Presence of the colonial past - deutsch

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rungsprozess sich auf die politische Kultur Deutschlands auswirkte. Dabei entstanden vielfältige kulturelle Artefakte und Praktiken, deren Bedeutungen sich in den imaginären Weiten der deutschen Kultur-, Erinnerungs- und Wissenschaftslandschaft eingeschrieben haben. So sind koloniale Spuren etwa im Berliner Stadtraum und der politischen Topographie Deutschlands weiterhin greifbar nahe.8 Der lange Schatten der inneren Kolonialisierung hat sich keinesfalls nur als kolonialer Blick auf Schwarze Menschen und tradierte Afrikaklischees am Leben erhalten (Melber 1992). Noch immer sind wir mit einer historischen Situation konfrontiert, die durch diskriminierende Praktiken und eine fehlende Erfahrung der inneren Dekolonialisierung gekennzeichnet ist. Auch ist anzuerkennen, dass das heutige Ausmaß und die spezifische Ausrichtung rassistischer Gewaltverhältnisse nicht von der kolonialen Erfahrung abgetrennt werden können. Sicherlich hat die begeistert aufgenommene Kolonialpolitik zu einer strukturellen, kulturellen und nicht zuletzt auch administrativen Verankerung von Abwertungs- und Aggressionspotentialen gegen People of Color9 beigetragen. Die Alltäglichkeit rassistischer Verhältnisse äußert sich nicht nur in skandalisierbaren Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen – etwa im Umgang mit deutschen Behörden und Gesetzen –, sondern auch in repräsentativen und epistemologischen Formen. Nicht zuletzt deshalb müssen wir uns nach wie vor mit den Fortwirkungen des kolonialen Rassismus auseinandersetzen, in der z.B. auch die normalisierende Praxis der Rassifizierung als menschlich angeboren und damit unhintergehbar erscheint. Dass Menschen eine unleugbare, weil angeborene „rassische“ Identität und Zugehörigkeit haben, ist jedoch eine koloniale Erfindung, die meist nicht als solche wahrgenommen wird. Ihre ungebrochene Realitäts- und Deutungsmacht bei der Kategorisierung menschlicher Individuen macht diese Konstruktion zu einem der grundlegendesten, weitreichsten und täglich erfahrenen Erblasten des kolonialen Zeitalters. Eine lange Reihe deutscher Philosophen und Wissenschaftler wie Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, nur um die berühmtesten Masterminds zu nennen, leisteten im Namen der europäischen Aufklärung und Rationalität zur Bildung und Durchsetzung rassentheoretischer Diskurse im westlichen Allgemeinwissen bedeutende Beiträge. Ein Strang dieser pseudo-wissenschaftlichen Entwicklung endete in der weltweit führenden deutschen „Rassenhygiene“, die sich bereits im kolonialen Kaiserreich an den Universitäten formierte und gerade im Bildungsbürgertum und in der sozialen Elite

ihre treusten Anhänger/-innen fand. In der Zeit des Nazismus nahm die „Rassenhygiene“ eine wesentliche Rolle in der industriellen Vernichtungspolitik ein, da sie biopolitische Techniken der Identifizierung, Selektion und Konzentration der zu vernichtenden Bevölkerungsgruppen erarbeitete und sich als ideologisch zuverlässiger Apparat der deutschen Nazis erwies (Ha 2010: 129-178). Der deutsche Beitrag zur globalen Kolonialisierung spielt sich im Rahmen eines über mehrere Jahrhunderte anhaltenden weltpolitischen Destruktions- und Transformationsprozesses ab. Mich interessiert, wie durch die Kolonialisierung in den Metropolen selbst koloniale Räume und Praktiken entstanden, die im Rahmen eines Kolonialismus ohne Kolonien bis in die heutige Zeit tradiert wurden. Die Kolonialisierung wirkte sich nicht nur verheerend auf die Menschen und Gesellschaften in den neu geschaffenen Kolonien aus. Sie veränderte nachhaltig auch die deutsche Gesellschaft, deren Lebenswelten und Institutionen sich in umfassender Weise an den modernen Erfordernissen eines kolonialisierenden Staates angepassten. Die Kolonien wurden nicht nur als Rohstofflieferanten, Siedlungsräume, Absatz- und Kapitalmärkte, sondern auch als Laboratorien der Moderne und Schule der Nation genutzt. Entsprechend waren die Auswirkungen der Selbstkolonialisierung auf die militärische, politische, kulturelle, ideologische, ökonomische, wissenschaftliche, technische und städtebauliche Sphäre der Wilhelminischen Gesellschaft unübersehbar und tiefgreifend. An dieser Stelle ist auch an die epochale Bedeutung der Berliner Afrika-Konferenz von 1884/5 zu erinnern, in der auf Einladung des Reichskanzler Bismarck 14 vorwiegend europäische Kolonialmächte – wie selbstverständlich – einen ganzen Kontinent unter völliger Missachtung der Interessen der dort lebenden Menschen unter sich aufteilten. Bei diesem Verhandlungsmarathon wurde nichts Geringeres als die zukünftige Gestalt und die Spielregeln der europäischen Einverleibung Afrikas festgelegt. Die damit vertraglich festgelegte geopolitische Neuordnung ermöglichte ein systematisch angelegtes Kolonialprojekt im gigantischen Maßstab, das ausgehend von dem am Reißbrett entworfenen Grenzen ein neues Zeitalter und vollkommen künstlich erzwungene Retortengesellschaften gebar. Die weltpolitische Bedeutung dieses Ereignisses ist schwer zu überschätzen, da der bereits im Gang befindliche „Wettlauf um Afrika“ nun multilateral organisiert wurde und sich in Richtung eines temporären und brüchigen Macht- und Interessensausgleiches der europäischen Imperien entwickelte, der bis zum Ersten Weltkrieg hielt. Ohne Übertreibung kann behauptet werden, dass der geopolitische Ursprung des heutigen Afrikas sowie die Grundstrukturen seiner gegenwärtigen Kartographie in der deutschen Hauptstadt zu finden ist. Deutschland stieg infolge der Herrschaft über den sogenannten Schutzgebieten „Deutsch-Ostafrika einschließlich Sansibar“, „DeutschSüdwestafrika“, „Deutsch-Kamerun“ und „Togoland“ zu einer veritablen kolonialen Großmacht mit schizophrenen Weltgeltungsanspruch auf, der sich auch in der expansiven wie multiplen Aufspaltung Deutschlands in seine kulturellen und identitätspolitischen Doppelgänger im

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