EMERGING ARTISTS 2013
VORWORT Jivan Frenster Paul Gregor Jorel Heid Alexandra Griess Isabell Kamp Nikola Gordes Stella Rossié we are visual Holger Wilkens
03
Belinda Grace Gardner
Wunder des Alltags Jivan Frensters Poesie des Banalen 04 — 11
Jasmin Shamsi
„There are things that can´t be grasped nor can they be defined or limited“ 12 — 19
Kati Werkmeister Der belebte Raum
20 — 27
Justus Duhnkrack Geht unter die Haut
28 — 35
Merle Radtke
Suppbar / Suppar / Supbar
36 — 43
Cora Waschke Freies Spiel
44 — 51
Felicitas Rhan
Die Wahrheit hinter der Fotografie
52 — 59
EMERGING ARTISTS 2013 HAMBURG MESSE
VOR WORT Jeder kennt sie, die eisernen, in gleichmäßigem Abstand auf Treppenstufen, Geländern oder Sockeln angebrachten Noppen an öffentlichen Plätzen. Sie sollen verhindern, dass Skateboardfahrer mit ihren Brettern über Kanten s‚ liden und sich den gegebenen Raum zu Nutze machen. Ein kleiner, aber effektvoller Eingriff, der das Leben und die Atmosphäre eines Ortes maßgeblich mitbestimmt und prägt. Das Künstlerkollektiv We Are Visual, das zusammen mit acht weiteren Hamburger Künstlern auf der Emerging Artists Exhibition 2013 vertreten ist, nimmt solcherlei Interventionen im öffentlichen Raum gezielt in den Fokus und setzt ihnen eigene Ideen und Vorstellungen von Stadtgestaltung entgegen: Eiserne Noppen werden durch applizierte Beschläge wieder befahrbar gemacht, von der Stadt verschalte Abluftschächte werden wieder freigelegt und mit Betten für Obdachlose versehen. Auch wenn den jeweilig vorgenommenen Inventionen meist kein langes Leben vergönnt ist, machen sie auf die Konsequenzen solcher Eingriffe aufmerksam und zeugen von dem Anspruch, den eigenen Lebensraum mit wachem Auge wahrzunehmen, zu überdenken und aktiv mitzugestalten. Auch Holger Wilkens fordert den Betrachter dazu auf seinen Arbeiten mit kritischem Blick gegenüberzutreten und genauer hinzusehen. Für seine Serie Stars besuchte Wilkens die Archive der Tautenburger Sternwarte, um dort Fotoplatten einzusehen, die Sternennebel unseres Sonnensystems zeigen. Im Fotolabor veränderte Wilkens die Negative der wissenschaftlichen Aufnahmen „durch Abwedeln und Nachbelichten“ so, dass weitere, „eigene galaktische Nebel“ (Zitat Felicitas Rhan siehe S. 53) entstehen.
Autorin
JUDITH WALDMANN
Diese manuell modifizierten, astrologischen Aufnahmen stellt Wilkens in direkten Bezug zu seiner Serie Exoplanets; eine Reihung von vermeintlichen Planeten, die jedoch nicht aus Staub und Gas bestehen, sondern einzig in der Dunkelkammer zum Leben erweckt wurden. Wilkens fotografische Trompe-l‘œils fangen nicht nur die einzigartige Schönheit der Sterne ein, sondern stellen auf ästhetische Art und Weise den Wahrheitsanspruch von Fotografie auf den Prüfstand. In Paul Gregors Werk wird dem Sternenhimmel eine ganz andere Bedeutung zuteil. Trotz ähnlichem Motiv wirkt die Fotografie aus Gregors Serie Children of our times im Vergleich zu den Stars von Holger Wilkens geheimnisvoller und poetischer. Die Unschärfe der Aufnahme legt den Betrachter nicht auf eine Idee fest, sondern animiert ihn zu verschiedenen Assoziationen. Sieht man Sterne, eine vom Mond angeleuchtete Wolke oder aufgewirbelten Staub, der das Blitzlicht der Kamera spiegelt? Gregors fast ausschließlich analog aufgenommen Fotografien entziehen sich durch technische Kunstgriffe wie Doppel- und Überbelichtung bewusst der eindeutigen Bestimmbarkeit und bieten Raum für traumhafte, stimmungsvolle Ausflüge in die subjektive Welt der eigenen Gedanken. Jivan Frenster, dessen vielfältiges Werk von Malerei bis zur Installation, von Perfomance bis zum Video reicht, versteht es mit teilweise nur kleinen Eingriffen Vertrautes zu verfremden und in einen neuen, unerwarteten Kontext zu stellen. Bei seiner Arbeit Rosette beispielsweise, die er 2013 in der Galerie Genscher umsetzte, lackierte Frenster den kreisrunden Stuck der Decke mit glänzender Farbe. Der gesunde rosarote
Farbton evoziert in Verbindung mit der plastisch organischen Form der Stuckrosette unweigerlich Assoziationen zum menschlichen Körper. Durch einfache Mittel wird dem sterilen Gips Leben eingehaucht: Fast schon aufdringlich präsentiert sich die neugewonnene, üppig-ornamentale Fleischlichkeit dem Betrachter und fesselt Blick und Gedanken. Das Künstlerduo Jorel Heid und Alexandra Griess schafft hautsächlich raumgreifende, multimediale Installationen, die auf die jeweilige Umgebung reagieren oder selbige unmittelbar miteinbeziehen. In der audiovisuellen Arbeit Glauben Wissen von 2013 übersetzt das Kollektiv beispielsweise die dynamischen Bewegungen einer Tänzerin in eine Lichtpartitur. 32 dimmbare Neonröhren, die in unterschiedlicher Höhe senkrecht von der Decke hängen, wurden so programmiert, dass sie den Ablauf der Tanzchoreografie aufnehmen und die Emotionen der ausgeführten Gesten und Bewegungen durch hell aufscheinendes und sich wieder verdunkelndes Licht visualisieren. Während sich Jorel Heid und Alexandra Griess ausschließlich abstrakter Mittel bedienen, um die Sinne anzusprechen und Emotionen erfahrbar zu machen, greift Isabell Kamp hierfür wiederum auf eine figurative Darstellung zurück. Every time I reach for you I grab space instead lautet der Titel der Installation, die 2013 zum ersten Mal in den modrigen, nur schwach beleuchteten Kellerräumen der Galerie Feinkunst Krüger ausgestellt wurde. Sie zeigt fünf vollplastische Hände aus glasierter Keramik, die als Mobile arrangiert von der Decke hängen; sich umkreisend, nach einander ausstreckend, wieder voneinander entfernend, aber
jedoch niemals berührend. Die stetig bewegten Körperfragmente führen ein außergewöhnliches Stück auf, das von menschlichem Verlangen, tastendem Suchen aber auch von Ablehnung und Enttäuschung erzählt. Zwischenmenschliche Kommunikation und deren Konsequenzen spielen auch in dem Kurzfilm Suppar von Stella Rossié und Nicola Gördes eine maßgebliche Rolle. Hier wird vom Alltag der Belegschaft einer einfachen Bar berichtet. Jeder der Angestellten hat seine Routinen, die dem Einzelnen Sicherheit und Stabilität geben. Doch wie es das Leben so zuspielt, werden die Gewohntheiten durch eine Reihung an Vorkommnissen gestört und bringen das fragile Gefüge der Gemeinschaft aus dem Gleichgewicht. Die Protagonisten sind nicht in der Lage zu kommunizieren: Stück für Stück geht die Bar langsam aber sicher ihrem Ende entgegen. Was zu guter Letzt bleibt ist ein Berg an Suppentassen und das Spiel eines Straßenmusikanten auf dem Parkplatz vor der Bar; doch auch er hört irgendwann auf zu musizieren und verlässt schlussendlich als Letzter die Szene. Mein besonderer Dank gilt Nikolaus W. Schües und Jörn Wiemann, die mit Ihrer großzügigen finanziellen Unterstützung die Ausstellung, sowie den begleitenden Katalog ermöglicht haben. Danken möchte ich auch den teilnehmenden Künstlern und Autoren dieses Bandes, sowie unserem Artdirektor Christoph Bruns und dem Messedirektor Oliver Lähndorf. Judith Waldmann Kuratorin 03
Autorin
Jivan Frenster
Belinda Grace Gardner
Wunder des Alltags Jivan Frensters Poesie des Banalen
Ein rosafarbenes Kissen und ein türkisgrüner Pullover sind in zärtlicher Umarmung vereint: nicht nur farblich ein komplementäres Paar. Auch von der Anmutung her teilt die eigentlich abwegige textile Vereinigung die Innigkeit von Liebenden mit, wobei diese spezifische Verbindung ihre besondere Energie aus der hohen Poesie der Absurdität ebenso bezieht wie aus der Aufladung des zunächst Belanglosen mit vielschichtiger Bedeutung. In einem anderen Fall wird ein Madonnenbildnis im künstlerischen Selbstporträt mittels Froteehandtuch, Op-Art-Muster-Schlips und anderen Stoffen des Alltags nachgestellt. Oder aber ein Spannbettlaken wird auf Keilrahmengrund zu einer monochromen Komposition der anderen Art umdefiniert, die sich aus dem ästhetischen Off auf die Tradition der abstrakten Malerei bezieht und letztere zugleich über diverse Inversionen und Subversionen in die Jetztzeit katapultiert. Aus dem Fundus der „Low Culture“ schöpfend, befasst sich der Hamburger Künstler Jivan Frenster, geboren 1986 in Santa Fé, New Mexico, USA, mit dem Körper und dessen Repräsentationen in der (Kunst-)Geschichte und in unserer Medienkultur heute. Bewusst setzt er dazu einfachste Mittel ein und integriert Fundstücke aus dem öffentlichen Raum, aus dem Baumarkt oder aus dem eigenen häuslichen Umfeld, um die großen Themen des menschlichen Daseins mit spielerischer Präzision zur Anschauung zu bringen.
Als multimedial arbeitender Künstler, dessen Interessenspektrum einen weiten Bogen von der Naturschönheit bis zum Kitschobjekt und von ästhetischen Erforschungen im Terrain der Hochkultur bis zur Untersuchung des Trivialen in unserer Alltagsrealität spannt, nimmt der Künstler meist nur sparsame Setzungen und subtile Verschiebungen vor, um die von ihm gewünschte inhaltliche und formale Dynamik des jeweiligen Gegenstands oder der Komposition freizusetzen. Durch seine spezifische Auswahl künstlerischer Mittel und Materialien und den damit jeweils verknüpften Bildsprachen durchbricht er Hierarchien
04
o.T.
—— 2012
Digitalprint / 52 x 37 cm
und überwindet die Grenzen zwischen „high“ und „low“: Beiläufiges wird dabei zu Erhabenem erhöht und das traditionell Bedeutende hinterfragt, wenn nicht gar vom Sockel gehoben. Im Sinne eines Zitats des belgischen Surrealisten René Magritte, wiedergegeben in der berühmten Abhandlung zur „Ästhetik des Verschwindens“ des französischen Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio von 1980 (deutsche Fassung: Berlin 1986), eröffnet Jivan Frensters transformierender Blick auf die uns umgebende Welt „etwas anderes, Nicht-vertrautes (...), das uns zugleich
mit den vertrauten Dingen erscheint.“ Indem wir, wie Virilio Magrittes surreale Strategie beschrieben hat und Frenster es auf die ihm eigene Weise praktiziert, „auf das Banale achten, auf das Gewöhnliche, auf das Infra-Gewöhnliche“, erscheint uns die vom Künstler ins Bild gesetzte Umarmung von Kissen und Pullover als zwischen Komik und Ernst oszillierende Manifestation des großen Gefühls und dessen kunsthistorisch ausgeformten Gesten: im popkulturell durchwirkten Gewand einer hochaktuellen, dezidiert barrierefreien Ästhetik. 05
Digitalprint / 90 x 160 cm
o.T.
—— 2012
06
—— 2012 o.T.
Stuhl, Pullover & Acryllack / 43 x 43 x 95 cm
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Spannbettlacken auf Keilrahmen / 100 x 100 cm
o.T.
—— 2012
08
—— 2012 o.T.
Kissen & Longsleeve / 50 x 30 x 30 cm
09
o.T.
—— 2013
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Installation / Stuckrosette, Acrylfarbe & Kopfspiegellampe / ø 80 cm
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Paul Gregor
Autorin
Jasmin Shamsi
„There are things that can´t be grasped nor can they be defined or limited“
Nebel, Rauch, Staub, Licht, Leichtigkeit, Freiheit. Mit Paul Gregors Fotografien verbindet man Momente im Leben, die losgelöst sind von der Realität, die gefärbt sind von persönlichen Eindrücken und Erinnerungen, von einer Atmosphäre, die alle Sinne anspricht. Paul Gregor fotografiert Menschen und doch handelt es sich bei seinen Aufnahmen selten um klassische Portraits. Pflanzen, Haarsträhnen oder dunkle Schatten verdecken die Gesichter, Köpfe und Körper sind dem Betrachter abgewandt oder die Augenlider gesenkt. Wiederum andere Portraitserien erlauben dem Betrachter in einen direkten Blickdialog mit dem bildlichen Gegenüber zu treten. Jene Aufnahmen zeigen Paul Gregors Auseinandersetzung mit spezifischen Persönlichkeiten, denen er sich im fotografischen Zwiegespräch nähert und Aspekte ihrer Lebensgeschichte in den Gestaltungsprozess einfließen lässt.
Eine unaufgeregte, intime Stimmung kennzeichnet sein fotografisches Schaffen. Die Bildausschnitte sind eng gewählt, um das Wesentliche herauszustellen. Seine Protagonisten wirken oftmals unbeobachtet und strahlen die Vertrautheit von Menschen aus, die uns nahe stehen. Als stille Beobachter lässt uns Paul Gregor an einem Moment teilhaben, der zeitlos und allgemeingültig ist. Durch Doppel- und Überbelichtung schafft er traumartige Sequenzen, in denen sich feingliedrige Silhouetten vor einem hellen Frühlingshimmel abheben, aus dichten Wolkendecken aufscheinen oder leichten Schrittes über Baumkronen wandeln. Organische, weiche Formen überschneiden sich mit klaren Linien und Kanten. Lichtsäume umspielen die Konturen der Körper, Gesichter und Haaransätze seiner „Queens“ und „Kings“ und hüllen sie in eine besondere Aura. Auch Spiegelungen sind ein wiederkehrendes Motiv und für einen Moment scheint die Logik der Schwerkraft hier aufgehoben: Wo ist der Anfang und wo das Ende? „In this world we live in, everything demands an explanation. But there are things that can’t be grasped nor can they be defined or limited” — Gregors Kommentar bezieht sich auf die Bildserie “Children of our times”, in der sich ein Junge geisterhaft und in diffuses Licht getaucht zwischen Farnen und dichtem Nebel bewegt. Die surrealistisch anmutenden, trüben Szenen werden durch das Bild einer mit Spektralfarben überblendeten Micky-Maus-Figur kontrastiert. Doch ist der farbenfrohe Kindertraum nur von kurzer Dauer – den Gesamteindruck der Serie prägen dunkelgrün-blaue Farben, die das Ungewisse vergegenwärtigen. 12
eislaufer
—— 2012
Analoge Doppelbelichtung / 40 x 40 cm
Verborgenes und Rätselhaftes ziehen sich als Wesensmerkmale durch das Werk des in Hamburg lebenden Künstlers mit spanischer Herkunft. Mensch und Natur sind in Paul Gregors Fotografien miteinander verwoben und befinden sich im stetigen Austausch. Auch integriert der Künstler häufig Bezüge zu seiner Kindheit, seiner Herkunft oder einer bestimmten Zeit in den Gestaltungsprozess. Hierbei dienen ihm sowohl Familienfotografien als auch Vorlagen aus alten Zeitschriften und Büchern. Eine solche Collage von Erinnerungsbildern zeigt sich beispielsweise im „Eisläufer“. Mit seiner konzentrierten, leicht nach vorne gebeugten Körperhaltung
scheint der Kunstläufer dem runden Bildausschnitt vollkommen eingepasst zu sein. Eine nahezu runde, kristalline Form ist seinem Körper überlagert, wodurch die Harmonie der Bildkomposition betont wird. Die Arbeit hebt sich neben einer Reihe ähnlich gestalteter Aufnahmen insofern aus dem übrige Schaffen ab, als sie eine verstärkt grafische Gestaltung erkennen lässt. Bis auf wenige Ausnahmen erstellt Paul Gregor seine Fotografien analog und verzichtet ebenso auf digitale Nachbearbeitungen. Nicht nur bewahrt er damit die Ursprünglichkeit seiner Motive, sondern auch die Nähe zu seiner stark von der Intuition gelenkten Herangehensweise. 13
Aus der Serie „Children of our times“ / Analoge Doppelbelichtung / 79 x 100 cm
o.T.
—— 2012
14
Feuerwerk —— 2013
Analoge Doppelbelichtung / 40 x 60 cm
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Fotografie / 79 x 100 cm
o.T.
—— 2012
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—— 2013 o.T.
Aus der Serie „Children of our times“ / Analoge Doppelbelichtung / 70 x 100 cm
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Aus der serie „A new day“ / Analoge Doppelbelichtung / 40 x 60 cm
o.T.
—— 2013
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wachterin —— 2013
Analoge Doppelbelichtung / 40 x 60 cm
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Alexandra Griess und Jorel Heid
Autorin
Kati Werkmeister
Der belebte Raum
Gespenstische, weiße Lichter durchziehen den schwarzen Raum wie Wetterleuchten. Sie scheinen zu tanzen, zu einer Musik, die der Betrachter nicht hört, nur sieht. Sofort wird man von diesem ungewöhnlichen Spektakel in Bann gezogen. Diese kinetische Rauminstallation (ohne Titel, 2012—13) funktioniert simpel, jedoch mit großer Wirkung: Plastikfolien werden mittels eines Ventilators in Bewegung versetzt und von dimmbaren Neonleuchten angestrahlt. Das Künstlerduo Alexandra Griess (* 1977) und Jorel Heid (* 1982) arbeitet seit 2011 zusammen. Ursprünglich kommen beide aus unterschiedlichen Disziplinen: Griess ist Malerin und Fotografin, Heid Lichtkünstler. Sucht man nach einem roten Faden in ihrem gemeinsamen Werk, stößt man schnell auf zwei immer wieder auftauchende Aspekte: Raum und Bewegung. Die beiden nehmen in ihren Installationen den Raum auf, transformieren ihn, absorbieren ihn und bauen mitunter etwas mystisch-magisches hinein. So auch in der Installation „Schwarzwald III“ (2013), die Teil der Ausstellungsreihe „Was weiß ich schwarz II“ in der Galerie Linda in Hamburg war. Tannenwipfel ragen aus dem Dielenboden und deuten eine verborgene Welt
unter dem Fußboden an, die der Betrachter sich nur ausmalen kann, die aber unerreichbar bleibt. Die hier gezeigte Verbindung von Natur und Raum hat etwas Irritierendes und bricht die Grenzen zwischen Drinnen und Draußen auf. Farblich sind die meisten Arbeiten auf Schwarz und Weiß und die dazwischen liegenden Grautöne reduziert; Farben, die gegensätzlich und eigentlich eher farblos sind. Metaphorisch sind Schwarz und Weiß, Licht und Schatten, stark aufgeladen und stehen für die Antagonismen Gut und Böse, Tod und Leben. Auch die 2011 im Rahmen der Konzertreihe „Stark bewölkt“ entstandene Arbeit „Cloudspotter visuell“ ist auf Schwarz, Weiß und Grautöne beschränkt. Zudem wird hier ein weiteres Hauptthema des Künstlerduos bearbeitet: die Visualisierung von Musik und Geräuschen. Ein geknittertes schwarzes Papier bewegt sich zu Gregory 20
o.T.
—— 2012 / 2013
Kinetische Installation — Folien, Ventilatoren und programmierte Neonröhren 1 — 4 (floating Kapriole)
Büttners Klangkunstwerk „Wenn uns jemand hört, sag, wir haben kurz Luft geschnappt“ und erscheint dadurch lebendig, organisch. Die Arbeit „Das Rechteck in seiner natürlichen Umgebung“ ist 2012 im Rahmen einer Ausstellung in der „Weisses Blatt Galerie“ Leipzig in Zusammenarbeit mit Jivan Frenster und Julia Terbuyken entstanden. Ein schwarzer, rechteckiger Teppich, der an zwei Seiten von einem Raum aus senkrecht gespannten, weißen Nylonfäden umgeben ist, liegt auf einem wellenförmig gewölbten Steinboden. Durch die Reduktion der Farben wird eine grafische Klarheit geschaffen und der Fokus auf die verwendeten Materialien gelegt. Optisch drängt sich die Assoziation eines fliegenden Teppichs auf, künstlerisch die Verknüpfung mit Kasimir Malewitschs „Schwarzem Quadrat“. Gemein mögen Malewitschs Werk und das „Schwarze
Rechteck“ von Griess und Heid den suprematistischen Gedanken haben „die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien“ (Zitat: Kasimir Malewitsch). Von der Malerei aus gehen sie in den Raum, vom Raum in die Bewegung. Im Gegensatz zu dem statischen Quadrat, nehmen die Fäden im Werk des Künstlerduos die Geräusche einer Soundinstallation von Julian Terbuyken auf und versetzen den Raum wie von Zauberhand in Vibration. So scheint das Rechteck — ein eigentlich leblos geglaubter Gegenstand — in seiner natürlichen Umgebung zum Leben zu erwachen. Die Dinge sind nicht wie sie erscheinen. Es geht um Zeigen und Verbergen, Sichtbares und Unsichtbares. Alexandrea Griess und Jorel Heid erzeugen eine andere Wirklichkeit, eine eigene Welt, in der die Dinge ihrer eigentlichen Funktion enthoben und dem Ästhetischen unterworfen werden. 21
Kinetische Installation — Folien, Ventilatoren und programmierte Neonröhren 1 — 4 (floating Kapriole)
o.T.
—— 2012 / 2013
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cloudspotter visuell —— 2011
Filmstill 1 — 4
23
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Tannenb채ume in Parkettboden / Installationsansicht
Schwarzwald III —— 2012
25
26
Kinetische Installation / ca. 2,3 m x 1,1 m x 2,0 m (Das Rechteck in seiner nat端rlichen Umgebung 1 + 2)
o.T.
—— 2012
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Isabell Kamp
Autor
Justus Duhnkrack
Geht unter die Haut
Isabell Kamps Arbeiten beschäftigen sich mit dem Menschen. Mit nichts Geringerem. Unzählige Wissenschaften forschen und arbeiten an der komplexen Struktur organischer, psychischer, neurologischer und vieler weiterer Voraussetzungen, die den Menschen ausmachen. Isabell Kamp ebenfalls. Anstatt sich auf die plane Abbildung und Nachahmung unserer biologischen Masse zu konzentrieren, geht sie erheblich weiter. Isabell Kamp geht unter die Haut.
Sie interessiert was unter der nach außen wahrnehmbaren Oberfläche ist: nicht-greifbare Eigenschaften wie Erfahrungen, Emotionen, Worte, Seele, Liebe, Charakter. Die menschlichen Proportionen und fast naturgetreue Abbildung des Äußeren in ihren Arbeiten kontrastieren den tatsächlichen Fokus: das Wesen des Menschen. Sie abstrahiert das Innere des Menschen zu einer perlenförmigen „Menschmasse“ - in Größe, Zusammensetzung und Verbindung in jedem Werk verschieden. Genauso wie der Mensch sich nicht in einzelne Bestandteile einteilen lässt, bleibt auch die Projektionsflächen, die die Künstlerin durch die Perlen erschafft, offen für weitere Eigenschaften und Fantasien. Auf diese Weise entsteht eine Bildsprache mit der sie unerforschte Zusammenhänge und nicht-körperliche Bestandteile des Menschen darstellt. Form und Auswahl der dargestellten Körperteile erschließen sich über assoziative Gedankengänge. Kopf, Hände, Füße, Mund verkörpern sinnbildlich verschiedene Funktionen und Interaktionsmöglichkeiten, wie Gestik, Mimik, Intelligenz, Sprache, Stärke oder Standhaftigkeit. Assoziationen löst auch die Farbgebung einzelner Perlensammlungen aus, die mit unterschiedlichen Farbsymboliken spielen.
Nicht nur thematisch, sondern auch technisch ist der Vergleich zur Wissenschaft nicht weit hergeholt. Mit höchster Genauigkeit, Sorgfalt und Konzentration entstehen aus ihrer Hand Keramiken und Zeichnungen, auf höchstem technischen Niveau. Gekonnt nutzt sie das Zusammenspiel beider Werktypen. Schwebende Perlen, die plastisch nicht ohne Illusionen und Behauptungen umzusetzen sind, entfalten ihre Wirkung in Zeichnungen. In der Akribie und Detailverliebtheit einzelner Arbeiten offenbart sich der Schaffensprozess und die Arbeitseinstellung der Künstlerin. Jedes einzelne Detail ist von der Künstlerin selbst und eigenhändig hergestellt und gibt den Arbeiten eine besondere Ausstrahlung der Authentizität. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Der Arbeitsprozess von Isabell Kamp ist planvoll und konzeptuell angelegt. Nichtsdestotrotz entwickelt sich ihr Œuvre permanent weiter. Ideen und Eindrücke 28
Every time I reach for you I grab space instead ——
2013
Keramik, Holz & Schnur / ca. L 90 x B 15 x H 10 cm / Installationsansicht Feinkunst Krüger Hamburg
integriert sie unmittelbar in ihre Werke. Ebenso zeugt die Art der Präsentation ihrer Arbeiten von einem konsequent durchdachten Konzept. Oft präsentiert Isabell Kamp ihre Arbeiten mit einem musealen Charakter und setzt damit die Verspieltheit menschlichen Verhaltens der naturwissenschaftlichen Ernsthaftigkeit entgegen. Das steigert die intensive Wirkung der Erfahrungen und Gedanken, die aus den Motiven ihrer Arbeiten sprechen und Geschichten über den Menschen erzählen. 29
Weisse Tonmasse & Glasur / ca. L 21 x B 17 x H 5 cm
Meine Worte gehorchen nicht III —— 2013
30
Weisse Tonmasse & Glasur / ca. L 48 x B 35 x H 26 cm
31
2013
Knowing ——
Graphit & Acryl / 30 x 42 cm
In den Dingen ——
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2012
In den Dingen VIII —— 2012
Tuschestift & Graphit & Lack / 30 x 42 cm
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Installationsansicht P/ART —— 2013
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Nicola GOrdes Stella Rossié
Autorin
Merle Radtke
Suppbar / Suppar / Supbar Ein Film von Nicola Gördes und Stella Rossié
1 Prise Maggi Rinderbouillon in Pulverform 1 Buchstabennudel nach Wahl 1 Becher kochendes Wasser
Die reduzierte Einrichtung der Bar sowie die Inszenierung von Details wie der zur Eröffnung angebrachten Girlande und dem blinkenden Open-Schild erinnern an eine Theaterkulisse. Ebenfalls einem Theaterstück vergleichbar, gestaltet sich der Auftritt der Protagonisten. Stillschweigend nehmen sie ihre Plätze ein. Die erste Runde wird eingeläutet, ein Gast betritt die Bar, bestellt eine Suppe. Lustlos machen sich die drei Frauen an der Theke an die Bestellung, die Aufgaben sind klar verteilt: die erste bedient den Wasserkocher, die zweite präpariert die Suppe, die dritte kassiert. Sie wechseln kein Wort miteinander; auch mit den Gästen wird nur das Nötigste gesprochen. Durch die konsequente Nachvertonung des Films und die bewusste Verschiebung von Bild und Ton sind die einzelnen Charaktere nur schwer zu fassen. Erneut läutet die Glocke, ein neuer Gast, die gleichen Fragen: „Bouillon? Buchstabe?“ Spätestens nach der Bestellung des dritten Gasts, dem das „L, S, D“ in der Suppe verwehrt bleibt, ist klar, dass in der Bouillon der Supbar immer nur ein Buchstabe schwimmen darf. Höhepunkt eines jeden Arbeitstags stellt der Besuch des schönen Ronny Pfeiffer dar, der die handverlesenen Buchstabennudeln liefert. Ist er im Raum, scheint für die Damen hinter der Theke alles andere inexistent.
Inspiriert von unaufwendigen Ladenkonzepten, kam Nicola Gördes und Stella Rossié die Idee zu ihrem Kurzfilm Suppbar/Suppar/Supbar, der in drei Akten die Geschichte einer Bar erzählt, deren Angebot allein in aufgegossenem Brühpulver mit Buchstabennudeln besteht.
36
suppar
—— 2013
Filmstill
Nimmt der erste Akt die Interaktion zwischen Mitarbeitern und Gästen der Suppbar in den Blick, widmet sich der zweite den Zutaten der Suppe sowie der Situation im Gastraum. Es gibt keine Tische, ebenso fehlt es an Besteck. Im Stehen schlürfen die Gäste ihre Suppe. Mit den Eigenheiten der Bar vertraut und gefangen in der Schleife der immer gleichen Abläufe, wird man im dritten Akt mit dem Aus der Bar konfrontiert. Zunächst sorgt ein schottischer Gast mit seiner englischen Bestellung für große Ratlosigkeit unter den drei Damen an der Theke, dann verlässt auch noch die Wasserkocherin die Bar, da sie den Anblick Ronny Pfeiffers mit der Spülerin nicht länger erträgt. Weil es fortan niemanden gibt, der den Wasserkocher bedient, müssen Bardame und Kassiererin die Suppar schließen. Ein zerbrochener Becher besiegelt das Aus. Während Nicola Gördes und Stella Rossié den einen also aufgrund des Mangels an passendem Vokabular scheitern lassen, werden die beiden zurückgebliebenen Bardamen
zu Opfern ihrer Routine, der ungewohnten Situation nicht gewappnet. Vollkommen apathisch bleibt die Bardame nach der Schließung der Suppbar hinter der Theke zurück, hackt mit einem Messer zwischen ihre Finger. Sie flüchtet sich in eine Routine, die dem Publikum vor allem als Geräusch aus dem Off bekannt ist, welches den Film von Beginn an begleitet. In der nächsten Einstellung begegnet man den Protagonisten des Films in einer surrealen Schneelandschaft. Die Bar ist Vergangenheit. Die Kamera zieht vorbei an Ronny Pfeiffer und der Spülerin, die auf der Motorhaube eines BMW’s sitzen, vorbei auch an der Bardame und der Kassiererin, die zwischen den Suppenbechern stehen, unbeteiligt vor sich hinschauen, rauchen. Angekommen bei einem Mann an einem Keyboard stoppt die Fahrt. Dieser drückt auf die Tasten des Instruments, doch als er nach einer Weile aufsteht und das Bild verlässt, wird klar, dass alles nur Schein war, die Musik hört nicht auf, läuft weiter ... 37
suppar —— 2013
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Filmstill
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Filmstill
suppar —— 2013
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suppar —— 2013
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Filmstill
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We Are Visual
Autorin
Cora Waschke
Freies Spiel
Die Arbeiten von We Are Visual zeugen vom Willen zur Rückeroberung verlorener Handlungs- und Bewegungsfreiheit im Spielraum Stadt.
o.T.
Poller und Zäune führen zur Einschränkung der Freiheit im urbanen Raum, aber auch scheinbar Unterhaltsames wie bunte Oberflächengestaltung und Musikbeschallung an Bahnhöfen können als disziplinarische Maßnahmen genutzt werden, mit denen das städtische Bild ‚von oben’ kontrolliert wird. Einen wenig subversiven Eingriff gegen alternative Stadtgestaltung- und nutzung stellt die Verschalung von Abluftschächten des sich im Gentrifizierungskrieg befindlichem Hamburger Stadtteils St. Pauli dar. WAV befreite 2013 nicht nur die Wärmequelle für Obdachlose sondern installierte davor Betten, die nach kurzer Zeit von städtischer Seite entfernt wurden. Dies ist eine Arbeit von vielen, in denen Felix Jung und Marc Einsiedel von WAV sich ihrer künstlerischen Freiheit bedienen, um mit effektiven kreativen Eingriffen vor Ort moralisch verantwortlich zu handeln, „think global, act local“. Da aber diese Interventionen meist der dem Tourismus zuträglichen ‚Visage’ zuwider läuft, gelten sie als illegal. Dennoch wollen We Are Visual — und so ist auch ihr Name zu verstehen —sichtbar machen und sichtbar sein. Während der Installation ihrer Werke tragen sie Signalwesten, die es ihnen bis zu einem gewissen Punkt ermöglichen, ungestört zu arbeiten und die zugleich auf den Zusammenhang zwischen Legitimation und Autorität anspielen.
—— 2013
Aus der Serie Mülleimer / Fotografie von Sebastian Asiedu
Offizielle Wegführungen und Streckennetze geben Bewegungsrichtungen vor und entscheiden, was gesehen wird und was verborgen bleibt. Die Arbeit von WAV kann als Versuch interpretiert werden, durch „Installation, Intervention und Inventionen“ fernab von vorgegebenen Wegen den Blick zu öffnen und die Selbstbestimmung des passiven ‚Konsumenten’ zu aktivieren. Damit bewegt sich das aus der Street Art kommende und Ende 2009 formierte Künstlerduo nicht nur im Bereich von Urban Art samt Berührungspunkten mit Graffiti und Parkour, sondern knüpft es zudem an vergangene Kunstbewegungen wie die der Situationisten an, die Kunst in den Alltag integriert wissen wollten und die Stadt als Spielplatz forderten. 44
ZAUN ——
2012
Installationsansicht Galerie Melike Bilir / Fotografie von Sebastian Asiedu
Ausstellungsräume in Erscheinung des White Cube nutzen WAV, um im Stadtraum leicht zu Übersehendes in den Fokus zu rücken. Die Erforschung, Verarbeitung und Aneignung von Material und Ästhetik des öffentlichen Raums in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen treten in jüngeren Werken verstärkt hervor. Mit Olymp zeigten WAV auf der P/ART 2013 als objet trouvé ein durch Brandstiftung deformiertes Toilettenhaus, dessen Ästhetik des Vandalismus sie über einem großformatigen Spiegel exponierten. Klinische Kälte kontrastiert hier mit der Hitze
der Stadt. Eine Verbindung zwischen Ästhetik, Aktion und Konzept stellt ein Werk wie Zaun her, das 2012 in der Galerie Melike Bilir zu sehen war. Die hintereinander angeordneten Zaungitter sind so dem öffentlichen Raum entnommen worden, dass insgesamt ca. 600 000 m2 Freifläche entstand. Die Inszenierung der Zäune entfaltet eine minimalistische Formensprache, und behandelt zugleich raumtheoretische und soziopolitische Fragen zum Thema Abgrenzung. Das Anliegen von WAV ist auch hier deutlich sichtbar: Freiheit — Freiheit in Bewegung, Handlung und Gestaltung. 45
Installationsansicht Galerie Melike Bilir / Fotografie von Sebastian Asiedu 1— 3
Zaun ——
46
2012
47
OLYMP ——
48
2013
Plastik Stahl Spiegel Holz / 190x190x230 cm / Installationsansicht P/ART 1—3
49
Zwei Betten —— 2013
50
Fotografie von Sebastian Asiedu 1— 3
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Holger Wilkens
Autorin
Felicitas Rhan
Die Wahrheit hinter der Fotografie
Exoplanets —— 2011
Muss Fotografie immer etwas abbilden? Dass man Lichtbilder auch ohne Kamera herstellen kann, ist allseits bekannt und seit Beginn der Fotografie erprobt. Fotogramme nennen sich die Experimente in der Dunkelkammer; Bilder, die aus dem Schwarz hervortreten und wie von Zauberhand entstehen. Man Ray schuf seine ersten Rayogramme 1922, in dem er Objekte auf lichtempfindliches Papier legte, anschließend belichtete und mit Bädern in verschiedenen Chemikalien sicht- und haltbar machte. Moholy-Nagy ging noch einen Schritt weiter und schuf als erster Künstler sein Selbstporträt als Fotogramm, wobei das Licht – im Gegensatz zur Fotografie – ohne die Reflexion durch den fotografierten Gegenstand direkt auf das Papier trifft. Doch wie nennt man Fotografie, die auf ein Objekt verzichtet und ausschließlich Licht abbildet? Holger Wilkens ist diesem Phänomen seit Jahren auf der Spur. Der Student der Bauhaus Universität Weimar beschäftigt sich in seinen Fotografien hauptsächlich mit der Frage nach dem Unterschied zwischen abstrakter und konkreter Fotografie. Dabei spielen das Licht und die in ihm enthaltenen Farben eine herausragende Rolle. Wann wird die Fotografie konkret und selbst zum Objekt, kann man Licht abstrahieren?
C—Print / 28 x 23 cm
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In einer seiner ersten Arbeiten, seinen sogenannten Faltbildern („Foldings“), verzichtet Wilkens sowohl auf Kamera als auch auf ein Objekt, sondern belichtet geknicktes Fotopapier mit verschieden farbigen Belichtern. Die Serie, die daraus entstanden ist, wirkt überraschend: Fast dreidimensional begegnen dem Betrachter die Fotografien; dabei leuchten die unterschiedlichen Farbnuancen so plastisch, dass man meint, man habe es mit Lichtkästen zu tun, die hinter die Bilder montiert wurden. Zudem erinnern die akkuraten Linien und Formen einerseits an geometrische Experimente wie beim Kaleidoskop, andererseits könnten sie auch Nahaufnahmen von Blütenblättern darstellen. Scheint es sich bei dieser Fotografieserie um Arbeiten aus dem Mikrokosmos zu handeln, so beleuchten die „Stars“ und die „Exoplanets“ (scheinbar) unseren Makrokosmos. Bei ersteren Fotos verknüpft sich das Interesse des Künstlers nach einer Verbindung zwischen Zeit, Raum und Licht mit dem des großen Urvaters der Bauhaus Universität, László Moholy-Nagy. Während Moholy-Nagy 1930 seinen berühmten Licht-Raum-Modulator baute, verschlug es Wilkens 2010 in die Tautenburger Sternwarte. Hier sammelte er wissenschaftliche Archivaufnahmen der weltweit größten Schmidt-Kamera und begann, erste Abzüge von den großformatigen Negativen zu erstellen. Dabei entdeckte der Künstler eigenartige Striche auf seinen Fotografien, die sich später als fremde Spiralgalaxien herausstellten. Durch Abwedeln und Nachbelichten wurde es zudem möglich, eigene galaktische Nebel zu formen oder die Abbildungen so erscheinen zu lassen, als seien sie digital erstellt worden. Der Wahrheitsgehalt seiner Fotografien geriet ins Wanken.
Auch bei Holger Wilkens zweiter „Sternenreihe“ unterwandert er den Realitätsanspruch seiner Bilder: Während man beim Titel „Exoplanets“ an extrasolare Planeten (kurz Exoplanet) denkt – Planeten, die außerhalb unseres Sonnensystems liegen und von denen kein wirkliches Bild existiert, sondern nur simulierte Computeraufnahmen –, zeigt die eigentliche Fotografie lediglich Prozesse aus der Dunkelkammer. Eine teils sehr grafische, teils an Computergrafiken erinnernde Bildwelt entsteht, die wiederum mit dem Wahrheitsgehalt von Fotografie spielt – denn prinzipiell könnte es sich bei den Bildern um Aufnahmen noch nicht entdeckter Exoplaneten handeln. So fragt nicht nur Holger Wilkens mit jedem seiner Lichtbilder nach der Wahrheit hinter der Fotografie – auch seine Rezipienten müssen es ihm gleichtun und bei jedem Betrachten seiner Bilder die Möglichkeiten zwischen Realität, Abstraktion und Konkretem ausloten. 53
exoplanets —— 2011
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C—Print / 28 x23 cm / 1 — 4
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stars —— 2011
56
Platinotypie / 24 x 30 cm / 1 — 3
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folding ——
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2011
C—Print / 24 x 30 cm / 1 — 2
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IMPRESSUM Judith Waldmann Oliver Lahndorf
Herausgeber
Judith Waldmann
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