es-presso Stadtmagazin 06 2010

Page 62

62

outro

ES-PRESSO juni 10 Doppelpass

“Man muss erst von null anfangen, um den Himmel berühren zu können“ Na, wenn das nicht Mut macht - schließlich befindet sich der Kontinent wirklich nicht weit vom Nullpunkt weg

Jetzt herrscht Jubel, Trubel, Heiterkeit: Die Fußball-WM 2010 wird bunt wie nie, in satten Farben präsentiert sich Südafrika als Land der reinen Lebensfreude. Die WM-Hymne singt Shakira, die Textzeilen wie „Man muss erst von null anfangen, um den Himmel berühren zu können“ beinhaltet. Na, wenn das nicht Mut macht – schließlich befindet sich der Kontinent wirklich nicht weit vom Nullpunkt weg. „Waka Waka“ heißt das Stück, ist mit Klischee-Bongos unterlegt, handelt von fallenden Mauern und wackerem Kämpfen und zeichnet beim Anhören Bilder wie aus „König der Löwen“ vors geistige Auge. Da schmerzt das Herz des Mitteleuropäers vor Fernweh, wenn man um sich herum nur drohende Gebirgsketten und dunkle Wälder hat. Das muss es aber nun wirklich nicht. Denn dieses Südafrika ist ein Land, das in Wahrheit ganz anders ist. Auch wenn es auf dem schwarzen Kontinent noch ganz andere Flecken gibt, ist der Südzipfel Afrikas ein Ort, an dem es nicht mehr mit der Menschlichkeit zugeht. Es sei denn, man hält es für normal, dass es für eine Frau dort durchschnittlich wahrscheinlicher ist, vergewaltigt zu werden, als lesen zu lernen. Oder man hält es für richtig, lesbische Frauen beim sogenannten „Corrective Rape“ sexuell umzuorientieren. Oder man bewegt sich in Kreisen, in denen jeder vierte Mann, wie es Statistiken in südafrikanischen Provinzen belegen, schon mal eine Frau vergewaltigt hat. Oder, dass jeder Zwanzigste im Lauf seines Lebens umgebracht wird – und so könnten wir gerade aus den Regierungsakten weiterzitieren. Mit dem Ende der Apartheit und der Diktatur ist sicher etwas gewonnen, aber dennoch: Warum sollte in so einem Land die Fußball-WM ausgetragen werden? Wegen den umzäunten Reichen-Burgen, die Spieler und Touristen vor Übergriffen schützen? Oder weil die Menschen dort nichts dringender als Event-Infrastruktur und Sportstadien für 60 Milliarden Dollar brauchen? Man kann für die künftige Entwicklung des Landes nur Positives hoffen, doch dass ein Mega-Event dort das Heil bringt, ist unwahrscheinlich. Dennoch: Sich hiervon die Freude am Verfolgen des sportlichen Wettkampfes nehmen zu lassen, kann auch nicht die Lösung sein. Doch stumpf und sorglos „Waka Waka“ mitsingen – ich jedenfalls werde mich davor hüten. (sm)

es-presso_juni_ALLE.indd 62

25.05.2010 17:14:20


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.