Fazit 157

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Essay von Robert Misik

Sozialismus? Natürlich! D

ie Kritik am Kapitalismus ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Er gibt ja auch zu verschiedenen Spielarten der Wut Anlass. So lässt er die Schere zwischen Armen und Reichen immer mehr aufgehen, und er produziert Mangel und Not inmitten des größten Reichtums. Aber er hat auch Effekte auf unser Leben: Er macht Menschen zu Wettbewerbszombies, alles wird nur mehr nach dem ökonomischen Vorteil beurteilt. Und alles, was er nicht profitabel verwerten kann, ruiniert er, von – aus seiner Sicht – »unnützen Menschen«, über jene Sparten der Kultur, die nicht zur Ware gemacht werden können bis zur Umwelt, die er verpestet, weil es ihn ja nichts kostet (während Klimaschutz teuer wäre).

Aber all diese Kritiken am Kapitalismus haben auch ein paar Probleme. Erstens: natürlich hat der Kapitalismus auch seine positiven Seiten. Er hat über die Jahrhunderte den Wohlstand explosionsartig vermehrt, ihm wohnt ein Stachel zur Innovation inne, wer nicht rennt wie im Hamsterrad der wird untergehen, und das macht ihn auch erfolgreich. Zweitens: Gerade weil er Menschen in seinem Sinne zu Wettbewerbszombies ummontiert, die perfekt in seiner Logik funktionieren, sind viele Menschen sogar mit dieser Welt in einem gewissen Sinne zufrieden, sie machen freudig mit. Vor allem aber: es gibt, anders als in früheren Zeiten, keine realistische Alternative zum Kapitalismus im Angebot. Man könnte auch sagen: sogar seine Kritiker glauben nicht daran, dass er durch etwas Funktionstüchtigeres ersetzt werden kann.

Ein wildgewordener Kapitalismus zerstört Leben, macht uns zu Konkurrenzzombies und ruiniert den Planeten. Reicht es, ihn zu zähmen? Wir brauchen wieder eine klare Alternative als Ziel.

Intellektuelle Antikapitalisten haben daher oft etwas Nörglerisches. Man findet das Existierende schlecht, aber wie es besser ginge und wie man vor allem realistisch zu etwas Besserem käme – Sendepause. Radikale antikapitalistische Aktivisten findet man nicht allzu viele und sie strahlen deshalb etwas Verlorenes aus, so ähnlich wie Leute, die gegen Windmühlen kämpfen. Und die Sozialdemokraten und andere demokratische Sozialisten haben sich längst damit abgefunden, den Kapitalismus zu »zähmen«, also seine ärgsten Übel abzufedern, durch Sozialmaßnahmen, Umverteilung, Regeln da und Regeln dort, durch Tarifverträge usw. Diese Zähmung gelang zeitweise ja ganz gut, funktioniert letztlich bis heute und ist überdies auch noch zum Vorteil des Kapitalismus selbst, der davon profitiert, wenn kluge Politik seine selbstzerstörerischen Tendenzen abfedert und für stabile Prosperität sorgt statt für dauerndes Krisen-Auf-und-Ab. Das Problem dabei ist nur: Wenn man keine großen Ziele mehr hat, funktioniert auch das mit der Zähmung schlechter. Wir sehen aber heute auch deutlicher, wie begrenzt die Möglichkeiten der Zähmung sind, und zwar nicht nur da, wo der Kapitalismus die ärgsten Verheerungen anrichtet, sondern auch in den gut funktionierenden Gesellschaften etwa Westeuropas. Irre gewordene Finanzmärkte hätten das System beinahe zum Einsturz gebracht wie ein Kartenhaus. Während für wichtige soziale Aufgaben, für Lohnsteigerungen, für Renten, für ordentliche Pflege angeblich nie Geld da ist, standen für die Banken und Investmenthäuser über Nacht Phantastilliarden bereit, um einen Kollaps zu vermeiden. Immer mehr Menschen

Foto: Helena Wimmer

»Wahrscheinlich haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemals so viele Menschen gleichzeitig über die sozialen und politischen Folgen empört, die mit der global entfesselten Marktökonomie des Kapitalismus einhergehen«, schreibt der Frankfurter Philosophieprofessor Axel Honneth in seinem Buch »Sozialismus«, und weiter: »Andererseits aber scheint dieser massenhaften Empörung jeder normative Richtungssinn, jedes geschichtliche Gespür für ein Ziel der vorgebrachten Kritik zu fehlen, sodass sie eigentümlich stumm und nach innen gekehrt bleibt (…); man weiß zwar ziemlich genau, was man nicht will und was an den gegenwärtigen Sozialverhältnissen empörend ist, hat jedoch keine auch nur halbwegs klare Vorstellung davon, wohin eine gezielte Veränderung des Bestehenden« führen sollte.

Robert Misik, geboren 1966 in Wien, ist Journalist und politischer Autor. 2009 veröffentlichte er »Politik der Paranoia«, im selben Jahr erhielt er den Staatspreis für Kulturpublizistik. Für den Standard produzierte er von 2008 bis 2019 einen wöchentlichen Video-Podcast. Sein nächstes Buch »Die falschen Freunde der einfachen Leute« erscheint in Kürze bei Suhrkamp. Robert Misik bloggt regelmäßig unter misik.at FAZIT NOVEMBER 2019 /// 39


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