Fazit 143

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Essay von Maryam Laura Moazedi

Diversity als Chance für Lehrende zu lernen A

lbert Camus war in Armut aufgewachsen. Den Vater verlor er mit elf Monaten im Krieg, die Mutter konnte nicht lesen und schreiben, dem Wunsch der Großmutter zufolge, sollte er bei einem Händler in der Nähe als Lehrling aushelfen um die finanzielle Notlage der Familie zu lindern. Es war kein sonderlich bildungsfreundliches Klima. Albert sah in der Schule einen heiligen Zufluchtsort, an dem er lernen und dem Familienleben entfliehen konnte. Das mochte er an der Schule besonders gerne, nicht zuhause zu sein, einem Zuhause, das er aufgrund des geringen Stellenwertes von Wissen und Lernen als noch trostloser empfand. In der Schule lebte er auf. Seinen eigenen Worten zufolge, verdankte er diesen Umstand seinem Lehrer Louis Germain. Als Albert Camus 1957 den Literaturnobelpreis bekam, schrieb er seinem ehemaligen Volksschullehrer folgende Zeilen:

Vielfalt in der Schulklasse: Diversity als Chance für Lehrende zu lernen. Teil 2: Noch mehr Vorurteile, weitere Zitate von Sir Peter Ustinov und Albert Camus‘ Brief an Monsieur Germain.

Lieber Herr Germain, (…) man hat mir gerade eine zu große Ehre erwiesen, die ich weder begehrt noch beansprucht habe. Aber als ich die Nachricht hörte, ging mein erster Gedanke, nach dem an meine Mutter, an Sie. Ohne Sie, ohne diese liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind reichten, das ich war, ohne Ihren Unterricht und Ihr Beispiel wäre mir nichts von alledem widerfahren. Diese Art von Ehrung bedeutet mir nicht allzu viel aber zumindest eröffnet sie mir die Möglichkeit Ihnen zu sagen, welche Bedeutung Sie für mich hatten und nach wie vor haben und Ihnen zu versichern, dass Ihre Mühe, Ihre Arbeit, Ihr großzügiges Herz, das Sie hineingesteckt haben, in einem Ihrer kleinen Schüler weiterschlägt, einem, der trotz der vergangenen Jahre nie aufgehört hat Ihr dankbarer Schüler zu sein. Ich umarme Sie mit all meinen Kräften. Albert Camus

Ethnizität, Religion, Geschlecht, Behinderung, sexuelle Orientierung (und außerhalb der Schule Alter) sind klassische Marker des Andersseins und der Diskriminierung. Auf einer Metaebene wirkt der sozioökonomische Status; ihr wird nach wie vor eine starke Auswirkung auf den Schul- und Bildungserfolg zugesprochen. Ein postumer Dank an Monsieur Germain, der vielleicht die literarische und philosophische Welt vor dem hypothetischen Verlust Camus‘ Werke bewahrte.

Geschlechtsspezifische Leistungserwartungen manifestieren sich sowohl in der Selbsteinschätzung als auch dem tatsächlichen Abschneiden beim Lösen mathematischer Aufgaben. Durch die Medien gingen Diskussionen um die vergleichsweise schlechten Pisa-2012-Ergebnisse von Mädchen in Deutschland. Mädchen hätten Angst vor Mathematik und damit einhergehend eine negativere Einstellung war die Conclusio. Das gilt allerdings nicht universal. In vielen Ländern schneiden Mädchen gleich gut, wenn nicht sogar besser ab. Laut der »Trends in International Mathematics and Science Study« von 2015 liegen in 18 Ländern Buben mit durchschnittlich neun Punkten vorne und in acht Ländern Mädchen mit 18 Punkten. In 23 Ländern wurden keine Unterschiede ausgemacht. Die Berücksichtigung von Einkommen, Gender Gap Index, politischer Teilhabe, Bildung und Gesundheit führte zum Schluss, dass im Allgemeinen Mädchen und Buben bessere Leistungen in Mathematik erzielen, je gleichberechtigter eine Gesellschaft ist. Insgesamt betrachtet werden die Leistungsunterschiede zwischen den beiden Geschlechtern immer kleiner, eine Entwicklung, die bei biologischen Determinanten nicht möglich wäre und kulturell erklärt wird. Neben den kulturellen Unterschieden sind auch altersbedingte zu beobachten. So unterscheiden sich mathematische Leistungen von Schülerinnen und Schülern im Kindergarten und in der Volksschule nicht signifikant voneinander. Erst nach der Volksschule verlieren Mädchen das Vertrauen in ihr mathematisches Können und lassen ihre Leistungen nach. Mehr als das Können ist es die Selbsteinschätzung, die

Foto: Paperwalker

Geschlecht

Mag. Maryam Laura Moazedi ist Diversity-Fachfrau und -Bloggerin, sowie Universitätslektorin an der Grazer Karl-Franzens-Universität. moazedi.org

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