ZOE 04/2011 - Schwerpunktthemen

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Gespräch | Schwerpunkt | Die (mögliche) Zukunft der Organisationsentwicklung | Bernhard Krusche, Dirk Baecker

jeweilige Medium der Funktionssysteme wird dies wohl nicht leisten können. Aber ist es nicht ein wenig leichtsinnig, hierbei nur auf Streit zu setzen? Dirk Baecker: Die Rückfrage ist berechtigt. Tatsächlich behaup­ te ich keine Ablösung oder gar Auflösung von Entscheidungs­ prämissen. Diese gibt es nach wie vor. Mit geht es darum, die Probleme schärfer zu beleuchten, deren Lösung sie sind. Pro­ gramme, Hierarchien und Personen schwimmen in einem Meer von kommunikativen Turbulenzen, in denen es ständig neue Gründe gibt, sich anders zu orientieren und deswegen laufend Entscheidungen getroffen werden müssen, sich nach wie vor an die bekannten Programme, Hierarchien und Personen zu halten oder sie auszuwechseln oder zumindest zu reformatie­ ren. Wir wissen aus der Kybernetik, dass Hierarchien nur in­ nerhalb von Heterarchien funktionieren können. Und wir wis­ sen aus der Literaturtheorie, dass Texte nur im Rahmen von Kontexten verständlich sind. Eine der Eigenschaften der Netz­ werkgesellschaft, die ich zu beschreiben versuche, besteht da­ rin, dass die Grenzen zwischen Hierarchien und Heterarchien, zwischen Texten und Kontexten flüssiger und durchlässiger ge­ worden sind. Eine vielfach gehörte Formulierung dieses Sach­ verhalts lautet, dass Organisationen die Unruhe ihrer Umwelt, die Launen ihrer Kunden, die technologischen Unsicherheiten ihrer Lieferanten, die Proteste der Umweltschützer und die War­ nungen ihrer Rechtsanwälte in die Organisation hineinholen, um sie dort rechtzeitig und vorzeitig zu bearbeiten, und nicht etwa wie früher draußen halten, um sich von ihnen überra­ schen zu lassen. Das ist es, was die Organisationstheorie zu beschreiben ver­­ sucht. Sie schaut darauf, aus welchen Impressionen und ange­ sichts welcher Unsicherheiten und im Medium welcher Risi­ ken die Organisationen ihre temporalen Formen gewinnen und wie sie die paradoxe Aufgabe bewältigen, diese Formen laufend zu erhalten, während sie sie ändern, ohne für den Erhalt oder die Änderung andere als selbst fabrizierte Evidenzen zu haben.

«Die Routinen der Routineunterbrechung sind funktionsfähig, und arbeiten sich ab an jeder Entscheidung, die im Kontext anderer Entscheidungen getroffen wird.» Bernhard Krusche: Welche Phänomene hast du denn im Blick, wenn du auf die Zuspitzung der Paradoxie einer Selbsterneue­ rung von Organisationen abzielst? Die bekannten Strategien einer Entparadoxierung – Dislozierung, Verzeitlichung, Kontext­ trennung – werden ja von Organisationen bereits heute konse­ quent genutzt. Heute hier, morgen dort; erst das eine, dann das andere – gehört dieses Springen zwischen lose gekoppelten

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Einheiten und Arbeitslogiken mittlerweile nicht zu dem Stand­ ardrepertoire eines modernen Managements? Natürlich ist man heute auf die Ausbeutung enger Nischen spezialisiert und beu­ tet gleichzeitig nicht minder leidenschaftlich die economies of scale aus. Natürlich zählt Qualität wie auch (gleichermaßen) der Preis, singt man das Hohelied der Hierarchie und setzt da­ bei ein Projekt nach dem anderen in die Welt. Dieses perma­ nente, sich wechselseitig ausschließender Präferenzen bringt Organisationen offensichtlich nicht aus dem Tritt. Und auch ihr Management hat gelernt, dies zu managen. Die Routinen der Routineunterbrechung sind funktionsfähig, und arbeiten sich ab an jeder Entscheidung, die im Kontext anderer Entscheidun­ gen getroffen wird. Dass sich diese Ausgangslage durch die Wech­selwirkung von Vernetzung und Beschleunigung verkom­ pliziert hat, ist bekannt. All dies liest man, mal mehr, mal weni­ ger kopfschüttelnd, in der aktuellen Wirtschafts­presse. Ist deine Idee, dass wir dies in 20 Jahren genauso lesen, nur ganz ohne Kopfschütteln? Und warum dann die Rede vom Computer? Dirk Baecker: In der Tat finden die wesentlichen Umstellun­ gen einer «Next Society» heute, direkt vor unser aller Augen statt. Und die Computer drohen und locken dabei mit Algo­ rithmen. Sie unterlaufen alle bisher gängigen Verfahren der Arbeitsteilung, Kooperation und Konkurrenz. Und sie setzen eine Wissenschaft unter Druck, die es jetzt nicht nur mit ei­ nem unendlichen neuen Datenmaterial, generiert aus emails, search requests und clickstreams, zu tun bekommt. Sie wird gleichzeitig auch mit rekursiven Rechenverfahren konfron­ tiert, die ausgerechnet dort, wo sich die Wissenschaft mit Blick auf eine vor-gödelsche Mathematik bisher immer verweigert hat offenbar mit größter Unbekümmertheit tummelt. In der aristotelischen Welt ist die Aussage a = a verboten, so oft sie auch in der sozialen Praxis vorkommen mag. In der Welt der Computer brauche ich nur einen Doppelpunkt vor das Gleich­ heitszeichen zu setzen, so dass ich a : = a bekomme, um eine interpretierbare Aussage zu bekommen, mit der gerechnet wer­ den kann. Die Aussage lautet dann: Gehe im nächsten Schritt davon aus, dass a nicht gleich a ist. Und schon frage ich mich, was es denn dann ist, beziehungsweise wer denn auf eine sol­ che Idee kommt oder auch wann das der Fall sein kann. Das wäre der einfachste Fall eines Algorithmus, der sachliche Vari­ anz, sozialen Streit und zeitliche Entwicklung berücksichtigt. Computer zeigen uns, in welche Richtung wir gehen können, um unsere mathematische Verfahren der Modellierung in der Wissenschaft weiterzuentwickeln. Und das ist das Mindeste, um zumindest noch mitzubekommen, wie wenig wir in Sa­ chen Datenkomplexität, Gedächtnis und Schnelligkeit (mit einem Wort: Konnektivität) mit ihnen mithalten können. Bernhard Krusche: Das ging mir jetzt etwas zu schnell. Die Com­ puter setzen nicht nur die Wissenschaft sondern offensichtlich

OrganisationsEntwicklung Nr. 4 |2011


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