Goethe & Schiller - ediert, ergründet, erzählt

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Die über 1.000 Briefe, die Goethe und Schiller miteinander wechselten, würden »nun zum ersten Mal historisch-kritisch, das heißt unter Berücksichtigung aller Eigenheiten der Texte historisch exakt editionskritisch vorgelegt«, und zwar »nach den Grundsätzen der modernen Editionsphilologie« (Bd. 2, S. 186 u. 194). Dies ist nach Ansicht von Oellers schon deshalb notwendig, da »alle im 20. Jahrhundert veröffentlichen Briefwechsel-Ausgaben […] unter editionswissenschaftlichen Gesichtspunkten kaum zu akzeptieren« seien, weil sie doch sämtlich in die Orthographie (und nicht selten in die Interpunktion) des Überlieferten ein[greifen], und zwar dergestalt, dass sie ›behutsam‹ oder nicht, eine ›Modernisierung‹ (und ›Normalisierung‹!) der Texte entsprechend den seit 1901 in Deutschland gebräuchlichen Rechtschreiberegeln durchgeführt haben. […] Konsequenterweise müssten die Texte nach jeder Orthographiereform ein eigenes Aussehen haben (Bd. 2, S. 193) Die Herausgeber der Reclam-Ausgabe haben sich demgegenüber dafür entschieden, die Briefe »im Prinzip diplomatisch genau« wiederzugeben, wie es in den Erläuterungen »Zur Textgestalt« am Ende des Textbandes heißt (Bd. 1, S. 1149). Das bedeutet: Die Texte sollen, in fast allen Fällen durch Inaugenscheinnahme der Originale oder entsprechender Faksimiles geprüft7, so abgedruckt werden, wie sie in den Handschriften erscheinen, mitsamt aller vorhandenen Schreibfehler oder auch einer – wie vor allem in Goethes Briefen häufig – sparsam bis gar nicht eingesetzten Interpunktion. Streichungen, Ergänzungen oder Korrekturen werden, soweit sie von den jeweiligen Verfassern der Briefe selbst vorgenommen wurden, als Schreibvarianten separat in Fußnoten notiert, die Herausgeber greifen ihrerseits nur in besonders begründeten Ausnahmefällen in die Textgestalt ein (vgl. dazu Bd. 1, S. 1149 f.). Bereits bekannte Texte bestmöglich in neuer – und das meint hier au contraire: in alter, originärer – Gestalt darzustellen, das ist, verkürzt gesagt, der vorrangige Anspruch der Edition. Bislang Unbekanntes sucht man darüber hinaus dementsprechend vergeblich: Der Textbestand der Reclam-Ausgabe entspricht im Wesentlichen dem des erstmals 1990 erschienenen Briefwechselbandes der Münchner Ausgabe der Sämtlichen Werke Goethes, bietet gegenüber dieser also keine grundsätzlich neuen Textfunde.8 Im Kommentarband der Stuttgarter Neuedition werden zwar in größerem Umfang als in der Münchener Ausgabe auch Konzeptfassungen einzelner Briefe abgedruckt,9 allerdings bleibt undurchsichtig, nach welchen Kriterien Oellers und Kurscheidt diese ausgewählt haben: Die diktierte Vorabfassung von Goethes erstem Brief an Schiller etwa fehlt, obschon die zahlreichen Korrekturen, die Goethe bei der folgenden eigenhändigen Reinschrift vornahm, »zum Theil von hoher literarischer Bedeutung« seien, wie Bernhard Suphan und Eduard von der Hellen bereits 1892 in ihrer Edition von Goethes Briefen meinten.10 Überhaupt ist unklar, warum ein Abdruck der Briefentwürfe nur ausnahmsweise, nicht aber generell erfolgt, wie man es bei einer historisch-kritischen Ausgabe eigentlich hätte erwarten können. Mindestens ebenso schade ist es, dass die Herausgeber darauf verzichtet haben, wenigstens einzelne der in der Ausgabe edierten Handschriften auch im Faksimile abzubilden – dem Kommentarband der Münchner Ausgabe KRITISCHE AUSGABE NR. 21

waren zumindest drei Reproduktionen der Dichterhandschriften beigegeben.11 Was man von einem Kommentarband einer historisch-kritischen Ausgabe aber in jedem Fall hätte erwarten dürfen, ist das, was der Band seiner Bezeichnung nach eigentlich zu beinhalten verspricht: einen Kommentar, der die im Textband enthaltenen Texte auch inhaltlich zu erschließen hilft. Die Reclam-Ausgabe illustriert hingegen leider, was Norbert Oellers auf einem Kolloquium anlässlich der Neuedition des Briefwechsels in anderem Kontext betonte: »Dass die Texte Schillers und Goethes nun endlich nach Prinzipien historisch-kritischer Edition vorliegen, ist wichtiger als die Hilfe, die der Herausgeber zum Verständnis dieser Texte anbietet« (S. 34 des ZfdPh-Beihefts zum Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe). Zwar enthält der Kommentarband neben »sparsamen Angaben« zur »Überlieferung und Datierung« der edierten Briefe (Bd. 2, S. 7–181; Zitat: S. 7), einem die Korrespondenz leicht erschließenden fünfteiligen Register (Bd. 2, S. 509–617) und der bereits erwähnten neunseitigen Einführung in die Geschichte des Briefwechsels (Bd. 2, S. 186–194) weitere 318 mit diversen Daten gefüllte Seiten. In der allzu listenhaft anmutenden Darbietung können die dort mannigfach enthaltenen Informationen indes nicht überzeugen. Vielleicht, mutmaßte unlängst der Oxforder Germanist Terence James Reed in seiner Rezension der Oellers’schen BriefwechselEdition, habe »man […] sich eben gescheut, ausgetretene Pfade zu beschreiten« und wollte das Material bewusst nicht so aufbereiten, wie es beispielsweise im Kommentarband der Münchner Ausgabe getan wurde.12 Dann jedoch hätte sich Oellers mit seinem Abriss zur Geschichte des Briefwechsels nicht an seinen Artikel zur Goethe-Schiller-Korrespondenz im Goethe-Handbuch anlehnen dürfen,13 was er explizit tut (vgl. Bd. 2, S. 186, Anm. 1) – obgleich es sogar absolut gerechtfertigt gewesen wäre, diesen überaus informativen Artikel im Kommentarband nochmals in voller Länge zu publizieren. Träfe Reeds Vermutung zu, hätte zudem auch auf die offenkundig der Nationalausgabe entlehnte Übersicht über »Münzen um 1800 und ihr[en] Wert im Verhältnis zueinander« (Bd. 2, S. 182) verzichtet werden müssen.14 Verzichten können hätte man wiederum, ohne allzu großen Informationsverlust für das Verständnis der Dichterkorrespondenz, auf die von Georg Kurscheidt sicherlich nicht ohne Mühe zusammengestellten Verzeichnisse zu den »von Schiller und Goethe herausgegebenen Periodica [!]« (Bd. 2, S. 211–305). Seine »Erläuterungen indirekter Erwähnungen von Personen und deren Werken« (Bd. 2, S. 359– 508) hingegen eignen sich in ihrer Anlage als eine gute Basis für einen benutzerfreundlicheren Kommentar. Würde man sie mit den Angaben zu »Überlieferung und Datierung« kombinieren und die listenartigen Verzeichnisse von »Fremdwörtern« (Bd. 2, S. 195–206) und »fremdsprachiger Zitate, Wendungen und Begriffe« (Bd. 2, S. 207–210) sowie die tabellarischen »Daten zum besseren Verständnis« des Briefwechsels (Bd. 2, S. 306–358) entsprechend einarbeiten, käme schon ein brauchbarer Stellenkommentar heraus, der formal den »Anmerkungen« der Nationalausgabe ähnelte. Für eine der Edition grundsätzlich zu wünschende weitere Auflage sollte in diesen Punkten nachgebessert werden. Bis dahin ist es vor allem der erste Band des Briefwechsels, der den »wichtigste[n] Kommentar zur Weimarer Klassik«,15 die Korrespondenz zwischen Goethe und Schiller, für neue Forschungen in einer handlichen, vergleichsweise preisgünstigen und noch dazu hübsch gestalteten Ausgabe zugänglich macht. 73


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