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Fachthemen Herbert Moldenhauer
DOI: 10.1002/stab.201201473
Die Visualisierung des Kraftflusses in Stahlbaukonstruktionen Kraftflüsse sind in vielen Lehrbüchern des Stahl- und Maschinenbaus zur Veranschaulichung der Bauteilbeanspruchung dargestellt. Obwohl der Kraftflussbegriff umstritten und nicht näher definiert ist, assoziiert der Leser damit meist eine Analogie zu Stromlinienbildern aus der Hydromechanik. Vergleicht man die differentielle Kontinuitätsgleichung der Hydromechanik mit den differentiellen Gleichgewichtsbedingungen der Statik, so gibt es jedoch eine termweise Übereinstimmung. Der Geschwindigkeitsvektor entspricht einem Kraftflussvektor. Die integrierten Kraftflussvektoren liefern die Kraftflusslinien. Diese verlaufen zwischen dem Ort der Krafteinleitung und dem Ort des reaktiven Lagers. Lastfreie Ränder werden von den Kraftlinien nur tangiert. Der Aufwand für die Visualisierung der Kraftflusslinien ist gering. Zwischen den Kraftflussvektoren und den Spannungskomponenten aus FEM-Programmen bestehen einfache Beziehungen. Die Integration der vektoriellen Richtungsfelder kann mit grafischer Standardsoftware zu Kraftflusslinien durchgeführt werden. Der Einsatz einer Spezialsoftware ist an keiner Stelle erforderlich. An zahlreichen Beispielen wird die quantitative Erfassung des Kraftflusses demonstriert und ihr Nutzen insbesondere für den Stahlbau aufgezeigt. Load path visualization for steel constructions. Load path sketches illustrate the load distribution in structural components and can be found in many engineering textbooks. Although there is no stringent definition for a load path, the reader associates an analogy to streamlines from hydromechanics. The law of conservation of mass and the static equations of equilibrium show a term-wise agreement. Thus, the fluid flow velocity vector corresponds to a load path vector. By integrating these directional fields, one obtains the streamlines and load path lines. A load path starts at the point of an applied load and ends at a supporting point reacting the applied load. Free boundaries are touched but not crossed by the load path. There is little effort to visualize the load path. Due to simple relations between load path vectors and stress components from FEM-programs, integration of the directional vector fields is possible with standard graphical software, thus resulting in load path lines. No special software is ever needed. Numerous examples will show the practical application of the load path concept and the special use for steel constructions.
1 Einführendes Beispiel Dem Statiker ist das Stromlinienbild eines umströmten Zylinders geläufig. Deshalb soll die dazu passende statische Aufgabenstellung, nämlich die Scheibe mit kreisrundem Loch unter uniaxialem Zug, vergleichsweise betrachtet werden. Bild 1a zeigt den Ausschnitt einer unendlich großen Scheibe mit Loch, wobei bezüglich x = 0 eine Spiegelsymmetrie vorhanden ist. Die angelegte Horizontalspannung weitab vom Loch beträgt 1 MPa in x-Richtung, die gezeigten Normalspannun-
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gen σxx erfahren eine Spannungsüberhöhung um das 3-fache, die auch von der theoretischen Seite bekannt ist. Den Spannungskonturen ist der Kraftfluss überlagert, der sich aus der Verbindung von Kraftflussvektoren ergibt. In Abschnitt 2 wird gezeigt, dass der x-Kraftflussvektor fx in 2D-Strukturen durch fx = [σxx τxy ]
tan α = τxy/σxx
(1)
gegeben ist. Das Detail in Bild 1b zeigt zusätzlich die Kraftflussvektoren der Gl. (1). Man erkennt dort, dass die
Kraftflussvektoren die Kraftflusslinien tangieren. Dies entspricht den Geschwindigkeitsvektoren bei einem umströmten Zylinder, die tangential zu den Stromlinien orientiert sind. Die beiden Problemstellungen haben dennoch nichts gemein. Die maximale Spannungsüberhöhung ist im statischen Fall das 3-fache der angelegten Spannung. Die maximale Geschwindigkeitsüberhöhung eines umströmten Zylinders beträgt das 2-fache der Anströmgeschwindigkeit, sofern die Strömung potentialtheoretisch untersucht wird. Bei einer solchen Strömung tritt auch keine Rückströmung auf, wie dies in Bild 1 erkennbar ist. (Die Rückströmungen sind durch lokale Druckspannungen in x-Richtung bedingt. Das Spannungsfeld der unendlichen Lochplatte in Bild 1 ist hier durch eine FEM-Analyse generiert, sie liegt aber auch theoretisch exakt vor, z. B. in [1]). Die Integration der Kraftflussvektoren kann mit StandardGrafiksoftware durchgeführt werden (streamtracing-Verfahren). Welchen Zusatznutzen bringt nun die Visualisierung des Kraftflusses? Man muss sich zunächst noch einmal die physikalische Aussage bezüglich der Kontinuität der x-Komponente des Kraftvektors vergegenwärtigen. Zwischen zwei Kraftflusslinien im Bild 1 ist fx konstant. Diese Kraftkomponente in x-Richtung resultiert aus den Spannungskomponenten σxx und τyx, die jedoch zunächst nicht direkt vektoriell addiert werden können, da sie auf verschiedenen Flächen wirken (s. Bild 2). Erst über das Gesetz der zugeordneten Schubspannungen τyx = τxy kann τxy auf dem Flächenelement A mit σxx vektoriell addiert werden. Die Umlenkung des x-Kraftflusses am Loch ist also ausschließlich durch
© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 81 (2012), Heft 1