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– andrerseits gilt für Musil, Doderer und auch Stefan Zweig, dass sie irgendwo stehen geblieben sind. „Die Welt von Gestern“ ist nicht nur ein Buchtitel, sondern bezieht sich auch auf die Beschäftigung mit der Welt von gestern. Das ist eine lehrreiche Auseinandersetzung mit der Geschichte, die mir in der Beschäftigung mit Blick nach vorne nicht so viel bringt, wenngleich ich es gern lese. In meiner Bibliothek stehen diese Bücher in der Abteilung Vergangenheit – zur Abteilung Zukunft gehören andere. Zum Beispiel welche?

„Ich hätte gern Bücher, die sich durch eine österreichische Sprache von der deutschen unterscheiden. Wir haben sie nicht – schade “ Manfred Matzka

Matzka — Viel aus dem politischen Bereich, Bücher, die sich mit künftigen Tendenzen befassen, aber auch Bücher über die Vergangenheit wie Tuchmans „Torheit der Regierenden“ oder Christopher Clarks „Schlafwandler“ über den Ersten Weltkrieg. Fukuyamas „Ende der Geschichte“ hat sich zwar nicht bewahrheitet, ist aber ein gutes Buch. Ich bedaure, dass in der zeitgenössischen österreichischen Literatur diese Weite der genannten Autoren, aber auch deren sprachliche Eleganz nur noch selten zu finden ist. Ich hätte gern mehr Autoren, die

so gut schreiben können, wie Peter Matic spricht, mit dieser österreichischen Perfektion und mit diesem Hintergrund. Ich hätte gern Bücher, die sich durch eine österreichische Sprache von der deutschen unterscheiden. Wir haben sie nicht – schade. Gibt es zu wenig Österreich-Patriotismus? Matzka — Ich weiß nicht, ob es um Patriotismus geht – in der Sprache haben wir zu wenig Österreich-Patriotismus. Offensichtlich gelingen uns im Bereich der Musik mehr Höchstleistungen als in anderen Bereichen der Kunst. Bei der Malerei muss ich passen – bei der Sprache hatten wir es aber in greifbarer Nähe. Es gibt zeitgenössische Autoren, die mich beeindrucken, aber mehr aufgrund ihrer Gesamtsettings, nicht durch ihre Sprache. Da ist noch Luft nach oben – und ich würde das nicht aus patriotischen Gründen für gut halten, sondern weil es mich überzeugt, weil es schön ist und mich fasziniert. Leider gab es in der sozialdemokratischen Arbeiterkultur irgendwann einen Bruch. Es entstand etwa die Idee, das rote Volkstheater müsse das bessere Burgtheater oder die bessere Josefstadt sein. Besonders deutlich ist das in der Architektur. Wenn es jemand kann, sollte einmal ein Essay über die Wohnsituation sozialdemokratischer Politiker geschrieben werden: Wie schauen deren Häuser und die Einrichtung dieser Häuser aus? Warum schauen Häuser nach 1945 nicht so aus wie die von Adolf Loos komponierten würfelförmigen Einfamilienhäuser, sondern haben diese postfaschistischen Giebel? Im kulturellen Bereich suchte man Zuflucht bei bourgeoisen oder sogar feudalistischen Kulturformen. Ein schönes Beispiel ist das Kanzleramt mit seiner Neugestaltung nach dem Krieg durch Oswald Haerdtl. Matzka — Mit ihm wurde immerhin ein Architekt gefunden, der nicht belastet war. Den Preis dafür hat ein Journalist so charakterisiert: „Linzer Bahnhof mal Neobarock.“ Das Bundeskanzleramt schaut in der Tat so aus. Modern gemacht, aber man erkennt ein bisschen die Reichskanzlei, und dann gibt es im Kanzlertrakt aus den Fünfzigerjahren noch diese unsägliche Vielfalt an Bundesadlern, die dort herumfliegen. Ich glaube sogar, Haerdtl war das bewusst und machte sich darüber auch lustig. Im Marmorecksalon sitzen auf den großen Spiegeln zwei Adler in nicht sehr heraldischer Pose und tratschen miteinander. Im Dienstzimmer des Bundeskanzlers gibt es einen mit Bundesadlern gesäumten Spiegel, die am unteren Rand, gut Wienerisch gesprochen, „oaschhoch“ angeordnet sind; mit den Pürzeln nach oben. «

Bücher von Manfred Matzka Erschienen im Brandstätter Verlag Die Staatskanzlei. 300 Jahre Macht und Intrige am Ballhausplatz (2017) Die Vorgeschichte beginnt geologisch am Ottakringerbach, an dem ab 1717 der Architekt Lukas von Hildebrandt die Geheime Hofkanzlei errichtet. Von Wenzel Anton Graf von Kaunitz-Rietberg als Staatskanzler der Maria Theresia spannt sich der Bogen über Fürst Metternich bis zum Ultimatum an Serbien und zu Kaiser Karls Abdankung. Nach zweihundert Jahren Aristokratie kommt der Marxist Otto Bauer auf den Ballhausplatz. Es folgen Austrofaschismus, die Ermordung von Kanzler Dollfuss, Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg, Wiederaufbau und zuletzt die Kanzlerdemokratie. Ein Buch für gelernte Österreicher. Mein Istrien-Kochbuch (2019) Die Matzkas besitzen zwischen Kvarner-Bucht und Karst ein altes Steinhaus. Ehefrau Anica Matzka-Dojder verrät 70 istrische Lieblingsrezepte, Manfred Matzka steuert Geschichten über Kultur, Kulinarik und Landschaft bei. Hofräte, Einflüsterer, Spin-Doktoren. 300 Jahre graue Eminenzen am Ballhausplatz (2020) Am Anfang standen der hagere Sonnenfels oder der brillante Friedrich von Gentz als graue Eminenzen in direkter Nähe zu Österreichs Herrschern. Nach Kakaniens Untergang schrieb der Rechtsprofessor Hans Kelsen für die Republik jene Verfassung, die jüngst zu tagespolitischen Ehren ob ihrer „Schönheit“ kam. Die dreihundert Jahre umfassende Erzählung über Politikberater führt über gestresste Kreisky-Sekretäre herauf bis zu den Einsagern von Schüssel, Gusenbauer, Faymann, Kern und gegenwärtigen Spin-Doktoren. Mit umfassendem Wissen über Amt und Macht und untrüglichem Blick in die Tiefen der Zeit wird das Innenleben des Staates geschildert, wobei der Insider zu bedenken gibt: „Auch ich habe in meinem Bestreben, dort etwas beizutragen, wo die Entscheidungen ,wirklich‘ fallen, feststellen müssen: Immer dann, wenn ich geglaubt habe, an genau diesem mystischen Ort angelangt zu sein, war die Stelle, an der tatsächlich die Entscheidungen getroffen wurden, wieder woanders.“

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