Erik

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Eve Pormeister (Tartu) Eve Pormeister

Das estnische Epos „Kalevipoeg“ in der Spannung zwischen Nationalepos und Menschheitsepos. Eine Interpretation der Höllenfahrtszenen Das estnische Epos „Kalevipoeg“ in der Spannung zwischen Nationalepos

Keine Ilias hat Dr. Kreutzwald geschaffen, wohl aber der estnischen Literatur ein Kapitalwerk geschenkt, das für alle Zeiten sein wird, was den Griechen ihre Ilias war. Es ist ein volkstümliches Werk voll des köstlichen Reichtums der estnischen Lebensweisheit und voll sinniger Betrachtung der ganzen estnischen Welt. (Franz Anton Schiefner und Ferdinand Johann Wiedemann)1

Narrative Texte, die auf die Nationsbildung sowie auf die Entwicklung und die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses eines „Volkes“ bzw. einer „Nation“ gerichtet sind, werden meist ‒ bedingt durch die historischen Umstände und / oder die Rezeptionsgeschichte ‒ auf das Nationale hin untersucht und rezipiert. Die Gattungsbezeichnung eines Nationalepos hat zudem durch das Bestimmungswort „national“ auf seine konstitutive Funktion im nationalen Bildungsprozess hinzuweisen, selbst auf die Gefahr hin, nationalistisch konnotiert und missbraucht zu werden. Von diesem Wissen ausgehend sollte ursprünglich auch das estnische Nationalepos „Kalevipoeg“ mit einer Einführung in die Textgenese und mit einer Interpretation der Höllenfahrtszenen einfach allgemein vorgestellt werden. Doch bei der Auseinandersetzung mit anderen Lesarten bzw. Rezeptionsmöglichkeiten entwickelte sich im Laufe des Schreibens zunächst unbewusst, dann immer bewusster und mit stetig wachsender Begeisterung für dieses Epos eine neue Sicht auf dessen Aussage. Schließlich ging aus dem ursprünglichen Vorhaben etwas Unerwartetes hervor; der Schwerpunkt des Aufsatzes verlagerte sich unwillkürlich vom Nationalen zum Universellen, zur überzeitlichen Gültigkeit. Dieser nicht ausformulierten These, die letztendlich unweigerlich einige Ergänzungen und Veränderungen nach sich zog, soll Zit. n. Kross 2004: 7. Jaan Kross zitiert J. F. Wiedemann und U. Schiefner. Er meint hier wohl Ferdinand Johann Wiedemann und Franz Anton Schiefner.

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