FALTER Bücherfrühling 2011

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LITER ATUR

Zwischen zwei Jobs liegt bloß der Atlantik In seinem Roman „Brooklyn“ erzählt Colm Tóibín ostentativ unaufgeregt die Geschichte einer jungen irischen Auswanderin ür Emigration gibt es unterschiedliF che und unterschiedlich dramatische Gründe, in der Regel aber hofft man, dass es einem „drüben“ besser ergehen möge – wobei das Spektrum zwischen nüchterner Pragmatik und paradiesischen Projektionen naturgemäß breit ist. Im Falle von Eilis Lacey, die ihre südirische Heimat in Richtung New York verlässt, ist es offenbar nicht viel dramatischer, den Kontinent zu wechseln als den Arbeitsplatz. Und im Grunde genommen ist es auch bloß ein Jobwechsel: Statt Corned Beef im Laden der mürrischen Miss Kelly verkauft sie eben Nylonstrümpfe im Geschäft von Mrs. Bartocci. Nun ist es fraglos ein Zugewinn an Glamour und Weltoffenheit, wenn Eilis Red-Fox-Strümpfe in den Farben Sepia und Coffee auch an schwarze Kundinnen verkaufen kann, aber dass es in Brooklyn ganz anders zuginge als zu Hause, verhindert schon die irische Community, in der sich Eilis bewegt – inklusive Weihnachtsfeier und Tanzabend.

Der Rezensent der New York Review of Books pries die „stille, kristallklare, gedul-

Die Hitze, die Kälte, das Heimweh setzen der jungen Auswanderin zu, gewiss, aber mit „Brooklyn“ hat Colm Tóibín, der wie seine Protagonistin aus der Grafschaft Wexford stammt, doch einen Roman geschrieben, dessen spektakulärste Eigenschaft sein Mangel an Dramatik ist; und zwar nicht, weil er ereignisarm wäre, sondern weil die schicksalhaften Wendungen erst in der Rückschau als solche auszumachen sind: Was einem als Biografie zuwächst, wird eines Tages das Leben gewesen sein, das man geführt hat. So wie ihre Emigration in die USA im Grunde

von anderen beschlossen wurde, so lässt sich Eilis von ihrem italienischstämmigen Freund auch in eine geheim gehaltene Heirat drängen. Tony ist ein überaus anständiger und sympathischer junger Mann, aber von denen hätte es, wie Eilis anlässlich ihrer tragisch motivierten Rückkehr in die alte Heimat feststellen kann, auch in Wexford welche gegeben.

Colm Tóibín: Brooklyn. Aus dem Englischen von Giovanno und Ditte Bandini. Hanser, 303 S., € 22,60

dige Prosa“ von „Brooklyn“. In ihr liegt gewiss die Dignität des Romans, der vor allem in der transkontinentalen Detailbeobachtung überzeugt. Es soll freilich nicht verschwiegen werden, dass auch der Leser einiges an Geduld aufbieten muss. „Sie setzte ihren Sonnenhut auf, und er installierte den Sonnenschirm, damit sie keinen Sonnenbrand bekamen, und er packte außerdem einen Imbiss aus, den seine Mutter vorbereitet hatte, einschließlich einer Thermosflasche eiskalte Limonade.“ Diese Schilderung eines Ausfluges nach Coney Island ist ein typisches Beispiel für den nicht eben gnadenlosen „Groove“ des Romans. Und dass das wohl ästhetisches Kalkül ist, beantwortet noch nicht hinreichend die Frage, warum Tóibín ausgerechnet diese Geschichte auf dermaßen bedächtige, um nicht zu sagen: betuliche Weise erzählen musste. K L AUS NÜCHTERN

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