meine Mama und mich unter dem Apfelbaum. Dieses Bild soll an ein Gemälde des bayrischen Malers Wilhelm Leibl: „Die drei Frauen in der Kirche“ erinnern. Der Apfelbaum, der uns vor der Sonne schützt, wurde im Frühjahr nach meiner Geburt gepflanzt. Er entwickelte sich aus dem Kerngehäuse eines Apfels, den Mama zuvor verspeiste. Mit Ines, der Kamerafrau hatte ich ein sehr langes Gespräch, ein Gespräch, in dem ich ihr meine Eigenheiten der Wahrnehmung und deren Auswirkung auf meine Nervosität erläuterte. Ich kann es nach einiger Zeit gut ertragen, wenn die Kamera ruhig auf mein Gesicht gerichtet ist. Ich muss es mir im Kopf vorstellen können, welcher Teil meines Körpers gerade abgelichtet wird. Muss Ines die Kameraeinstellung verändern oder sogar einen Ortswechsel vollziehen, werde ich unglaublich nervös, da ich nicht mehr weiß, wohin die Linse sieht. Deshalb habe ich gebeten, dass sie mir bei Veränderungen aller Art Bescheid sagt, welchen Bildausschnitt sie jetzt im Fokus hat. Was mir auch noch sehr schwer fällt bzw. was oft überhaupt nicht geht, ist, eine Einstellung zu wiederholen. Meine Wahrnehmung über-

lagert sich, es entsteht ein Bild im Kopf, das einer Kopie in fast allen Punkten gleicht, aber eben nur fast. Es sieht dann aus, wie die berühmten Moirébilder und dies verunsichert mich bis ins Mark. Ines hat dies alles mit bewundernswertem Verständnis aufgenommen und danach gehandelt. Zuhause wurden noch viele Tage gefilmt, z.B. Aufnahmen mit Freunden, Aufnahmen mit Anne Löper, der Sandmalerin. Diese Begegnung hinterließ auch einen tiefen Eindruck bei mir – ich hatte das Gefühl, jemanden auf der gleichen Wellenlänge getroffen zu haben – und ich freue mich auf ein Wiedersehen. Außerdem gab es noch Aufnahmen bei einer Lesung meiner Texte, an der Uni, bei einer Vorlesung, in der Bibliothek. Die letztere war auch ein Wunsch von mir. Ich möchte damit Jedem zeigen, wie ich es genieße, durch das Meer an Wissen zu rollen. Es breitet sich dadurch eine Ruhe in mir aus, eine Ruhe und eine Sicherheit. Beschützt fühle ich mich von den Wänden aus Wissen. Hier ist nichts Unvorhersehbares, nichts Erschreckendes. Wissen ist in Zeichen oder Bildern codiert, wartet nur darauf, von mir gelesen zu werden. Und dieses Wissen ist unendlich – dadurch werde

ich getragen. Manchmal bin ich auch ein bisschen aufgeregt – immer dann, wenn ich aus diesem Wissen eine neue Erkenntnis ziehe. Ich kann mich erinnern, dass dies bei der Platonischen Raumgeometrie so war. Gerne erinnere ich mich daran zurück. Ich stelle mir vor, dass ich noch einen langen Weg der Erkenntnis vor mir habe, einen Weg, den ich beschreiten werde. Am Ziel angekommen präsentiert sich mir das Geheimnis – was die Welt im Innersten zusammenhält. Ich erschaudere vor diesem Gedanken. Durch diesen Film habe ich mich sehr verändert – ich wurde zur Frau. Bis dahin war ich ein Mädchen, das viele Ideen im Kopf hatte, ein Mädchen, das die Welt aus einer Schattenposition heraus betrachtete. Durch diese Entscheidung mich der Welt zu öffnen, dem Auge der Welt zu gestatten, ganz nahe zu mir herzukommen, greife ich auch in die Welt ein. Ich bin nicht länger der Betrachter – sondern ich hoffe, ein Veränderer zu sein. Durch die Betrachtung meiner Person, hoffe ich, dass es zu Veränderungen der Gefühle, der Gedanken und somit letztlich auch der Handlungen kommt. Ich möchte die Welt auf eine Reise durch meine Welt mitnehmen. Bon voyage. •

„Am Ziel angekommen, präsentiert sich mir das Geheimnis – was die Welt im Innersten zusammenhält. Ich erschaudere vor diesem Gedanken.“

Fotos: Mark Michel

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Gespräch mit Sonia Kennebeck über ihren Dokumentarfilm „National Bird“

Auf einem schmalen Grat Unter Präsident Barack Obama hat das US-Militär den Einsatz von Drohnen gegen mutmaßliche Terroristen in Afghanistan, Pakistan, Jemen und anderen Länder erheblich ausgeweitet. Unbemannte bewaffnete Fluggeräte haben den Vorteil, dass keine eigenen Soldaten in Gefahr geraten. Die Öffentlichkeit nimmt das weitgehend geheime Programm meist nur wahr, wenn bei den Luftschlägen versehentlich Zivilisten getötet werden. Wie fragwürdig diese Art der Kriegsführung ist, zeigt die in New York lebende deutsche Autorin und Regisseurin Sonia Kennebeck in ihrem ersten langen Dokumentarfilm „National Bird“, der auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Im Mittelpunkt stehen drei ehemalige Analysten der Air Force, die über ihre Erlebnisse, Traumata und Schuldgefühle berichten. Allerdings dürfen sie nicht zu viel verraten, um sich nicht wegen Geheimnisverrats angreifbar zu machen. Kennebeck begleitet zudem eine Veteranin zu Überlebenden eines blutigen Drohnenangriffs in Afghanistan. Die US-Produktion wurde unter anderem vom Kuratorium junger deutscher Film gefördert. „National Bird“ läuft am 12. Januar 2017 im Verleih von NFP an, in den USA brachte Filmrise den Film am 11. November in die Kinos.

Das Gespräch führte Reinhard Kleber.


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Wie sind Sie auf das Thema gekommen? Kennebeck: Ich arbeite seit vielen Jahren im investigativen Journalismus, habe mich vor allem mit internationalen Militärthemen beschäftigt und auch Fernsehbeiträge über traumatisierte Veteranen realisiert. Das Thema Drohnen hat mich fasziniert, weil man bisher so wenig darüber von direkt Beteiligten gehört hat. Ich wollte mit Menschen sprechen, die im Drohnenprogramm gearbeitet haben, und mit Opfern. Es war mir klar, dass der Rechercheaufwand sehr groß sein würde. Als erste Whistleblowerin habe ich Heather gefunden, später Daniel und Lisa. Warum haben Sie sich nach vielen TV-Arbeiten entschlossen, einen Kinofilm zu machen? Kennebeck: Bei meinem ersten Treffen mit Heather in Pennsylvania hat sie mir erzählt, dass sie Freunde an den Suizid verloren hat. Und von der ständigen Qual und Belastung. Es sind ja vor allem die Schuldgefühle, die manche Analysten quälen, und die Zweifel: Haben sie legitim gehandelt? Haben sie die richtigen Leute getötet? Wen haben wir noch getötet? Ich dachte, das hat so viele Aspekte und Ebenen, die passen nicht in einen Magazinbeitrag oder eine TV-Doku von 45 Minuten. Ich wollte die Möglichkeit haben, die Ergebnisse meiner dreijährigen Recherche in einem langen Film darzustellen. Auch die visuellen Symbolbilder und die aufwändigen Elemente im Sound Design hätten wir in einer TVProduktion nicht unterbringen können. Der Drohneneinsatz unterliegt der Geheimhaltung. Wie sind Sie bei Recherche und Protagonistenauswahl mit dieser Herausforderung umgegangen? Kennebeck: Das war in der Tat die größte Herausforderung. Ich habe in der Entwicklungsphase vom ersten Fördergeld einen Rechtsanwalt engagiert und mit ihm geprüft, wie ich die Protagonisten am besten schützen kann. Dieser Anwalt ist ein Experte für Fragen der Presse- und Redefreiheit in den USA. Zudem habe ich mich beraten lassen von der Whistleblower-

Anwältin Jesselyn Radack, die auch Edward Snowden vertreten hat. Wir bewegen uns ja auf einem schmalen Grat. Zugleich können Whistleblower über bestimmte Dinge reden, ohne diese Grenze zu überschreiten. Da war die Anwältin sehr behilflich. Sie haben den Film mit Ihrer Hamburger und ihrer New Yorker Firma Ten Forward Films produziert. Als ausführende Produzenten sind Wim Wenders und Errol Morris, der für „The Fog of War“ 2004 den „Oscar“ erhielt, dabei. Wie haben sie die beiden für das Projekt gewonnen? Kennebeck: Ich habe beide kontaktiert, um das Projekt zu schützen. Mir war klar, dass es große Risiken birgt. Wenn ich zwei so bekannte Filmemacher an meiner Seite habe, wird es für die amerikanische Regierung nicht so einfach, uns unter Druck zu setzen. Die Anwältin hat mir auch gesagt, je mehr Präsenz und Publicity wir beim Kinostart bekommen, desto größer ist der Schutz für die Protagonisten. Ich kannte weder Wim noch Errol vorher. Wim habe ich über seine Assistentin kontaktiert und irgendwann einen Gesprächstermin bekommen. Ich habe ihm den Teaser-Trailer gezeigt, den ich für das Fund Raising erstellt habe. Schon während er das Material anschaute, sagte er: „Was immer ich tun kann, um Dir zu helfen, werde ich tun.“ Ich habe ihn gefragt: „Möchtest Du mein Executive Producer werden?“ Er hat „Ja“ gesagt. Er war immer ansprechbar, wenn ich Ratschläge brauchte. Gemeinsam haben wir dann Errol gebeten, auch als Executive Producer USA an Bord zu kommen. Als ich ihm den ersten Rough Cut gezeigt habe, hat er zugestimmt. Beide sind nicht direkt an der Produktion beteiligt, unterstützen uns aber mit ihrem Namen, geben Feedback und Tipps. War es schwierig, das politisch brisante Projekt zu finanzieren? Kennebeck: Das Schwierigste war, es überhaupt zu pitchen. Es war unumgänglich, dass das Projekt während der Produktion nicht publik wird. Daher haben wir sicherheitshalber alles verschlüsselt, Kommunikation, Mails,

Anrufe, Material, weil wir damit rechnen mussten, dass alles, was elektronisch verschickt wird, gelesen wird. Dennoch ist unser größter amerikanischer Geldgeber Independent Television Service (ITVS) sehr früh in die Entwicklung eingestiegen und später in die Produktion. Dann bin ich sehr gezielt an Förderer und weitere Geldgeber herangetreten, an das Kuratorium junger deutscher Film, das auch bereits in der Entwicklung gefördert hat, die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, den DFFF und den NDR, der ja, was solche Themen betrifft, erfahren ist und „Citizen Four“ koproduziert hat. Haben Sie während der Recherchen oder des Drehens den Eindruck gehabt, dass Sie überwacht werden? Kennebeck: Die größte Bedrohung gab es während der Produktion, das war die Durchsuchung von Daniels Wohnung. Ich muss davon ausgehen, dass es im Vorfeld und auch danach eine Überwachung gegeben hat. Über die Möglichkeiten der elektronischen Überwachung habe ich mich vorher eingehend informiert, auch bei Menschen, die Journalisten unterstützen, um deren Quellen zu schützen. Die haben mir gesagt, wenn der Angreifer ein Staat ist, bemerkt man keine Anzeichen. Fühlten Sie sich persönlich bedroht? Kennebeck: Ich werde oft bei Screenings gefragt, ob ich mir Sorgen mache. Ein naheliegender Weg, ein solches Filmprojekt zu stoppen, ist es, die Protagonisten einzuschüchtern. Dagegen ist es schwieriger, eine Journalistin unter Druck zu setzen, weil ich viele Kontakte zu Kollegen und Anwälten habe. Ich habe mehr Möglichkeiten, Versuche der Einschüchterung publik zu machen. Welche Rolle hatte das Kuratorium bei der Entwicklung des Projekts? Kennebeck: Eine sehr wichtige, weil es frühzeitig Entwicklungsförderung gewährt hat. Es hat an mein Projekt schon geglaubt, als es sehr schwierig war, Geldgeber zu finden, also in der Recherchephase, wenn ich viel reisen muss, um die Protagonisten zu treffen. Das ist die wichtigste Phase für einen

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Fotos: NFPMs

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unabhängigen Filmemacher, weil sich da entscheidet, ob sich das Projekt realisieren lässt. War es schwierig, die Informanten davon zu überzeugen, vor der Kamera zu sprechen? Kennebeck: Ja. Es hat viel Zeit gebraucht, bis wir Vertrauen zueinander aufgebaut haben. Die Protagonisten müssen mir natürlich glauben, dass ich ihre Geschichte akkurat wiedergebe und sie schütze. Umgekehrt muss ich ihnen vertrauen, dass sie es ernst meinen, denn wir arbeiten jahrelang an so einem großen Projekt. Mir war es auch wichtig zu wissen, dass sie an die Öffentlichkeit gehen wollen. Vor allem mit Lisa habe ich mich oft getroffen, weil sie sich sehr gut mit dem Drohnensystem und der Überwachungstechnik auskennt. Wir haben uns zuerst ohne Handys in einem Park getroffen, um offen sprechen zu können. Lisa wollte ihre Geschichte öffentlich machen, hat sich aber sich sehr genau angeschaut, wer ich bin, was ich gedreht habe und wie gut ich mich mit dem Thema auskenne. Der Film macht mit Lisa auch einen Ausflug nach Afghanistan. Was hat Sie mehr berührt: die Traumata der Opfer des Drohnenkriegs oder die Traumata der Drohnenoperateure? Kennebeck: Es war mein Ziel im Film, den Schmerz nicht gegeneinander aufzurechnen, denn man kann ihn ohnehin nicht vergleichen. Im Drohnenprogramm gibt es viele Analysten und Mitarbeiter, die sich das Leben nehmen, weil ihr Schmerz so groß ist, dass sie das Gefühl haben, sie können nicht mehr weiter leben. Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass die Reise für

meinen Kameramann und mich nach Afghanistan, in ein Kriegsgebiet, sehr schwierig war. Wir mussten sehr vorsichtig sein, mit wem wir dort vor Ort arbeiten. Es gibt Entführungen und Anschläge. Und dann das Treffen mit den Opfern eines Drohnenangriffs. Die Opfer sind zu uns gereist, weil es zu gefährlich gewesen wäre für uns, zu ihnen zu fahren. Im Interview haben sie gesagt, dass sie froh sind, dass jemand nach ihrer Geschichte fragt. In den fünf Jahren seit dem Angriff war niemand zu ihnen gekommen. Diese Sequenz ist so bewegend, nicht nur wegen des schrecklichen Angriffs, sondern weil die Opfer vergeben können. Der Film enthält immer wieder Sequenzen mit Überwachungsbildern aus US-Städten. Wozu? Kennebeck: Mein Anliegen war es, die Kamera umzudrehen, den Amerikanern zu zeigen, wie es ist, wenn man aus dem Himmel beobachtet wird, ohne dass man es weiß. Man sieht auf vielen dieser Aufnahmen, dass die Leute nicht nach oben schauen und nicht wissen, dass sie gerade gefilmt werden. Es war aber auch ein Anliegen der regulären Kamera, denn es war Heathers Aufgabe, Menschen zu beobachten und die Bilder davon zu analysieren. Im Film gibt es daher viele Aufnahmen, in denen wir sie und ihre Familie beobachten. Sie haben den Film inzwischen auf einigen Festivals in den USA gezeigt. Wie kam der Film dort an? Kennebeck: Auf den Festivals sehr gut. Wir hatten volle Säle und zum Teil zweistündige Frage- und

Antwort-Sessions. Die Zuschauer reagieren noch betroffener als in Deutschland. Ich glaube, das liegt daran, dass es ihr Krieg ist. Viele Zuschauer kommen weinend aus dem Kino und sagen: „Ich wusste nicht, was da passiert. Das hat mich erschüttert. Ich muss darüber nachdenken.“ In den Vorführungen saßen sowohl Liberale als auch Konservative. Darunter waren Leute, die gesagt haben, ich dachte, Drohnen seien gut, jetzt zweifle ich daran. Wir hatten auch Militärs im Publikum und junge Menschen, die sich für die Army verpflichten wollten, die nun aber gesagt haben: Hm, ich habe das Gefühl, so eine Verpflichtung bringt vielen Schwierigkeiten mit sich. Was erwarten Sie für den Kinostart? Kennebeck: Für die USA ist der Film sehr wichtig, weil der Drohnenkrieg ja weitergeht. Es ist ein globaler Krieg, deswegen sollte ‚National Bird‘ auch international gezeigt werden. Deutschland ist am Kauf weiterer Drohnen interessiert. Der Januar in Deutschland ist für uns ein sehr guter Starttermin, da beginnt die Schule wieder. Wir haben eine Altersfreigabe ab zwölf Jahren bekommen. Schon jetzt haben Bildungsinstitutionen uns viel Interesse signalisiert. Die Protagonisten sind relativ jung, so dass wir glauben, dass junge Zuschauer sich leichter mit ihnen identifizieren können. • SoNia KENNEBEcK Geboren in Malakka, Malaysia. Studierte Politikwissenschaft mit Schwerpunkt internationaler Sicherheitspolitik in Washington, D.C. Arbeitet als investigative Journalistin und Filmemacherin für CNN und ARD. Ihr Film über Prostitution in Deutschland SEX – MADE IN GERMANY gehörte zum Programm der TV-Festivals Montréal und Monte Carlo. NATIONAL BIRD ist ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm, der u.a. vom Kuratorium gefördert wurde.


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Fünf Filme, die Stefan Ludwig begleiten

„Sein und Haben“ von Nicolas Philibert

heimat ist heimat. Auch für mich. Eine deutsche Chronik des Faschismus, des Jugendaufbruchs der 60er und des Untergangs traditioneller Lebensformen, mäandernd entlang erzählt an den Biografien kleiner Leute. Heimat war für mich als Teenager ein Stück Erwachsenwerden. Lange Fernsehabende mit meiner Familie. Das Gefühl, eine gemeinsame Geschichte zu haben, mit allen Licht- und Schattenseiten. Die Hassliebe zur Provinz. Die Sehnsucht nach dem flirrenden Leben da draußen in der Metropole. Das Filmepos gehört zum Besten, was je in deutscher Sprache gedreht wurde.

ich bin Lehrerkind, habe wichtige Lebenszeit in Schulen verbracht, und irgendwie zieht es mich auch filmisch immer wieder dorthin. Vielleicht ist „Sein und Haben“ deswegen einer meiner liebsten Dokumentarfilme. Nicolas Philibert beobachtet den charismatischen Lehrer einer kleinen französischen Dorfschule durch sein letztes Schuljahr vor der Pensionierung. Ein stiller, subtiler Film über die kleinen Dramen des Alltags – nur der Lehrer, die Kinder und der Wechsel der Jahreszeiten. Eines der Werke, mit denen mein Weg in den Dokumentarfilm begann.

Fotos: Archiv FD

„Heimat“ von Edgar Reitz

„Boys Don’t Cry“ von Kimberly Peirce

„Halbe Treppe“ von Andreas Dresen

Meine stärksten Kinoerlebnisse hatte ich als jugendlicher mit melodramatischen Filmen. Kino als Katharsis. Kino als Ort überlebensgroßer Botschaften, die mich nachts wie in Zeitlupe das Fahrrad nach Hause schieben ließen, mit dem festen Vorsatz: Ab morgen lebe ich anders, ehrlich und intensiv. „Boys Don’t Cry“ ist so ein Melodram, eins von der richtig guten Sorte: Brandon Teena ist ein strahlender junger Mann im Körper einer Frau. In der bierseligen und homophoben amerikanischen Provinz spielt er ein gefährliches Camouflage-Spiel mit bösem Ausgang. Einer von den Filmen, die einen das Leben wertschätzen lassen, weil man im sicheren Kinosessel seine Zerbrechlichkeit durchlebt hat.

Ein Kultfilm meiner clique an der Filmhochschule. 2004 schloss sich Andreas Dresen mit einer Handvoll Schauspieler, einem winzigen Team und einer Mini-DV-Kamera für ein paar Wochen in Frankfurt/Oder ein und drehte eine improvisierte Komödie über zwei befreundete Paare in der Midlifecrisis. Für uns war „Halbe Treppe“ immer der Beleg dafür, dass es beim Filmemachen zuerst auf die Energie zwischen Menschen ankommt und dann erst auf die Technik. „Halbe Treppe“ befeuert bis heute meine Sehnsucht nach einem leichtfüßigen, spontanen und direkten Filmemachen.

„Der Prozess von Budapest“ („Judgement in Hungary“) von Eszter Hajdú Bei den dreharbeiten zu „der zornige Buddha“ war dieser Film in meinem geistigen reisegepäck – er spielt in derselben region ostungarns, auch er handelt von der Situation der roma-Minderheit. Vor einigen Jahren hatte eine Neonazi-Bande dort mehrere Roma ermordet. Eszter Hajdú hatte ungehinderten Zugang zur gesamten Gerichtsverhandlung. In den zermürbenden Befragungen vor einer immer leereren Tribüne schält sich der spröde, bissige Richter ganz langsam als der eigentliche Held heraus: ein Wahrheitsfanatiker, ein Archetyp, der die Hoffnung verkörpert, dass es doch irgendwo Gerechtigkeit gibt. Und Menschen, die sie durchsetzen. Eszter Hajdú hat sich einer dokumentarischen Herkulesaufgabe unterzogen. Sie erzählt ohne Zuckerguss, ohne Interpretation, ohne Firlefanz. Sie schaut nur einfach hin. Immer und immer wieder.

StEFaN LudWig Geb. 1978 in Eichstätt, Bayern. Zivildienst in einem Berliner Altenpflegeheim. Theaterregie-Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, später Dokumentarfilmstudium an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Heute freier Regisseur, Drehbuchautor und TV-Journalist. Sein Diplomfilm „Ein Sommer voller Türen“ über Malteser-Haustürwerber erhielt 2010 den First Steps Award als bester Dokumentarfilm. Zuletzt kam seine Langzeitbeobachtung „Der zornige Buddha“ in die Kinos. Der Film über eine buddhistische Schule für ungarische Roma-Teenager wurde u.a. vom Kuratorium junger deutscher Film gefördert.

www.stefanludwigfilm.eu

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News

November 2016 KiNoStartS National Bird Regie: Sonia Kennebeck, Prod.: Ten Forward Films, Verleih: NFP/Filmwelt

B.

National Bird

Regie: Kai Stänicke, Prod.: Maxim Matthew Creations Group interfilm – Internationales Kurzfilmfestival Berlin

Regie: Sonia Kennebeck, Prod.: Ten Forward Films Sydney International Film Festival Filmfest Hamburg Milwaukee International Film Festival Camden Film Fest

Bruder Jakob

Regie: Elí Roland Sachs, Prod.: DOKOMOTIVE Filmkollektiv DOK Leipzig Duisburger Filmwoche

Chika, die Hüdin im Ghetto Regie: Sandra Schießl, Prod.: TRIKK17 Animationsraum Nordische Filmtage Lübeck KUKI – Internationales Kinder- und Jugendkurzfilmfestival Berlin Chicago International Children’s Film Festival

Es ist keine utopie, dass aus sicherer Entfernung über afghanistan und anderen Ländern drohnen gesteuert werden, die menschliche Ziele für ihre attacken ins Visier nehmen. Der Dokumentarfilm NATIONAL BIRD beschreibt die dramatischen Erfahrungen dreier ehemaliger Analysten der US Air Force, die sich entschieden haben, ihr Schweigen über den geheimen Einsatz dieser Kampfdrohnen zu brechen. Gequält von der Erkenntnis, wahrscheinlich am Tod von unschuldigen Opfern beteiligt gewesen zu sein, gehen sie mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit, ungeachtet möglicher Konsequenzen.

Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor

13.04.17

Regie: Christian Asmussen, Matthias Bruhn, Prod.: Trickstudio Lutterbeck

ÜBERFLIEGER KLEINE VÖGEL, GROSSES GEKLAPPER aka: RICHARD, DER STORCH Regie: Toby Genkel, Reza Memari, Prod.: Knudsen & Streuber Medienmanufaktur, Verleih: Wild Bunch/Central

29.06.17 AXOLOTL OVERKILL Regie: Helene Hegemann, Prod.: Vandertastic, Verleih: Constantin Film Verleih

KiNotoUr 20.10, 23.10, 26.10 Der zornige Buddha Regie: Stefan Ludwig, Prod.: Tellux Film / Meta Film, Verleih: Filmdelights

Der Hund begraben Regie: Sebastian Stern, Prod.: Glory Film Internationale Hofer Filmtage

Der Mann ist groß Regie: Samo, Prod.: Tiger Unterwegs Filmproduktion DOK Leipzig

Die tödliche Maria

B. Regie: Kai Stänicke, Prod.: Maxim Matthew Creations Group Reel Q Pittsburgh International LGBT Film Festival: Audience Award Short Film

Bruder Jakob Regie: Elí Roland Sachs, Prod.: DOKOMOTIVE Filmkollektiv DOK Leipzig: Nominierung für den Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts

Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor

EIN AUS WEG

EIN AUS WEG

Regie: Simon Steinhorst, Hannah Stragholz, Prod.: paradies Filmproduktion DOK Leipzig Duisburger Filmwoche

Regie: Simon Steinhorst, Hannah Stragholz, Prod.: paradies Filmproduktion DOXS Duisburg: Nominierung zur „Großen Klappe“

Ente gut! Mädchen allein zu Haus Regie: Norbert Lechner, Prod.: Kevin Lee Film Schlingel - Internationales Filmfestival für Kinder und junges Publikum

Quatsch und die Nasenbärenbande Regie: HU Krause, Veit Helmer, Prod.: Veit Helmer-Filmproduktion, Berlin Divercine Festival Montevideo: SIGNIS-Preis, Preis für den besten Spielfilm.

Gaza Surf Club

LenaLove

66 Kinos

Regie: Florian Gaag, Prod.: Rafkin Filmproduktion, Verleih: Alpenrepublik Filmverleih Schlingel - Internationales Filmfestival für Kinder und junges Publikum

Auf Augenhöhe

aUSzEichNUNGEN/ NomiNiErUNGEN

Regie: Christian Asmussen, Matthias Bruhn, Prod.: Trickstudio Lutterbeck TOFUZI – International Festival of Animated Films (Tbilisi, Georgien): Preis für den Besten Kinderfilm

FEStiVaLS Auswahl

Regie: Evi Goldbrunner, Joachim Dollhopf, Prod.: Westside/RatPack/Martin Richter Filmproduktion Zürich Filmfestival Internationales Film Festival Chemnitz

Regie: HU Krause, Veit Helmer, Prod.: Veit Helmer-Filmproduktion, Berlin Caroussel international du film de Rimouski

Regie: Tom Tykwer, Prod.: Liebesfilm Internationale Hofer Filmtage (Retrospektive: „50 Jahre Liebe zum Film“)

Regie: Philip Gnadt Hawaii International Film Festival idfa – International Documentary Film Festival Amsterdam

Regie: Philipp Hartmann, Prod.: Flumenfilm Viennale – Vienna International Film Festival

Quatsch und die Nasenbärenbande

Molly Monster – Der Kinofilm Regie: Matthias Bruhn, Michael Ekbladh, Ted Sieger, Prod.: Trickstudio Lutterbeck Chicago International Children’s Film Festival Cinepänz – Kölner Kinderfilmfest

aktuelle informationen finden Sie unter

www.kuratorium-junger-film.de

oder

www.facebook.com/ KuratoriumJungerDeutscherFilm


Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_04/2016

DVD-Tipps

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Ronja Räubertochter Der Gigant aus dem All The Iron Giant. USA 1999. Regie: Brad Bird. FSK: ab 6. Länge: 90 Min. Anbieter Blu-ray: Warner Home. Veröffentlichung: 15.9.2016.

Ein neunjähriger Junge freundet sich mit einem eisenfressenden Riesenroboter aus dem Weltall an, den es auf die Erde verschlagen hat, und schützt ihn vor den Nachstellungen des Militärs. Außergewöhnlicher Zeichentrickfilm nach einem englischen Kinderbuchklassiker, der sich auf die Zweidimensionalität zurückbesinnt, nur dezent 3D-Animationen aus dem Computer verwendet, dafür aber große Sorgfalt bei der Gestaltung der Figuren sowie einer detailfreudigen Umgebung walten lässt. Auch inhaltlich bricht der sehr unterhaltsame Film mit den gängigen Genrekonventionen, indem er statt Gewalt als Mittel der Konfliktlösung Freundschaft und Friedfertigkeit akzentuiert und die 1950er-Jahre-Hysterie gegen alles Unamerikanische höchst amüsant karikiert. Das Regiedebüt von Brad Bird („Die Unglaublichen“, „Ratatouille“) gilt mittlerweile als Klassiker. Die „Special Edition“ auf Blu-ray erscheint mit umfangreichem neuem Bonusmaterial und einer um zwei Minuten erweiterten Fassung. – Ab 10.

Sanzoku no musume Rônya. Japan 2014. Regie: Goro Miyazaki. FSK: ab 6. Länge: 147 Min. (DVD)/153 Min. (Blu-ray). Anbieter: Universum Film. Veröffentlichung: 14.10.2016 (Vol.1); 10.11.2016 (Vol.2); 9.12.2016 (Vol.3).

Als Spielfilmregisseur war Goro Miyazaki („Die Chroniken von Erdsee“, „Der Mohnblumenberg“) noch nicht der große Erfolg beschieden. Nun hat er sich an die 26-teilige Serienadaption des Astrid-Lindgren-Klassikers „Ronja Räubertochter“ gewagt, die ein wenig an die wegweisende „World Masterpiece Theater“Reihe erinnert. Wie jene nimmt sich Miyazaki eines berühmten literarischen Stoffs an, erzählt mit langem Atem – und setzt dabei für heutige Verhältnisse auf ein überraschend langsames Tempo. Nach einem etwas zähen Beginn findet die Serie dann zu ihrer sympathischen Hauptfigur, die nichts von ihrer Anziehungskraft verloren hat. Die Räubertochter Ronja liebt die Natur und die Freiheit, erprobt ihre Grenzen und entdeckt neugierig ihre Welt, wobei vor allem die liebevolle Beziehung zur ihrem Vater

Mattis eine besondere Rolle spielt. Zu einem Konflikt kommt es, als Ronja sich mit Birk anfreundet, dem Sohn des Räuberhauptmanns Borka, mit dem ihr Vater verfeindet ist. Das flächige und betont einfache Figurendesign orientiert sich am klassischen japanischen Zeichentrickstil. Allein die Mimik der Figuren verrät, dass diese computeranimiert wurden – und lässt sie leider in Dialogpassagen oft etwas künstlich wirken. Ihre große Stärke aber spielt die CGI-Animation (die im Polygon Studio und in Zusammenarbeit mit Studio Ghibli entstand) aus, wenn es um die Darstellung der Landschaften geht. Durch ihre Liebe zum Detail vermitteln sie ein schönes Raumgefühl und schaffen mit der langsamen Inszenierung eine ganz eigene Stimmung. Ronjas Räuberwald ist kein Ort, den man mit Hektik betreten sollte. – Ab 8.

Das Zauberflugzeug L’Avion. Frankreich 2005. Regie: Cédric Kahn. FSK: o.A. Länge: 93 Min. Anbieter Blu-ray: Farbfilm. Veröffentlichung: 18.11.2016.

Nach dem unerwarteten Tod seines Vaters, eines Flugzeugingenieurs, erkennt ein achtjähriger Junge, dass in dem zunächst unliebsam entgegengenommenen Weihnachtsgeschenk, einem Modellflugzeug, Zauberkräfte stecken. Der überzeugend gespielte, hinreißend fotografierte und sehr sorgfältig inszenierte Kinderfilm verbindet virtuos anrührende, aber niemals rührselige märchenhafte Unterhaltung mit der Auseinandersetzung mit existenziellen Themen wie Tod, Verlust und Trauer. – Ab 10.

Der Gewinner vieler Preise von Jugendjurys – Nach dem Bestseller von Andreas Steinhöfel Ein Film von Jakob M. Erwa (D/A 2016 • 115 Min. • FSK: frei ab 12)

November 2016

Die Mitte der Welt

Junge Palette ist ein Projekt der

Medienpartner:

in der FILMPALETTE · Lübecker Str. 15 · 50668 Köln Ab 10. November Infos: Tel. 0221 – 12 21 12 · www.filmpalette-koeln.de



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