FALTER Bücherherbst 2013

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„Wer wirklich leben will, muss dem Leben ausgesetzt sein, von klein auf“ H erber t R en z - P o ls t er u nd G erald H ü t her

Pädagogik: Chinesischkurs für Dreijährige, raus in die Natur oder doch eher Charakter­ bildung? Vier neue Debatten­beiträge

die gute (alte) Kindheit! U

nsere Lebenswelt ist „adultisiert“, sie dient der Produktivität. Der Aktionsradius der Kinder hingegen wurde in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich kleiner, ebenso die Flächen, auf denen sie früher frei – und das heißt ohne pädagogische Vorgaben und Erwachsenenaufsicht – spielen konnten. Die Kinder wurden „verhäuslicht“, die Kindheit verdünnt und verkürzt. Darin sind sich eigentlich alle Teilnehmer der aktuellen Erziehungsdebatte einig. Auch darin, dass Natur für Kinder gut ist. Trotzdem hat im Zweifelsfall immer noch oft der fast schon sprichwörtlich gewordene Chinesischkurs für Dreijährige oder der Geigen- oder Ballettunterricht für Zehnjährige Vorrang.

Naturschutz für Homo sapiens? Naturerfahrung darf aber nicht zu einer netten Ergänzung zum Alltag verkommen, zum Lückenbüßer, wenn sich irgendwo ein Zeitloch im prallen Terminkalender auftut, finden Herbert Renz-Polster und Harald Hüther. Sie haben dem Thema gleich ein ganzes Buch gewidmet, in dem sie mit einem doppeldeutigen Augenzwinkern fordern, den kleinen Homo sapiens unter Naturschutz zu stellen. Kinder brauchen Natur so notwendig wie einen Bissen Brot, meinen der Kinderarzt, Wissenschaftler und Publizist RenzPolster, Autor von „Kinder verstehen – born to be wild: wie die Evolution unsere Kinder prägt“ (2009) und „Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung“ (2011), und der Professor für Neurobiologie und Bestsellerautor Hüther, einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands. Der Grund dafür liegt in der Evolution, in der nur überlebt, was auch funktioniert hat. Die Natur stellt für die kindliche Entwicklung eine maßgeschneiderte Erfahrungswelt dar, für die es bis heute keinen Ersatz gibt. In ihr haben sich Kinder seit jeher ihre grundlegenden Lebenskompetenzen „erspielt“, während ihre Eltern dem Lebensunterhalt nachgingen.

Widerstand und Grenzen Anders als viele Eltern heutzutage richtet sich die Natur nicht nach den Wünschen und Vorstellungen der Kinder, die diese Widerständigkeit, dieses Abenteuer und – ja – auch ein gewisses Risiko zum schrittweisen Aufbau von Selbstregulation und Selbstver-

trauen, zur Erweiterung ihrer Grenzen notwendig brauchen. Renz-Polster/Hüther nennen das „selbstbestimmte Draußensein in einer unstrukturierten Umwelt“ ein Grundbedürfnis, weil hier vier Grundprinzipien für Entwicklung unmittelbar gegeben sind: Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerständigkeit und Bezogenheit. Orte mit Dreck, Gebüsch und Gewässer sind frei gestaltbar, sinnlich erfahrbar und vermögen nicht nur Zugehörigkeitsgefühl, sondern auch Initiative zu aktivieren. Natur fördert das Immunsystem, körperliche Fitness, bremst Kurzsichtigkeit, fördert Aufmerksamkeit und Achtsamkeit – und wird damit zum Gegengift zur „schleichenden Enteignung der Kindheit“, zur „maßlosen Anregung durch die Großen“, deren „überdimensionierte Lernportionen“ und „übermotivierte Behütung“. Um diese Thesen zu begründen, widmen die Autoren einen Großteil des Buchs der Beschreibung der kindlichen Entwicklung. „Wie Kinder heute wachsen“ ist kein Ratgeber, was man in der Natur mit Kindern unternehmen kann, sondern eine Theorie darüber, warum Natur auch noch im 21. Jahrhundert eine „unverhandelbare Quelle“ für Kinder darstellt.

„In meiner langjährigen Arbeit hat übrigens noch nie ein Kind gefragt: ,Warum ist der Himmel blau?‘ oder ,Können Seifenblasen auch sternförmig sein?‘ Solche Fragen werden aber gerne in Zusammenhang mit kindlicher Frühförderung angeführt“ (Salman Ansari)

Herbert Renz-Pols­ ter, Gerald Hüther: Renz-Polster hat schon in seinen früheren Wie Kinder heute Büchern die Bedeutung der zusammen mit wachsen. Natur als den unstrukturierten Naturräumen verlo- Entwicklungsraum. ren gegangenen wilden Kinderhorde betont. Ein neuer Blick Denn das Vorbild der Großen, die gute Er- auf das kindliche ziehung und die richtigen pädagogischen Lernen, Fühlen und Maßstäbe sind nach seiner Meinung nicht Denken. Beltz, alleine verantwortlich für eine gelungene 264 S., € 18,50

Selbstwirksamkeit

kindliche Entwicklung. Wenn Kinder sich sicher fühlen, das heißt in verlässlichen, authentischen und feinfühligen Beziehungen leben, drängt es sie dazu, sich auszuprobieren und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Und zwar mit anderen Kindern. Die entscheidende Frage der Autoren lautet deswegen nicht: „Was können wir Kindern beibringen?“, sondern: „Was tragen die Kinder denn selbst zu ihrer Entwicklung bei?“. Soziale Kompetenz, innere Stärke und Mitgefühl kann man nicht vermitteln, „auch nicht durch eine noch so gute Pädagogik“, aber Kinder können sie sich aneignen – so nebenbei auch ein Plädoyer für das früher in jeder Dorfschule bekannte, heute

Salman Ansari: Rettet die Neugier! Gegen die Aka­ demisierung der Kindheit. Krüger, 225 S., € 19,60

wieder zunehmend beliebte gemischtaltrige Lernen in Mehrstufenklassen.

Der Computer und die Intuition Aber wie dieses Erbe in die Jetztzeit übertragen, wo nicht vor jedem Wohnhaus oder Kindergarten ein Wald oder zumindest eine Gstätten liegt? Jedenfalls nicht, indem man mit den Kindern im Wald Biologieunterricht abhält. Schon eher damit, dass man auch in Spielzimmern und auf Spielplätzen unstrukturierte Räume schafft. Im Grunde genommen brauchen Kinder nämlich nicht einmal einen Spielplatz, zitieren die Autoren mit Günter Belzig einen von Deutschlands gefragtesten Spielplatzentwicklern: „Den brauchen die Erwachsenen. (…) Ich habe mal einen Spielplatz gestaltet ohne sichtbare Geräte wie Wippe, Schaukel, Rutsche, der bei den Kindern super ankam. Bei den Eltern allerdings nicht. (…) Nach Protesten ergänzte ich die gewünschten Geräte. Die Kinder spielten immer noch in den Ecken, aber nun waren die Eltern zufrieden.“ Natürlich kann man Kinder auch mit Teppichen, Spielkonsolen und elterlichen Fahrtendiensten aufwachsen lassen, und es liegt auch „durchaus in der Natur des Menschen, dass er ,unnatürliche‘ Dinge schafft“, räumen die Autoren ein. Und sie entdecken zu ihrer eigenen Überraschung einen Kulturraum, in dem Heranwachsende wie in der Natur Selbstwirksamkeit, Freiheit, Kreativität und Intuition entwickeln können: den virtuellen Raum. Der Computer stellt nicht nur zumeist eine elternfreie Zone dar, er bietet auch Spannung, Vernetzung und Gestaltungsmöglichkeiten. Renz-Poster/Hüther geht es also keineswegs darum, die „Welt da draußen gegen die Welt drinnen in Stellung zu bringen“ und schon gar nicht um ein weltfremdes „Zurück zur Natur!“, sondern um eine freiere, von den Kindern „aktiv und selbsttätig mitgestaltete Sozialisation“. Wenn das Alter, Sozialisation und Beziehungen, Maß und Ziel der Mediennutzung stimmen, kann sie durchaus Neugier, Selbstständigkeit und Intelligenz fördern – nicht als Lernmittel für Krippe oder Kindergarten, wo sie bedauerlicherweise immer öfter propagiert wird, sondern ab dem Schulalter und in der Schule, wo neue Medien immer noch ein Stiefkinddasein fristen. Fortsetzung nächste Seite


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