Fazit 114

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Essay von Robert Misik

Was Linke denken D

as Verdikt ist weit verbreitet: Wir leben im Zeitalter der Entideologisierung. Aus Parteien und Bewegungen ist jedes geistiges Leben verschwunden. Aber diese Analyse geht noch weiter: Im Grunde ist das kritische Denken, das in den sechziger und siebziger Jahren ganze Kohorten durchdrungen hatte, versandet. Die Diagnose lautet also nicht nur »Entideologisierung« sondern im Grunde auch »Entintellektualisierung«. Aber ist denn überhaupt wahr, dass es so etwas wie ein einigermaßen konzises linkes Denken nicht mehr gibt? Folgt all das, was der gemeine Durchschnittslinke so denkt, wirklich bloß ein paar Gefühlen und Gutmenschen-Reflexen? Ist es tatsächlich völlig losgelöst von theoretischen Überlegungen, wie sie in den vergangenen 150 Jahren angestellt wurden? Meine Behauptung ist, dass das Gegenteil der Fall ist: Das, was der und die zeitgenössische Durchschnittslinke denkt, ist das Produkt dieser philosophischen und theoretischen Überlegungen. Schließlich gilt auch für die verschieden Stränge der linken Philosophie (womöglich sollten wir besser im Plural von »Philosophien« sprechen), was der kommunistische Denker Antonio Gramsci, einer der großartigsten Theoretiker des 20. Jahrhunderts einmal so beschrieben hat: »Jede philosophische Strömung hinterlässt eine Ablagerung von ‚Alltagsverstand‘; diese ist das Zeugnis ihrer historischen Leistung. Der ‚Alltagsverstand‘ ist die Folklore der ‚Philosophie‘.« Gilt das, was Gramsci hier formulierte, eben nicht auch für viele Elemente linker theoretischer, gesellschaftskritischer und philosophischer Analyse der vergangenen 150 Jahre: dass sie sich in einer Art Sickerprozess verbreitet hat. Es ist eine Art Sedimentierung. Sedimente entstehen in einem Sickerprozess. Und auf diesen Sedimenten bilden sich wiederum andere Ablagerungen, bis sich Schicht auf Schicht aufeinander türmen.

Linkes Denken kommt zwar heute nicht mehr mit großem theoretischen Getöse daher, ist aber dennoch allgegenwärtig, meint Robert Misik in seinem neuen Buch »Was Linke denken«. Wir bringen das Kapitel über »Entfremdung« als Vorabdruck.

Die Societygöre Ariane Sommer tut es, der Boxer Sven Ottke tut es und der Punk vom nächsten Eck tut es auch: »Ich mach mein Ding«. Sie denke sich einfach, sagt das Glamourgirl, »ich bin Ariane Sommer, ich mache mein Ding, egal welches Label mir die Leute aufdrücken«. Der alternde Austropoper Wolfgang Ambros verwahrt sich gegen ästhetische Renovierungstendenzen mit den Worten: »Ich mache mein Ding. Und das so gut ich halt kann.« Wer unterstreichen will, dass ihm so ziemlich alles um ihn herum egal ist, wie etwa der Komödiant Hugo Egon Balder, der sagt: »Ich mache mein Ding.« Empirische Sozialwissenschaftler ziehen aus, befragen Teenager über ihr Verhältnis zu ihren Eltern und bringen in Erfahrung: »‘Die machen ihr Ding und ich mache mein Ding‘, ist seine Lieblingswendung«, wie es in einer Studie über einen Youngster heisst, der am liebsten abhängt. Die Wendung annonciert maximale Lässigkeit, wie in der Formulierung der Beasty Boys: »Wir sind hier und machen unser Ding. Liebt uns oder hasst uns - wir sind für euch da.« Es ist eine Botschaft, die schon die Kleinsten erreicht, noch vor dem Kindergartenalter, etwa in Gestalt des Mira-Lobe-Klassikers vom »kleinen Ich-Bin-Ich«, dem legendären kleinen bunten Tier, das keinem anderen gleicht und darüber tieftraurig ist, bis es erkennt und glücklich akzeptiert: So, jetzt weiß ich, / wer ich bin! Kennt ihr mich? ICH BIN ICH!

Foto: Viktoria Fahrnleitner

Robert Misik ist Journalist und politischer Autor. Für den Standard produziert er seit 2008 einen wöchentlichen Video-Podcast. 2009 veröffentlichte er »Politik der Paranoia«, im selben Jahr erhielt er den Staatspreis für Kulturpublizistik. Sein neustes Buch »Was Linke denken« erscheint im September 2015 im Picus Verlag. Robert Misik bloggt regelmäßig unter misik.at FAZIT JULI 2015 /// 51


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