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F A L T E R 4 1 / 1 6 L i t e r a t u r
Sex, Drugs und Selbstauflösung Gerhard Falkners grandioser Berlin-Roman „Apollokalypse“ protzt mit Prosa-Priapismus ohne Porno zu sein
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er „Ich“ sagt, hat noch nichts begriffen. Das Ich ist ein unzuverlässiger Zeuge, wenn es denn stimmt, dass Wahrheit erinnerungstechnisch nichts anderes ist als eine „in Sicherheit gebrachte Lüge“. Da scheint der Gedanke nahezu tröstlich, das „Ich“ als ein Gemeingut zu betrachten, „auf das eine Gemeinschaft von Nutzern gleichzeitig Zugriff haben könnte“. Wie das funktioniert, führt Gerhard Falkner in seinem furiosen Roman „Apollokalypse“ vor. Auf der Ereignisoberfläche handelt es sich um einen Berlinroman über die 80erund 90er-Jahre mit dem Mauerfall und der Wendezeit im Zentrum. Drei junge Männer, „Modell Bundesrepublik“, also mit der Gnade der Sorglosigkeit ausgestattet, jedoch so unfertig wie die Stadt, die solche Typen angezogen hat, stürzen sich in ein „außerplanmäßiges Existieren“, getrieben von Drogen aller Art und sehr viel, wirklich sehr viel Sex.
Billy aus Bulgarien ist eine Wucht Berlin ist ihre empfindliche Stelle, ein Teil von ihnen selbst, ihr schwarzes Loch. Der eine ist ein Dandy, der absehbar verspießern wird, ein ausgeprägt analerotischer Charakter. Der zweite ist künstlerisch ambitioniert und schizophren und wird unweigerlich zugrunde gehen. Er erlebt die geteilte Stadt als wäre er es selbst, als trennte die Mauer zugleich die beiden Hemisphären sei-
Eine unverschämt gute und sorgfältige Erzählerin! Michael Stavarič
nes Hirns. Der dritte, der Ich-Erzähler Georg Autenrieth, ist narzisstisch und sexbesessen, blickt aber – die Indizien verdichten sich – auf eine irgendwie konspirative Vergangenheit im Sympathisantenkreis der RAF zurück, ja vielleicht war er sogar an einem Anschlag beteiligt und hat außerdem mit der Stasi kooperiert. Aber damit noch nicht genug der Spaltungen und Dunkelheiten. Ein mephistophelischer Verführer tritt auf, ein Psychoanalytiker und ein mysteriöser Doppelgänger. Doch was, wenn der Analytiker erklärt: „Sie haben keinen Doppelgänger, sie sind der Doppelgänger“, um schließlich als der eigene Patient aufzutreten? Vor allem aber gibt es in diesem Roman kräftige Frauenfiguren, die geeignet sind,
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Es gibt in diesem Roman über das Berlin der 80erund 90er-Jahre nicht nur sehr viel, wirklich sehr viel Sex, sondern auch starke Frauenfiguren, die geeignet sind, die Männer in den Wahnsinn zu treiben
das Begehren zu wecken und die Männer in den Wahnsinn zu treiben: die schöne Isabell, mit der Georg Autenrieth nach Kalifornien reist und dort eine Nacht in einer verlassenen Kapelle verbringt, die aber eigentlich die Geliebte seines mittlerweile in der Psychiatrie gelandeten Freundes ist. Im gemeinsamen Verrat ist dieser den beiden allerdings keinen Gedanken wert. Später tritt dann die aus Bulgarien stammende und zu grandioser Unordnung neigende Billy auf, die irgendwas mit dem Geheimdienst zu tun hat und nebenbei eine merkwürdige Beziehung mit einem deutschen Bundeswehrgeneral unterhält. Sie ist die absolute Wucht und scheint aus nichts als sexueller Energie zu bestehen. Aber was soll man auch erwarten, wenn schon der erste Satz des Buches lautet: „Wenn man verliebt ist und gut gefickt hat, verdoppelt die Welt ihre Anstrengung, in Erscheinung zu treten.“ Sex, so heißt es dann später, war aber auch „der Tribut, den man an den Körper leistete, um von ihm nicht mit seinem Kopf allein gelassen zu werden“. Das klingt dann schon etwas zwanghafter und weniger lustvoll.
Ein Höllending namens Hölderlin
Das Ich ist ein Partikel im Raum
www.editionlaurin.at Ulrike Kotzina I Box I Roman, 320 Seiten, ISBN 978-3-902866-42-4, € 23,90
Erotik, Begehren, Wunsch und Wille, Pathologie und Politik, Kunst und Psychoanalyse und Persönlichkeitsspaltung: Gerhard Falkner, bisher vor allem für seine Gedichte berühmt, hat diesen wüsten, so witzigen wie abgründigen Roman dem Vernehmen nach zehn Jahre lang liegen lassen. Vielleicht hat er sich selbst ein wenig gefürchtet vor dessen sprachlicher und sexueller Urgewalt. Zum Glück hat er sich nun doch zur Veröffentlichung entschlossen. Dass er als Lyriker vielleicht manchmal etwas zu viel des Guten tut, stört nur zu Beginn. Die BerlinBeschreibungen sind großartig und die Metaphern und Sprachbilder, die er findet, so treffend wie erkenntnisfördernd. Wie da der
Westen Einzug hält in den Bezirken des Ostens, ist noch nie so genau und so sinnlich beschrieben worden. Falkner erinnert sich genau, wie es roch, als die Keller der Altbauten sich öffneten, und das gesamte Inventar von 40 Jahren Ost-Gemütlichkeit auf den Bürgersteigen landete. Er weiß noch, wie es aussah, als „Unter den Linden“ aus einem düsteren Ort preußischer und sozialistischer Machtentfaltung sich in eine obszöne Travestie für Touristen zu verwandeln begann. Die Dauererektion seiner Prosa ist vor allem eine sprachliche; und so taucht man gerne ein in diesen Kosmos aus Erzähllust und Leidenschaft. Das Obszöne daran ist die bewusste Lebensweise der Pro tagonisten, ist ihre Art, gegen romantischen Biedersinn zu rebellieren. Das Obszöne „war jene Lava, die den Krater verlassen musste, um zu verwüsten und uns neu zu befruchten“. Allen sexuellen Obsessionen zum Trotz wird der Tonfall aber niemals pornografisch oder einfach nur genital. Das verhindern schon die verschiedenen Ebenen, die sich überlagern, so dass im Körperlichen immer auch das Politische miterzählt wird – und umgekehrt. Das „Ich“ ist ein Partikel im Raum und in der Geschichte, aber es ist nicht in der Lage, Rechenschaft über sich abzulegen und aus den möglichen Versionen des eigenen Lebens so etwas wie eine Identität herauszufiltern. Wenn das entgrenzte Subjekt in Frage steht, sind ausgerechnet Sex, Eros, Rausch und Auflösung die Komponenten, in denen so etwas wie „Selbst“erfahrung noch am deutlichsten spürbar wird.
Gerhard Falkner: Apollokalypse. Roman. Berlin, 430 Seiten, € 22,70
Der Roman steckt voller literarischer Bezüge. Heideggers „Im Seyn erzittern die Götter“ ist ihm als Motto vorangestellt. Prousts „Recherche“ ist ein wichtiger Bezugspunkt wie auch Goethes „Faust“, Bulgakows „Der Meister und Margarita“ oder Ovids „Metamorphosen“, in denen es ja auch immer nur um Sex gegangen ist, wenn auch im Gewand der Götter. Beziehungsreich ist auch der Name des Helden: Er spielt an auf den Arzt Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth, der das Tübingern Klinikum begründet und sich dort auf die Psychiatrie konzentriert hat. Zu seinen Patienten zählte auch Friedrich Hölderlin. Die Autenrieth’sche Maske ist nach ihm benannt, ein Höllending, mit dem Patienten am Schreien gehindert werden sollten. Und ums Verstummen geht es in „Apollokalypse“ schließlich auch: Schmerztherapie durch Selbstauflösung. Die Frage: „Wer ist Autenrieth wirklich?“ wäre bereits falsch gestellt. Der Titel fügt das Schöne (Apollo), die Verführung (Kalypso) und die Zerstörung (Apokalypse) zu einer spannungsreichen Einheit zusammen. Der prekäre IchErzähler wächst einem in all seiner leiblichen, lustvollen Geisterhaftigkeit sehr ans Herz, auch wenn er sich in seiner Selbstauslöschung allmählich zum Verschwinden bringt: „Es gab also einen Georg Autenrieth, der ich nicht gewesen sein konnte.“ Fazit: Deutsche Literatur kann manchmal auch großartig sein. JÖRG MAGENAU