FALTER Bücherherbst 2016

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Reminiszenzhöcker und Erinnerungsfehler Psychologie: Douwe Draaisma und Julia Shaw sondieren die Tricks und Unzulänglichkeiten des Gedächtnisses

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olgendes Setting: eine Werbeagentur. Gesucht wurde ein Hintergrund-Song für eine Autowerbung. Bei dem Auto handelte es sich um ein sportlich-luxuriöses Cabrio. Die Zielgruppe, die der Hersteller im Auge hatte, waren Männer, denen der Wagen das Gefühl vermitteln sollte, jünger zu sein als die plus-minus 40, die sie waren. Das Rezept, nach dem die in Psychologie geschulten Marketingexperten einer französischen Automarke, in diesem Fall aus der Mitte der 1980er-Jahre, vorgingen, war denkbar einfach. Sie wählten eine Neuaufnahme des Cream-Songs „I Feel Free“ aus dem Jahr 1966. Warum? Weil in den Sixties einfach die besten Popsongs aller Zeiten geschrieben wurden? Nicht unbedingt.

Das prägende Jahrzehnt Eher, weil die, die das Auto kaufen sollten, zur Zeit der Entstehung des Songs um die 20 gewesen waren. Damit fielen die Erinnerungen, die sie mit „I Feel Free“ verbanden, genau in das Lebensjahrzehnt zwischen 15 und 25, für das Gedächtnis- und Erinnerungsforscher einen sogenannten „Reminiszenzhöcker“ ausgemacht haben. Dieses Zeitfenster von zehn Jahren nennen die meisten von uns im Rückblick die Phase, an die sie die schönsten und prägendsten Erinnerungen ihres Lebens haben. Gedächtnispsychologen haben festgestellt: Je älter man wird, ganz besonders aber, sobald man in die Nähe seines 60. Geburtstags kommt, desto deutlicher wird dieser Reminiszenzeffekt. Über die genauen Gründe für diesen bestens belegten Mechanismus herrscht noch einige Unklarheit. Einiges deutet aber darauf hin, dass er etwas mit den vielen „Erste-Mal-Erfahrungen“ zu tun hat, die Menschen in der Adoleszenz machen. Diese scheinen sich dem Gedächtnis umso deutlicher einzuschreiben, je weiter sie in der Zeit zurückliegen. Womit wir wieder bei Cream wären. Denn wenn man der Deutung des niederländischen Psychologiehistorikers Douwe Draaisma in seinem neuen Buch „Halbe Wahrheiten“ traut, dann wurden die Mitglieder der legendären britischen Popband – Eric Clapton, Ginger Baker und Jake Bruce – in gewisser Weise Opfer genau dieses Reminiszenzeffekts, als sie 2005 zu einer Reunion schritten. „Die nervenzehrende Geschichte der Gruppe Cream, gegründet 1966, konflikt­ reich aufgelöst 1968, wiedervereinigt 2005 und innerhalb eines halben Jahres erneut konfliktreich aufgelöst, ist zugleich eine Geschichte der Diskrepanzen zwischen den Erinnerungen der Bandmitglieder und der Demonstration der Tatsache, dass dieselben Reminiszenzen, die die Erinnerung an früher wieder in die Gegenwart befördern, Menschen auch in alten Mustern, Rollen und Beziehungen gefangen halten können.“ Mit anderen Worten: Auch bei Cream reloaded flogen die Fetzen wie einst im Mai 1968.

Das Eigenleben der Erinnerung Erinnerungen führen nämlich ein äußerst seltsames Eigenleben. Das ist es, worauf

Douwe Draaisma mit seinen weit ausschweifenden beispielhaften Geschichten hinaus will. Eines wird bei der Lektüre seines fantasievoll erzählten Buchs besonders klar: Wer glaubt, dass es sich bei der Vergangenheit um die Summe unserer Erinnerungen handelt, wer glaubt, dass man nur die Fakten kennen muss, um zu wissen, was passiert ist und wie ein Ereignis im GeWas in der Jugend dächtnis bleiben wird, der irrt gewaltig. Um das zu verdeutlichen, widmet geschah, ist häufig Draaisma etwa dem Fall des Unabombers Ted Kaczynski (erstaunlich) viele Seiten. So die Folge von viele, dass man zwischendurch versucht ist etwas, das sich im zu glauben, man lese eine Unabomber-Mo- späteren Leben nografie und nicht ein Buch über das Wesen unserer Erinnerungen. Doch auch die- ereignete ses Ungleichgewicht stört nicht weiter, denn man folgt Draaisma gerne, wohin auch im- D o uwe Dr a aisma mer er geht. Und er geht weit: vom Unabomber und den vielfältigen Interpretationen seiner Motive, Kindheitstraumata und Krankheitsbilder über den Fall der Band Cream und die niederländische Reality-Show „DNA unbekannt“, für die Menschen sich via Gentest Klarheit über ihre biologische Herkunft verschaffen, bis zu Betrachtungen angesichts seiner eigenen erneuten Lektüre der Bibelgeschichte von Josef und seinen Brüdern. „Die Josef-Geschichte ist für mich 40 Jahre später eine andere, eine bessere Geschichte geworden (...). Die Möglichkeiten, sich mit Figuren zu identifizieren, haben sich erweitert.“ Quer durch alle diese scheinbar so disparaten Sujets zeigt Draaisma, wie wandelbar Erinnerung ist, dass sie von „Zusatzwissen“ beeinflusst, von Erfahrung überschrieben, uminterpretiert und im Lauf eines Lebens vielfach gewandelt wird. Allein dass man ein Erlebnis erzählt, es also versprachlicht, führt schon dazu, dass sich die Erinnerung daran verändert. Douwa Draaisma geht ganz konform mit einem Zitat des niederländischen Autors Marten Toonder, der in dem Buch ebenfalls eine gewichtige Rolle spielt: „Was in der Jugend geschah, ist häufig die Folge von etwas, das sich im späteren Leben ereignete.“ Über diesen Satz lohnt es sich wahrhafDouwe Draaisma: tig nachzudenken.

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Halbe Wahrheiten. Vom seltsamen Einen ganz anderen, gänzlich von den Ein- Eigenleben unserer sichten verschiedenster wissenschaftlicher Erinnerungen. Studien durchdrungenen Ton schlägt ein Galiani, 250 S., zweites Buch über das komplizierte Ei- € 17,50

Gedächtnisfehler und Gehirnwäsche

genleben von Erinnerungen an. Es heißt „Das trügerische Gedächtnis“, trägt den Untertitel „Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“ und stammt aus der Feder der jungen britisch-deutschen Rechtspsychologin Julia Shaw. Unser Gedächtnis, so postuliert Shaw gleich einleitend, sei so „anfällig für ein breites Spektrum von Fehlern, Verzerrungen und Veränderungen“, dass man berechtigten Zweifel daran haben dürfte, „ob überhaupt eine Erinnerung vollständig richtig sei“. Angesichts der weit verbreiteten Überzeugung, der Kern unserer Identität liege in unseren persönlichen Erinnerungen, klingt die Eröffnung der Autorin geradezu schockierend: Erinnerungsfehler, so Shaw, „sind die Norm, nicht die Ausnahme“.

Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. Hanser, 302 S., € 22,70

Shaw muss es wissen. Eins ihrer Hauptarbeitsfelder ist – wenn man es übel meinend ausdrückt – die Gehirnwäsche. Mit anderen Worten: Sie bringt Menschen unter Laborbedingungen dazu, Dinge zu glauben, die nie geschehen sind. Sie tut das, weil sie die Mechanismen der Erinnerungstäuschung durchschauen will, denn „wir können nicht hoffen, solche Täuschungen unterbinden zu können, ehe wir wirklich verstanden haben, warum sie auftreten“. Wie einfach es ist, Menschen mit falschen Erinnerungen an nie Erlebtes zu infizieren, gehört zu den unheimlicheren Momentaufnahmen aus Shaws universitärer Forschungstätigkeit. Auch wenn die dahinterstehenden Mechanismen – sozialer Druck und bestimmte Abruftechniken – nicht weiter überraschend sind. Die Absicht, die hinter Shaws Arbeit steht, ist allerdings deutlich hehrer: Es geht darum, Einsichten zu gewinnen und zu vermitteln, die die Arbeit von Gerichten und Polizei verbessern und weniger fehleranfällig machen können. Aber auch abseits dieses Feldes, in dem Shaw häufig als Beraterin beigezogen wird, spielen uns unsere Erinnerungen zahlreiche Streiche. In ihrem Buch schlüsselt Shaw die neurologischen und erinnerungspsychologischen Prozesse auf, die hinter Phänomenen stehen, denen die meisten von uns schon begegnet sind.

Erinnerung und Fiktion Vieles davon ist sehr interessant, einiges zu sehr überfrachtet mit Verweisen auf noch eine und noch eine und noch eine Studie. Ganz offensichtlich sieht sich die False-Memory-Forschung, die Shaw betreibt, häufigen Angriffen ausgesetzt und setzt darum auf wasserdichte, nachprüfbare Argumentation, die dem Lesefluss nicht immer gut tut. Das Spektrum ist jedenfalls weit: Man erfährt, warum Multitaskingfähigkeit ebenso eine Mär ist wie Erinnerungen an die Frühkindheit. Man begreift, warum Fotografien dazu angetan sind, Erinnerungen zu überschreiben, oder dass Internet und soziale Medien gerade im Begriff sind, die Unterschiede zwischen öffentlicher und privater Erinnerung auszuradieren – Stichwort: Erinnerungskonformität. Shaw erzählt auch von den weltweit bisher 56 identifizierten Menschen mit „HSAM“, also einem „weit überlegenen autobiografischen Gedächtnis“, das es ihnen ermöglicht, persönliche Erinnerungen mit geradezu gespenstischer Präzision – oft mitsamt genauem Datum – zu memorieren. Aber es gibt ja auch andere Erinnerungen als die autobiografischen, und mit denen tun sich auch die Supergedächtnismenschen mitunter schwer. Nach der Lektüre von Shaws Buch kommt einem das eigene Gedächtnis in jeder Hinsicht unzuverlässig vor, denn sie macht klar, wie sehr dieses „unter biologischen Schwächen, Wahrnehmungsfehlern, Aufmerksamkeitsverzerrungen, Selbstüberschätzung und Konfabulation leidet“. In unseren Erinnerungen steckt jede Menge Fiktion. Sich das ab und an bewusst zu machen, kann nicht nur erschreckend, sondern auch ziemlich entlastend sein. J u l i a K o sp a c h


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