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SILKE PASEWALCK

ändert also zwei spezifische Charakteristika der Literarizität des Textes: Erstens verändert sich das Verhältnis zwischen Fiktionalität und Faktizität und zweitens reduziert diese Rezeption seine Polysemantik und Widersprüchlichkeit. Schließlich führe ich als letzten Schritt mit Max Frischs „Wilhelm Tell für die Schule“ aus dem Jahr 1970 ein Beispiel für die Reliterarisierung des Tellstoffes an. Zwei Grundzüge sind gleichermaßen für diese Tendenz verantwortlich: die Demontage des nationalen Mythos und eine Öffnung des Deutungshorizontes, eine Zurücknahme der Bedeutungsreduktion. Reliterarisiert wird dabei nicht Schillers Text, denn als Text bleibt dieser stets das, was er ist; reliterarisiert wird vielmehr der Tellstoff. Der Stoff wird zu einem weiteren literarischen Text, allerdings zu einem, der sich zum Nationalepos oder für einen nationalen Mythos als gänzlich ungeeignet erweist.

Inwiefern Schillers „Wilhelm Tell“ einer Rezeption als Nationalepos entgegensteht Schon der Gattung und den Produktionsbedingungen nach ist Schillers Geschichtsdrama „Wilhelm Tell“ nicht recht als Nationalepos geeignet: Weder haben wir es im strengen Sinne mit einem epischen Text zu tun noch kann Schiller unterstellt werden, dass er den Schweizern ein Nationalstück schreiben wollte. Schiller ist weder Schweizerischer Herkunft noch hat er länger in der Schweiz gelebt oder andere persönliche Bindungen an das Land. Mehr noch: Schiller hat das „Land des Tell“ nur medial erfahren, es nicht einmal während seiner Arbeit am „Tell“ besucht.7 Die bei zahlreichen Nationalepen zu bemerkende Anonymisierungstendenz, wonach der Autor rhetorisch hinter seinem Text zurücktritt oder nurmehr als Sammler und Redaktor firmiert, trifft auf Schillers „Wilhelm Tell“ ebenfalls nicht zu. Das gilt sowohl für die Entstehungsbedingungen als auch für die Wirkungsgeschichte. Denn neben dem Stück ehrt die Schweiz zugleich dessen Autor, den sie in den Rang ihres Nationaldichters erhoben und dem sie mit dem eingangs

Schiller hat sich während seiner Arbeit am „Wilhelm Tell“ die Schweiz in Form von Bildern, Karten und Berichten in sein Arbeitszimmer geholt. Darauf geht ausführlich Barbara Piatti ein (vgl. Piatti 2004: 73–128, Piatti 2008: 156f.).

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