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Energiehunger zeichnet die Volks- wirtscha en in Asien aus. Aber wir bleiben darin vorn Seite

Gusto auf die Katastrophe?

Energiehunger zeichnet die rasant wachsenden Volkswirtschaften in Asien aus. Aber wir bleiben vorn

Fatih Birol ist Vorsitzender der Internationalen Energieagentur. In dieser Funktion hat der Wirtschaftswissenschaftler 2018 in einem Interview erklärt, wir seien noch lange nicht am Ende des Ölzeitalters angelangt. Der Grund ist unser unaufhörlich steigender Hunger nach Energie, der weiterhin zu einem Großteil durch den Einsatz fossiler Energieträger gestillt werde. Öl, Gas und Kohle sind reichlich verfügbar und im Falle von Öl mit einer unschlagbaren Energiedichte versehen.

Erdöl ist Ausgangspunkt von brennbaren Stoffen wie Diesel, Heizöl und Kerosin. Es umgibt uns ständig in Form von Kunststoffen, Druckerfarben, Lacken, Cremen, Strumpfhosen, Billardkugeln oder Medikamenten. In Aserbaidschan gibt es sogar eine Kuranstalt, in der die Gäste einmal täglich zur Linderung von Schmerzen in Erdöl baden.

Erdöl war Teil von großen Aufschwüngen der Wirtschaft. Nicht zuletzt seinetwegen veränderten sich die USA in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer Drive-inGesellschaft, in der vierzig Prozent aller Heiratsanträge im Auto gemacht wurden. Öl ist einfach praktisch und vielseitig verwendbar. Allerdings eben auch verheerend, wie Umweltkatastrophen und die Erderwärmung zeigen – verursacht vor allem durch die Verbrennung von Mineralölprodukten in Heizkesseln und Verbrennungsmotoren. Jeder Kilometer, den wir damit fahren, und jede Minute im Stau sind ein Beitrag zur erhöhten Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre.

Bringt der Gaspreis stillgelegte Kohlekraftwerke zurück?

In Facebook- und Instagramforen sorgt gerade der hohe Gaspreis für Aufregung. Erdgas findet vor allem zur Gebäudeheizung, in der Stromproduktion und als Wärmelieferant für thermische Prozesse in Gewerbe und (Schwer-)Industrie Verwendung.

Der dritte fossile Energieträger, der zu Kohlendioxidausstoß führt, ist Kohle. Aus ihr lassen sich nicht so viele verschiedene Produkte wie Öl herstellen, sie dient zum Heizen, zur Erzeugung elektrischer Energie und als Koks in der Stahlerzeugung. Österreichs Steinkohlekraftwerk Mellach wurde erst 2020 stillgelegt, um 2022 wieder in den Medien und in der Innenpolitik als Back-up-Möglichkeit aufzutauchen. Sollte es im Zuge des Angriffskrieges Putins gegen die Ukraine zu einem Energieengpass kommen, könnte Mellach nach einer gewissen Vorlaufzeit wieder als Energielieferant eingesetzt werden. Aber noch 2018 zählte es zu den Hauptemissären von CO2 in Österreich. Derzeit ist seine Reaktivierung nicht geplant.

Die menschengemachte Erderwärmung ist das Ergebnis eines immensen Treibhausgasausstoßes. NGOs, soziale Bewegungen, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen

TEXT: JOHANNES STARMÜHLER

Österreich liegt beim Pro-KopfKonsum von Primärenergie mit 45.545 kWh vor China und über dem EUDurchschnitt

Johannes Schmidt, BOKU Wien

Daniel Huppmann, International Institute for Applied Analysis

auf der ganzen Welt bemühen sich um die Reduktion der Treibhausgase und die Abkehr von Kohle, Öl und Gas. Gefordert wird die Hinwendung zu CO2-neutralen Energien, um die Erhitzung des Planeten, wenn nicht zu verhindern, so zumindest einzudämmen.

Politische Versuche, die Erderwärmung einzudämmen

Das Pariser Klimaübereinkommen zielt darauf ab, den Anstieg der Erderwärmung deutlich unter zwei Grad Celsius verglichen mit dem vorindustriellen Niveau zu halten. Im Artikel 2 ist sogar festgehalten, dass Anstrengungen unternommen werden sollen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. In der EU stellte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den European Green Deal vor, der in die Verordnung (EU) 2021/1119, das Europäische Klimagesetz, mündete. Es gibt vor, die Treibhausgasemissionen bis spätestens 2050 auf netto null zu reduzieren.

Der österreichische Nationale Energie- und Klimafahrplan (NEKP) von 2019 verfolgt das Ziel, die heimischen Treibhausgasemissionen in Sektoren außerhalb des Emissionshandels um 36 Prozent verglichen mit 2005 zu reduzieren. Die Langfristige Klimastrategie 2050 strebt die Klimaneutralität Österreichs bis 2050 an. Noch existiert kein ordnungspolitisches Klimaschutzgesetz, aber im Regierungsübereinkommen steht, Österreichs Klimaneutralität soll 2040 erreicht werden. Unter Verzicht auf Nuklearenergie sollen dann keine Treibhausgase mehr emittiert oder nicht vermeidbare Emissionen „durch die Kohlenstoffspeicherung in natürlichen oder technischen Senken kompensiert“ werden. Diese Ambitionen auf unterschiedlichen politischen Ebenen führen unweigerlich zum Ausstieg aus fossilen Energieträgern. So soll der anthropogenen Erderwärmung und ihren katastrophalen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt entgegengetreten werden.

Österreicher*innen verbrauchen sehr viel Energie

Mit Beginn der industriellen Revolution ist der Energiehunger stetig angestiegen. Dabei sind in den letzten 270 Jahren deutliche regionale Unterschiede bei den CO2-Emissionen aufgetreten. Zunehmende Industrialisierung bedeutete mehr Energiebedarf und in der Folge einen höheren CO2 Ausstoß. So ist der Westen für die meisten Emissionen verantwortlich. Mittlerweile holen die Schwellenländer und vor allem China auf und haben einen beträchtlichen Anteil an der Treibhausgasproduktion.

Zusammen konsumierten die Länder der Erde im Jahr 2021 165.320 Terrawattstunden (TWh) Primärenergie. Eine Terrawattstunde versorgt 150.000 EU-Bürger*innen ein Jahr lang mit Strom. Momentan ist China die führende Verbrauchernation mit 43.791 TWh, danach folgen die USA mit 25.825 TWh. Österreich konsumiert 412 TWh.

Johannes Schmidt, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität für Bodenkultur, macht auf den Pro-Kopf-Konsum von Primärenergie aufmerksam. Dabei entsteht ein völlig anderes Bild: Österreich liegt mit 45.545 kWh vor China mit 30.322 kWh und über dem EU-Schnitt von 37.497 kWh. „Das ist naheliegend, weil die Menschen in einem reichen Land mit mehr Wohlstand auch mehr konsumieren“, sagt Schmidt.

In einer vor Kurzem erschienenen Studie weist Lucas Chancel von der Paris School of Economics Schmidts These nach: 2019 verursachten die ärmeren fünfzig Prozent der Weltbevölkerung nur zwölf Prozent aller Treibhausgasemissionen. Der Energiekonsum der zehn Prozent Menschen mit dem höchsten Einkommen erbrachte im selben Zeitraum 48 Prozent der Treibhausgase. Energiehunger ist eben nicht nur eine Frage von reichen und armen Ländern. Er zeigt sich überall vor allem in den oberen Gesellschaftsschichten. Seit 1990 ist der ProKopf-Ausstoß an Treibhausgasen bei den oberen ein Prozent gestiegen, jener der mittleren und niedrigen Einkommen gesunken.

Kann Fracking unseren Energiehunger tatsächlich stillen?

Rund 63 Prozent der österreichischen Primärenergie kommen aus fossilen Brennstoffen, weltweit sind es 82 Prozent. Nach den beiden Weltkriegen wurde die statische Reichweite, also das Verhältnis des Rohstoffes zum jährlichen Verbrauch, auf zwanzig Jahre geschätzt. Diese Prognosen sind aufgrund neuer Funde und verbesserter Fördertechnologien nie eingetreten. Nach heutigen Schätzungen reichen die Erdölvorkommen bei gleichbleibendem Verbrauch noch rund fünfzig Jahre.

Allerdings ist der Verbrauch ein schwer einschätzbarer Wert. So steigt der Energiebedarf jährlich und wird noch vor allem von Öl und Kohle gedeckt. Andererseits geht der Ausbau der erneuerbaren Energien rasant voran. „Wir werden das massive Verbrennen von Öl angesichts weltweiter, EU-weiter oder nationaler Bemühungen noch beenden, bevor die Ölreserven zu Ende sind“, sagt Daniel Huppmann. Er beschäftigt sich am International Institute for Applied Analysis mit Klima- und Energieszenarien. „Dabei sind die zusätzlichen Reserven, die durch neue Fördertechnologien wie Fracking erschlossen werden könnten, noch gar nicht mitgerechnet.“

Durch Fracking lässt sich Erdöl oder Erdgas fördern, das in winzigen Hohlräumen fester Gesteinsschichten liegt. Dabei wird die Durchlässigkeit, in der Fachsprache „Permeabilität“ genannt, des Gesteins

: VON A BIS Z

Öl am Ende? Das Glossar

JOCHEN STADLER

Biokraftstoff

Energielieferant für Motoren aus nachwachsenden Rohstoffen wie Ölpflanzen, Getreide, Zuckerrüben und Holz.

Benzin

Gemisch aus über hundert Kohlenwasserstoffen, das größtenteils Kraftfahrzeuge antreibt, aber auch für Wundreinigung und Fleckenbeseitigung verwendbar ist.

Brennstoff

Substanz mit intern gespeicherter chemischer Energie, die sich durch Verbrennen in nutzbare Energie umwandeln lässt.

Deepwater Horizon

Bohrinsel, die am 20. April 2010 im Golf von Mexiko explodierte. Elf Arbeiter wurden getötet, etwa 800 Millionen Liter Öl strömten ins Meer.

Dieselkraftstoff

Erdölprodukt, das durch Destillation von Rohöl gewonnen wird.

E-Fuels/E-Sprit

Kraftstoffe, die mittels elektrischen Stroms aus Wasser und CO2 synthetisiert werden.

Energieträger

Stoff, dessen interne Energie man umwandeln und nutzen kann. Zum Beispiel Brennstoff in Motoren und Zucker im menschlichen Körper.

Erdgas

Brennbares natürliches Gasgemisch in unterirdischen Lagerstätten, das in geologischen Zeiträumen aus abgestorbenen Meeresorganismen entstanden ist.

Erdöl

Fossiler, viele Millionen Jahre alter Energieträger tief in der Erdkruste. Wird größtenteils verbrannt und für Kunststoffe, Farben, Medikamente und Kosmetika genutzt.

Erdölraffination

Prozess, bei dem der Naturstoff Erdöl durch Destillieren, Reinigen und Veredeln zu Produkten wie Kraftstoffen aufbereitet wird.

Erdölverbrauch

Weltweit werden etwa 15 Milliarden Liter Erdöl am Tag verbraucht. Tendenz steigend.

Flüssigerdgas

Durch Abkühlen auf –161 bis –164 Grad Celsius verflüssigtes Erdgas, wodurch das Volumen auf ein Sechshundertstel verringert wird. Die Verflüssigung benötigt aber enorm viel Energie, nämlich bis zu einem Viertel des Gas-Energieinhaltes.

Fossile Energieträger

Brennstoffe, die in geologischer Vorzeit aus Abbauprodukten von Pflanzen und Tieren entstanden sind. Darin sind enorme Mengen an Kohlenstoff gespeichert, die bei der Verbrennung in CO2 umgewandelt werden, welches wiederum als Treibhausgas Hauptursache der aktuellen Klimakrise ist.

Golfkrieg

Im Zweiten Golfkrieg 1991 floss aus von der irakischen Luftwaffe bombardierten kuwaitischen Anlagen knapp eine Milliarde Liter Öl in den Persischen Golf und verpestete 560 Kilometer Küste. Dies war die bislang größte Ölkatastrophe.

Heizöl

Brennstoff, ähnelt dem Diesel in Autos wie ein Zwilling, ist aber in Österreich deutlich niedriger besteuert.

Kerosin

Billiger Kraftstoff, der quasi als Abfallprodukt bei der Dieselherstellung anfällt. Wird als günstigstmöglicher Brennstoff von den Fluggesellschaften genutzt.

Kohlenwasserstoffe

Chemische Verbindung, die aus den namensgebenden Elementen Kohlenstoff und Wasserstoff bestehen.

Kohle

Dunkles Sedimentgestein, das aus pflanzlicher Biomasse entstand. Seine Gewinnung im Tagebau ruiniert immense Flächen, seine Verbrennung befeuert den Klimawandel.

Mineralölsteuer

Wird in Österreich auf Automobiltreibstoffe aufgeschlagen, während die Luftfahrt und Donauschifffahrt eine „vollständige Befreiung“ davon genießen.

Motorenbenzin

Auch Ottomotoren-Kraftstoff genannt. Fossiler Brennstoff für Motoren von Autos, Rasenmäher, Kettensägen und Benzinkocher.

Nord Stream

Zwei Unterwasser-Gas-Pipelines von Russland nach Deutschland. Momentan offline.

Ölpest

Enorme Devastierung der Natur durch Rohöl oder Schweröl.

Ölkatastrophen

Havarierte Supertanker, explodierende Bohrinseln und leckende Pipelines sorgen immer wieder dafür, dass Erdöl massenhaft in die Umwelt austritt und Massensterben bei Pflanzen und Tieren verursacht.

Pipeline

Fernleitung zum Flüssigkeits- oder Gastransport.

Power to Fuel

Produktion von synthetischen Kraftstoffen mittels elektrischen Stroms aus erneuerbaren Quellen.

Rohöl

Je nach Lagerstätte gelbliches, grünliches, bräunliches oder schwarzes Gemisch aus Kohlenwasserstoffen, die vorwiegend von abgestorbenen Algen und anderen Meereskleinstlebewesen stammen. Sie lagerten sich einst am Meeresgrund ab, wurden überdeckt und in Jahrmillionen durch erhöhten Druck und hohe Temperaturen in Erdöl verwandelt.

Schiefergas

In Tonsteinen enthaltenes Erdgas, das durch künstliche hydraulische Rissbildung, vulgo „Fracking“, gewonnen wird.

Schweröl

Rückstand bei der Erzeugung von Heizöl und Benzin, der, mit Dieselöl gemischt, vor allem Schiffsmotoren antreibt, die dadurch massiv Schadstoffe wie Ruß und Schwefel ausstoßen.

Torrey Canyon

Am Morgen des 18. März 1967 kollidierte der Tanker „Torrey Canyon“ vor Südengland mit einem Felsen. Seine 119.328 Tonnen geladenes Rohöl liefen ins Meer. Dies war die erste große Ölpest der Geschichte.

Fortsetzung von Seite 18

erhöht, um das Fließen von Gasen oder Flüssigkeiten zu ermöglichen. Nach einer einen Kilometer tiefen vertikalen Bohrung folgt eine Querbohrung in die Gesteinsschicht mit dem Rohstoff. Anschließend presst man „Fracking-Fluide“ in die Bohrung. Es besteht aus Wasser, das mit Sand und Chemikalien versetzt ist. Im rückgeführten Wasser kommt dann der Rohstoff mit an die Oberfläche. Fracking droht das Grundwasser zu verschmutzen. Seine Einführung dauert fünf bis zehn Jahre. Der Zeitraum erscheint angesichts der Bemühungen um den Ausstieg aus fossilen Energieträgern als widersinnig.

CO2-Steuern und ihre soziale Problematik

Um den Ausstoß an Treibhausgasen zu reduzieren, schlägt Huppmann einen Dreistufenplan vor: Energiesparen und energieeffizientes Arbeiten, Kreislaufwirtschaft und Sharing Economy sowie neue Technologien.

Eine wesentliche Rolle spielen politische Werkzeuge wie die Förderung von erneuerbaren Energien und CO2-Steuern, die fossile Energieträger auf Dauer unwirtschaftlich machen könnten. Sie müssten so gestaltet sein, dass die Ölförderung nicht mehr rentabel ist. Allerdings bedeuten hohe CO2-Steuern eine schwere Belastung für Haushalte mit geringem Einkommen. Das Auto würde zum Luxusartikel. Ein E-Auto oder eine PVAnlage sind sehr kostspielig und für niedrige Einkommen fast unerschwinglich.

Wie sehr sich die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren verändert haben, zeigt folgendes Beispiel: 2015 wurde die Studie „Österreichische Klimaszenarien (ÖKS15)“ veröffentlicht, in der zwei globale Szenarien auf das Land herunterskaliert wurden.

Das Business-as-usual-Szenario basierte auf dem Emissionspfad „RCP8.5“, der zu einem Anstieg der globalen Jahresdurchschnittstemperatur von rund fünf Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts führen würde. RCP steht für „Representative Concentration Pathways“, die Wenn-dann-Entwicklungen darstellen. Sie kommen aus den 2000er-Jahren und werden seit dem fünften Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) aus 2014/2015 verwendet. Das Szenario für eine aus damaliger Sicht ambitionierte Klimapolitik basierte auf dem Pfad „RCP4.5“, der eine Erhitzung um etwa drei Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts bedeuten würde.

Bei der letzten UN-Klimakonferenz in Glasgow im November 2021 haben Forschende die bereits beschlossenen Maßnahmen evaluiert und festgestellt, dass wir nun auf eine Erhitzung von etwa drei Grad Celsius zusteuern. „Szenarien, die vor einigen Jahren noch als ambitioniert gegolten haben, sind heute bereits der Status quo, das Business as usual“, erläutert Huppmann. „Es hat sich in den letzten zehn Jahren also einiges in Richtung Klimaschutz getan. Trotzdem sind wir mit den derzeit beschlossenen Maßnahmen noch weit davon entfernt, die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen.“ Der Energiehunger droht uns immer noch in die Katastrophe zu bringen.

Wo die Schweiz wild sein könnte

Romantisch verklärt oder schlicht abgelehnt: Wildnis in der Schweiz. Wo aber hätte sie Platz?

Die NGO „Mountain Wilderness Schweiz“ hat die Schweizer Wildnis in einer Studie geografisch und soziologisch begreifbar gemacht und damit eine Basis für einen öffentlichen Diskurs über Wildnis in der Schweiz geschaffen. Einer der Studienautoren, Sebastian Moos, erklärt die Möglichkeiten.

Herr Moos, in der Studie „Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz“ wurde die Wildnis in der Schweiz zum ersten Mal systematisch und in einer breiten Öffentlichkeit thematisiert. Wie war die Reaktion? Sebastian Moos: Die Studie ist auf großes Interesse und sehr positive Resonanz gestoßen. Dank zahlreicher Rückmeldungen konnten wir die Grenzwerte für die Wildnisqualität und die kleinste Gebietseinheit je nach biogeografischer Region in einer Folgearbeit anpassen. Der Alteschgletscher mit Tausenden Quadratkilometern ist nur schwer mit kleinen Gebieten in dicht besiedelten Regionen wie dem Wildnispark Zürich im Sihlwald vergleichbar. Aus den Kernbotschaften haben wir die „Wildnisstrategie Schweiz“ formuliert. Sie will ein Bewusstsein für Wildnis schaffen, sie erhalten und fördern. Es ist ein unbürokratisches Awareness- und Kommunikationsinstrument für Akteure im Naturschutz, das Transparenz schafft.

Offenbar stehen die Menschen in der Schweiz der Wildnis kritisch gegenüber. Was sind die Bedenken? Moos: Tendenziell sehen Menschen in der Stadt Wildnis positiver als Menschen auf dem Land und in den Bergen. Für Städter ist Wildnis häufig etwas Romantisches. Sie steht für Freiheit, einen anderen Rhythmus und drückt eine Sehnsucht als Gegenbewegung zur Technisierung aus. Die Bedenken sind vielfältig. Die einen fürchten, dass Naturgefahren oder potenzielle Raubtiere

TEXT: DOROTHEE NEURURER

„Tendenziell sehen Menschen in der Stadt Wildnis positiver als Menschen auf dem Land und in den Bergen“

SEBASTIAN MOOS zunehmen, andere, dass Wanderwege oder Bike-Strecken nicht mehr betretbar sind oder gar zuwachsen. In den Berggebieten bedeutet Wildnis oft, dass gewisse Alpen in Folge von Nutzungsaufgabe zuwachsen und damit Kultur und Tradition verloren gehen. Alpen werden seit Jahrhunderten bewirtschaftet. Ich kann nachvollziehen, dass es schwerfällt, solche Gebiete loszulassen. Die enge emotionale Bindung Mensch-Natur stiftet Identität über Generationen hinweg.

Welchen Einfluss hat Wildnis auf die Biodiversität? Moos: Diese Frage ist sehr wichtig. Der Verlust von Biodiversität wird oft als Killerargument gegen Wildnis verwendet. Es werden dann Bilder von bunten Blumenwiesen gezeigt, die sich nach der Nutzungsaufgabe in monotones Erlengestrüpp verwandeln. Das greift aus meiner Sicht zu kurz, denn erstens sind die Blumenwiesen infolge der Intensivierung der Landwirtschaft oft gar nicht mehr so artenreich. Zweitens werden zwei Faktoren vergessen, die entscheidend sind: Zeit und Raum. Es ist durchaus so, dass die Biodiversität am größten ist, wenn die Nutzung eines Kulturlandes frisch aufgegeben wurde. Wenn wir der neu entstehenden Landschaft jedoch genügend Raum und Zeit geben, dann können die natürlichen Prozesse wieder zu wirken beginnen. Wir sprechen von Zeiträumen von über 200 Jahren. Lawinen, Murgänge, Wildtiere usw. reißen Schneisen auf, so entsteht eine andere Biodiversität, vielleicht anders, als von uns geplant, dafür weist sie das volle Evolutionspotenzial auf. Nicht wir Menschen entscheiden, was wächst und gedeiht, sondern das Spiel der Evolution. Diese Arten sind dann besonders gut an Standorte und den Klimawandel angepasst. Für diesen Prozess brauchen wir genügend Raum. In Summe geht es um ein ausgewogenes Verhältnis von extensiv und nachhaltig genutztem Kulturland und Gebieten, wo die Natur noch Natur sein kann.

Wie hat sich das Wildnispotenzial in der Schweiz seit Beginn der Studie entwickelt? Moos: Fünf Jahre sind aus Wildnissicht ein kurzer Zeitraum. Ich schätze, das Wildnispotenzial hat dort zugenommen, wo die Nutzungsaufgabe voranschreitet, gerade in der Südschweiz. Gleichzeitig nimmt der Druck auf die Wildnis mit ungeahnter Intensität zu. Unter dem Schlagwort der Energiewende werden Staumauern und frei stehende alpine Solarparks gefordert, die sehr wertvolle, teils kaum erschlossene Gebiete zerstören würden. Die Herausforderung ist, wie schaffen wir die Energiewende, hinter der Mountain Wilderness steht, ohne die letzten unerschlossenen Gebiete zu opfern. Sie sollte in bereits erschlossenen Gebieten geschehen und auch die Suffizienz als wichtigen Pfeiler einbeziehen. Biodiversität und Klima können wir nur Hand in Hand schützen.

Stehen Sie da im Austausch mit der Energiewirtschaft und Politik? Moos: Bisher nur am Rande. Wir sehen unsere Aufgabe in erster Linie darin, auf Schönheit und Bedeutung von Wildnis und unerschlossenen Räumen hinzuweisen und ihnen eine Stimme zu geben.

In Kärnten am Dobratsch hat man schon vor vielen Jahren die Skilifte abgebaut. Gibt es auch in der Schweiz Projekte, die auf Hightech-Infrastruktur verzichten und auf Slow Tourism setzen? Moos: Ja, jedoch noch nicht sehr verbreitet. Das Safiental im Kanton Graubünden ist zum Beispiel bekannt für seinen naturnahen Tourismus. Der Skilift läuft noch, wird jedoch mit Sonnenstrom betrieben. Im Goms im Kanton Wallis wurde der defizitäre Betrieb des Skigebiets Chäserstatt-Ernergalen 2008 eingestellt. Die Bergstation und das Restaurant sind heute beliebte Ziele für Skitourengänger*innen und Ruhesuchende.

Studie „Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz“

SEBASTIAN MOOS, SARAH RADFORD, ALINE VON ATZIGEN, NICOLE BAUER, JOSEF SENN, FELIX KIENAST, MAREN KERN, KATHARINA CONRADIN, BRISTOL-SCHRIFTENREIHE 60, 1. AUFLAGE 2019, 145 SEITEN

: GEDICHT AUS: STRAND DER VERSE LAUF

Ferdinand Schmatz

(1953 geb.) ist Schriftsteller, experimenteller Lyriker und Essayist. Von 2012 bis 2020 Leiter des Instituts für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Zuletzt erschien „STRAND DER VERSE LAUF. Gedicht“ (Haymon Verlag 2022), woraus der hier abgedruckte Auszug stammt.

wir tauchen ein verlangend lust, die ränder suchend, töricht ohne zu torkeln die lippen spüren versonnen erinnern auf

gerochen ihre öle, gebrochen zu fossilien in sand liebe zurück sie sich stäuben, die ränder verschwimmen uns läufern, die rippen brechen uns nicht mehr ein,

diese muskel, o diese, schwendung, gärten im hintern der strände, ja, in den händen des auges blühen sie

: IM ZEICHENRAUM: BILD VON WOLFGANG BENDER

: IMPRESSUM

Medieninhaber: Falter Verlagsgesellschaft m. b. H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Redaktion: Christian Zillner; Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Nadine Weiner, Reini Hackl, Raphael Moser; Korrektur: Ewald Schreiber; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falterverlag ständig abrufbar. HEUREKA ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Medienkooperation mit

ERICH KLEIN

: WAS AM ENDE BLEIBT

Uramerikaner

Thomas Pynchon hat in seinen Romanen Amerika dekonstruiert. In „Die Enden der Parabel“ irrlichtert ein amerikanischer Soldat durchs Deutschland im Zweiten Weltkrieg; „Mason und Dixon“ spielt im Amerika des 18. Jahrhunderts; „Gegen den Tag“ beginnt mit der Weltausstellung in Chicago Ende des 19. Jahrhunderts und spielt stellenweise in Wien.

Jüngst erschien „Sterblichkeit und Erbarmen in Wien“, das literarische Debüt des zweiundzwanzigjährigen Pynchon aus 1959, auf Deutsch. Mit der österreichischen Hauptstadt hat die Erzählung nichts zu tun. „Mortality and mercy in Vienna / Live in thy tongue and heart!“ ist ein Zitat aus Shakespeares „Maß für Maß“.

Der junge Diplomat Cleanth Siegel, eben aus Europa zurückgekehrt, begibt sich an einem verregneten Frühlingsabend in Washington zu einer Party. Missmutig räsoniert er, ob er nicht lieber zu seiner Frau Rachel fahren sollte. Der Gastgeber empfängt ihn mit einem Schweinefötus in der Hand. Er wolle den anstelle eines Mistelzweiges an die Tür nageln als Symbol für Gott.

En passant wird ein Bild von Paul Klee an der Wand erwähnt, daneben hängen eine Flinte und ein Säbel. Siegel fällt ein dunkelfarbiger Mensch auf, der „wie ein Memento mori in einer Ecke stand.“ Eine gewisse Lucy erklärt, dass es sich bei diesem um einen „Indianer“ handle, den ihre Nebenbuhlerin aus dem State Department, die Männer sammle, von einer Dienstreise nach Ontario mitgebracht habe. „Kennen Sie die Ojibwa?“ Sie sind eine der größten indigenen Ethnien Nordamerikas, der Name bedeutet „Erstes Volk“ oder „Wesen, geschaffen aus dem Nichts“.

Siegel erinnert sich, dass er während des Anthropologiestudiums von der Windigo-Psychose hörte, einer unter Natives auftretenden Krankheit, bei der der Geist des Winters von den Menschen Besitz ergreift, sie in den Wahnsinn treibt und zu Kannibalen macht.

Die Erzählung kippt ins Apokalyptische. Der „Indianer“ nimmt die Flinte von der Wand, lädt zwanzig Schuss Munition. Noch bevor das Massaker beginnt, gelingt es Siegel, den Ort zu verlassen: „Ach, zum Teufel, in Washington waren schon seltsamere Dinge passiert.“ Dass dieser Autor einmal Großes schreiben würde, war schon vor sechzig Jahren absehbar.

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