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Der Zusammenhang zwischen den Welten Physik: Quantenphysiker H. Dieter Zeh entdeckte die Dekohärenz und legt einen Band mit Aufsätzen vor
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aturwissenschaftler sind bekanntlich Menschen und als solche nicht frei von weltanschaulichen Vorurteilen oder Eitelkeiten. Deshalb gab es in der Physikgeschichte immer wieder Episoden, in denen Forscher mit guten Ideen einen schweren Stand hatten. Manchmal zogen sie sich verbittert zurück, wie etwa Hugh Everett, der amerikanische Pionier der „Viele-Welten-Theorie“ Ende der 1950er-Jahre. Öfter arbeiteten sie aber beharrlich weiter, wie der Deutsche Dieter Zeh, dessen Idee der sogenannten Dekohärenz inzwischen experimentell nachgewiesen, wenn auch nicht von allen Physikern als tragfähige Lösung eines der fundamentalen Probleme der Quantenphysik akzeptiert ist.
Wellen oder Teilchen Zeh war Mitte 30 und Dozent in Heidelberg, als er um 1968 seine Arbeit über das Messproblem in der Quantenphysik publizieren wollte und an Kollegen verschickte. Dieses Messproblem hatte anfangs der 1930er explizit John von Neumann formuliert, in einer ungemein fruchtbaren Phase der Physik, in der intensiv über die experimentell entdeckten Quantenphänomene nachgedacht wurde. Die Grundfrage war, ob die elementaren Strukturen der Atome als Teilchen oder Wellen zu interpretieren seien und wo die Grenzen der in den 1920er-Jahren entwickelten Formalismen lägen. Erwin Schrödinger mit seiner Wellenmechanik hatte dafür plädiert, dass Elementarteilchen Wellenphänomene sind und seine berühmte Gleichung auch im makroskopischen Bereich Sinn macht. Niels Bohr, dem Doyen der damaligen Quantenphysik, sowie seiner Entourage widerstrebte dieser universale Anspruch. Da Schrödingers brillanter Formalismus mathematisch jedoch äquivalent mit Werner Heisenbergs Matrizenkalkül war, mussten einige für das klassische Bild der makroskopischen Welt unangenehme Folgen von Schrödingers Ansatz weginterpretiert werden. Genau dies leistete John von Neumann, indem er ad hoc den sogenannten Kollaps der Schrödingergleichung einführte. Bohr war vollkommen überzeugt, dass ein Verständnis der Quantenphänomene unmöglich sei. Diese Haltung war an den meisten Universitäten auch in den 1960er-Jahren noch präsent. Zeh beschreibt in einem seiner Aufsätze, was ihm selbst widerfahren ist. Er hatte mit Problemen der Kernphysik zu tun und wollte sich nicht mit dem Pragmatismus seiner Kollegen abfinden, die Inkonsistenzen in Kauf nahmen und beispielsweise Elektronen, je nach Bedarf, einmal als Wellen, dann wieder als Teilchen beschrieben. Ihn überzeugte auch Neumanns „Kollaps der Wellenfunktion“ nicht. War-
um, fragte er sich, soll die Quantentheorie bei einem Messvorgang nicht für die Umgebung gelten, die ebenfalls aus Atomen aufgebaut ist?
Eine oder viele Welten „Aus formal quantenmechanischer Sicht“, erläutert Zeh im Gespräch mit dem Falter, „kann ein Zeiger in verschiedenen Stellungen sein, was man als Superposition bezeichnet. Das freilich hat noch nie jemand beobachtet. Nimmt man die Quantenmechanik als universell gültig an und bezieht den Beobachter einer Messung und dessen Umgebung mit ein, spaltet sich die globale Wellenfunktion in verschiedene, dynamisch autonome Teile auf, die man dann als unterschiedlich wahrgenommene ‚Welten‘ interpretieren muss. Die Superposition existiert nur noch für die unbeobachtbare Gesamtwellenfunktion, nicht aber für ihre beobachtbaren Teile. Sie wird ‚delokalisiert‘, was man heute als Dekohärenz bezeichnet. Diese Überlegungen führten mich automatisch zur Viele-WeltenTheorie. Als ich darüber aber meinen Kollegen berichtete, sagten alle, dafür sei die Quantenmechanik nicht gemacht.“ Erst später stieß Zeh auf die kaum bekannte Arbeit von Everett, der als hochbegabter Student in Princeton seine Dissertation auf Druck seines Doktorvaters John Wheeler abschwächen musste, mit Bohr nicht klargekommen war und sich aus dem akademischen Leben verabschiedet hatte. Zehs Publikationsgesuch wurde immerhin von Eugene Wigner erhört, der hochangesehen ebenfalls in Princeton lehrte. Er schrieb Zeh begeistert zurück und setzte die Veröffentlichung 1970 in der neugegründeten Zeitschrift Foundations of Physics durch. An der eigenen Uni Heidelberg freilich, an der der Physiknobelpreisträger Hans Jensen das Sagen hatte, zog sich Zeh in eine Art innere Emigration zurück, ohne allerdings seinen streitbaren Charakter zu verleugnen. „Ich war von den Reaktionen auf meine Forschungen enttäuscht“, sagt er, „aber ich hielt an meiner Meinung fest: Gegen die Dekohärenz und Everetts Theorie gibt es keine Argumente, sondern nur Emotionen.“ Früh habe er auf jede Karriere verzichtet und sich auf das konzentriert, an dem er Spaß hatte. Seinen Interessen widmete er Spezialseminare, begann sich mit dem Zeitpfeil in der Physik und der Relativitätstheorie zu beschäftigen und konnte so seinerseits junge Studenten fördern. Etwa Claus Kiefer, der bei ihm 1988 über den Zeitbegriff in der Quantengravitation dissertierte und heute Professor an der Uni Köln ist. Bei seinem Doktoranden Erich Joos hingegen, 1985 Co-Autor von Zehs meistzitierter Arbeit, scheiterte der Versuch, ein Habilitationsverfahren einzu-
Zur Person Dieter Zeh wurde 1932 in Braunschweig geboren, lehrte bis 1989 als Theoretischer Physiker in Heidelberg und arbeitet über Kernphysik, Quantenmechanik und die Physik des Zeitpfeils
H. Dieter Zeh: Physik ohne Realität: Tiefsinn oder Wahnsinn? Springer, 216 S., € 30,80
leiten, bereits an der Gegenfrage: „Dekohärenz, was ist das?“ „Von Zeh“, erinnert sich der 54-jährige Kiefer, „habe ich das begriffliche Nachfragen gelernt. Er ließ sich nie von Formalismen oder aufgeblähten Details blenden. Seine bahnbrechenden Arbeiten zur Dekohärenz stießen auf mehr Widerhall, als sich Wojciech Zurek in den 80er-Jahren im einflussreicheren Austin, Texas, damit zu beschäftigen begann, explodiert ist das Thema aber erst 1996, nachdem Serge Haroche in Paris ein erster experimenteller Nachweis gelang.“ Noch zu seiner Zeit in Heidelberg, sagt Kiefer, habe die Interpretation der Quantentheorie als eine Angelegenheit für Philosophen gegolten.
Zukunftsromane und der Wiener Kreis Philosophie hat Zeh früh interessiert. Geboren 1932 in Braunschweig als einziges Kind eines Konditors, las er zuerst begeistert Science-Fiction, was damals noch unter der Rubrik „Zukunftsromane“ lief. Später, im Gymnasium, nahm er sich erkenntnistheoretische Texte aus dem Wiener Kreis vor, weil ihn eine von Ingeborg Bachmann verfasste Radiosendung beeindruckte. Hätte ihn der Wiener Kreis nicht gelehrt, dass es keine Metaphysik gibt, erinnert sich Zeh, hätte er durchaus auch das Studienfach Philosophie wählen können. In einem Aufsatz diskutiert Zeh mögliche praktische Konsequenzen für unsere Welt, wenn die von der Theorie geforderten anderen Welten tatsächlich existieren, und nennt u.a. die Abweichungen von einer universellen Richtung der Zeit. Wenn unser Universum wieder einen Zustand unendlicher Dichte anstreben würde, müsste sich auch die Zeitrichtung des Zusammenhangs zwischen Dokumenten oder Erinnerungen und ihren Quellen umkehren, sodass Beobachter die Zeit nur in umgekehrter Richtung bewusst erleben könnten. Das mutet wahrlich wie ein „Zukunftsroman“ an. Selbstredend sind alle Inhalte in Zehs Buch sehr abstrakt. Einige Texte richten sich nur an Experten, die meisten jedoch sind allgemein verständlich. Der Vorteil des Buchs liegt genau in dieser Heterogenität. Dadurch, dass die Themen in unterschiedlichen Kontexten durchdiskutiert werden, wird ein „Verstehen“ erst ermöglicht. Als Ergänzung seien Laien dennoch Kiefers „Der Quantenkosmos“ (2009), Walter Moores Schrödinger-Biografie (2012) oder Peter Byrnes Everett-Biografie (2012) empfohlen. Auf alle Fälle erhält man durch Zehs Buch Einblick in die Gedanken- und Arbeitswelt eines innovativen theoretischen Physikers, der am 8. Mai 80 wird und lustvoll von sich sagt: „Oft wird mir vorgeworfen zu provozieren. Aber das will ich ja, damit die Leute zum Nachdenken angeregt werden.“
A n d r é B eh r
Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. balken fashop rezensionen.indd 1
01.10.2009 11:44:25 Uhr