Einsichten 14

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Einsichten14

Konkurrenz

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2012 ∙ 5,00  EURO

Da s M a ga z i n d e r E va n g e l i s c h e n J o u r n a l i s t e n s c h u l e


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Sky. Ich seh was Besseres. 2


Editorial

Sonntag,

das ist der Duft von Kuchen

Ich gewinne, du verlierst. Oft funktionieren Geschichten nach diesem Muster: ein Protagonist, ein Widerpart. Zwei Hunde, ein Knochen. Damit lassen sich Zeitungsseiten und Sendeminuten füllen. Konkurrenz ist ein Medienthema. Du gewinnst, ich verliere. Es kommt auf den Blickwinkel an. Ist die Schabe Ungeziefer, das vernichtet werden muss? Oder ist sie ein Wunder der Natur, das uns überdauern wird? Wer gewinnt, wenn Mutter und Vater um den Sohn streiten? Kann eine Frau, die sich mit einem verheirateten Mann einlässt, nur verlieren? Dieses Magazin zeigt 16 Sichtweisen auf Konkurrenz, erzählt von den Volontärinnen und Volontären der Evangelischen Journalistenschule, bebildert von Fotografinnen und Fotografen der Ostkreuzschule.

Oskar Tiefenthal (Hg.) Für uns ist das Thema hochaktuell. Auch wir konkurrieren bald. Um Arbeitsplätze, Aufträge, Informationen. Und doch: Die Entwicklung dieses Magazins zeigt, es geht auch anders. Gemeinsam. Als Team. Wie wir Konkurrenz erleben, steht auf der letzten Seite. Arbeit, Sport, Liebe – Konkurrenz gehört zum Leben. Konkurrenz kann anspornen und lähmen, ängstigen und beflügeln. Konkurrenz wird körperlich ausgetragen. Und Konkurrenz entsteht im Kopf. Wer gewinnt, wer verliert? Lesen Sie selbst.

Der 9. Jahrgang der Evangelischen Journalistenschule

Mein Sonntag Junge Reporter über den ersten Tag der Woche Was bedeutet der Sonntag für alte, was für junge Menschen? Für Verkäuferinnen und Wirte, die an diesem Tag arbeiten müssen? Für den Hobbygärtner, den Fußballspieler? Reportagen und Porträts, Interviews und Essays von Volontärinnen und Volontären der renommierten Evangelischen Journalistenschule in Berlin und Fotografen aus der Abschlussklasse des Lette-Vereins. 116 Seiten, Klappenbroschur, Fadenheftung, 18 x 24 cm ISBN 978-3-86921-095-7 14,90 €

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Inhalt

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SportsFreunde Zwei Jungs, ein Traum: Fußballprofi werden 14

Mensch, Schabe! 03 Editorial 04 Inhalt 06 Dabei sein ist alles 35 Impressum 97 Die EJS

Die „Krone der Schöpfung“ gegen 400 Millionen Jahre Lebenserfahrung 18

Die Kopfjägerin Auflauern, einkreisen, zuschlagen – der Alltag einer Headhunterin

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Das richtige Leben Rainer Langhans hat den Sinn gefunden 28

»Du bist ja eh nie da« Eine Mutter will wieder arbeiten

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Into the wild Reisende im Wettstreit um das Abenteuer 36

Aufs Treppchen! Foto: Thomas Lobenwein

Absurde Konkurrenzgeschichten


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1+1=4 Wenn die Liebe für mehr als einen Partner reicht 70

SchulterSchluss Zweikampf in Bildern - Fotos aus dem türkischen Ringerverein in Berlin 76

Das geteilte Kind Nach der Trennung heißt es: Meins oder deins? 38

300 Meter Hass Eine Straße als Frontlinie zwischen Neonazis und Antifaschisten 46

Besser scheitern Was wir von Clowns lernen können 50

Die unsichtbare Dritte Eine Geliebte verliert alles 53

Ewige Zweite Manche schaffen es eben nie 54

Kuscheln statt Kuschen Schule mal anders 60

»Dick sein ist der schlimmste Makel« Schöne Jugend – ein Gespräch 60

Zahlen, bitte! Casting-Republik Deutschland 62

»Die Türken waschen sich nicht« Ein Missverständnis wird zum Geschäft

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Bestechen und Bestatten Mit dem Tod geht’s erst richtig los 89

Tierische Konkurrenz Intrigans, Fairkel und Neidechse 90

Mit dem Teppichmesser in die Bibliothek Wie Jurastudenten ihre Konkurrenten ausstechen 94

Die Fischerin vom Bosporus Allein unter Männern 98

Mal ehrlich! Was wir über Konkurrenz denken 5


Dabei sein ist alles seine fotografische Arbeit maßgeblich geprägt. bgolm@gmx.de

1 Nadia Pantel

12 Antonia zu Knyphausen

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2 Bastian Gehbauer

versteckt sich wahlweise unter dem Küchentisch oder im Labor, seit er der Realität des eiskalten Wirtschaftsalltages ins Auge geblickt hat. bastian. gehbauer@gmx.de

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hat mit 15 das letzte Mal so ausdauernd über „wer mit wem“ und „was die anderen davon 6 Oscar Tiefenthal halten“ geredet. anne. Herausgeber von bohlmann@gmx.de „Einsichten 14“. In diesem Magazin ist er zusätzlich für Vertrieb und Anzeigen verantwortlich. Seit 2009 Leiter der Evangelischen Journalistenschule in Berlin. otiefenthal@ev-journalis1 tenschule.de

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5 Juliane Funkel

ließ sich während ihrer Recherche von der dreijährigen Nina die Fingernägel lackieren.

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geboren in Italien, studierte Kunst und

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18 Christian Personn

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hat gegen Rainer Langhans im Tischtennis verloren. Jetzt trainiert sie für das nächste Treffen. claudiamaier@ymail.com

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8 Sonja Hamad

geboren in Syrien, war Kreativ-Assistentin bei einem Fotografen in Hamburg. Lebt und arbeitet seit 2009 in Berlin. s.hamad@gmx.de

9 Sebastian Deliga

durfte während der Recherche türkische Gastfreundschaft genießen: Er bekam so häufig Kaffee oder Tee angeboten, dass er abends nicht schlafen konnte. s.deliga@gmx.de

Textchef und Berater bei der Reportageplanung für die Redaktion, ist mit Sabine Rückert gleichberechtigter Ressortleiter Dossier bei dem Hamburger Wochenblatt „Die Zeit“ stefan.willeke@zeit.de wurde durch das Leben in einer zerrissenen Stadt und durch sein Geografie-Studium für

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Design an der Universität IUAV/Venedig. daniel. augschoell@gmail.com

14 Jan Mohnhaupt

waren Schaben schon als Kind so sympathisch, dass er seinem Vater im Gran-Canaria-Urlaub unter Tränen verbot, die Tiere mit der Badeschlappe zu erschlagen. jwmohnhaupt@web.de

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15 Wolf-Hendrik Müllenberg

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11 Benny Golm

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Studienleiter von „Einsichten 14“, unterstützte die Redaktion als Blattmacher. Er arbeitet

7 Claudia Maier

10 Dr. Stefan Willeke

4 Friederike Lübke

wurde von jedem Headhunter gefragt, wie es nach ihrer Ausbildung weitergehen soll. Seit sie Journalistin werden will, fragt ihre Familie das auch regelmäßig. friederike.luebke@gmx.de

steigt ins todsichere Bestattungsgeschäft ein, wenn sie nicht ganz bald einen Bombenjob im Journalismus angeboten bekommt. a.knyphausen@gmail.com

13 Daniel Augschoell

Rosa mit Glitzer! Ging tagelang nicht wieder ab. julianefunkel@ yahoo.de

3 Anne Bohlmann

17 Gloria Veeser

war lange in der Bibliothek auf Protagonistenpirsch. Qualifiziert hat sich der, der sonntagabends herauskam – und schimpfte, weil er noch bleiben wollte. Irgendwie unheimlich. gloria.veeser@gmail.com

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19 in Hamburg als freiberuflicher Chefredakteur und Zeitschriftenentwickler sowie als Autor. cpconsulting@personn.com

19 Anja Büchner

hat in Nürnberg recherchiert: Der „Glubb“ wäre die zweite Option für die Fußball-Karriere seiner Tochter – falls das beim FC St. Pauli nichts wird. hendrikmuellenberg @gmx.de

freie Artdirektorin, gestaltete das Heft. Für die Headlines wählte sie – natürlich – die Schrift „Knockout“. mail@anjabuechner.de

16 Kathrin Klette

schaut sämtliche Charlie-Chaplin-Filme. Und empfiehlt: „Monsieur Verdoux“: Darin spielt Chaplin einen arbeitslosen Bankangestellten, der lieber als Killer sein Geld verdient. mail@ sebastian-doerfler.de

weiß seit ihren Gesprächen mit der Geliebten: Spätestens dann, wenn man mit einem Haustier um den Partner konkurriert, ist die Beziehung im Eimer. kathrin.klette @gmail.com

20 Sebastian Dörfler

Fotos: Michael Mann (1), Jonas Maron (9)

hat den Schlüssel für ein Hostel-8-Bett-Zimmer in ihrem Rucksack gefunden. Jetzt kann sie immer im Prenzlauer Berg übernachten. nadia.pantel@gmx.de


Das Team 33 Mirjam Schmitt

20 21 Marielle Viola Morawitz

durfte während des Shootings auf dem Bett des Gastgebers stehen, um gute Bilder machen zu können. m_morawitz @gmx.de

22 Andreas Krufczik

fand es spannend, zu sehen, wo Poldi & Co. herkommen. Und wie der Wille zum Erfolg all die Einschränkungen erträglich macht. Er hofft, dass die Kreuz-

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musste einsehen: Hätte sie Gleichungen mit zwei Unbekannten auch anfassen können, wäre ihr Abitur in Mathematik wohl besser gewesen. juliane_ziegler@gmx.de

26 Tony Sojka

aufgewachsen in Brasilien, arbeitete als Assistent für Thorsten Klapsch. mail@ tonysojka.com

36 Lena Kampf

bänder halten. kontakt@ andreaskrufczik.com

27 Theresa Becherer

hat ihren Glauben an den Journalismus verloren und könnte ihn nur dann wiedergewinnen, wenn dieser Satz gedruckt wird. theresa. becherer@gmail.com

29 Kaja Smith

23 Sabine Rückert

fungierte in diesem Magazin als Textchefin und beriet die Redaktion bei der ReportageRecherche. Hauptberuflich ist sie Ressortleiterin Dossier bei „Die Zeit“. sabine.rueckert@zeit.de

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ist Fotograf und Dozent an der Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung in Berlin. Er betreute die Studenten der Ostkreuzschule bei der Arbeit an ihren Beiträgen. jonasmaron @ostkreuzschule.de

Halbengländerin, erste Kamera: Canon AE1 mit 14. Hat aus dem Treffen mit Rainer Langhans mitgenommen: Höre nie auf, Sport zu treiben und nie auf die anderen. kajasmith83@ gmail.com

30 Jennifer Bulla

fühlt sich mit ihrer Kamera meistens beschützt und stark. Sonst wird sie den Tipp

24 Jonas Maron

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hat koffeingetränkte Jurastudenten an einem Samstagmorgen erlebt. Dabei wurde ihm klar: In einer Bibliothek kann man die berühmte Stecknadel fallen hören. j.waak@yahoo.de

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38 einzigen Wörter, die sie dort gehört hat, waren: Czech?... No Czech?? paulafaraco@gmail.com

25 Juliane Ziegler

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muss mit diesem Namen einfach nach den Rechten sehen. kampf.lena@gmail.com

37 Thomas Ablard

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28 Jacob Waak

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bekam bei ihrer Recherche jede Menge Fisch geschenkt. Weil sie nicht kochen kann, liegt er noch immer in einem Tiefkühlfach in Istanbul. mirjamschmitt@gmx.net

34 Judith Fiebelkorn

33 der Clownmeisterin beherzigen: eine rote Nase in der Tasche tragen. Oder eine Handvoll Konfetti. jennifer_bulla@yahoo.de

31 Stéphane Lelarge

wird sich nach ihrer Recherche das mit dem Kinderkriegen nochmal überlegen. Auf jeden Fall will sie aber tagesaktuelle Geschichten im Lokalen schreiben. judith.fiebelkorn @gmx.net

35 Paula Faraco

kommt aus Brasilien und ist vor zwei Jahren nach Prag gefahren. Die

hat trotz seiner französischen Staatsangehörigkeit nur eine Freundin, keine Affäre oder andere Frau. Polyamor zu leben, ist nichts für ihn. stephane.lelarge@ gmail.com

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geboren in Versailles/ Frankreich, seit 2001 in Deutschland. Kunst-Studium an der Université Paris XVIII, dann Ausbildung als Heilerziehungspfleger am Bodensee. Seit 2005 in Berlin. tomablard@yahoo.fr

38 Sergej Bitsch

geboren in der Sowjetunion, Gewicht nach Geburt: 3,5 Kilogramm. sergrip@gmx.de

39 Thomas Lobenwein

freier Fotograf und Kameraassistent. Mitherausgeber von „emerge“ – Onlinemagazin für jungen Fotojournalismus. Als er die Ringer fotografierte, musste er nur darauf achten, nicht überrollt zu werden. thomas_lobenwein @web.de

32 Stefanie Schulz

bildet sich keine Meinung über heimliche Geliebte, betrogene Ehefrauen oder den Mann von beiden – sie macht das Bild. eckpunkte@yahoo.de

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Sports

Pacho und Polli haben denselben Traum: in den großen Fußball-Arenen spielen. Doch während Pacho weiter allen davon läuft, bleibt Polli zurück

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Freunde

Text W o l f - H e n d r i k M 端 l l e n b e r g Fotos A n d r e a s K r u f c z i k

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„Du ergreifst die Gelegenheit oder du scheiterst. Du spielst das Spiel oder du spielst es nicht, es gibt keine Alternative!“ (Aus dem Leitfaden für Sportler im Sankt Paul „Haus der Athleten“, Nürnberg)

B

evor das Spiel beginnt, hat sich Pacho den Torjubel schon überlegt: zur Eckfahne laufen, die Fäuste ballen, brüllen. Am Tag zuvor war er extra bei Side, seinem Friseur. Dem Side könne man sagen, mach einfach, und der macht, sagt Pacho. Ergebnis: hinten kurz, vorne bleibt ein Löckchen übrig. Nach dem letzten Besuch hat Pacho grandios aufgespielt. Das war im Heimspiel gegen den SC Freiburg. Da hat Pacho das getan, was er am besten kann: über die rechte Seite rennen, Bälle diagonal flanken, Tore vorbereiten. Side soll ihm heute wieder Glück bringen – für das wichtigste Spiel der Saison. Sonntag, ein Sportplatz in Nürnberg: Halbfinale des DFB-Junioren-Pokals, der „Glubb“, wie sie hier den 1. FC Nürnberg nennen, gegen Hertha. 1 531 Menschen sind gekommen. Beim Hax‘n-Liebermann brutzeln die Steaks auf dem Grill. Kult-Wirtin Moni serviert Weißwurst und Brezel. Männer in Trachten und Schäferhüten philosophieren über die Jungspunde. „Der Pacho, der kann Fußball spielen“, sagt der eine. „Nein, so einen wie den Tekerci, den braucht der Glubb“, sagt der andere.

Pacho ist heute wie immer in der Start-Elf. Auch wenn Pacho ein schlechtes Spiel hinter sich hat, setzt der Trainer auf ihn. Der Trainer sagt über Pacho: „Der Junge ist der Konkurrenz davongelaufen.“ Tobias „Pacho“ Pachonik, 17 Jahre, 11,3 Sekunden auf einhundert Meter. Sein Lied, das er vor jedem Anpfiff hören muss: „Alles wird gut“ von Bushido. Seit zwei Jahren lebt Pacho in Nürnberg. Sein Zuhause ist ein Sportinternat, das Sankt Paul „Haus der Athleten“. Hier bildet der Club seinen Nachwuchs aus. „Die Legende lebt, wenn auch die Zeit vergeht, unser Club, der bleibt bestehn.“ Pacho läuft mit seinen Mitspielern zur VereinsHymne ein, vorbei an den Fans, die auf dem Weg von der Kabine zum Platz Spalier stehen. Sie klopfen Pacho auf die Schulter, schlagen mit ihm ein, streicheln ihm über den Kopf. „Auf geht’s, Pacho! Hau sie weg!“ Pacho pustet nochmal durch. Auf der anderen Seite des Platzes hat der Verein eine Tribüne aufgebaut, extra für die Presse, daneben steht Pachos Fanclub aus dem Allgäu: Vater Manfred, Mutter Petra, Opa Günther und Bruder Felix. Sie wollen ihren Tobias siegen sehen. Dafür sind sie aus einem kleinen Dorf im Allgäuer Alpenvorland angereist. Pacho trennen 260 Kilometer von seiner Familie. „Daran gewöhnt man sich“, sagt Pachos Vater. Manfred Pachonik hat das Potenzial seines Sohnes schon erkannt, als dieser im Garten gegen seinen älteren Bruder kickte. Der Vater war Pachos erster Trainer, sieben Jahre lang; TSV Marktoberdorf heißt der Verein. Von dort führte der Weg seines Sohnes zu den

„Es gibt nichts Schöneres als das hier“, sagt Polli im Stadion des 1. FC Nürnberg. Er wollte Profi-Fußballer werden. Heute verkauft er Versicherungen.


Während Pacho trainierte, lernte Polli wieder laufen

11,3 Sekunden braucht Pacho für einhundert Meter. Gute Voraussetzungen für eine Profi-Karriere.

besseren Vereinen im Allgäu. Bis die Talentscouts aus Nürnberg den Jungen entdeckten. „Tobi, geh mal“, schreit Manfred Pachonik von der Tribüne Richtung Spielfeld. Seine Augen folgen Pacho. Der versucht gerade, einen Gegenspieler auszuspielen. Manfred Pachonik zuckt zusammen, als sein Sohn den Zweikampf verliert. „Tobi arbeitet zu viel in der Defensive. So fehlt ihm die Kraft in der Offensive“, sagt Manfred Pachonik zu Pachos Bruder Felix. Der erwidert müde: „Also, ich weiß ja nicht, Papa.“ Als Pacho nach Nürnberg ging, klingelte ständig das Telefon seines Vaters. Es meldeten sich Menschen, die damit Geld verdienen, für Talente wie Pacho lukrative Profi- und Werbeverträge auszuhandeln. Irgendwann war Manfred Pachonik die vielen Anrufe leid. Er verabredete sich mit einem dieser Männer. Seitdem hat Manfred Pachonik seine Ruhe und Pacho denselben Spielerberater wie der Nationalspieler Bastian Schweinsteiger. „Tobias braucht jemanden, der sich auch im Geschäftlichen auskennt“, meint Manfred Pachonik. Falls ein Vereinsmanager mit einem Profivertrag locken sollte, möchte Pachos Vater vorbereitet sein. Pacho spielt heute schlecht. In der 69. Minute wird er ausgewechselt. Jetzt muss Pacho von der Bank aus zusehen, wie sein Team zweimal eine Führung verspielt und das Spiel im Elfmeterschießen verliert. Als der Schiedsrichter abpfeift, unterdrückt Pacho die Tränen und umarmt seine Mutter. „Ich bin stolz auf dich“, flüstert sie Pacho ins Ohr. Alle zwei Wochen fährt sie nach Nürnberg, zu Pachos Heimspielen. Heute ist Petra Pachonik-Swoboda mit frischer Wäsche und einer Tüte Schokolade angereist. Pachos Mutter möchte, dass ihr Sohn sein Abitur macht. Pacho soll einen Plan B haben, falls das mit dem Fußball nichts wird. „Was ist, wenn du dich verletzt?“, hat sie Pacho gefragt, bevor er nach Nürnberg ging. In Nürnberg begriff Pacho dann, wie schnell die Fußballkarriere vorbei sein kann. Das war, als er Polli traf. Polli war schon länger im Internat, als Pacho dazustieß. Polli kannte die Tricks. Zum Beispiel, wie man die automatische Lichtanlage im Flur überlistet, sodass die Kameras ins Dunkle filmen und die 11


Ausbrecher nicht aufnehmen. Pacho und Polli haben nie gemeinsam auf einem Fußballplatz gestanden. Während Pacho trainierte, lernte Polli wieder laufen. Pacho bewunderte den Jungen, der das alles so locker wegzustecken schien. Pacho schob Sonderschichten im Kraftraum, damit er robuster wird. Er wollte nicht wie Polli enden, der heute Versicherungen verkauft. Die einzigen Duelle zwischen Pacho und Polli waren die auf der Playstation. Pacho kam vom Training, Polli von der Physiotherapie, dann war es Zeit für das Spiel „FIFA 2012“. Sie zockten „el Clásico“: Real Madrid gegen FC Barcelona. Pacho spielte mit Real. Polli mit Barcelona. Johannes „Polli“ Pollinger, 18 Jahre, 11,7 Sekunden auf einhundert Meter. Sein Lied, das er vor jedem Anpfiff hören muss: „Can‘t stop“ von den Red Hot Chili Peppers. Ein schneller rechter Verteidiger, von dem alle sagten, er habe das Zeug zum Profi. Bis zu jenem Tag im Juli 2009. Das Training beginnt mit einem harmlosen Fangspiel zum Aufwärmen. Die Fänger müssen die Läufer abschlagen. Polli ist Fänger. Er sprintet in Richtung eines Läufers. Der Läufer hat das Spiel nicht verstanden. Er denkt, er muss jetzt Polli fangen und spurtet in seine Richtung. Polli bremst ab, überdehnt sein linkes Knie, ein lauter Peitschenknall, Kreuzbandriss. Polli wird operiert. Es folgen zwölf schwere Monate mit Physiotherapie und den großen Zweifeln, ob es weitergehen wird. Schritt für Schritt arbeitet Polli an seinem Comeback: Knie beugen, langsames Gehen, Traben, Sprinten. Und endlich wieder den Ball am Fuß spüren. Nach einem Jahr Arbeit plötzlich wieder dieses hässliche Geräusch: der laute Peitschenknall. „Scheiße, ich dachte, das hält“, sagt Polli. „Das dachte ich auch“, sagt der Physiotherapeut und sprüht Eisspray auf Pollis Knie. Wieder ein Jahr Pause. Polli weiß, was das für ihn bedeutet. Das wird er nicht mehr aufholen können, die Konkurrenz ist an ihm vorbeigezogen. Er darf noch im Sportinternat wohnen, bis er seinen Realschulabschluss hat. Über die Sorgen um sein Knie spricht er mit seiner Freundin. Mit Pacho zockt er lieber Playstation. Pacho denkt an volle Stadien und an seinen Ruhm. Polli plant seine Karriere als Versicherungsvertreter. Signal Iduna, Filialdirektion Regensburg. Montag, Tag eins nach der Niederlage im Pokalspiel gegen Hertha: Die „Nürnberger Zeitung“ hat ihren Sportteil mit einem Bild von Pacho aufgemacht. Darunter steht: „Gestolpert, das Ziel vor Augen. Rechtsaußen Tobias Pachonik fand nur selten eine Lücke in der Berliner Verteidigung.“ Pachos Tag beginnt mit Witzen, die über ihn gerissen werden. Schon vor dem Chemieraum muss er die Häme über sich ergehen lassen. „Na, Pacho, war wohl nix gegen Hertha?“, stichelt ein Junge. „Ja, ja“, murmelt Pacho. Noch sieben Schulstunden, dann geht’s zurück ins Internat. Der Trainer hat ihm heute freigegeben. Pacho hat jetzt Zeit für Polli. Vor zwei Wochen schaute Polli das letzte Mal im Internat vorbei. Heute steht er in Pachos Zimmer und sagt: „Am liebsten würde ich hier wieder einziehen.“ Aus dem Jungen, der in Jogginghose und Badelatschen über die Flure schlurfte, ist der Business-Polli im feinen Anzug geworden. Wenn der 18-jährige Polli durchs Internat stolziert, rufen ihm seine ehemaligen Mitspieler zu: „Polli, du bist ja jetzt ein richtiges Model!“ Polli fährt im Ford Fiesta zum Internat, bald kriegt er einen Dienstwagen, einen Mini Cooper, darauf ist er schon jetzt stolz. Er macht eine Ausbildung zum Versicherungsfachmann. „Versicherungen sind genial“, sagt Polli. Den Menschen in Bayern gehe es gut. Da könnten sich viele eine Versicherung leisten. Polli bekommt ein festes Gehalt. Für jede verkaufte Versicherung erhält er zusätzlich eine 12

Provision. „Verkaufen kann ich“, sagt Polli, „ich bin gern auftreiberisch.“ Polli betreut 750 Kunden. Für sie sei er rund um die Uhr zu erreichen. Die meisten Leute rufen ihn erst abends an, sagt Polli. „Der Arzt muss nur noch bestätigen, dass ein Invaliditätsgrund vorliegt“, sagt Polli zu einem Kunden. Er sitzt auf einem Sofa, die Beine ausgestreckt, ein Arm liegt auf der Rückenlehne, das Smartphone am Ohr. Normalerweise spricht Polli hochdeutsch. Für seinen Kunden wechselt er ins Bayerische: „I hob ma des scho auf Termin g‘legt.“ Pacho freut sich auf eine Partie „FIFA“ gegen Polli. Das weiße Trikot von Real Madrid hängt immer noch über Pachos Bett. „Polli, wow, nicht schlecht“, sagt Pacho, als der in seinem Anzug vor der Playstation und dem Fernseher steht. Sie umarmen sich, dann set-

Pacho: »Du darfst dich verneigen!« Polli: »Ach komm, das ist doch ein Glückstreffer!«


zen sie sich vor den Bildschirm. Sie entscheiden sich für „el Clásico“. Pacho spielt mit Real. Polli mit Barcelona. Ein Spiel wie ihre Freundschaft. „Zwei Mannschaften, die in etwa ebenbürtig sind“, sagt der virtuelle Kommentator. 5. Minute, Polli geht in Führung. „Jaaa! Pacho, was ist los mit dir?“ Pacho zuckt mit den Schultern. Eben saß er noch gebückt, jetzt richtet er seinen Körper auf und starrt auf den Fernseher. 22. Minute, Pacho gleicht aus. Polli zupft sein Sakko zurecht. 32. Minute, Pacho geht in Führung. „Du darfst dich verneigen!“ „Ach komm, Pacho, das ist doch ein Glückstreffer!“ 52. Minute, wieder ein Tor, wieder für Pacho. Er springt auf, wirft den Controller aus der Hand, ballt die Fäuste und brüllt vor Freude. Dann geht er zu Polli. Shakehands, ein Spiel unter Freunden. •

Talentschmieden des deutschen FuSSballs Im Sankt Paul „Haus der Athleten“ leben zwanzig Talente im Alter zwischen 14 und 19 Jahren. Das Sportinternat gehört zum Leistungszentrum des 1. FC Nürnberg. 2001 beschloss die Deutsche Fußball Liga, dass alle 36 Profivereine in Deutschland ein Leistungszentrum für Nachwuchsspieler betreiben müssen – eine Reaktion auf die Europameisterschaft im Jahr 2000. Damals scheiterte die deutsche Mannschaft mit nur einem Punkt in der Vorrunde. Die Proficlubs haben seit der Saison 2001/02 über eine halbe Milliarde Euro in ihre Nachwuchszentren investiert. Dort wurden Weltstars wie Bastian Schweinsteiger oder Mesut Özil ausgebildet. Dieses Jahr gehört Deutschland zu den Favoriten auf den EM-Titel.

Früher haben Pacho und Polli sich das Zimmer im Wohnheim geteilt. Heute kommt Polli nur noch zu Besuch: „FIFA 2012“ auf der Playstation zocken. Pacho freut sich über sein Tor. Polli ist fassungslos.

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Mensch, Schabe! Schaben übertragen Krankheiten. Der Mensch hat ihnen den Krieg erklärt. Die „Krone der Schöpfung“ gegen 400 Millionen Jahre Lebenserfahrung Text J a n M o h n ha u p t Fotos t o n y S o j k a

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S

ie suchen Schutz in den Hosenbeinen von Gabriele wartet der Tod – Gifttests. Dafür müssen die Schaben gut genährt Schrader. 150 Kakerlaken verteilen sich auf ihrem Kör- und in genügend großer Anzahl im gleichen Entwicklungsstadium per, unter ihrer Kleidung, überall. Gabriele Schrader sein. Für einen Test werden achtzig bis einhundert Tiere benötigt. spürt ihre feinen Beine auf ihrer Haut, das Kribbeln. So- Sie werden hier nicht gezüchtet, um ihre Art zu erhalten, sondern fort zieht sie sich nackt aus – Arbeitskittel, Hose, Un- um vernichtet zu werden. Eine Anti-Arche. „Man geht davon aus, terwäsche – und schüttelt die Tiere ab. Wenn sie sich dass sie keine Schmerzen empfinden“, sagt Gabriele Schrader, als heute daran erinnert, steht sie mit hoch gezogenen Schultern da, die wollte sie sich selbst beruhigen. „Ich würde kein Tier einfach so tottreten.“ Sie ist fasziniert von ihnen, von ihrer Schönheit, der Arme um ihren Oberkörper geschlungen, als würde sie frösteln. „Das war kein Schock fürs Leben“, sagt Gabriele Schrader. Für sie Präzision ihres Körperbaus, ihrer Anpassungsfähigkeit. Sie nennt war es ein Arbeitsunfall. Täglich muss sie Schaben anfassen, füttern, sie „Wunder der Natur“. Doch die Situation ist klar: „Sie verunreinigen uns, deshalb müspflegen. Seit 1996 arbeitet sie in der Insektenzucht des Umweltbundesamtes in Berlin-Dahlem. Haus 23. Mit seinen Bullaugenfenstern sen wir sie vernichten“, erklärt Gabriele Schrader. „Wir schützen den und den glänzenden Metall-Schornsteinen wirkt es wie ein Schiff. Menschen.“ Schaben können Salmonellen übertragen, Typhus, TuEine moderne Arche Noah. Im Erdgeschoss werden kleine Kreaturen berkulose und Hepatitis verbreiten sowie Allergien auslösen. Nach gezüchtet, die Ekel erregen und Krankheiten übertragen können: jedem Hautkontakt mit den Schaben wäscht sie sich die Hände. „Mein Butterbrot würde ich nicht direkt danach anpacken“, sagt sie. Mücken, Wanzen, Flöhe. Und vor allem Schaben. Die Berliner nennen das Gebäude „Schabenbunker“. Die Scha- Empathie mit einer kleinen Portion Ekel. Gabriele Schrader meint, ben hausen in zwei rund zehn Quadratmeter großen Räumen – kon- der Mensch ist selbst schuld: „Schaben konnten sich nur so stark stante 26 Grad Celsius, siebzig Prozent Luftfeuchtigkeit – weiß ge- verbreiten, weil wir die Bedingungen geschaffen haben.“ Im Schabenbunker werden neben einigen tropischen Raritäten fliest. Der süßliche Geruch von faulendem Obst mischt sich mit dem Gestank von Ammoniak. In Metallregalen an den Wänden und mit- die vier Arten gezüchtet, die in Deutschland am häufigsten als Schädten im Raum stehen die grauen Zuchtboxen, manche so groß wie linge vorkommen. Die Amerikanische Schabe befällt vor allem GeUmzugskartons. Sie sind zusammengeleimt und verschraubt. wächshäuser und zoologische Gärten. Die Orientalische Schabe, die eigentliche Kakerlake, wird Bis zu jenem Arbeitsunfall auch als Bäcker- oder Gewaren sie nur geleimt. Dann meine Küchenschabe befiel beim Hochheben einer zeichnet, was ihre Lieblingsder Kisten der Boden ab und orte beschreibt. Seltener ist die Schaben ergossen sich die Braunband- oder Möbelüber die Fliesen. Oben sind schabe, die ihre Eipakete an sie mit Fliegengittern abgeHolzmöbel und Bettkästen deckt. Ein Streifen Klebstoff heftet. Die Deutsche Schabe an den Innenwänden hält die – lateinisch: Blatella germaniAusbruchskünstler zusätzca – ist hierzulande am häulich zurück, um die größten figsten in Wohnungen zu finBoxen verläuft ein Wasserden. Ihren Namen verdankt graben – ein Hochsichersie nicht ihrer Herkunft, sonheitstrakt. dern Carl von Linné. Der Gabriele Schrader öffnet schwedische Naturforscher einen der Behälter, greift hikonnte die Deutschen nicht nein und sammelt kleine leiden und verpasste ihnen dunkelbraune Kapseln auf. einen wissenschaftlichen Eipakete, sogenannte OotheDenkzettel. ken, in denen bis zu fünfzig Alle vier sind irgendwann Eier sein können. Sie sind einach Mitteleuropa eingenes der Erfolgsgeheimnisse wandert. Wie, wann und woder Schaben – völlig unempher, kann nur noch vermutet findlich gegen Gift und sogar werden, da sie mittlerweile gegen radioaktive Verstrahweltweit verbreitet sind. lung. Selbst Temperaturen Wahrscheinlich sind sie mit unter zwanzig Grad minus den ersten Völkerwanderunüberstehen sie. gen hergekommen. Als Attila Im Erdgeschoss schlüpmit seinen Hunnen im vierfen die kleinen Sechsbeiner, ten Jahrhundert halb Europa werden groß gezogen, mit in Bewegung setzte und vor Bio-Äpfeln und Möhren gesich hertrieb, waren Schaben füttert. Gabriele Schrader als blinde Passagiere wahrbereitet die Tiere vor, wie sie Keine Scheu: Gabriele Schrader gehen ihre Pfleglinge scheinlich mit dabei. es nennt. Eine Etage höher nahe. Manchmal näher, als ihr lieb ist. 15


Schaben gibt es seit 350 bis 400 Millionen Jahren auf der Erde, Wie Glühwürmchen. „Es gibt Schaben, die sind so bunt, dass sie jeden Menschen seit zwei bis drei Millionen Jahren. Wäre die bisherige dem Käfer und Schmetterling Konkurrenz machen.“ Am meisten Karriere der Schaben so lang wie ein Tag, die Ära der Menschen wür- faszinierte ihn schon als Kind, wie grazil die Tiere sich putzen, jedes Bein mit zwei anderen Beinen zum Mund führen und sich dabei verde im Verhältnis dazu knapp zehn Minuten betragen. Wer das Erfolgsmodell Schabe verstehen will, der ist bei Ingo biegen können. Schaben gelten als schmutzig, doch sie putzen sich Fritzsche richtig: Er reist um die Welt; er sucht, erforscht und be- ständig. „Sie haben einen regelrechten Putzwahn.“ Seine eigene Schabenzucht zu Hause hat Ingo Fritzsche aufgenennt neue Schabenarten. Außerdem ist er Chefredakteur einer „Zeitschrift für Wirbellose“ sowie der „Cockroach Studies“, eines ben müssen. Irgendwann reagierte er allergisch auf sie. Von ihrer Fachmagazin über Schaben. Seit seiner Jugend hat er Schaben als „chemischen Unterhaltung“ bekam er Kopfschmerzen und ihm wurde übel. Seine LiebHaustiere gehalten und gelingstiere haben ihn krank züchtet. Schon als kleiner gemacht. „Wenn ich große Junge faszinierten sie ihn: Zuchtanlagen betrete, In einer Gaststätte liefen kriege ich richtig Atemzwei Tiere die Wand hoch. not.“ Ihm bleiben nur die „Darf ich die mitnehmen?“, toten Exemplare. Er kann fragte er die Kellnerin. Und ihnen nicht mehr zusehen, noch heute weiß er, welche wie sie fressen, wachsen – Art das war: „Ein Pärchen oder sich putzen, während Blatta orientalis“ – Küandere daran arbeiten, sie chenschaben. massenhaft zu vernichten. Mit Schaben als Hobby „Das ist das Traurige darist man schnell eine Attrakan“, sagt Ingo Fritzsche. tion. Manche hielten Ingo Die meisten Menschen Fritzsche deshalb für einen ekeln sich vor Schaben. Sie Freak. Doch es war ihm egal. sind ein Gesundheitsrisiko, „Wer das nicht tolerierte, sie sind rufschädigend – war fehl am Platze“, sagt er welcher Mieter, Bäcker heute, frei nach dem Motto: oder Restaurantbesitzer Die Freunde der Schaben würde schon zugeben, dass sind auch meine Freunde – Scheibenwelt: Die Insekten wohnen in Türmen er Schaben zu Gast hat? Die und umgekehrt. aus Bierdeckeln. Kammerjäger kommen Eigentlich könnte die meist inkognito, fahren in Zeit für Schabenfans nicht besser sein. „Wir leben im Zeitalter der größten Schaben“, erzählt er weißen Kleintransportern ohne Werbeaufkleber vor, so wie Thomas stolz. „Bis zu zehn Zentimeter Körperlänge und 25 Zentimeter Flü- Gralski, der in Wahrheit anders heißt. Auch er möchte unbekannt gelspannweite.“ Aber kaum jemand interessiert sich für sie. Als bleiben. Schaben sind Thomas Gralski egal. Er redet lieber über Ratten. Schaben-Experte hat Ingo Fritzsche quasi keine Konkurrenz, er ist einer von sechs Forschern weltweit, die nach neuen Arten suchen. „Ratten bekämpfen macht Spaß.“ Die muss er überlisten. Da wird der Geschätzt wird seine Arbeit kaum. Lukrativ ist nur das Töten. Mit Jagdtrieb in ihm geweckt. Schaben zu jagen, langweilt ihn. Mit speziSuchen wird man nicht reich. „Es ist eine extrem harte Arbeit, weil es ellem Schaben-Gel oder Gas hat er sie im Griff, glaubt er. „Letztes Jahr habe ich nur drei Einsätze gehabt.“ noch so viele unbeschriebene Arten gibt“, sagt Fritzsche. Um sie zu erledigen, werden Neurotoxine eingesetzt, die die NerZwischen 3 750 und 4 500 Schabenarten sind bekannt, zwölf davon leben in der Nähe des Menschen. „Sie nutzen uns, brauchen uns venzellen zerstören: Die Schaben verlieren die Kontrolle über ihren aber nicht“, sagt Fritzsche. Für die Schaben ist der Mensch nur ein Körper und sterben sekundenschnell. „Köder oder Gel kann ich nur weiterer Bewohner der Erde, der irgendwann wieder verschwunden benutzen, wenn sonst keine Futterreste herumliegen, die attraktiver sein wird. Dabei könnte der Mensch einiges von ihnen lernen, von sind.“ In einer Messi-Wohnung, die für jede Schabe wie ein Wühl400 Millionen Jahren Lebenserfahrung. In Bernstein eingeschlossen tisch im Kaufhaus sein muss, benutzt er ein Gasgemisch, das innerfinden sich Schabenfossilien, die noch in heutige Gattungen und Ar- halb von acht Stunden zerfällt. Zurück bleiben die Kadaver. Thomas ten eingeordnet werden können. Sie haben sich nicht verändert. Weil Gralski erinnert sich an eine Mietwohnung, in der die dämmerungssie es nicht mussten. Ob Umweltkatastrophen, Klimaveränderungen aktiven Tiere schon tagsüber durchs Wohnzimmer flitzten. Ein Zeioder Feinde – die Schabe hat alles überstanden. „Die kleinen Biester chen für Überfüllung. „Die kamen aus jeder Ecke“, sagt er staunend. haben eine Menge in sich, was wir vielleicht irgendwann noch brau- Als er das Gift versprühte, kletterten die Tiere die Wände hoch, um chen.“ Das Pentagon, erzählt Ingo Fritzsche, entwickelt bereits sich vor dem giftigen Nebel zu retten. Gralski schloss sofort die Tür. Kleinstroboter, um Landminen aufzuspüren. Nach dem Vorbild von Von draußen hörte er das Aufticken der Chitinpanzer auf dem Fußboden. „Das waren Hunderte.“ Schaben, „weil ihre Laufbewegung einfach das Optimale ist.“ Die Fronten sind geklärt: „Wir wollen nicht mit denen leben“, Wenn Ingo Fritzsche von seinen Lieblingstieren redet, nennt er sie „Künstler der chemischen Unterhaltung“: Sie kommunizieren sagt ein Kollege von Gralski. „Es gilt: die oder wir. Und noch sind wir über Duftstoffe, Pheromone, mit denen sie Futterstellen anzeigen, die Stärkeren.“ Noch. • andere Artgenossen warnen oder anbaggern. Manche leuchten sogar. 16


Die oder wir? Fakten, die für Schaben sprechen Kopflos agieren Schaben, denen der Kopf abgetrennt wurde, zappeln noch bis zu zwei Tage lang und können sich in diesem Zustand sogar fortpflanzen

Schauspielern Schaben haben in zahlreichen Filmen als Haupt- oder Nebendarsteller mitgewirkt: In dem Musicalfilm »Joe’s Apartment« (1996), helfen sprechende Kakerlaken dem Hauptdarsteller, seine Wohnung gegen Immobilienhaie zu verteidigen und die Liebe seines Lebens zu finden. In »Men in Black« (1997) versuchen außerirdische Schaben die Welt zu vernichten, und in Disneys EndzeitSchmonzette »Wall-E« (2008) ist eine Schabe der einzige Begleiter des Roboters und Protagonisten

Fauchen Die Madagaskar-Fauchschabe (Gromphadorrhina portentosa) warnt ihre Feinde und unterhält sich mit Artgenossen, indem sie zischt wie ein Schnellkochtopf

Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Museums für Naturkunde, Berlin

Flitzen Die Amerikanische Schabe (Periplaneta americana) kann 75 Zentimeter pro Sekunde zurücklegen

Sensibel sein Schaben nehmen extrem feine Luftschwingungen wahr. Ein Rechenbeispiel: Eine vierzig Zentimeter große Schabe würde noch eine Luftschwingung von einem Millimeter wahrnehmen

Wie die Jungfrau zum Kinde kommen Einige Schabenarten vermehren sich durch Jungfernzeugung. Ein Tier als Perpetuum mobile


Die Kopfjägerin Auflauern, einkreisen, zuschlagen. Headhunterin Petra Feldmann ist auf der Jagd nach den Besten Text F r i e d e r i k e L ü b k e Foto Ba s t i a n G e h b a u e r

S

Der Titel kommt aus den USA, die Tätigkeit auch. In Deutschland nennen sie sich lieber „Personalberater“, das klingt weniger nach Blut und mehr nach Beamten, obwohl es trotzdem darum geht, die besten Köpfe zu finden. Erst seit den neunziger Jahren können deutsche Unternehmen legal nach Mitie treffen sich an der A3: Eine Autobahnrast- arbeitern suchen lassen. Das Problem ist: stätte zwischen Montabaur und Limburg, Die Besten haben meistens schon einen Job. zufällig parken sie nebeneinander. Am Tele- Bei der Konkurrenz. fon hat sie gesagt: „Ich bin groß und fahre einen Geländewagen.“ Als sie aussteigt, er- Seit 16 Jahren sitzt sie nur noch, findet Petra kennt er sie sofort: 1,85 Meter, Hosenanzug, Feldmann. Als sie noch im Buchhandel als kurzes Haar. In der Raststätte bestellen sie Filialleiterin gearbeitet hat, ist sie mehr geKaffee. Tobias Leihnerbach* findet den Treff- laufen, besonders am „Schlado“, dem punkt niveaulos, so ein Laden an einer Tanke. Scheiß-langen-Donnerstag, dafür war sie Mit ihren Vorgängern hat er sich in Hotels innerlich unbeweglicher, hatte sich schon getroffen, aber dieses Mal ist er nur halbher- eingestellt auf diese Zukunft: Reihenhauszig dabei. Bei Petra Feldmann ist es umge- Mann-Kind. Den Mann hatte sie schon, aber kehrt: Diesen Leihnerbach will sie haben, da- dann kam dieser Silvesterabend, sie wollte rum ist sie ihm entgegengefahren. Die beiden endlich mal feiern, die anderen waren müde sitzen in der Raststätte, zwischen sich die und lustlos, also zerrte sie die ganze Truppe Tassen. Leihnerbach sieht sie an und denkt: durch die Nacht. Am Neujahrsmorgen sagte locker, ehrlich, nicht so abstoßend professio- einer zu ihr: „Frau Feldmann, Sie können nell. Später wird er sagen, dass er ihr gleich unpopuläre Entscheidungen treffen. Sie sollten Personalberaterin werden.“ Und so vertraut habe, der Headhunterin. kam es. Der Mann holte sie zur Beratungs* Name von der Redaktion geändert 18

firma Ray & Berndtson, einer Branchengröße. Als sie ihren ersten Arbeitsvertrag unterschrieb, weinte sie, weil sie wusste: Hier endet ihr altes Leben. Heute denkt sie: Das Reihenhaus-Leben wäre gut gewesen, das hier ist besser. Jetzt sucht sie Personal, acht Stunden täglich, bis in den Abend und manchmal auch am Wochenende. Petra Feldmann hat Leihnerbachs Lebenslauf gelesen. Während sie sich unterhalten, sieht sie, was die Vita nicht preisgibt. Ist er ein Wichtigtuer? Ein Aufschneider? Ein Karrieremensch? Nach dem Treffen schreibt sie in sein Profil: „Angenehmer und eloquenter Gesprächspartner“ und „in der Diktion sehr präzise“. Der erste Eindruck entsteht im Bruchteil einer Sekunde. Danach wird dieses Bild nur noch abgeklopft. Anderthalb Stunden sitzen Feldmann und Leihnerbach in der Raststätte. Wenn sich Headhunter und Kandidat so viel Zeit nehmen, tauschen sie wortlos eine Botschaft: Ich bin interessiert. Den größten Teil ihrer Zeit arbeitet Petra Feldmann zu Hause: Ein weißer Bungalow in Bad Homburg, im Arbeitszimmer PC, Headset, Telefon und Smartphone, mehr braucht sie für die Suche nicht. Sie trägt Jeans und


Den Elchkopf aus Pl체sch haben ihr Kollegen geschenkt, damit sie auch einmal eine Troph채e an die Wand h채ngen kann.

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Wollsocken, im Flur schnauft ihre Hündin. Vom Schreibtischstuhl aus sieht sie einen handtellergroßen Buddha, der lächelnd auf der Fensterbank hockt, und einen Bilderrahmen mit dem Spruch: „Das Leben hat nicht nur Schattenseiten, sondern auch Nachteile.“ Morgens loggt sie sich als Erstes bei „Xing“ ein. Das Internet ist ihr größtes Jagdrevier. Auf Plattformen wie „Xing“ oder „Monster“ stehen mehr als fünf Millionen deutschsprachige Profile. Außerdem hat jeder größere Betrieb einen Internetauftritt mit Ansprechpartnern. Was nicht online steht, lässt sich am Telefon herausfinden. Allerdings spricht kein Unternehmen mit einem Personalberater, den es nicht selbst beauftragt hat. Berater beschäftigen deshalb Researcher, die am Telefon sagen: „Ich interessiere mich für Ihre Produkte, können Sie mir einen Katalog schicken? Und wie heißt eigentlich Ihr Vertriebsleiter für Hessen?“ Researcher rufen auch nachts an, wenn statt der misstrauischen Sekretärin nur noch der Mann vom Werkschutz den Hörer abnimmt. Der langweilt sich und plaudert leicht etwas aus. Hat sie eine Durchwahl bekommen, nimmt Petra Feldmann Kontakt auf. An diesem Morgen hat sie eine Frau gefunden, die genau auf eine Stellenbeschreibung passen würde. Headset auf, anrufen: „Guten Tag, hier ist Petra Feldmann, Personalberatung. Können Sie gerade sprechen?“ „Ich rufe an im Auftrag eines Kunden, und zwar geht es um eine Stelle als Trainer und Vertreter, kennen Sie vielleicht jemanden, den das interessieren würde?“ „Oder wäre es vielleicht für Sie selbst interessant?“ „Vielleicht können Sie sich mal umhören?“ Aufgelegt. Kein Treffer.„Die sitzt warm, die will nicht weg.“ Der Trick ist, so zu tun, als ginge es nur um eine Auskunft. Menschen denken zuerst an sich selbst. Wenn sie hören, dass andere etwas bekommen sollen, wollen sie es auch. Allerdings muss Frau Feldmann aufpassen; einen widerwilligen Kandidaten kann sie ihrem Kunden nicht vorstellen, einen schlechten auch nicht. Die wichtigste Branchenregel lautet: Der Headhunter ist nur so gut wie sein Kandidat. Sie sagt: „Ich bin wie der alte Onkel Hipp, ich stehe dafür mit meinem Namen.“ Personalberatung ist eine Dienstleistung. Petra Feldmann lebt von Industrie-Unternehmen, Schwerpunkt Maschinen- und Anlagebau, die bereit sind, für die Suche nach einem neuen Mitarbeiter etwa ein Viertel sei20

das. Ein Jahr, nachdem sie ihnes ersten Jahresgehaltes zu zahMänner ren Führerschein hatte, len. Bei ihren Kandidaten liegt stellen ein, wie rutschte sie mit ihrem Modieses Gehalt zwischen 65 000 und 130 000 Euro. 19 Kandidasie einkaufen. torrad unter einen Lastwagen. Es wäre so spektakulär ten hat sie im vergangenen Jahr Ist die Auswahl; wie folgenlos geblieben, vermittelt. Die Unternehmen wenn unter dem Lkw nicht bezahlen sie in Raten. Die erste, zu groß, noch ein Feuerlöscher gewenn sie den Auftrag übernehmen sie hangen hätte. Die Halterung nimmt. Die zweite, wenn sie nichts bohrte sich in ihr Kinn, der Kandidaten vorstellt. Die dritte, Motorradhelm verstärkte wenn jemand eingestellt wird. Aber je mehr Auftraggeber sie hat, desto den Druck, ihre Gesichtsknochen splitterten kleiner wird ihr Kandidaten-Pool, denn wer bis unter die Augenhöhlen. Die Ärzte wollten ihr einen Auftrag gegeben hat, dem darf sie ihr ein neues Gesicht machen, aber sie war 19 und noch nicht ausgewachsen. Bis zu ihzwei Jahre lang niemanden abwerben. Im besten Fall präsentiert sie ihrem Kun- rem 27. Geburtstag war da, wo normalerweiden drei gute Kandidaten. Sind es weniger, se der rechte Wangenknochen sitzt, ein Loch. könnte ihr Auftraggeber denken, sie habe Sie trug oft Rollkragenpullover und kämmte nicht sorgfältig gesucht. Sind es mehr, sieht die Haare ins Gesicht. Einmal sagte trotzes so aus, als sei die Nachfrage so groß, dass dem ein alter Mann zu ihr: „Unter Adolf hätsie überflüssig war. Außerdem sind ihre Auf- te es das nicht gegeben.“ Ihre Antwort: „Und traggeber meist Männer, und Männer stellen wie haben Sie dann überlebt?“ Um einen ein, wie sie einkaufen; ist die Auswahl zu Spruch ist sie nie verlegen. Einen ganzen Tag dauert Leihnerbachs groß, nehmen sie nichts. Am Tag nach dem Treffen an der Rast- Vorstellung beim Arbeitgeber. Er hat sechs stätte bekommt Leihnerbach schon morgens Einzelgespräche, jedes eine Stunde lang. Peum halb acht einen Anruf. „Sie haben da ein- tra Feldmann ist die ganze Zeit dabei. Vor jegeschlagen wie eine Bombe, die wollen Sie dem Gespräch sagt sie ihm: „Der ist brav“ sofort sehen, können Sie morgen um 13 Uhr?“ oder „der will Ihnen auf den Zahn fühlen“. Leihnerbach trinkt viel Kaffee. Leihnerbach nimmt sich frei. Petra Feldmann arbeitet mit Tabellen, auf denen sie ankreuzt, wie sie jemanden Petra Feldmann vermittelt mittelgroßen Fireinschätzt. Stimme: laut/leise/Sprachfeh- men hauptsächlich Ingenieure. Männer in ler/Dialekt. Sie ist jetzt fünfzig, sie hat Er- Karohemden, die sich drei Tage lang quälen, fahrung. Sehen. Reden. Beurteilen. Es gibt um ihren Lebenslauf zu schreiben. Da ist sie nur eine Frage, die sie Kandidaten nie stellt: mit ihrer Art genau richtig, wenn sie über sich „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“ Das kann selbst Sätze sagt wie: „Vorne ist, wo die Broniemand wissen, Dinge passieren, sie kennt sche steckt.“ Die Arbeit der Ingenieure muss sie nicht im Detail verstehen, aber die Branche. Sie will sich bald auch den Markt der Landmaschinen erschließen, also klickt sie sich durch die Website einer landwirtschaftlichen Messe und notiert die Namen der wichtigsten Aussteller. Dann schaut sie sich Personalberater arbeiten in Deutschland. deren Seiten an. Stehen dort viele Stellenanzeigen, lohnt es sich anzufragen: „Ich sehe, dass Sie suchen. Vielleicht kann ich helfen?“ Umsatz machte die Branche 2010. Leihnerbach bekommt die Stelle. Täglich pendelt er 170 Kilometer von Bonn nach Frankfurt am Main und wieder zurück. Das Unternehmen befördert ihn. Er leitet erst eiStellen wurden 2010 durch Personalberane, dann zwei Abteilungen. Die Arbeit gefällt ter besetzt. 27,3 Prozent waren Positioihm, aber die vier Stunden Fahrt werden ihm nen in der Unternehmensleitung. zu viel. Nach drei Jahren kündigt er. Es ist nie nur eine Frage des Geldes. Petra Feldmann glaubt, dass viele Mender Beratungsgesellschaften finden, dass schen am Schreibtisch sitzen, sich umim Mittelstand die persönliche Beziehung schauen und denken: „Hier könnte noch zwischen Klient und Berater über die Vergabe von Mandaten entscheidet. mal was passieren.“ Sie wollen gefunden werden. Sie träumen davon, dass endlich Quelle: BDU e. V. 2010/2011

Zahlen 5 250

1,3 Milliarden Euro

44 700

91%


jemand ihr Potenzial erkennt. So wie der fragt Frau Feldmann ihre Schwester als Ers- In den Profilen stehen Sätze wie „am Telefon Mann, der sie nach der Silvesterfeier in die tes. Ununterbrochen knüpft sie an ihrem etwas spröde“ oder „nicht für einen internaPersonalberatung holte. Wenn sie anderen Netz. Der Tochter eines Bekannten half sie tionalen Konzern geeignet“. Auch wer einen Menschen eine neue Stelle vermittle, ge- bei der Berufssuche. Sie traf sich mit ihr. Ei- schlechten Eindruck macht, kommt in die ne Stunde, ein Kaffee. Ein halbes Jahr später Kartei. Er kann allerdings sein ganzes Berufsschehe das nur zu deren Bestem, sagt sie. Als Leihnerbach selbst Vorgesetzter ist, konnte sie den Bekannten fragen, ob er von leben auf neue Chancen hoffen, er wird nicht sucht er neue Mitarbeiter. Er ist inzwischen freien Stellen weiß. Tat er nicht, aber er hör- mehr angerufen. Von Stellenanzeigen hält Leihnerbach mit Petra Feldmann befreundet, alle drei Wo- te sich für sie um. Sie lebt von diesen Kontakten. Manche nichts. 95 von 100 Anzeigen, die am Samstag chen telefonieren sie miteinander. Er muss darum nicht lange überlegen, wen er mit der Firmen laden Personalberater ein, fünfzig in der FAZ stehen, könne man wegwerfen, Suche beauftragt. Leihnerbach findet, eine stellen sich vor, nur einer bekommt den Auf- weil sie viel Geld kosten und wenig bringen. Stelle zu besetzen, sei, wie ein Puzzleteil zu trag. Bei solchen „Pitches“ gibt Petra Feld- Da steht dann „flexibel und belastbar“. Was suchen. Es gibt tausend Teile, aber nur dieses mann zu erkennen, wen sie kennt und mit heißt das schon? Besser wäre zum Beispiel eine, einzige Teil, das passt. Ans Arbeitsamt wem sie schon gearbeitet hat. So macht sie „ein Kopfmensch, der arbeiten kann wie ein das auch auf Messen. Der Prospekt mit ihrem Bauchmensch“, aber das kann man in der hat er sich noch nie gewandt. Petra Feldmann ahnt hinter jedem Men- Angebot ist exakt so groß wie die Einsteckta- FAZ nicht schreiben, und vielleicht würde es schen schon die zwei anderen, die dieser sche im Anzug. Das ist kein Zufall. In einer auch niemand verstehen. Um fünf Uhr nachmittags macht Petra kennen könnte. Dahinter stehen vier, dann roten Mappe auf ihrem Schreibtisch liegen acht, sechzehn, ein riesiges Netz. Mittags die Lebensläufe aller Menschen, die sie zur- Feldmann Pause. Nach sieben Uhr ruft sie klingelt der Paketdienst bei ihr. Der Bote zeit im Blick hat. Neben ihr steht ein Hänge- mögliche Kandidaten unter ihren Privatkommt aus der Türkei, steht kurz vor seiner ordner mit alten Fällen. Sie hebt alle Notiz- nummern an. Erst dann hängt sie ihr Headset Hochzeit und sucht ein Haus. Petra Feld- bücher auf, genau wie die Schreibtisch- auf, streichelt die Hündin. Heute hat sie niemann weiß all das aus dem kurzen Gespräch unterlagen, auf die sie sich beim Telefonieren manden gefunden, der auf eine ihrer Stellen an der Tür. Als sie nachmittags im Büro ihrer Notizen gemacht hat. Und dann gibt es noch passt, aber sie ist sich sicher, dieser Mensch Schwester anruft, nimmt eine Frau Schmidt eine Liste im Firmencomputer. Jeder, mit muss da draußen sein. Sein Telefon wird bald klingeln. • den Anruf entgegen. „Wer ist Frau Schmidt?“, dem sie einmal gesprochen hat, wird erfasst.


Der Ex-Kommunarde Rainer Langhans sucht den Sinn. Seit Jahrzehnten. Jetzt hat er ihn gefunden

Das richtige Text C l a u d i a M a i e r Fotos k aja Sm i t h


Leben 23


ßen Laken. Sein Bett. Daneben stehen Bücher, auf denen Fernbedienungen für Fernseher und Videorekorder liegen, die dem Bett gegenüberstehen. Vor den Büchern ein grauer Laptop. Langhans sitzt lächelnd und weiß gekleidet auf der Matratze. Graue Locken berühren die Wand. Zwei nackte Energiesparlampen baumeln über seinem Kopf. Schon als Kind war er ein Suchender, sagt er. Von seinen Eltern hat er gelernt, wie er nicht leben wollte. Der Vater liebte schnelle Autos und Frauen. Er scheiterte an beidem. Die Autohäuser, die er leitete, gingen bankrott. Beziehungen blieben sprachlos und tot. Die Mutter hielt Affären und Pleiten aus. Wenn Rainer Langhans etwas tat, was ihr nicht gefiel, sagte sie: Du bist wie dein Vater. Den Vater beschreibt Langhans als Playboy. „Ein durch und durch materieller Typ.“ Langhans’ Wohnung dagegen: knapp dreißig Quadratmeter Verzicht. Auf dem kleinen weißen Küchentisch ein Brettchen, davor steht ein Stuhl. In der Spüle ein Teller, daneben ein Glas, aus dem Langhans morgens kochend heißes Wasser schlürft. Im Backofen liegen Medikamente. Langhans backt nicht. Auf dem Herd ein Topf, eine Pfanne, zwei Bilder vom Meister. Unter der Spüle mehr weiße Pullover, Hemden und Hosen. Daneben die DVDs vom Dschungelcamp. Fünf Mangos auf der Fensterbank passen nicht ins Bild. Auch die Erdbeeren nicht. Es ist März.

1968

hat Rainer Langhans, damals 28, den Sinn des Lebens erkannt. Als die Phase vorbei war, ging der Sinn verloren. Langhans wollte zurück zu dem Zustand, für den er bis heute keine Worte findet. Versuchte es mit Drogen, mit Sex, mit Kunst, mit Musik und mit Uschi. Gefunden hat er den Sinn so nicht. Langhans ist die langhaarig-lockige Symbolfigur der 68er-Bewegung. Er ist Ex-Bewohner der Kommune 1, die Gegenmodell sein wollte zur bürgerlichen Kleinfamilie. Langhans lebte offene Liebe und gab Interviews: sein Leben als Vorbild für Andere, weil das Private politisch ist. Davon ist er auch heute noch überzeugt. Doch etwas hat sich verändert: Langhans hat seit 1972 einen Meister. Nur einmal traf er den Mann, der ihn gerettet hat. Ein kleines Bild des bärtigen Meisters hängt heute an der Wand in seinem Schlafzimmer. Sonst sind die Wände weiß, nur ein dunkler Fleck ist an der Stelle, an die Langhans seinen Kopf lehnt, wenn er im Bett sitzt, liest oder fernsieht. Auf dem Boden liegen weiße Teppiche, die Langhans wieder gerade zieht, nachdem er darüber gelaufen ist. In der Mitte des Raums eine Matratze mit wei-

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Die Sonne scheint. Langhans ist mit Christa Ritter zum Tischtennisspielen verabredet. Ritter ist eine der fünf Frauen, mit denen Langhans seit vierzig Jahren redet. Sex haben sie nicht oder fast nicht. Jedenfalls nicht so wie die Anderen. Trotzdem bezeichnen die Frauen sich als Harem, weil die Anderen sie Harem nennen. Langhans ist davon überzeugt, dass man die Begriffe verwenden muss, die die Menschen kennen, um Neues zu vermitteln. Doch der Harem lebt vereinzelt. Jeder in einer eigenen, kleinen Wohnung. Fünf Kinder hat der Harem, keines ist von Langhans. Ritter traf Langhans 1978. Da war sie 36, eine erfolgreiche Agentin für Fotografie, aber das reichte ihr nicht. „Ich fühlte nur tiefste innere Traurigkeit, ein großes, schwarzes Loch.“ Sie suchte mehr. Ritter hoffte es beim Film zu finden, sie wollte Regisseurin werden. Bei Dreharbeiten traf sie Langhans. Die anderen Mitglieder der Crew fanden ihn komisch, deshalb nahm Ritter ihn im Auto mit. Ritter wollte ihn verführen. Es gelang ihr nicht. Langhans hatte seinen Meister schon gefunden und gelernt: Sex ist der Tod. Zu viel Körper und zu wenig Geist, Sex lenkt ab vom Weg nach innen, von der Meditation. Auch wenn Ritters Flirtversuche scheiterten: „Rainer hat mich innerlich berührt.“ Langhans hatte etwas, was sie suchte. Was folgte, waren Gespräche. Rauchen, trinken, kiffen, Fleisch essen. Christa Ritter hörte mit allem auf: „Ich war high durch Rainer.“ Der nächste Schritt war schwerer: Ritter traf die anderen Frauen des Harems. „Das waren erst mal Rivalinnen.“ Sie redeten und redeten: über ihre Gefühle, die Suche, die Anderen. Ihre Gespräche nahmen sie auf Kassetten auf, damit die Abwesenden nichts verpassten. Langhans war nie ihr Guru. Er war bloß der Entschie-


Ganz in weiß fühlt Rainer Langhans sich am wohlsten. Auch in seiner Wohnung ist vom Küchentisch bis zur Garderobe alles weiß.

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Körperliche Fitness ist ihm wichtig. Zu Hause turnt Rainer Langhans an der Klimmzugstange. Am Nachmittag trifft sich der Harem im Park: spazieren gehen und Tischtennis spielen. Hier mit Christa Ritter (rechts).

Vieles hat Langhans ausprobiert, nichts hat geholfen. Nicht einmal die Liebe zu Uschi Obermaier

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denste unter ihnen. Nicht korrumpierbar. Manchmal haben die Frauen ihn dafür gehasst. Gnadenlos sprach er alle Schwächen an. Offene Kommunikation zwischen allen und gleichzeitig das Gefühl, von einer „Superpolizei“ beobachtet zu werden. „Wie heute im Netz“, sagt Ritter, „das haben wir vorweggenommen.“ Das Internet ist derzeit das wichtigste Thema für den Harem: grenzenlose Kommunikation, bei der der Körper in den Hintergrund tritt. Deshalb unterstützt Langhans die Piratenpartei. Knapp die Hälfte seines DschungelGehalts hat Langhans der Piratenpartei gespendet: 20 000 Euro. Langhans ist nicht wegen des Geldes in das Dschungelcamp von RTL gezogen. Für ihn waren die Tage im australischen Dschungel eine weitere Kommunenerfahrung. Die anderen Teilnehmer und die Zuschauer könnten von seinen Erfahrungen lernen, hoffte er. Kurz war er als Kandidat der Piraten für das Bundespräsidentenamt im Gespräch. Die Partei sprach sich dagegen aus. Langhans sei frauenfeindlich und faschistisch. Frauenfeindlich, weil er weitere 20 000 Euro an Wikileaks-Gründer Julian Assanges spendete, der der Vergewaltigung verdächtigt wird. Faschistisch, weil er einem rechtsextremen Magazin ein Interview gab. Langhans sagt: Kommunikation ist Liebe. Deshalb spricht er mit allen. Er wäre gerne Kandidat geworden.


Als er zur Tischtennisplatte im Münchner Luitpold- Daunenjacke aus und steckt den Pullover in die Hose. park kommt, spielt Ritter schon. Sie hat Arnold Herber Wenn er schmettert, zieht er seine linke Hand aus der mitgebracht. Ritter spielt engagiert. Sie lacht viel. Die Hosentasche. Sein Lächeln verliert er nur kurz nach vergrauen Haare fliegen. Herber zählt die Punkte. Die beiden schlagenen Bällen. Wenn Herber die Punkte falsch zählt, haben sich bei einer Mitfahrgelegenheit kennengelernt. korrigiert er ihn. Brigitte spielt mit Rainer. Sie hüpft, juAuf der Fahrt will Ritter gespürt haben, dass Herber auf belt über jeden gewonnen Punkt. Als sie Langhans kender Suche war nach dem, was sie gefunden hat. Die inne- nenlernte, war sie Model, kurz zuvor war mal wieder eine re Leere von früher fühlt sie schon lange nicht mehr. Sie große Liebe gescheitert. Sie fragte: Wer bin ich und was hat Herber zu Langhans’ siebzigstem Geburtstag einge- will ich? Er hielt ihre Fragen aus. Seine Antworten waren laden. Der neue Freund war fasziniert: „Rainer verkörpert erst schmerzhaft, dann befreiend, sagt Brigitte Streubel. Auch sie wollte Langhans verführen, das klappte eigentdie Figuren, über die ich gelesen habe“, sagt er. Manchmal suchen Fremde wie Arnold Herber die lich bei allen Männern. „Aber Rainer war unter der Hüfte Nähe zum Harem. Weil der Harem anders lebt, Materiel- nicht erreichbar“, sagt sie. Heute wisse sie, dass die les nicht wichtig nimmt, eine Alternative anbietet zum Energie bei herkömmlichen Menschen nach unten bloßen Immermehr. Weil er die Fragen der Suchenden drängt. Ihre Aufgabe sei es, sie nach oben zu bringen. In ernst nimmt. Im Harem gibt es keine Konkurrenz um das den letzten Jahren hätten sie hin und wieder Sex, Streuschönste Haus, Auto oder Boot. Bewundert wird, wer mit bel klingt fast ein wenig stolz. Aber nicht so wie die Anwenig auskommt. Der Harem wirbt nicht um neue Mit- deren, fügt sie hinzu. Von Rainer habe ich gelernt, was glieder. Die Menschen kommen suchend dazu, wie Her- Zärtlichkeit ist, sagt sie. ber. Alle Menschen sind Sucher, glaubt Langhans. Gespräche sind wichtig: „Wenn ich mich austausche, zeige Auf einer Parkbank in der Nähe der Tischtennisplatte ich, dass wir alle eins sind in diesem Bemühen.“ Lang- sitzt eine der Anderen. Auch sie ist ungefähr siebzig, hans weiß, dass die meisten Anderen ihn für einen Spin- raucht. Der spinnt, der Langhans, sagt sie lachend und ner halten. Er spricht oft über die Anderen: über die bayerisch. Sie lacht über die weißen Klamotten, LangFrauen, die materieller seien als Männer. Die alten Kom- hans’ Auftritte bei miesen TV-Shows, wie dem Dschunmunarden, die ihn für mediengeil hielten. Auch seine Fa- gelcamp und dem Promi-Dinner. Damals, zu ihrer Zeit, milie sind die Anderen, weil er, der mit allen zu reden da sei er noch jemand gewesen. Und jetzt: eine Witzfigur. Beim Promi-Dinner habe er das Besteck abgeleckt und bereit ist, mit ihnen nicht reden kann. Langhans hat drei Geschwister. Bis er 13 war, lebte die Familie in der DDR. Dann zog sie in die Bundesrepublik. Langhans dachte, sie führen in den Urlaub. Aber sie blieben. Dem großen Umzug folgten viele kleine. Der Vater scheiterte immer wieder, die Familie zog dauernd in eine andere Stadt. Langhans wechselte die Schulen, dann kam er ins Internat. Er stritt mit dem Vater und den Geschwistern. Schließlich musste er die Familie verlassen. Das machte nichts. Er hatte ohnehin das Gefühl, nicht dazuzugehören. Auch auf dem Internat der Herrnhuter Brüdergemeine habe er es mit den Menschen nicht so hingekriegt, sagt Langhans. Er hatte andere Fragen als seine Mitschüler. Die christlichen Rituale blieben ihm ein Rätsel. Er konnte nicht an etwas glauben, das er nicht sah. Spiritualität war ihm damals noch fremd. Die kam später. Vorher: Studium und Abbruch des Studiums. Bundeswehr. Und dann endlich die Kommune. Das wahre Leben. Das Private ist das Politische. Nur wer sich selbst und seine Lebensumstände ändert, ändert die Gesellschaft. Liebe, Offenheit, Kommunikation. Was es genau war, kann Langhans nicht sagen. Für diese spirituelle Erfahrung von '68 sei die materielle Sprache nicht gemacht. Was es auch war, er wollte es zurück, als '68 vorbei war und die meisten in ihr altes Leben zurückkehrten. Vieles hat er ausprobiert. Nichts hat geholfen. Nicht einmal die Liebe zu Uschi Obermaier, dem Model und bayerischen Kultgroupie. Langhans fühlte sich verloren. Dann begann er zu meditieren. Brigitte Streubel kommt zur Tischtennisplatte im Park. Sie spielen ein Doppel. Langhans zieht seine weiße

in die Schublade zurückgelegt. Gesehen habe sie das selbst nicht, aber gehört. In Schwabing spricht man so über Langhans. Langsam wird es dunkel und zu kalt zum Tischtennisspielen. Die Gruppe verabredet sich für den nächsten Tag. Eine der Frauen des Harems liegt im Krankenhaus. Sie hat Krebs. Morgen darf sie vielleicht kurz raus. Dann wollen sich alle treffen. Langhans geht allein nach Hause. Vorbei an der Anderen, da auf der Bank, die ihm flüchtig zunickt. Er lächelt. • 27


»Du bist ja eh nie da Sie will ihr eigenes Geld verdienen, will wieder dabei sein. Aber sie ist nicht die Wunschkandidatin eines Arbeitgebers – wie eine berufstätige Mutter im Konflikt zwischen Kind, Chef und sich selbst verschwindet Text J u d i t h F i e b e l k o r n Fotos B e n n y G o l m

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ie ist stolz auf das, was sie erreicht hat. Die gelernte Hotelfachfrau ist schnell aufgestiegen zur Assistentin der Geschäftsleitung. Elke Simonsen* arbeitete damals für eine Firma, die Messanlagen herstellt. Sie liebt ihren Job, selten verlässt sie das Büro schon nach acht Stunden, sie ist angesehen bei den Kollegen, finanziell unabhängig. Dann kommen immer weniger Aufträge herein. Als ihr gekündigt wird, ist sie vierzig Jahre alt. Doch das erschüttert die große, energische Frau nicht. Sie wird schnell schwanger, eine Entscheidung, die sie sonst womöglich nie getroffen hätte. Jetzt passt es gerade. Sie ist sicher: Nach zwei bis drei Jahren wird sie wieder im Beruf stehen. Sie ist gut ausgebildet, sie hat Erfahrung, sie kann etwas. Ihre Freundinnen halten sie für naiv. Die arbeiten wieder, sobald ihre Kinder alt genug sind für die Krippe. Doch Frau Simonsen will sich den Luxus gönnen, zu Hause bei ihrer Tochter zu sein, deren erste Jahre intensiv mitzuerleben. Sie kann es sich leisten, ihr Mann verdient gut. Dafür arbeitet er aber auch so viel, dass die Hausarbeit an ihr allein hängen bleibt. Ein Heimchen am Herd ist sie nicht, auch kein Dekotyp und keine, die ihre Erfüllung in der Gartenoptimierung findet. Sondern eine begeisterte Mutter. Und sie hat keinen Arbeitgeber, der auf sie wartet. So wie Elke Simonsen geht es vielen Müttern: Sie wollen die erste Zeit mit ihrem Kind genießen, dann aber auch wieder in den Beruf einsteigen. Das klassische „Ernährermodell“– der Vater sorgt für das Einkommen, die Mutter kümmert sich um Kinder und Haushalt – hat ausgedient. Dieser gesellschaftliche Wandel ist auch an der * Name von der Redaktion geändert

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Beliebtheit des Elterngeldes messbar. Seit 2007 können Mütter und Väter die Unterstützung für maximal 14 Monate bekommen, wenn sie zu Hause bei ihren Kindern bleiben. Die Höhe des Elterngeldes ist abhängig vom Einkommen und beträgt maximal 1 800 Euro. Laut Familienreport 2011 sind 85 Prozent der Beziehenden damit zufrieden. Weil das Elterngeld zeitlich begrenzt ist, steigen die Frauen schneller wieder in den Beruf ein. Nach zwei Jahren hat auch Elke Simonsen genug. Nur Kind und Haushalt, das ist nicht das, womit sie sich bis an ihr Lebensende beschäftigen will. Sie langweilt sich, fühlt sich ausgeschlossen von der Welt da draußen. Die Familie lebt in einem kleinen Ort in Bayern. Die anderen Mütter auf dem Spielplatz, im Schnitt 15 Jahre jünger, haben mehrere Kinder und große Häuser oder Höfe. Singen, Basteln, Gespräche über die Kinder – das ist deren Welt, aber nicht die von Elke Simonsen. Wenn sie sich beklagt, können die anderen das nicht verstehen: „Du hast doch nur ein Kind, deine Sorgen möchte ich haben!“ Eine Krippe gibt es nicht im Ort. Die Politik hat zwar hunderttausende neue Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren versprochen, doch der Ausbau stockt – besonders in den ländlichen Regionen. Erst als die Simonsens nach Kiel ziehen, finden sie für ihre Tochter einen Platz in einem Kindergarten. Der ist aber nur von acht bis vierzehn Uhr geöffnet. Dennoch will Elke Simonsen jetzt durchstarten. Ihr Bewerbungsmarathon beginnt.

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twas mehr als einhundert Bewerbungen werden es in einem Jahr. Doch nur Absagen landen im Briefkasten. Immerhin lädt eine Zeitarbeitsfirma sie zum Gespräch ein. Dort sagt ihr eine freundlich lächelnde Dame in grauer Büroatmosphäre, sie müsse das verstehen, so lang, wie sie aus dem Arbeitsprozess heraus sei… Und flexibel sei sie auch nicht gerade, oder? Es könne ja immer etwas mit dem Kind sein. In den Vermittlungspool der Firma wird sie nicht aufgenommen. Für Frau Simonsen ist es der absolute Tiefpunkt. Wie oft Vorgesetzte Kinder bloß für eine lästige Komplikation im Arbeitsablauf halten, zeigt auch eine Frankfurter Karrierestudie aus


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dem Jahr 2010: Mehr als die Hälfte der Befragten musste während ihrer Schwangerschaft auf anstehende Beförderungen oder Gehaltserhöhungen verzichten. Nach der Rückkehr aus der Erziehungszeit sind die Stellen oft schon wieder mit anderen besetzt, Chefs entscheiden plötzlich, wie viel Verantwortung die Frauen mit ihren Familienpflichten vereinbaren können, nicht die Frauen selbst. Die Chefs untergraben damit deren Selbstbestimmung. Oft bekommen die Frauen gar keinen Job mehr, so wie Elke Simonsen. Frustriert stellt sie sich selbst in Frage: Sie glaubt, nicht einmal einfache Tätigkeiten traue man ihr zu. „Dabei braucht es am Empfang doch nicht viel: Nett Lächeln und Telefonieren, das ist schon alles“, sagt sie. Frau Simonsen wäre jetzt sogar dazu bereit. Sie bewirbt sich inzwischen auf Stellen, die weit unterhalb ihrer Qualifikation liegen. Doch die Arbeitgeber wollen das Potenzial der Frau nicht sehen. Sie hat gute Arbeit geleistet, bevor das Kind gekommen ist. Und sie will bleiben. „Ich habe die Welt gesehen, ich werde nicht überraschend kündigen, wenn mir etwas Besseres über den Weg läuft, und ich werde auch nicht noch einmal schwanger.“ Doch woher soll der Chef das wissen? Als sie sich für eine Stelle im neunzig Kilometer entfernten Hamburg bewirbt, wird sie am Telefon gefragt, ob das wirklich etwas für sie sei, so ein langer Weg zur Arbeit. Nicht, weil man an ihrer Kompetenz zweifelt – das Unternehmen legt Wert auf eine ausgeglichene Balance zwischen Leben und Arbeiten. Eine erfreuliche Ausnahme: Viele Unternehmen haben sich zwar die Frauenförderung auf die Fahne geschrieben, werben mit flexiblen Anwesenheitszeiten oder Tele-Arbeit. Doch laut einer McKinsey-Studie hat noch nicht einmal ein Drittel der großen Unternehmen diese Vorsätze auch beherzigt, von kleineren Unternehmen ganz zu schweigen.

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ie Hamburger Stelle bekommt Elke Simonsen zwar wieder nicht, aber dieses Mal gehen ihr die Augen auf: Die Fehler liegen nicht nur bei ihr und ihrem Kind. „Die Personalchefs haben einfach nicht genug Fantasie, jemanden einzustellen, der Erfahrungen hat, die sich nicht an Zeugnissen oder Abschlüssen ablesen lassen“, sagt sie. Dabei hat sie während ihrer Zeit zu Hause neue Fähigkeiten entwickelt: Sie hat bei Umzügen quer durch die Republik ihr Organisationstalent bewiesen, Zeitmanagement und Einfühlungsvermögen gezeigt. Elke Simonsen ist genau wie die Frau, die sich in einer bekannten Fernsehwerbung für Staubsauger als Leiterin eines kleinen Familienunternehmens präsentiert. Elke Simonsen will, wie die meisten Rückkehrerinnen, eigentlich eine Teilzeitstelle, um die unzureichende Betreuung der Kindergärten aufzufangen und neben dem Job den Haushalt zu schmeißen. Das Risiko: finanzielle Abhängigkeit vom Partner und Armut im Alter. Elke Simonsen wollte dieses Risiko ihrem Kind zuliebe eingehen. Doch es klappte nicht.

Erst als sie sich entschließt, nach einem Vollzeitjob zu suchen, findet sie eine Stelle bei einem Hamburger Schulungszentrum, acht Stunden täglich als Sachbearbeiterin. Plus drei Stunden täglich auf der Autobahn, Kiel – Hamburg und zurück. Jetzt beginnt ihr Tag sehr früh. Um sechs Uhr morgens verlässt sie das Haus. Vorher wirft sie noch einen Blick ins Kinderzimmer, ihre Tochter schläft friedlich, später bringt ihr Mann die Kleine in den Kindergarten. Simonsen ist gerne im Büro. Sie mag die anspruchsvollen Gespräche, die Konzentration auf eine Sache. Die Umstellung ist anstrengend, aber durch und durch positiv. Nur eines macht ihr zu schaffen: Je näher der Feierabend kommt, desto häufiger schweifen ihre Gedanken heimwärts zu ihrer Tochter. Wäre bloß die lange Heimfahrt nicht, dann könnte sie noch den halben Nachmittag mit ihrem Kind verbringen. Stattdessen ist die Kleine bei einer Tagesmutter. Das ist teuer. Aber es ist die einzige Lösung. Simonsens Mann arbeitet auch den ganzen Tag. Irgendwann funktioniert das nicht mehr: Die Tagesmutter wird krank, dauerhaft. Sie kann sich nicht länger um die Tochter kümmern. Simonsen telefoniert, versucht ihre Freundinnen zu erreichen, doch die müssen selbst arbeiten. Wieder und wieder findet Elke Simonsen nur kurzfristige Behelfslösungen. Und immer öfter, wenn sie abends nach Hause kommt, herrscht jetzt schlechte Stimmung. Als sie zur Tür hereinkommt, ist noch alles in Ordnung: Die Tochter stürzt ihr freudestrahlend entgegen, würde am liebsten sofort erzählen, was sie alles erlebt hat. Simonsen ist müde, die Arbeit, die Autobahn. Sie will erst mal in Ruhe ankommen. Nur kurz den Arbeitsalltag hinter sich lassen, bevor sie sich der Tochter zuwendet, auf die sie sich den ganzen Nachmittag gefreut hat. Doch da ist die Stimmung schon gekippt. Die Kleine ist es nicht gewohnt zu warten. Seit einem halben Jahr kann sie sich nicht damit abfinden, dass die Mutter immer weg ist. Als Elke Simonsen ins Wohnzimmer kommt, hat das Kind eine Mauer aus Enttäuschung und Trotz um sich errichtet. Die Fünfjährige kauert auf dem Sofa, die Arme um die Beine geschlungen, den Mund zusammengekniffen. Die Mutter versucht, zu ihr durchzudringen, will hören, was das Kind beschäftigt. Doch die Mauer hält: „Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist ja eh nie da!“, faucht das Kind. Da fühlt Elke Simonsen eine Welle auf sich zukommen, unaufhaltsam und gewaltig schlägt sie über ihrem Kopf zusammen und nimmt ihr die Luft zum Atmen. Es ist die Welle der Überforderung. An diesem Abend beschließt Elke Simonsen zu kündigen. • 29



Into the Wild

Text Na d i a Pa n t e l Fotos Pa u l a Fa r a c o

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Die Sehnsucht nach dem idealen Ort und der Wunsch, dass nicht immer Alltag sein möge – in Pappmaché nachgebaut auf Europas größter Touristikmesse und aktiv gelebt in Berlins Backpackerszene. Bilder und Gedanken zu unserer freien Zeit – und wie aus ihr ein Wettlauf um das einzigartige Erlebnis wird

Noch zwanzig Schritte, dann darf das Staunen losgehen. Mit einer ver- laub abgehakt. Sie sind mit braven Wohlstandsferien so übersättigt, schwörerischen Handbewegung winkt Matthias eine Gruppe junger dass der Hunger nach der wildesten Geschichte wächst und wächst: Menschen weg von den Schaufenstern, weg von Markenjeans und Camping in Afghanistan, mit dem Fahrrad durch den Kaukasus und teuren Pullis, in einen dunklen Durchgang. „Das hier ist der letzte per Anhalter von London nach Japan. Im Internetforum der Backpaauthentische Hinterhof in Berlin-Mitte“, verkündet Tourguide Mat- cker-Bibel „Lonely Planet“ überbieten sich die Nutzer mit ihren thias und gibt mit einer bedeutungsvollen Geste die Hauswände vol- Abenteuergeschichten. Wer so weit nicht gehen will, will wenigstens ler Graffiti zur Bewunderung frei. Emma, Dave und Katherine aus die coolsten Orte gesehen haben. Während die Rucksackreisenden New York, Tsai aus Taiwan, Jeroen aus Holland, Fernanda aus Rio de der neunziger Jahre den perfekten Strand in Thailand suchten, sucht Janeiro, Andres aus Argentinien, Igor und Svetlana aus Weißrussland die wachsende Zahl der Backpacker heute in Berlin die perfekte Stadt. Urbane, alternative Lebenskultur. Ein Image, aus dem Geschäftsideen und Ted und Tricia aus London nicken anerkennend. Dass sie an diesem Samstagvormittag alle miteinander spazier- wie „alternative berlin tours“ erwachsen. Und ein Image, das dafür engehen, verdanken sie dem Touristikunternehmen „alternative sorgt, dass Tsia und Emma sich in Berlin nicht langweilen dürfen. berlin tours“. Zwölf Euro haben sie bezahlt, um, laut Broschüre, „die wahre Identität der Stadt jenseits touristischer Pfade“ kennenzuler- Während die Gruppe Matthias durch Berlin folgt, sind sie bemüht, nen. Die Berliner dürfen sich im Gegenzug bestaunen lassen wie ein Touristen-Klischees zu umgehen. Sehenswürdigkeiten fotografiert prämodernes Relikt. Schmutzige Punkerhaare und liegengebliebene keiner. Nur Igor traut sich, ein Foto vom Fernsehturm zu machen und Pfandflaschen im „letzten authentischen Hinterhof Berlins“: ein so stellt auch noch eine lächelnde Svetlana mit ins Bild. Aber mit ihren Wetterjacken im Pärchenlook stechen sie ohnehin hervor. Die andevorhersehbares Klischee wie Lehmhütte und Baströckchen. Aus dem obersten Stockwerk blickt ein frisch aufgestandenes ren scheinen morgens beim Anziehen weniger an den Nieselregen als Gesicht skeptisch in den Hof und ascht auf die Köpfe der Andächti- an ein Rockkonzert gedacht zu haben. Lederjacken, enge Jeans, akgen. Die studieren gerade eines der Graffitis. Zwei gezeichnete Über- kurat verwuschelte Locken – nur die langsamen Touristenschritte wachungskameras sind zu sehen. „Guck mal“, sagt die eine, „da und das überaufmerksame Herumschauen verraten Emma und die kotzt einer.“ – „Bestimmt ein Tourist“ steht in der Sprechblase der anderen als Fremde. Zu verhindern, dass sie das auch spüren – dafür anderen Kamera. Die Touristen lachen, nehmen ihr Blackberry oder ist Matthias da. Mit Skaterschuhen, Basecap und zerschlissenem ihre digitale Spiegelreflex-Kamera und halten den Subversionsver- Rucksack gibt er den Szenekenner. Für andere Tourunternehmen ersuch fest. „Berlin ist so lebendig“, stellt Emma aus New York fest und klärt der 24-jährige Geschichtsstudent auch „das ganz normale Tsai aus Taiwan sagt: „Meine Freunde haben mir so viel über die Zeug“, Reichstag, Brandenburger Tor, Holocaustmahnmal. Doch „all diese historischen Fakten merkt sich ja meist ohnehin Kunstszene hier erzählt. Endlich kann ich mir das selbst anschauen.“ keiner“, sagt der Tourguide, für die „alternative tours“ erzählt er Mitreden können, im besten Falle die Storys der anderen noch über- stattdessen gern aus seiner eigenen Teenie-Zeit, als er mit seinen bieten – deswegen sind sie so weit gereist. Alex Garland setzte 1996 Kumpels durch das Nachtleben von Berlin-Mitte zog. Das faktenmit seinem Roman „Der Strand“ dem Typus des Backpackers ein freie Geplauder lockert im Laufe des Tages schließlich die ganze Denkmal. Backpacker – laut Garland kiffende Mittelstandskinder, Gruppe auf. Und wo so viele Nationen zusammenkommen, bleibt die Südostasien oder Indien als Freizeitpark begreifen, der ihrer Su- Völkerverständigung nicht aus. Dave erzählt Tourguide Matthias, dass er einen Tagesausflug nach Dresden unternehmen will. Ob es da che nach dem eigenen Ich eine exotische Kulisse bietet. Mit kleinem Budget auf der Suche nach dem großen Abenteuer – schön sei? Ja, sagt Matthias, er glaube schon. Es sei ja inzwischen alinzwischen ist diese Form des Reisens nicht mehr, wie bei Garland, les wieder aufgebaut. „Hmm, ja, sorry dafür“, sagt Dave. „Ach“, entradikalen Aussteigertypen vorbehalten, sondern gehört in die Vita gegnet Matthias, „ich bin Deutscher, von Schuld musst du mir nichts des internationalen Durchschnittsstudenten und lässt sich in den erzählen.“ Dave, der Pilot bei der Air Force ist, guckt zu Boden. „Tja, Semesterferien erledigen. Badeurlaub, Skiferien und Segeltörns – das war ‘ne Scheißzeit für alle damals.“ Und jetzt, heute, haben sie das haben die jungen Reisenden schon als Kinder beim Familienur- alle gemeinsam eine „great time“. Ohne Hetze und dennoch effizient 32


Schmutzige Punkerhaare und liegengebliebene Pfandflaschen im „letzten authentischen Hinterhof Berlins“: ein so vorhersehbares Klischee wie Lehmhütte und Baströckchen

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Oberstes Gebot fürs Reisen: Authentizität. Das „Echte“ suchen und finden. Gucken, wie sich die Menschen vor Ort verhalten

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laufen sie die Stadtteile ab, die das Tourunternehmen übersichtlich gelabelt hat: Mitte („the former jewish neighbourhood“), Schöneberg („the gay neighbourhood“) und Kreuzberg („the artist and turkish neighbourhood“). Während sie lachen, staunen und staunen, überziehen sie die Stadt mit einem Soundteppich aus „wow“ und „cool“. Ein unermüdlicher Chor, mal laut, mal leise. Die jungen Backpacker wollen nichts besichtigen, sie wollen etwas erleben. Erleben, das ist nicht das Gleiche wie Party oder Spaß. Erleben bedeutet, ein Gefühl zu suchen. Am frühen Abend treffen sich einige Suchende im Aufenthaltsraum des Hostels „East Seven“ in BerlinMitte. Für ein paar Stunden bündeln sich hier die Tagesabläufe der weltläufigen Individualisten. Zum Willkommen gibt es wieder eine Infobroschüre: „Hier arbeiten nur Menschen, die selbst viel und gerne reisen, und die genau wissen, was du brauchst.“ Klassenreisen oder Junggesellenabschiede müssen woanders enden. Willkommen in der In-Group. Jonas und Fern, beide aus Neuseeland, haben auf dem „authentic turkish market“ in Kreuzberg eingekauft, jetzt kochen sie in der Hostelküche eine Suppe und laden Nicolas und Jeremy aus Frankreich ein mitzuessen. Die beiden Franzosen sehen mit ihren 19 Jahren noch aus wie frisch geschlüpft und nehmen das Angebot der beiden 30-Jährigen ebenso freudig wie verunsichert an. Eine geführte Tour? So was würden Jonas und Fern nie machen. Dass sie überhaupt in einem Hostel absteigen, ist ihnen schon unangenehm. Normalerweise schlafen sie bei Freunden, oder bei Freunden von Freunden. Oberstes Gebot für ihre Reisen: Authentizität. Das „Echte“ suchen und finden. Gucken, wie sich die Menschen vor Ort verhalten. Nur einmal, in Mumbai, da haben sie an einer geführten Tour teilgenommen. Per Rikscha durch die Slums, nur vier Teilnehmer pro Tourgruppe, geleitet von indischen Teenagern, die ihnen ihre geheimen Lieblingsorte zeigen. Das sei schon etwas Besonderes gewesen, meint Fern und bemüht sich, den kurzen Anflug von Angeberei durch ein offenes Lächeln auszugleichen. Nicolas und Jeremy sind dennoch eingeschüchtert. Die Suppe hat die beiden weggeholt von ihren Laptops. Eigentlich hätten sie ja nicht viel Gepäck. Die Computer sind dennoch mit dabei. Sie komprimieren beinah alles, was den beiden wichtig ist: Musik, Filme, Fotos und Facebook. Nicolas lädt die Fotos des Tages hoch in das Album „Berlin 2012“. Jeremy klickt durch das „First Album of 2012“ von ihrem gemeinsamen Freund Antoine, der gerade ein Auslandsjahr in Argentinien absolviert. Sie wüssten immer ungefähr, was die anderen gerade so machen. Es sei ein guter Weg, verbunden zu bleiben. „Sharing“, teilen, das Schlüsselwort der Sozialen Netzwerke. Gedanken, Bilder, Eindrücke – all das kann immer und jederzeit mit allen geteilt werden. Schlimm nur, wenn nichts da ist, was man teilen kann. Und so sind die Prioritäten klar: Kein teures Handy, kein Auto, auch die richtige Markenjeans ist nicht Statussymbol, sondern ein einzigartiges Erlebnis. Dank Facebook ist die Vergleichsgruppe der Freunde zu Hause immer mit auf Reisen. „Wie lange seid ihr hier?“, fragt Fern die Franzosen und es ist wie beim Quartettspiel: Die höhere Zahl gewinnt. Vier Tage versus vier Tage – unentschieden. Also ausweichen auf eine andere Kategorie: das nächste Reiseziel. Krakau trifft auf „zurück nach Hause“. Eins zu Null für Neuseeland. Noch ein Teller Suppe? Wer beim Quartett verliert, der ist nicht Reisender, sondern Tourist. Der Tourist sucht nur Erholung. Der Reisende sucht sich selbst. Und endet doch im selben Dilemma, wie sein ungeliebter Zwillingsbruder: Der Tourist konsumiert, er produziert nicht. Selbstfindung nicht im Tun, nur im Schauen. Immerhin gibt die griffbereite Kamera jedem flüchtigen Blick das doppelte Gewicht. •

Imp ressum EINSICHTEN 14 Magazin der Evangelischen Journalistenschule Verlag & Redaktion Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH Frankfurt am Main 2012 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Direktor Jörg Bollmann Publizistischer Vorstand EJS Dr. Thomas Schiller Herausgeber Oscar Tiefenthal (V.i.S.d.P) Evangelische Journalistenschule Jebensstraße 3 10623 Berlin otiefenthal@ev-journalistenschule.de Chefredaktion Anne Bohlmann, Jan Mohnhaupt Chefin vom Dienst Juliane Ziegler Studienleitung Christian Personn Textchefs Sabine Rückert, Dr. Stefan Willeke Redaktion Sebastian Deliga, Sebastian Dörfler, Judith Fiebelkorn, Juliane Funkel, Lena Kampf, Kathrin Klette, Antonia zu Knyphausen, Friederike Lübke, Claudia Maier, Wolf-Hendrik Müllenberg, Nadia Pantel, Mirjam Schmitt, Gloria Veeser Bildredaktion und Beratung Jonas Maron Fotos Thomas Ablard, Daniel Augschoell, Theresa Becherer, Sergej Bitsch, Jennifer Bulla, Paula Faraco, Bastian Gehbauer, Benny Golm, Sonja Hamad, Andreas Krufczik, Stéphane Lelarge, Thomas Lobenwein, Marielle Viola Morawitz, Stefanie Schulz, Kaja Smith, Tony Sojka, Jacob Waak (Alle: Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung, Berlin) Gestaltung Anja Büchner Anzeigenleitung Oscar Tiefenthal Sekretariat Dagmar Lopes, Sabine Seidel Bezug über Evangelische Journalistenschule Preis: 5,00 € plus Versandkosten Frau Dagmar Lopes dlopes@ev-journalistenschule.de Druck und Verarbeitung LTV Digitaler Offsetdruck GmbH Ottensener Straße 10a 22525 Hamburg ISSN 1867-4135

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Aufs Treppchen! Petzen, tricksen, lügen – um an die Spitze zu kommen, ist alles möglich. Sieben absurde Konkurrenzgeschichten

Früh übt sich. Sieben Zwerge beim Schönheitswettbewerb in Caranavi, Bolivien, 1979

Lizenz zum Schaukeln Lästige Konkurrenz bequem vom Hals halten – kein Problem mit einem Patentrecht. Fortschrittsbalken, E-Mail-Anhänge, Online-Shops und sogar der Mauszeiger: Keine Idee ist zu naheliegend, nicht patentiert zu werden. Im Streit um Patentrechtsverletzungen überbieten sich globale Softwarekonzerne gegenseitig mit Klagen. Besonders tut sich Apple hervor. Der Konzern lässt nicht nur Form, Farbe, Design und Namen seiner Produkte lizenzieren, sondern auch einzelne Funktionen. So gehört Apple die Idee, dass sich Wörter beim Eintippen auf Touchscreens vervollständigen. Samsung durfte die Tonaufnahmefunktion seines Smartphones nicht mit einem Mikrofon illustrieren, denn auch daran hatte Apple als Erster gedacht. Am Ende wurde auch noch der Tablet-PC von Samsung gerichtlich verboten, weil er dem Design-Muster des iPads zu sehr ähnelte. Doch nicht nur digitale Spielzeuge unterliegen dem Copyright: Ein Junge aus Minnesota kann anderen Kindern verbieten, auf einer Schaukel zu schaukeln. Sein Vater hat für ihn die Idee patentiert. glv

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Mitzahlgelegenheit Spritkosten teilen, nette Menschen kennenlernen und dabei auch noch die Umwelt schonen: Die Welt wird besser durch Mitfahrgelegenheiten. Autofahrer und Reiselustige mit dem gleichen Ziel machen über ein Online-Portal einen Treffpunkt aus und fahren dann gemeinsam quer durch Deutschland. Doch auch diese ReiseUtopie ist längst zum korrupten Marktplatz geworden: Die Strecke Berlin-Frankfurt, zum Beispiel, fahren illegale Geschäftemacher mehrmals am Tag, packen acht Mitfahrer in einen Kleinbus – das ergibt rund 250 Euro pro Fahrt, steuerfrei. Das lohnt sich nur, wenn das Auto voll ist. Um möglichst viel zu verdienen, sagen die Fahrer gern auch mehr Interessenten zu, als sie Plätze haben – falls einer nicht kommt. Wenn doch alle erscheinen, erhöhen die Fahrer einfach die Preise. Einsteigen darf, wer am meisten Geld bietet. Der Weg ist dann nicht mehr das Ziel. juz


Büchermafia

Wer als Autor noch nicht von einem Denis Scheck rezensiert wird, hofft Herr Armstrong, Anabolika zumindest auf positive Besprechungen in Buchblogs oder fünf Sterne bei den für einen stärkeren Wurf Amazon-Leserbewertungen. Doch die werden von einer „kriminellen Rebeim Rollstuhl-Curling, ist zensions-Mafia“ kontrolliert, behauptet der bisher unbekannte FantasyAutor John Asht: Um die Konkurrenz auszuschalten, würde diese Mafia gedas Ihr Ernst? gen Bezahlung schlechte Rezensionen verfassen. Auch bei ihm hätten die ominösen Kriminellen zugeschlagen. Dabei hat er selbst alles dafür getan, sich zu demontieren: Weil ihm die Rezension seines neuen Romans „TwinPryx Zwillingsbrut“ im Blog „Bücherzeit“ nicht gefallen hat, beleidigte er die Bloggerin „Myriel“ öffentlich in den Kommentaren und drohte mit rechtlichen Konsequenzen: „Das wird teuer, Lady.“ „Myriel“ blieb cool und empfahl ihm die Lektüre von Artikel 5 Auf den ersten Blick lassen Menschen beim Curling knubbeliges Plastik übers des deutschen Grundgesetzes zur Meinungs- Eis schlittern, und andere Menschen schrubben mit Besen auf dem Eis herum, dafreiheit. Doch andere Blogs und Kommentato- mit es sauber ist, wenn der Knubbel vorbeikommt. Auf den zweiten Blick gehört ren griffen den Fehltritt Ashts auf und überzo- ein perfekt geformter Wurfgriff an den Knubbel und anstelle der Besenborsten gen ihn mit einem Shitstorm. Für John Asht ist sitzt ein Kissen – für eine „höhere Wischeffizienz“, wie es in Fachkreisen heißt. das der Beweis für die „Organisierte Literatur- Optimierung geht also immer. Das hat auch der Kanadier Jim Armstrong, amtieKriminalität im Internet“ – schließlich sei seit render und frisch disqualifizierter Olympiasieger im Rollstuhl-Curling erkannt. der Rezension im Blog „Bücherzeit“ kein einzi- Durch das Zuführen von „Tamoxifen“ erhöhte er seine Treffsicherheit. Wobei – ges Exemplar von seinem Buch mehr verkauft „Tamoxifen“ nehmen normalerweise Männer nach einer Ladung Anabolika, um zu worden. John Asht bemüht ein gängiges Erklä- verhindern, dass der Bartwuchs nachlässt und die Brüste anschwellen. Mal ehrlich, rungsmodell: Bleibt der Erfolg aus, Herr Armstrong, Anabolika für einen stärkeren ist das Internet schuld. Oder könnWurf beim Rollstuhl-Curling, ist das Ihr Ernst? te es gar mit der Qualität von Ashts Nein, natürlich nicht. Aspirin habe er eigentlich Werk zu tun haben? Ein AmazonIm Februar lag das Klatschblatt „Neue nehmen wollen. Und dann im BadezimmerRezensent seines Buches vermutet Welt“ mit dieser Exklusivstory am Kiosk: schrank einfach danebengegriffen. Das wollen das: „Schlechte Bücher sollen sich „Victoria – Hurra, ein Junge! Silvia weinte wir gerne glauben, zumal das „Tamoxifen“ aus auch schlecht verkaufen.“ lek vor Glück.“ Dumm nur, dass die schwedi- den Krebstabletten seiner verstorbenen Ehefrau sche Prinzessin Victoria da gerade ein stammen soll. Wenigstens eines ist jetzt sicher: Mädchen zur Welt gebracht hatte. Es gilt: Curling ist nichts für snobistische Schluffis in Hauptsache schneller als die Konkurrenz St. Moritz. Curling ist Kampf. nap sein – auch wenn die Faktenlage unklar ist. Was dabei gern vergessen wird: Immer wieder kommt es bei der Jagd nach exkluJenna Talackova ist sicher nicht die siven Schicksalen zu überraschenden Koaeinzige Miss-Universe-Teilnehmerin, die litionen. Englands Ex-Reality-TV-Star der Natur etwas nachgeholfen hat. Doch Jade Goody etwa forderte 780 000 Euro für Silikonbrüste waren nicht der Grund, wa- die Berichterstattung über ihre BlitzhochIn einer Sekunde läuft Oscar Pistorum ihr Bild plötzlich von der Teilneh- zeit – so viel, dass das „OK! Magazin“ und rius zehn Meter. Das ist absolute Weltmerliste verschwand. Das Problem der der Sender „Living TV“ zusammenlegten. klasse und jeder andere Läufer wäre Jury war vielmehr: Jenna hatte mal einen Die krebskranke Goody vermarktete sogar damit problemlos für die LeichtathlePenis. Sie habe falsche Angaben gemacht, die Taufe ihrer Söhne. Und selbst Goodys tik-Weltmeisterschaften qualifiziert. als sie bei der Bewerbung „weiblich“ an- Begräbnis war ein vierstündiges TV-Event. Aber Oscar Pistorius durfte nicht mitkreuzte, obwohl sie keine „natürlich ge- Dank zahlungswilliger Medienunterneh- machen. Weil er keine Beine hat. Die borene Frau“ sei. Jenna widerspricht, in men hinterließ Goody ihren Söhnen ein Prothesen, die er tragen muss, seit ihm ihrem Pass stehe unter dem Punkt Ge- Vermögen von 4,3 Millionen Euro. whm als Baby die Beine amputiert wurden, schlecht: „weiblich“. Seit Jenna Talackoseien „unlautere technische Hilfsgeräva sich erinnern kann, weiß sie, dass sie eine Frau ist. te“, befand der internationale Leichtathletik-Verband IAAF und ließ ihn Als Teenager begann sie mit der Hormontherapie und nicht zum Wettbewerb zu. Pistorius habe durch die Karbon-Federn in ließ sich operieren, sobald sie volljährig wurde. Darum den Prothesen Vorteile gegenüber seinen Konkurrenten. Das versuchte fühlt sich Jenna nicht als Transvestitin, sondern ein- der IAAF auch mit Gutachten zu belegen. Dass die Geräte an seinen Beinfach als eine „Frau mit Geschichte“. Jenna versucht stümpfen ihm beim Start auch Nachteile brachten, ließ der Verband danun, mit einer Petition gegen die „veralteten Regeln“ bei bewusst außer Acht. Doch Pistorius gab nicht auf. Er zog vor Gericht, vorzugehen, damit andere nicht die gleiche Diskrimi- ließ Gegengutachten erstellen und wandte sich an die Öffentlichkeit. Am nierung erfahren wie sie. glv Ende hatte er Erfolg und wurde der erste Behinderte, der sich für die Leichtathletik-WM qualifizierte. Seine Mannschaft holte Silber im 400 Meter-Staffellauf. glv

Wo gedopt wird, ist auch ein Sport

Sterben für die Auflage

Penisneid

Überqualifiziert

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300 Meter Hass In der Berliner Br체ckenstraSSe sind Neonazis und Antifaschisten Nachbarn. Keiner will dem anderen weichen. Wer h채lt es l채nger aus? Text L e n a Kam p f Fotos S e r g e j B i t s c h

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Finster: In der Nazikneipe „Zum Henker“ trinkt man „Himla“ oder den „Odintrunk“. Stahlplatten ersetzen mittlerweile die Fensterscheiben.


Sebastian Schmidtke ist NPD-Landesvorsitzender und Inhaber des „Hexogen“. Sein Laden ist nach einem Sprengstoff aus dem Zweiten Weltkrieg benannt (oben). In den Fabriken am Spreeufer arbeiteten vor der Wende mehr als 35 000 Menschen.


A

m einen Ende der kurzen Brückenstraße fließt die Spree, am anderen liegt der Bahnhof Schöneweide. Vor der Wende hasteten hier die Arbeiter im Schichtdienst entlang, heute ist das Kabelwerk Oberspree stillgelegt, die Schornsteine aus rotem Backstein ragen verlassen aus dem Schutt der Industriebrachen. In der einst belebten Straße stehen viele Geschäfte leer. Im Erdgeschoss blinde Fenster, „Zu vermieten“, kleine Zettel mit Telefonnummern sind von innen mit Tesafilm an die Scheibe geklebt. Selbst die Resterampe „Conny’s Container“ musste aufgeben. „Nazi Homezone“ hat jemand in braunen Buchstaben an eine Hauswand in der Brückenstraße gemalt. An der Wand des Garagenhofs direkt gegenüber der Widerspruch: „Schöner Weiden ohne Nazis“ – darunter ein Sprühgemälde, das Kühe, Berge und grüne Wiesen zeigt. Das waren Jugendliche. Ihre Sprühaktion fand unter Polizeischutz statt, das bunte Bergpanorama liegt hinter Gittern. Ein Bauzaun bewahrt es nun davor, gleich wieder braun übertüncht zu werden. Die kurze Brückenstraße in Berlin-Schöneweide ist zur Frontlinie geworden. Hier stehen sie einander auf engstem Raum gegenüber: Die auf der einen Seite wollen ein buntes, ein Schöneweide für alle Menschen – die auf der anderen Seite lehnen jede Farbenvielfalt ab. Hier soll der Brückenkiez zum braunen Heimatmilieu werden, eine „national befreite Zone“ im Südosten Berlins. In der Szenekneipe „Zum Henker“ zecht die gewaltbereite Rechte, fünf Häuser weiter liegt der Outdoorladen „Hexogen“, benannt nach einem Sprengstoff aus dem Zweiten Weltkrieg. Inhaber ist Sebastian Schmidtke, Landesvorsitzender der NPD. Auge in Auge mit einem jüdischen Antifaschisten harren sie aus: Der Bundestagsabgeordnete der Linken, Gregor Gysi, hat sein Wahlkreisbüro direkt gegenüber, sein Konterfei hängt überlebensgroß im Fenster und blickt herausfordernd auf die Rechten. Bis der Vermieter Sicherheitsglas eingebaut hat, hatten Pflastersteine regelmäßig die Scheiben zerschlagen. Jetzt sind es Hakenkreuze und Rotz, die Gysis Angestellter jeden Morgen von den Fenstern wischt. Der Chef der Linksfraktion im Bundestag kann nur noch in Begleitung von KripoBeamten zu seinen Bürgersprechstunden kommen. Trotzdem sagt er: „Denen weichen wir nicht.“ Ganz am Anfang der Brückenstraße, dort, wo sie in die Schnellerstraße mündet, duckt sich in einem Flachbau das „Zentrum für Demokratie“. Auch hier Sicherheitsglas. Auch hier geht der Spucker um. Weil er ihr jeden Morgen auf die Scheibe rotzt, beginnt Kati Beckers Arbeitstag mit Fensterputzen. Die 32-Jährige, braune lange Haare, schwarzer Fleecepulli, drei Piercings in den Ohren, dokumentiert im Zentrum die Hegemoniebestrebungen der Rechten: Ob Parolen wie „Berlin bleibt braun“ im S-Bahn-Tunnel oder rassistische Übergriffe auf Migranten, seit 2007 trägt Kati Becker alle gemeldeten Vorfälle in ihr Register ein. Es werden immer mehr. 2011 hat sie 197 Fälle dokumentiert im Bezirk Treptow-Köpenick, zu dem Schöneweide gehört. Allein 77 davon fanden nahe oder in der Brückenstraße statt. Einen „Aktionsraum“ nennt der Berliner Verfassungsschutz den Bezirk

Schöneweide, einen „Treff-, Verkehrs-, und Wohnraum von Personen der rechten Szene“. Kati Becker sagt: „Die können das hier einfach so leben.“ Andere hingegen wechseln die Straßenseite vor dem „Henker“ oder vermeiden es, überhaupt durch die Brückenstraße zu laufen. „Für alle, die nicht ins rechtsextreme Weltbild passen, ist unsere Straße zum Angstraum geworden.“ Dabei geht man in Schöneweide schon seit Jahren gezielt gegen Rechts vor. Bezirkspolitiker, Sozialarbeiter, Mitglieder langjähriger Nachbarschafts-Initiativen, sie alle treffen sich bei Kati Becker und planen gemeinsame Aktionen. Auf einem Flipchart stehen rote und blaue Stichworte: Lokaler Aktionsplan, Vernetzungsrunden und Multiplikatorenschulung – demokratischer Widerstand organisiert in sperrigen Ausdrücken. Vor ein paar Wochen saß der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse bei Kati Becker im Büro. Wen sie erreiche mit ihrer Arbeit, hat Thierse gefragt. Kati Becker musste zugeben: Anwohner der Brückenstraße für Aktionen gegen die Neonazis zu gewinnen, wird immer schwieriger. Die hätten Angst, sich klar zu positionieren, sagt sie. Und dann sei da noch „der rechte Bodensatz“. Bei den letzten Bezirkswahlen gaben im Brückenkiez 11,6 Prozent der Wähler ihre Stimme der NPD. Bei Befragungen beschweren sich die Anwohner über Hundekot und fehlende Parkplätze – nicht über die grölenden Gäste des „Henkers“. Die linken Demonstranten nerven die Anrainer, nicht die rechten Schmierer. „Als seien wir hier das Problem“, sagt Kati Becker und schüttelt den Kopf. Genau am anderen Ende der Straße, nur wenige Meter vom Spreeufer entfernt, liegt das feindliche Lager, die braune Trutzburg von Schöneweide: Seit drei Jahren prangt der altdeutsche Schriftzug „Zum Henker“ über der Kneipe in der Brückenstraße 14. Immer wieder wurden auch hier die Fenster eingeworfen, Stahlplatten ersetzen mittlerweile die Scheiben. Auch drinnen ist alles aus Stahl – der „Henker” war vorher eine Fleischerei. Im Halbdunkel sitzen drei Männer und eine Frau unter der schwarzen Sonne der Waffen-SS. Man trinkt „Himla“, Rum mit Himbeer-Geschmack, und den „OdinTrunk“, ein Honigbier. Der Wirt, selbst ein vorbestrafter Neonazi, hat mit dem „Henker“ einen Anlaufort geschaffen für alles, was rechts denkt in der Region. Hier treffen sich NPD-Mitglieder und „Autonome Nationalisten“ zu Veranstaltungen und Liederabenden. Eine Rechtsrockband aus Schöneweide hat dem „Henker“ sogar ein Lied gewidmet: „Und eins, das sag ich dir, der Henker, der bleibt hier. Gemeinsam stehen wir dafür ein, nein, ihr kriegt uns nicht klein!“ Anja Peter ist Stammkundin im „Henker“. Das ist natürlich nicht ihr richtiger Name, doch die Verfremdung ihrer persönlichen Daten ist die Voraussetzung für ein Gespräch. Die 42-Jährige hat sich ihre Gesinnung auf den Körper tätowieren lassen: auf ihren Armen die germanischen Lebens- und Todesrunen, im Nacken das verbotene Keltenkreuz. Das Kreuz, dessen vier Schenkel mit einem Kreis ver-

Die Anwohner sind genervt von linken Demonstranten, nicht von rechten Schmierern 41


Auge in Auge: In der Br端ckenstrasse harren die Feinde auf engstem Raum aus

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bunden sind. Für Neonazis symbolisiert es die Herrschaft der weißen Rasse. Im „Henker“ braucht sie die Tattoos nicht zu verdecken. Seit mehr als zwölf Jahren ist Schöneweide ihr Rückzugsort, hier lebt sie unter Gleichgesinnten, hier kann sie ihre Kinder national erziehen. Das heißt: kein Kontakt zu Migranten, nur deutsches Essen. In ihrer Akte im Arbeitsamt steht der Vermerk: „Unvermittelbar aufgrund nationaler Aktivitäten.“ In Schöneweide kann sie trotzdem arbeiten, illegal, in einer rechten Szenekneipe. Vor ein paar Monaten wurde Anjas Bild auf Antifa-Seiten im Internet veröffentlicht. Seitdem passt sie besser auf, wenn sie allein unterwegs ist. „Die kennen mich“, sagt sie. Dabei will sie einfach ihre Ruhe in Schöneweide: „Es nervt schon genug, dass dieser alte Gysi mich da jeden Tag anlacht.“ Der „alte Gysi“ lacht aus der Brückenstraße 28. Vom „Henker“ aus sind es nur einhundert Meter, einmal über die Straße und vorbei an den bunten Kühen am Garagenhof. Rechts das Nagelstudio, links der Copyshop, in der Mitte der grinsende Gysi. Seine Spezialeinheit im Häuserkampf auf der Brückenstraße ist Hans Erxleben. Der 65-Jährige, Typ Sportlehrer, steht in der Tür von Gysis Büro, seine Augen hat er zu Schlitzen verengt, konzentriert beobachtet er die gegenüberliegende Straßenseite. „Alles ruhig“, murmelt er und geht hinein. Das schmucklose Büro ist in Gelb gehalten, in den Regalen rote Flugblätter. Die Titel: „Tatort Niedriglohn” und „Afghanistan, das wahre Gesicht des Krieges“. Die Grenzen seines eigenen Schlachtfeldes zieht Hans Erxleben auf dem Tisch in der Mitte des Raumes. Mit den Fingern zeichnet er ein Oval auf die Tischplatte, die Umrisse von Schöneweide auf Kiefernholz. Im ganzen Bezirk sei der rechte Geist spürbar. Er kennt Lehrer, die im Geschichtsunterricht Probleme haben, den Stoff über das Dritte Reich zu unterrichten, weil Schüler den Unterricht stören und behaupten, sie hätten das von ihren Eltern anders gehört. „Hier in der Brückenstrasse zeigen die Rechten Gesicht“, sagt Hans Erxleben. Die Brückenstraße ist Sollbruchstelle für einen Bezirk, in dem es unter der Oberfläche brodelt. Hans Erxleben sitzt für die Linke im Bezirksparlament und koordiniert die Arbeit gegen Rechtsextremismus im Bezirk. Wenn er in die Brückenstraße kommt, sorgt er dafür, dass er nie allein am „Henker“ vorbei muss. „Die kennen mich“, sagt er. Auf der Straße grüßen ihn die Glatzen und winken höhnisch. Im Internet wird er von ihnen als „Linkskrimineller“ indiziert, ebenfalls mit Foto. „Dieser Erxleben, kann den mal jemand beseitigen?“, schrieb jemand anonym in einem Naziforum, nachdem Erxleben sein Gesicht in eine RBB-Kamera gehalten hatte. Für Hans Erxleben ist der Kampf gegen Rechts sehr persönlich geworden. Er tut alles, um den „Henker“ wegzukriegen: Wenn dort gefeiert wird, ruft er das Ordnungsamt wegen der Lärmbelästigung. Sogar die Mülltrennung des „Henkers“ kontrolliert er, aber mehr als Abmahnungen kamen bisher nicht heraus. „Der Wirt zahlt immer pünktlich seine Miete“, sagt Hans Erxleben bedauernd. Und solange der sich nicht strafbar macht, will der Vermieter den Mietvertrag

»Strick um den Hals oder eine Kugel in den Bauch« wurde für Erxleben im netz gefordert 44

nicht aufkündigen. Beim Outdoorladen „Hexogen“ war Erxleben erfolgreicher. Er hat den Vermieter früh darüber informiert, was der neue NPD-Landesvorsitzende Sebastian Schmidtke dort verkaufen will, der Vermieter fühlt sich nun getäuscht. Mittlerweile läuft eine Räumungsklage gegen das „Hexogen“ beim Berliner Landgericht. Das erfüllt wiederum Erxleben mit „reiner Genugtuung“. Denn mit dem „Hexogen“ ist sein Intimfeind in die Straße gezogen. Erxleben und Schmidtke sind alte Widersacher: 2006 hat Sebastian Schmidtke das erste Mal seinen Dezemberaufmarsch in Schöneweide angemeldet, „für ein nationales Jugendzentrum“. Hans Erxleben war der Veranstalter der Gegendemonstration. Seither geschieht jeden Dezember dasselbe: Sebastian Schmidtke meldet seine Demonstration an, Hans Erxleben organisiert die Gegenkundgebung. 2008 hat Erxleben dann an jedem Dezembertag große Demonstrationen bei der Polizei angemeldet, sodass der rechte Schmidtke keine Route mehr abbekam. „Die mussten in Lichtenberg demonstrieren gehen“, sagt Erxleben vergnügt. Doch jetzt ist Schmidtke zurückgekehrt. „Militär, Outdoor, Camping, Security“ steht in roter Schrift auf seinem Ladenfenster. Dahinter, in schwarzer Funktionsjacke, mit schwarzer Kappe und unauffälliger Brille, sitzt Sebastian Schmidtke an seinem Tisch. „Erxleben?“ Er verzieht das Gesicht. „Ein Anscheißer ist das. Der war bei der Stasi. Es liegt in seiner Natur, dass er Menschen verrät.“ Bei einem rechten Aufmarsch im vergangenen Sommer hat Schmidtke dafür Erxlebens Namen öffentlich genannt. Einen „Strick um den Hals oder eine Kugel in den Bauch“ wird seitdem für Erxleben auf einer Feindesliste im Internet gefordert, deren mutmaßlicher Betreiber Sebastian Schmidtke ist. In seinem Laden sagt Schmidtke: „Erxleben kann jederzeit vorbeikommen.“ Der 27-Jährige spricht leise, konzentriert. Er ist sichtlich bemüht, die feine Linie zwischen Propaganda und Volksverhetzung nicht zu überschreiten. Vor seiner Wahl war Schmidtke bei den „Autonomen Nationalisten“ aktiv, jenen antidemokratischen, gewaltbereiten Kameradschaften, die sich in losen Strukturen organisieren, um ein Verbotsverfahren zu umgehen. Jetzt macht er den Bürgerfreund. In seinem Laden ist er Ansprechpartner vor Ort. Es kämen nicht nur Rechte zum Einkaufen, sagt er, sondern alle, die Sicherheitsbedarf haben, „sogar Polizisten“. Dabei ist das „Hexogen“ alles andere als ein gemütlicher Ort zum Plaudern: Die Wände kahl, „Enforcer Pepperspray“ steht in kleinen gelben Flaschen aufgereiht in den Holzregalen, an einem schlichten Kleiderständer hängen stichhemmende Schutzwesten. Sebastian Schmidtke verkauft „Alles für den Aktivisten“ – und nebenbei auch noch ein bisschen Ideologie. Stolz zeigt er auf die Bücher neben der Kasse: die Taschenbücher „Was ist deutsch?“ und „Mut zur Volkssolidarität“, der Bildband über Panzergrenadiere und die Waffen-SS. „Geschichtskritische Literatur“ nennt er das. An seiner Kasse klebt tatsächlich ein Sticker der Aktion „Schöner weiden ohne Nazis“. Demnächst werden mehr als achthundert Menschen in Schöneweide gegen das „Hexogen“ und den „Henker“ demonstrieren. Berlin wird nach Schöneweide kommen, Gregor Gysi, Kati Becker und Hans Erxleben werden dabei sein auf der Straße. Und Schmidtke wird am selben Tag auf seiner Facebook-Seite für das passende Produkt werben: den „Elektroschocker Power Max“, mit 500 000 Volt – für den Nahkampfeinsatz. •


Verlassene Hinterhöfe: Die alten Fabrikhallen in der Brückenstraße stehen leer. Unten: Nazis weglächeln – Hans Erxleben im Wahlkreisbüro von Gregor Gysi.


Besser scheitern Viele Menschen verzweifeln an den Anforderungen unserer Zeit. Manche kommen allein nicht mehr auf die Beine. An einem Wochenende lernen sie das Aufstehen – mithilfe der kleinsten Maske der Welt: der Clownsnase Text S e b a s t i a n D Ü r f l e r Fotos J e n n i f e r B u l l a

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B

evor sie die rote Clownsnase aufsetzt, sagt sie: „Ich bin Elke und meine berufliche Karriere ist eine einzige Geschichte des Scheiterns.“ Dann lässt sie sich auf den Boden fallen. „Ich wünschte, ich wäre unsichtbar“, sagt sie und drückt die Plastiknase gegen die Bodendielen. Elke will immer alles richtig machen. Einmal hatte sie sich beim Kochen in einem Pflegeheim die Hände nicht gewaschen und ist dann in der Nacht aufgewacht, weil sie geträumt hatte, die Bewohner seien erkrankt und erstickten an ihrem Erbrochenen. Der Druck war so stark, dass sie ihm irgendwann nicht mehr standhalten konnte. Elke hatte bisher immer nur kurzfristige Jobs, arbeitete als Sekretärin oder in Pflegeheimen, Jobs, auf die sich so viele Bewerber melden, dass sie gar nicht mehr weiß, wie sie sich durchsetzen soll. Neunzig Euro hat Elke bezahlt, um an einem Wochenende das Aufstehen zu lernen. „Scheitern für Anfänger“ heißt der Kurs, der im zweiten Stock eines Kreuzberger Hinterhofhauses stattfindet. Die Teilnehmer sind zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt, manche kommen aus Neugier, um das eigene Lampenfieber zu überwinden. Andere waren wie Elke schon mehrmals beim Arbeitsamt und suchen jetzt eine andere Anlaufstelle – allein kommen sie nicht mehr auf die Beine. Die Trainerin Susanne Schmitt will ihnen die Angst vor dem Scheitern nehmen, mithilfe der kleinsten Maske der Welt: der Clownsnase. Der Clown darf nicht nur scheitern, er soll es sogar, auf der Bühne, vor Publikum. Sonst ist das Scheitern Privatsache. Jeder Mensch ist seines Glückes Schmied, heißt es. Also macht er auch den Misserfolg mit sich allein aus. Und wenn das eigene und das gelingende Leben auseinanderfallen, muss er eben weiter schmieden. Vor allem an sich selbst. Elke ist 49 Jahre alt. Ihre Geschichte des Scheiterns begann vor 43 Jahren, da war sie noch ein Kind. „Wenn du nicht funktionierst, kommst du in ein Heim“, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt. Die Eltern waren geschieden, der Vater schlug sie, Elke zog zur Mutter. Die Mutter war psychisch krank, oft tagelang nicht da. Und wenn doch, schrie sie Elke oft an. Das Mädchen wusste dann nie, was es falsch gemacht hatte. Die Welt war ein unsicherer Ort für Elke, den sie nur zögerlich betreten konnte. Nach dem Abitur begann Elke eine Ausbildung zur Erzieherin. Auch in dem Kindergarten, in dem sie ihr Praktikum

In Clownerie-Kursen bringt Susanne (links) Menschen bei, mit Rückschlägen umzugehen. Elke versucht sich gerade an der Übung „Weg in die Verzweiflung“.

machte, wurde geschrien. Die Kinder brüllten, die Erzieherinnen auch. Elke brach die Ausbildung ab. Sie bekam selbst eine Tochter, richtete sich zehn Jahre zu Hause ein. Sie sagt, es war eine schöne Zeit. Bis ihre Beziehung zerbrach, die Tochter älter wurde und Elke sich wieder in die Arbeitswelt wagte. Sie machte eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin, bekam über eine Zeitarbeitsfirma einen Job. Aber sie fühlte sich überfordert. „Wie geht das?“, fragte Elke immer wieder ihren Chef. Sie schlief immer schlechter. Dann schmiss sie hin. Zwischen ihren vielen Jobs war Elke oft lange Zeit arbeitslos. Dann sank der Druck, die Konflikte nahmen ab, die Angst wich. Elke lag tagelang im Bett, hörte Entspannungs-CDs, sah sich DVDs an und erschuf sich ihre eigene Welt, ohne den Kontakt zu Menschen und ohne Konflikte. Sie las Lebensratgeber mit Titeln wie „Träume wagen!“. Auch Monika hat bei dem Kurs mitgemacht, sie sitzt sonst jeden Tag bis zu zwölf Stunden vor dem Computer. Die Arbeit ist zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden. Sie ist selbstständig, gestaltet Webseiten, muss sich ständig weiterbilden, um nicht abgehängt zu werden von den Konkurrenten. Monikas Leben geriet oft aus dem Gleichgewicht: Morbus Menière nennt sich ihre Krankheit, Gehör und Gleichgewichtssinn sind gestört. Noch vor zehn Jahren stürzte sie so oft zu Boden, dass sie irgendwann dachte, Tischplatten würden sie begraben. Besonders schlimm war es im Jahr 2000. Damals machte die Grafikdesignerin einen Computerkurs, lernte Webseiten zu erstellen, wie so viele damals in Berlin. Ideen waren Geld wert – was aber, wenn man keine hatte? In dem kleinen Start-Up-Unternehmen mit einem Dutzend Angestellter, in 47


weil wir nicht zueinander dem sie arbeitete, kam kein Angestellter mit passen, keine Lust, diese dem anderen aus. Praktikanten hofften auf Leistungen zu diesem Preis Monikas Stelle und verausgabten sich total. anzubieten.“ Jeder gegen jeden, die Logik der Agentur, Mit ihrem Laptop schleppte wurde irgendwann auch Monikas Logik: sie sich in das nächste Café, „Niemand macht das mit Absicht, aber so ist das eben“, sagte sie sich immer wieder, bis sie zusammenbrach. dort sah sie diesen Flyer: „Scheitern für Anfänger.“ Als sie das Der Stress nahm zu, Gehör und Gleichgewichtssinn nah- erste Mal die Nase überzog, wollte Monika lustig sein, der permen ab. Monika begann zu trinken, verbot sich, weiter als zehn fekte Clown. Die Kursleiterin Susanne Schmitt sagte ihr dann: Minuten im Voraus zu denken, weil sie nichts mehr fand, an „Spiel mit dem, was ist!“ Dann fand Monika in sich jene Ahdas es sich zu denken lohnte. Eines Abends im November ging nungslosigkeit und die Naivität, die sie als Kind so unbesie aus dem Büro hinaus in den Nieselregen und dachte: Wenn schwert sein ließen. Mit großen Augen lief sie im Raum herum, ich jetzt nach Hause gehe, trinke ich so viel, dass ich nicht staunend, albern und befreit. mehr aufstehen werde. Sie schaute in den grauen Berliner Himmel, sah den Charité-Schriftzug an einem hohen Gebäude, Als Susanne Schmitt mit zwanzig Jahren zum ersten Mal die Nalief in die Klinik, einer Krankenschwester in die Arme und se aufsetzte, war sie von der Narrenfreiheit so begeistert, dass konnte zuerst kein Wort sagen, so stark klapperte ihr Kiefer. sie den Clown zu ihrem Lebensinhalt machte und nach dem PäMit Hilfe von Implantaten lernte sie langsam wieder das Hören, dagogikstudium eine Clownsschule auf Ibiza besuchte. Jetzt ist sie 33 und lässt Menschen zu Clowns werden. Zu Hause auf ihwurde auch psychisch belastbarer. Heute illustriert Monika CDs und Bücher, gestaltet Flyer rem Schreibtisch steht eine kleine Schultafel, auf die sie ihr und Firmenseiten. Spürt sie den Erfolg, ist sie stolz darauf, Lieblingsmotto geschrieben hat: „Ever tried. Ever failed. No dass sie das allein geschafft hat. Bleiben die Aufträge aus, matter. Try Again. Fail again. Fail better.“ Ein Spruch von hört sie wieder diese Stimme: „Du Versagerin, du hast alles Samuel Beckett. Der Spruch hätte auch zu dem Clown gepasst, vermasselt!“ Je stärker der Konkurrenzdruck von außen ist, wie ihn Charlie Chaplin erfand. In Chaplins Film „Moderne Zeiten“ kämpft er mit Drehtüren und Bügeleisen, vor allem aber desto lauter wird sie. Vor zwei Jahren hat Monika es nicht mehr ausgehalten. Sie mit Arbeitslosigkeit, Hunger, Armut, Polizeigewalt. Und verkam gerade von einem Kundengespräch, trug ihr Business- liert nie die Hoffnung. Ab und an schaut er in die Kamera, in die Kostüm, das sich plötzlich so eng anfühlte, als würde es sie Augen der Zuschauer, und macht so seine Missgeschicke zur erdrücken. „Ja, natürlich geht das!“, hatte sie in dem Ge- gemeinsamen Erfahrung. Für einen Augenblick ist keiner mehr spräch mehrmals gesagt. Eigentlich wollte sie sagen: „Nein, allein mit seinem Scheitern. Das ist die Macht der kleinsten ich habe keine Lust. Keine Lust auf dieses Projekt mit Ihnen, Maske der Welt. Und ihre Ohnmacht: Der Clown will nichts verändern. Er fragt nicht, was um ihn herum schiefläuft, nicht nach dem System. Er bejaht sein eigenes Scheitern und macht weiter. Jetzt, auf der Bühne in Berlin, soll Elke ein Lied singen – alles während des Einatmens: „Blau, blau, blau sind alle meine Kleider, blau, blau, blau ist alles, was ich hab’…“ Nie schafft sie das ganze Lied in einem Atemzug. „Weg in die Verzweiflung“ heißt diese Übung. Elke muss es noch einmal versuchen. Ein viertes und ein fünftes Mal. „Darum lieb’ ich alles, was so blau ist…“ Je mehr Luft Elke beim Singen einatmet, desto höher streckt sie sich gen Himmel, um die letzten Silben noch herauszupressen, bis sie auf ihren Zehenspitzen steht, die Wenn Elke die rote Nase Arme weit von sich gestreckt. Die überzieht, ist alles erlaubt. Und anderen Kursteilnehmer lachen. In das Scheitern erwünscht. den folgenden Stunden singt und tanzt Elke über das Parkett, als hätte sie Freude am Scheitern gefunden. Am Montag hat sie wieder einen Termin beim Arbeitsamt. • 48


Deutscher Journalisten-Verband (DJV) Wer wir sind?

Ihr kompetenter Partner in allen Fragen rund um den Journalismus

Wo wir stehen?

an der Seite von rund 38.000 Mitgliedern, die uns vertrauen

Was wir wollen?

Qualität im Journalismus faire Tarifverträge sichere Arbeitsplätze gerechte Honorare für Freie Perspektiven für den Journalistenberuf

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Die unsichtbare Dritte Text Ka t h r i n K l e t t e Foto S t e f a n i e S c h u l z

Sieben Jahre war Silke die Geliebte eines verheirateten Mannes. Als seine Ehefrau auszieht, glaubt Silke, alles werde gut. Doch dann geht der Kampf erst richtig los

Silke wenige Tage vor dem Auszug aus Christophs Haus. Die gemeinsame Decke nimmt sie mit, vieles andere l채sst sie zur체ck.

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Jahrelang hat Silke auf Christoph gesetzt. Sie war seine Geliebte, sie hat bei ihm gewohnt. Jetzt ist das Einzige, was ihr bleibt: ein Laptop mit den Fotos, Bücher, Kleidung und ihre Thermomix-Küchenmaschine. Die wenigen Sachen hat sie in ihren roten Chevrolet gestopft und ist ein paar Dörfer weiter gefahren. Dort kommt sie bei Bekannten unter. Ihr Auto war voll bis unters Dach, ihr Herz ist leer. So ist es eben, wenn nach zehn Jahren plötzlich Schluss ist. Silke und Christoph kennen sich seit 15 Jahren, sieben Jahre davon war sie seine Geliebte, drei Jahre seine offizielle Freundin. Es gibt Statistiken, denen zufolge nur jeder zehnte Mann seine Frau für die Geliebte verlässt. Für eine gewisse Zeit schien Silke eine der seltenen Gewinnerinnen zu sein, doch jetzt hat sie verloren. Die Beziehung verschlechterte sich ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Christophs Ehefrau Ruth aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen war. Nun, da die Bahn frei war für Silke, hätte alles gut werden können, doch nichts wurde gut. Die Beziehung blieb zunächst so heimlich, wie sie begonnen hatte. Die Angst, er könne zu seiner Ehefrau zurückkehren oder eine neue Frau kennenlernen – sie hat Silke nie verlassen. Nie konnte sie sich sicher fühlen. Silke sagt, ihre Beziehung sei an der unsichtbaren Konkurrenz gescheitert. Ein Dorf auf dem flachen Land, irgendwo in der deutschen Einöde. „Achtung, das hier ist wirklich das Ende der Welt!“, hat Silke per SMS geschrieben. Sie wohnt derzeit zwanzig Kilometer von Christoph entfernt. Gleich am Ortseingang, zwischen Feldern und Wald, biegt man auf einen kleinen Hof. Hier ist Silkes Zufluchtsort: eine Einliegerwohnung im Erdgeschoss. Man steht gleich in der Küche, es ist eigentlich eher ein Wirtschaftsraum. Nebenan im Wohnzimmer sitzt Silke, 33 Jahre alt, auf einer monströsen dunkelgrünen LederCouch. Vor ihr Regale aus schwarzem Holz und ein riesiger Fernseher. Es ist wieder nicht ihr Zuhause, aber zu Hause war sie auch bei Christoph nicht. Vor langer Zeit hatte Christoph sein Haus, weißer Klinker, braunes Satteldach, mit seiner Frau Ruth gebaut. Etwa dreihundert Menschen leben in Christophs Dorf, viele Häuser sind grau und verfallen. Vor dem Haus, zur Straße hin, eine Garage und ein geharktes Beet mit Sträuchern und breit grinsendem Keramikfrosch. Hinter dem Haus, im Garten: Pool, Grill, Tischtennisplatte. Als Ruth 2004 aus- und Silke einzog, sagten manche Nachbarn, die Geliebte habe sich ins gemachte Nest gesetzt. Silke sagt, sie habe sich immer nur geduldet gefühlt. Sie musste sogar darum kämpfen, dass wenigstens das Schlafzimmer neu eingerichtet und der weiße Flokatiteppich herausgerissen wurde. Am Klingelschild steht nicht einmal Silkes Name. „Da soll er erst mal jemanden finden, der das macht, von der Großstadt hierher ziehen, ohne Freunde“, sagt Silke. Sie hat viele Opfer gebracht für diese Beziehung und viel gewartet, aber es wäre unzutreffend, sie für ein Mäuschen zu halten. Silke arbeitet als Personalreferentin in einem mittelständischen Unternehmen. Sie verdient so viel, dass sie auf einen Mann nicht angewiesen ist. Gerade macht sie ein Fernstudium in Betriebswirtschafts-

lehre und Wirtschaftspsychologie. Schon mit 16 Jahren flog sie für ein High-School-Jahr nach Chicago, ihre erste eigene Wohnung richtete sie allein ein. Sie will vorankommen im Beruf. Ihren wirklichen Namen, die genauen Orte und identifizierbare Details will sie nicht veröffentlicht sehen. Silke sagt, sie habe sich sofort in Christoph verliebt: in seine blauen Augen, seine zupackende, gewinnende Art, seinen Charme, seinen Duft. Damals war sie 19. Wie oft hat sie seither durch seine raspelkurzen weißen Haare gestrubbelt, damit sein Parfum an ihren Händen haften bliebe. Im September 1997 kam er in ihren Tischtennis-Verein. Er war damals 33 Jahre alt, arbeitete im Außendienst und verkörperte für sie Lebenserfahrung und Weltgewandtheit. Silkes Fotos zeigen Christoph in Ski-Schuhen und im Fleece-Pulli, Christoph mit Bierflasche auf dem Tisch und Kumpel im Arm. Er ist der Macher, der Kerl. Dass er verheiratet war und mit Ruth, ein halbes Jahr älter als er, einen Sohn im Teenager-Alter hatte, erfuhr sie später durch einen Nachbarn. Da war es zu spät. Im Januar 1998 die erste gemeinsame Nacht. Sie gingen ins Kino: „Titanic“. Später, im Hotel, bestellte Christoph eine Flasche Champagner. Er machte ihr Komplimente, hörte ihr zu, war aufmerksam. „Nach dieser Nacht dachte ich: Jetzt gehört er mir“, sagt sie. Christoph gestand, er werde sich niemals trennen von Ruth. Doch Silke entgegnete: „Das glaube ich dir nicht.“ Heute findet sie diese Einstellung naiv. An den Wochenenden, wenn Christoph bei Frau und Sohn war, hatte Silke Kontaktverbot. Keine Anrufe, keine SMS. Irgendwann schaltete Christoph sein Handy sogar ganz ab. Weil Silke die Wochenenden aber zu lang wurden und Ruth das ausgeschaltete Handy misstrauisch stimmte, kaufte Silke für Christoph ein Zweithandy, das er ins Auto legte. Wenn er schon nicht für sie da war, konnte sie ihm so immerhin schreiben. Zehn SMS am Tag werden es wohl gewesen sein. Nicht allein zu sein, wissen, dass da jemand ist – Silke reichte das, auch wenn sie nur dann mit einer Antwort rechnen konnte, wenn sich Christoph mal von zu Hause losriss und in den Baumarkt fuhr. Über die Weihnachtstage war sie froh, wenn er überhaupt schrieb. Sie trafen sich dienstag- und freitagnachmittags. Christophs Termine waren wohlorganisiert zwischen Arbeit, Sport und Familie. Er fuhr früher zu Hause los, damit sie vor dem Tischtennis noch in Silkes Zwei-Zimmer-Wohnung zu Abend essen konnten, Salat mit frischgepresstem Orangensaft. Mittwochs fuhren sie für eine halbe Stunde in den Wald. Mit seiner Frau, sagte Christoph damals, laufe in dieser Hinsicht schon lange nichts mehr. Auf diese drei Tage und ihre dürftigen Freuden lebte Silke hin. Für sie waren sie der Höhepunkt der Woche, seine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Im Rückblick

Sie zog für Christoph in die Einöde. Ihre Freunde blieben in der Stadt zurück

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habe ich damals zu 97 Prozent gelitten. Aber die drei Prozent, die ich genossen habe, wogen alles wieder auf.“ Wenn sie sich trafen, telefonierte Christoph nie mit seiner Frau. Zu groß war das Risiko, sich durch den möglicherweise veränderten Klang der Stimme zu verraten. Auch wichtig: die Haarkontrolle nach jedem Treffen. Keines von Silkes langen Haaren durfte auf Christophs Pulli zu sehen sein. Sie steckte ihm Zettel mit Gedichten zu, kleine Briefe. Sie ließ sich wie seine Ehefrau Ruth im Nagelstudio „French Nails“ aufkleben, weil sie dachte, Christoph gefalle das. Für zweihundert Euro kaufte sie einen alten Arztkoffer, weil er „Antikes“ gut fand. Die erotischen Fotos, die die 24-jährige Silke für sechshundert Euro von sich hatte anfertigen lassen, gab er ihr wieder zurück. Er konnte sie ja nicht mit nach Hause nehmen. Silke erlebte ein Hin und Her, ein Auf und Ab aus Hingabe und Verweigerung. Bis Ruth endlich aus dem gemeinsamen Haus auszog, sie hatte keine Lust mehr auf eine Ehe mit Christoph. Damals trennte er sich auch von Silke, zwei Jahre hatte er eine andere Freundin. Als er sich 2008 per SMS wieder meldete, wollte Silke ihn eigentlich zappeln lassen, aber dann fuhr sie doch noch am selben Abend zu ihm. „Er musste nur mit dem Finger schnippen, schon war ich da“, sagt sie. Er musste nie um sie kämpfen, immer stand sie parat und wartete. Das Verhältnis von Geben und Nehmen war sehr ungleich verteilt. 2009 zog Silke endlich zu Christoph. Ruth hatte damals den Kontakt zu ihm abgebrochen. „Da war erst mal Ruhe an der Front“, sagt Silke. Das Ziel schien erreicht, und doch ist sie nie angekommen. Angst und Eifersucht haben die Beziehung kaputt gemacht, sagt Silke. Die Ehefrau war immer irgendwie da – trotz Trennung und Auszug. Wenn Silke die Treppe hinaufging, lief sie jedes Mal an Ruths hässlichen azurgrünen Gardinen vorbei. Gardine oder Klingelschild: Christoph sah keinen Grund, die Dinge zu ändern. Bis heute ist er mit Ruth verheiratet, und geht es nach ihm, wird das auch so bleiben.

»Ich habe Angst, dass Du jemand anderen hast. Sag mir doch einfach, dass es nicht so ist«

Einmal in der Woche telefonieren er und Ruth miteinander, es gab Zeiten, da sprachen sie jeden Tag. Christoph sagte Silke dann, sie solle mal still sein. Er ging in sein Arbeitszimmer im ersten Stock, Silke hockte unten in der Küche und lauschte. Er habe dann immer einen ganz weichen Ton in der Stimme gehabt, fast zärtlich habe er mit Ruth gesprochen, nur sie selbst, sagt Silke, sie hat diesen Ton in der letzten Zeit nicht mehr gehört. Im vergangenen Sommer, als Silke an einem Wochenende mit ihren Eltern zur Kur fuhr, ging Christoph mit seinem 28 Jahre alten Sohn auf eine Party. Nachts reagierte er nicht auf SMS, er hob auch das Telefon nicht ab. Später durchsuchte Silke die ausgehenden Anrufe und Mitteilungen auf seinem Handy, das tat sie manchmal, wenn sie ein ungutes Gefühl hatte. Sie fand eine 52

SMS, die er an Manu, eine 25-Jährige aus dem Dorf, geschrieben hatte: „Ich hätte noch so gerne mit Dir getanzt.“ Silke fand, so einen Satz schreibt man nicht einfach irgendjemandem. Christoph fand, da sei doch nichts dabei. Das mit dem Tanzen habe zwischen ihm und Silke sowieso nie so richtig geklappt. Hätte Christoph sie wirklich betrogen, hätte es Silke möglicherweise nicht einmal gemerkt. Doch plötzlich galten die Heimlichkeiten, die Tricks – alles, was Silkes und Christophs Beziehung jahrelang am Leben gehalten hatte – ihr selbst. „Ich wusste ja, wie er tickt, man ändert sich doch letztlich nicht“, sagt sie. Jetzt wurde sie misstrauisch, wenn er am Wochenende kurz mit dem Auto wegfuhr. Wollte er nur in Ruhe mit einer anderen telefonieren, wie er es früher mit ihr gemacht hatte? Sie tippte eine SMS: „Ich habe einfach Angst, dass Du jemand anderen hast. Sag mir doch einfach, dass es nicht so ist.“ Silke, die im Verborgenen interessant war, wurde langweilig und anstrengend, als sie Alltag wurde. Christoph findet, sie habe sich verändert. Sie sei abends oft müde und bevormunde ihn. Auch Silke lernte Christophs weniger erfreuliche Seiten kennen: Während er in Gesellschaft der Sunnyboy war, war er zu Hause in sich gekehrt und manchmal verletzend. Als sie ihn einmal fragte, was sie machen solle, damit er glücklich werde, antwortete er: „Du kapierst es ja sowieso nicht.“ Silke hat mit ihrem Handy gefilmt, wie er einmal im T-Shirt auf dem Sofa liegt, auf dem Bauch der gemeinsame Kater. Seine Hände kraulen durch das schwarze Fell, dazu seine gurrende Stimme. Silke dachte: „Nun konkurriere ich schon mit einer Katze.“ Die Beziehung zu Christoph, sie hatte für Silke immer etwas mit Leistung zu tun. „Zuerst war es aufregend und schön, es war ja auch etwas Besonderes“, sagt sie. Nun, mit 33 Jahren, konnte sie nicht mehr. „Entweder Heirat oder Kinder“, hatte sie irgendwann zu Christoph gesagt. Aber es war wieder nur eine leere Drohung. Christoph ist jetzt 49 Jahre alt, für ihn ist die Familienplanung abgeschlossen. Er entschied sich für gar nichts und Silke glaubte, wenn sie nur lange genug durchhielte und sich wirklich bemühte, würde sie irgendwann am Ziel sein. Vor zwei Wochen hat Christoph Schluss gemacht, ganz überraschend nach dem Tischtennis. Am Nachmittag waren beide im Streit auseinander gegangen. Wieder hatte Silke in seinem Handy herumgeschnüffelt, wieder fand sie eine SMS, die er an Manu geschrieben hatte: „Lasse mir jetzt auf der Terrasse die Sonne ins Gesicht scheinen.“ Silke hatte Christoph gebeten, er solle versprechen, Manu nicht mehr zu schreiben. Er hatte geantwortet: „Lass mich einfach in Ruhe.“ Am Abend war es aus. Vielleicht, hofft Silke, komme er ja über Ostern zur Besinnung. Am Freitag hat sie ihm etwa zwanzig SMS geschickt. „Ich verliere so viel, meinen Freund, mein Zuhause. Und was verlierst Du?“ Keine Antwort. Am Wochenende fährt Christoph zu einer Messe. Silke hat ihm angeboten, für die Zeit wieder in sein Haus zu ziehen, schließlich müsse doch jemand den Kater füttern. Doch Christoph hat schon seine Eltern gebeten. Sie werden die Katze hüten. Für ihn ist alles geklärt. •


Ewige Zweite The winner takes it all. Und was ist mit den zweiten Plätzen? Eine Seite Ruhm für alle, die im Schatten stehen

Der Kosmonaut

Die Verkannte

Fast wäre Eberhard Köllner der erste Deut- „Mona Lisa“ hat einen Zwilling. Während das sche im Weltraum gewesen. Doch als das berühmteste Lächeln der Kunstwelt im LouSowjet-Raumschiff Sojus 1978 abhebt, vre für Besucherrekorde sorgt, verstaubte bleibt er am Boden. Ein anderer wird be- ihre Schwester im Prado. Experten glaubten rühmt: Sein Freund Sigmund Jähn. Beide an eine Kopie, doch im März 2012 kam herhatten zwei Jahre lang gemeinsam für die aus: Beide Porträts entstanden gleichzeitig Mission trainiert. Dann entschied Moskau: im Atelier von Leonardo da Vinci. azk Jähn fliegt, Köllner ist Reserve. abo

Der Theoretiker Die Stiefmutter

Charles Darwin gilt als geistiger Vater der „Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist Evolutionstheorie. Den Forscher Alfred Rusdie Schönste im ganzen Land?“ Jedes Mal sel Wallace kennen nur wenige. Dabei entwihört die Königin auf ihre Frage, Schneewitt- ckelte er 1858 eine Theorie der natürlichen chen sei noch tausendmal schöner als sie. Auslese – ein Gedanke, der auch in Darwins Selbst Mordversuche mit Kamm, Gürtel und Werk auftauchte. Hat Darwin von Wallace abApfel helfen nicht, die schöne Konkurrentin geschrieben? Wahrscheinlich ist: Beide hatten zur gleichen Zeit die gleiche Idee. abo auszustechen. juf

Der Sender 1961 als zweite Sendeanstalt nach der ARD gegründet, ist das ZDF heute noch auf der Fernbedienung die ewige Nummer zwei. sde

Die Schwester Mit 130 Millionen verkauften Tonträgern ist Janet Jackson eine der erfolgreichsten Musikerinnen der neunziger Jahre. Trotzdem: Den Vergleich mit ihrem älteren Bruder Michael wird sie nicht los. Weltweit verkaufte der King of Pop fast sechs Mal so viele Alben wie sie. juf

Der Stellvertreter

Der Nominierte

Der Assistent

Der Papst ist gleich zweimal Zweiter: Nachfolger Petri und Stellvertreter Gottes. Mit seinem Chef führt der Papst täglich Ferngespräche, bekommt ihn allerdings nicht zu Gesicht. Dafür ist er aber auf der Erde für über eine Milliarde Katholiken selbst Chef. sde

Tonangebend und trotzdem ein Verlierer: Zwanzig Mal wurde der Tontechniker Kevin O’Connell für einen Oscar nominiert – gewonnen hat er die Trophäe nie. „I’m the guy who always loses!“, sagt der Mann, der bei Hollywood-Filmen wie „Top Gun“, „Spider Man“ oder „Transformers“ für den richtigen Sound sorgte. azk

Doktor Watson ist der Dauer-Gehilfe von Sherlock Holmes. Der Chefdetektiv ist kühldistanziert, Watson das genaue Gegenteil: einfühlsam und ohne Scheu vor Alkoholikern, Prostituierten und Obdachlosen. In seiner Handlanger-Funktion ist er Vorbild für spätere Detektiv-Duos: „Harry, fahr schon mal den Wagen vor.“ kkl

Pepsi gilt nach der klassischen Coke als langweilige Alternative. Coca-Cola ist als Marke bekannter – und älter: Pepsi wurde 1898 erfunden, Coca-Cola schon zehn Jahre früher. Nach „Okay“ ist „Coca-Cola“ heute angeblich das bekannteste Wort der Welt. sde

Die Brause

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Kuscheln statt Kuschen Mathe mit W채scheklammern, ein Hochbett im Schulzimmer und Freiarbeit statt 45-Minuten-Unterricht. An einer Freien Oberschule in Brandenburg l채uft einiges anders Text J u l i a n e Z i e g l e r Fotos Th o ma s A b l a r d

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Algebra zum Fühlen. Pädagoge Rainer Fellenberg erklärt den Schülern Gleichungen mit zwei Unbekannten.

D

len seit dem Jahr 2000 mehr als vervierfacht. Wenn sich örte Simon-Rihn hat einen Traum. Sie wünscht sich eine andere Art von Schule. Eltern dafür entscheiden, ihre Kinder auf eine freie 16 Jahre lang hat sie an öffentlichen Schulen Schule zu schicken, verschärft das die Lage der öffentligelehrt, bis ihr klar war: Das möchte sie nicht mehr! chen Schulen weiter: Melden sich dort nicht genügend „Unterrichten“ – schon dieses Wort ist Dörte Simon- Schüler an, kann es passieren, dass die Schule statt zwei Rihn zuwider, „richten“ und „unterordnen“ verbindet kleiner Klassen eine große anbieten muss. Oder, im schlimmsten Fall, muss sie schließen. sie damit. Also hat die 46-Jährige eine private Schule Am Morgen ist die erste Station für die Schüler die gegründet. Frustriert, aber engagiert. „Das war ein Drahtseilakt ohne Netz“, sagt Dörte Simon-Rihn. Heute Garderobe: Schuhe aus. Jule, 15 Jahre alt, schlüpft in plüschige Hausschuhe in Form von Tigerpfoten. Dann geht würde sie es nicht mehr auf sich nehmen – die Situation der Schulen in Brandenburg ist angespannt, für staatli- es die Holztreppe hoch, am Zitronenbäumchen vorbei und erst mal in die große, helle Küche, wo 15 Kinder che wie für freie. durcheinander wuseln. „Der Kräutertee ist alle!“, ruft jeIn den vergangenen Jahren mussten viele öffentliche Schulen schließen, als Folge von Wegzug und demografi- mand, der Wasserkocher zischt, es duftet nach Kaffee schem Wandel. Vor zehn Jahren gab es in Brandenburg und aus dem Toaster floppen Brotscheiben. „Montag: noch über zweihundert weiterführende Schulen mehr Präsentation – Die goldene Regel der Mechanik“ oder als heute. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Privatschu- „Donnerstag: Gesprächskreis Deutsch“ steht auf der rie55


Die Evangelische Oberschule steht auf dem Gel채nde eines Klosters. 24 Kinder der Klassen sieben bis zehn lernen hier gemeinsam. Die 15-j채hrige Jule mag es, dass die Lehrer Zeit f체r sie haben.

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beitszeit vertrödeln? „Sie wissen“, meint Dörte SimonRihn, „wenn sie in der zehnten Klasse ankommen wollen, müssen sie etwas dafür tun, das ist ihre Verantwortung.“ Das klappt bei den einen Schülern gut, bei den anderen weniger: „Vor allem für die Kinder, die von einer staatlichen Schule hierher kommen, kann es länger dauern, bis sie darauf vertrauen.“ Das Ziel der Schule ist es, so beschreibt es Dörte Simon-Rihn, aus einer Muschel ein Wirbeltier zu machen – ein weiteres Bild, das die Schulleiterin gerne verwendet. Die Muschelschale steht für die starre Schulstruktur, in der ein Schüler gefangen ist. Das Wirbeltier hingegen ist ein Kind, das von innen heraus wächst, ein eigenes Skelett entwickelt und selbstständig Entscheidungen trifft. Um die Fortschritte der Schüler zu überprüfen, fertigen die Pädagogen eine „Arbeits- und Lernstandsbeschreibung“ an: Wöchentlich sprechen sie mit den Schülern über deren Entwicklung, regelmäßig halten die Lehrer ihre Beobachtungen schriftlich fest. Zensuren wie an staatlichen Schulen gibt es nicht, Sitzenbleiben ist unmöglich. Eine solche Wohlfühlschule hat ihren Preis: Die Eltern müssen Schulgeld zwischen 150 Euro und 350 Euro im Monat zahlen – je nach Gehalt. „Fünf Kinder kommen aus Hartz-IV-Familien“, betont Dörte Simon-Rihn, „dass wir hier nur die Reichen haben, stimmt also nicht!“ Ein Teil der Schüler kommt hierher, weil die Eltern Angst haben, dass ihre Kinder in öffentlichen Schulen ungenügend gefördert werden. Und weil sie von der Montessori-Pädagogik überzeugt sind: viel Zeit für jeden einzelnen Schüler, ohne Lernzwang, ohne Notendruck. Die anderen Kinder sind hier, weil sie Probleme im öffentlichen Schulsystem hatten. Volle Klassen,

sigen Tafel an der Wand – der Wochenplan für alle Schüler. Die Tage sind hier nach Fächern sortiert: Am Montag gibt es Präsentationen in Physik, Bio oder Chemie. Der Dienstag beginnt mit Yoga oder Kung-Fu, später stehen eine Andacht und Religionsunterricht auf dem Plan. Mittwochs sprechen alle untereinander nur Englisch. Donnerstag ist der kulturwissenschaftliche Tag mit Sprachen und Kunst, und Freitag steht Mathe auf dem Programm. Dörte Simon-Rihn trägt ein Kleid im Knitterlook, die halblangen Haare sind zerzaust. Sie verkündet: „Die Schulen im staatlichen System sind sehr bewegungsunfähig.“ Dabei, so erzählt sie, ist es für sie gar nicht so vorteilhaft, eine freie Schule zu betreiben: Sie hat weniger Gehalt als an einer öffentlichen Schule, dafür aber das Risiko der Selbstständigkeit und viel Bürokratie. Trotz- »Wir wollen hier aus einer dem sagt Dörte Simon-Rihn: „Ich will darauf reagieren, Muschel ein Wirbeltier machen, was Kinder brauchen.“ Eine enge Beziehung zwischen Pädagogen und Kindern ist ihrer Meinung nach notwen- das ist das Ziel.« dig, „eine Schule für Beziehungen auf Augenhöhe“, nennt sie das. Erwachsene sollten dabei wie Leuchttürme sein, Stundenausfall und überforderte Lehrer sind die Gründe. die den Schülern Orientierung bieten – Dörte Simon- Fragt man weiter, erzählt Dörte Simon-Rihn Geschichten von Mobbing oder Depressionen. Von Schülern, die Rihn benutzt gerne Bilder dieser Art. Rainer Fellenberg, einer der drei Pädagogen an der nicht mehr in den Unterricht wollten, oder von Schulen, Schule in Heiligengrabe, schlägt den Gong – die Mathe- die sich weigerten, die Kinder aufzunehmen. „Wir wolstunde beginnt. Frontalunterricht gibt es hier nicht, die len hier eher aufrichten als unterrichten“, sagt Dörte Pädagogen bieten „Präsentationen“ an: offen für alle, 30 Simon-Rihn. Einige der Schüler arbeiten konzentriert allein, manMinuten, ein Thema. Zehn Kinder, gemischt aus allen Jahrgangsstufen, verteilen sich im Kreis um Rainer. Das che schleichen unentschlossen umher, andere lernen in Thema: Terme mit zwei Unbekannten. Auf dem Boden kleinen Gruppen: Vier Schülerinnen sitzen in der Küche verstreut liegen weiße Plakate, Wäscheklammern, ein und fragen sich gegenseitig Französisch-Vokabeln ab. Kasten mit bunten Holzperlen. Jede Farbe steht für eine Auch Jule mit den Tigerkrallenschuhen ist dabei. Die Ziffer, von eins bis zehn sind die Zahlen in Farben einge- Schülerin ist seit einem Jahr hier in Heiligengrabe, sie war teilt. Vier Wäscheklammern, die um ein Pappquadrat vorher auf einer staatlichen Schule. Dort ging es ihr nicht klemmen, symbolisieren ein x² und für Klammern ver- gut, sie hatte wenige Freunde und sollte dann eine Klasse wendet Rainer Obstschälchen aus Bast. So wird hier Ma- wiederholen. „Mir gefällt hier, das zu lernen, was ich lernen will. Und nicht nach Stundenplan in einem gewissen the gemacht: anschaulich, bunt, zum Anfassen. Ob die Schüler an diesen Präsentationen teilnehmen, Zeitschema einfach den ganzen Stoff runterzurattern.“ das bleibt ihnen überlassen. Sie können ihren Lern- Immer wieder schlurft ein Schüler in die Küche, holt sich rhythmus selbst bestimmen, die Freiarbeit ist ein we- etwas zu trinken, das Parkett knarrt. Jule verkündet der sentlicher Teil der Montessori-Pädagogik. Und wenn die Runde: „Jetzt schreibe ich aus den Wörtern, die ich nicht Schüler nicht selbstständig lernen, wenn sie ihre Freiar- wusste, eine Geschichte!“ 57


Dörte Simon-Rihn schluckt, wenn sie an die Zukunft ihrer Schule denkt, denn die ist ungewiss. Im vergangenen Jahr hat das Land Brandenburg beschlossen, das Geld für die freien Schulen um rund zwanzig Prozent zu kürzen. „Es ist ganz klar: Wenn uns nichts einfällt, dann gibt es diese Schule in drei Jahren nicht mehr. Das ist nicht zu finanzieren“, sagt sie. Das Schulgeld zu erhöhen, kommt nicht in Frage. Für den Arbeitskreis freier Schulen in Brandenburg liegt die Sache auf der Hand. Das Land fühlt sich bedroht durch die wachsende Zahl an Privatschulen. Aus Sicht des Arbeitskreises sollen die freien Schulen nun durch Kürzungen zurückgedrängt werden. So entstehe ein Wettbewerbsvorteil für die öffentlichen Schulen, lautet der Vorwurf. Deshalb bereitet der Verband nun eine Verfassungsklage vor. Dörte Simon-Rihn sieht einen weiteren Grund. Ihre Schule passt in keine Statistik, in keine Qualitätsstandards: „Ich glaube, es ist dem Ministerium unangenehm, Schulen zu kontrollieren, die einfach anders sind“, sagt die Schulleiterin. Der Raum für Schulen, ihren eigenen Weg zu finden, wird ihrer Meinung nach immer schmaler. „Das merke ich in der alltäglichen Kommunikation mit den Ämtern. Es ist mühselig.“ Dörte Simon-Rihn verfolgt ihren Traum von Schule – das Ministerium verlangt Nachweise. Das Land Brandenburg hat die freien Schulen bisher finanziell gut ausgestattet: Sie bekamen 94 Prozent des Betrages, den die öffentlichen Schulen an Geldern für ihr Personal erhielten. Selbst als die Kosten für die staatlichen Schulen immer höher wurden, blieb dieser Prozentsatz gleich. Das bedeutet, je teurer das öffentliche System mit kleinen Dorfschulen wurde, desto mehr profitierten die Privatschulen davon – ein Missverhältnis, argumentiert das Bildungsministerium. Auf diese Weise konnte die freie Schule in Heiligengrabe rund zwei Drittel ihrer Kosten aus Steuergeldern decken – Geld vom Staat für eine Schule, deren Bildungskonzept auf Kritik stößt und deren Ausbildung mit staatlichen Schulen nur schwer vergleichbar ist. Aber auch: Eine Schule, an der Kinder Lust haben zu lernen. Dörte Simon-Rihn sitzt auf dem Boden. Schüler aus allen Jahrgangsstufen kuscheln sich auf Ledersofas. Die Schulleiterin liest aus einem Deutschbuch vor, eine Definition der Aufklärung. „Ziemlich trocken, was?“, fragt

»Dass wir hier nur die Reichen haben, stimmt nicht!« sie in die Runde, die meisten nicken, eine Schülerin rührt in ihrer Teetasse, es klirrt leise. Sie lässt die Schüler aufzählen, was ihnen zum Begriff „Aufklärung“ einfällt: „Der Himmel klart auf“, „Unvoreingenommenheit“, „Sexualität“ und „objektiv und offen auf die Welt blicken“ lauten die Antworten der Schüler, niemand meldet sich, sie lassen einander ausreden. Keiner der Schüler schreibt mit – sie wissen, sie können sich jederzeit das nötige schriftliche Material holen. Das nennt Dörte SimonRihn dann „eine vorbereitende Umgebung schaffen, die die Kinder selbst aktiv werden lässt“. Sie gibt „Lern58

empfehlungen“: ein Hörspiel über das Leben Beethovens, der „Kosmos“ von Humboldt und „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann. Ihr Vorschlag: Die Schüler sollen in verschiedenen Texten den Aufklärungsgedanken suchen. Der Sprachraum ist hellgrün gestrichen, in der Ecke steht ein wuchtiges Hochbett mit Arbeitsplätzen oben

und unten. Dörte Simon-Rihn trifft sich später mit einigen Schülern aus der zehnten Klasse zum Gesprächskreis Deutsch. Gemeinsam analysieren sie das Verhalten Ferdinands in Schillers „Kabale und Liebe“. Auf dem Boden sitzend, natürlich. „Ihr müsst lernen, euch kürzer zu fassen“, sagt Dörte Simon-Rihn, „in der Prüfung habt ihr nur neunzig Minuten für die Interpretation!“ Da ist sie doch, eine Prüfung im notenfreien Raum: Um einen staatlich anerkannten Abschluss zu bekommen, müssen die Zehntklässler die „Nicht-SchülerPrüfung“ bestehen, mündliche und schriftliche Tests, dafür fahren sie an die Schule im Nachbarort. Auf sechs Zehntklässler kommt das in diesem Jahr zu, drei wollen das Abitur machen, drei eine Lehre. „Wir müssen sie nicht in den Inhalten trainieren, da sind sie fit“, sagt Dörte Simon-Rihn. „Das Problem ist eher, sie auf diese Prüfungssituation vorzubereiten.“ Im vergangenen Jahr haben die ersten beiden Zehntklässler aus Heiligengrabe die Nicht-Schüler-Prüfung gemacht – einer besucht nun eine gymnasiale Oberstufe, der andere macht ein Freiwilliges Soziales Jahr. Für Jule ist der Schultag am Nachmittag um halb drei zu Ende. Ihr Weg zum Bahnhof führt vorbei an Feldern und Wiesen, Enten kreuzen die Straße, einen Bürgersteig gibt es nicht. Der Bahnhof Heiligengrabe ist eine Bedarfshaltestelle. Hier ist so wenig Verkehr, dass man dem Zugführer signalisieren muss: „Ich will aussteigen.“ Vielleicht steigt hier in einigen Jahren kein Schüler mehr aus. •


Schulleiterin Dörte Simon-Rihn, 46, wünscht sich eine andere Art des Lernens. 2007 hat sie die Schule im brandenburgischen Heiligengrabe eröffnet. Die Schüler sollen sich hier wohlfühlen. Heute kochen sie gemeinsam.


»Dick sein ist der schlimmste Makel« Fünf Fragen zu Jugend und Schönheit an eine, die es wissen muss Die Schülerin Katharina WeiSS kennt die Schönheitsideale ihrer Generation: In „Schön!?“ hat sie 25 Jugendliche porträtiert. Im Interview spricht sie über Casting-Shows, coole Facebook-Postings und die richtige Figur.

Katharina Weiß ist 17 Jahre alt und besucht ein katholisches Mädchengymnasium in Bayern. An sich selbst mag sie, was andere schön finden: Augen, Bauch und die langen, blonden Haare. Ihre Beine mag sie nicht, die sind ihr zu füllig.

Katharina Weiß: „Schön!? Jugendliche erzählen von Körpern, Idealen und Problemzonen.“ Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 240 Seiten, 9,95 Euro.

7 880

85-64-91

Minuten betrug die Sendezeit aller Casting-Shows im deutschen Fernsehen zwischen März 2011 und März 2012.

62%

der 12- bis 17-Jährigen sehen regelmäßig Casting-Shows.

6 635

Zahlen, bitte!

sind die Durchschnittsmaße der Gewinnerinnen von „Germany's next Topmodel“. Die deutsche Durchschnittsfrau wiegt 67,5 Kilo und hat einen Brustumfang von 97 Zentimetern.

Casting, Casting, Casting – überall muss man sich verkaufen. Für ein Foto, eine Ausbildung oder das große Geld

ist die Zahl der Bewerber an deutschen Journalistenschulen pro Jahrgang Zahl der verfügbaren Plätze an deutschen Journalistenschulen pro Jahrgang:

60

318

15 711

Kandidatinnen wollten bei Heidi Klums Model-Show dabei sein. Bei Dieter Bohlens „DSDS“ waren es 2012 sogar 35 401 Kandidaten.

Foto: Anouk Jans

Einsichten14: Sind Jugendliche neidisch auf Freunde, die sie schön finden? Katharina Weiss: Manchmal kann es sein, dass man neidisch wird, und dann lästert man auch mal. Generell ist das Bedürfnis nach Nähe und Anschluss aber größer als der Neidfaktor. Die meisten orientieren sich nach oben. Auch die, die von anderen bewundert werden, wollen mit noch cooleren Leuten befreundet sein. Das ist eine Spirale. Was ist Jugendlichen bei ihrem Style wichtig? Es geht vor allem um Individualität, keiner will wie der andere sein. Aber es ist auch eine Pseudo-Individualität: Letztendlich kaufen doch alle bei H&M. Welche Rolle spielen Casting-Shows? Ich glaube, Casting-Shows prägen das Konkurrenzdenken: Ich muss besser sein und besser aussehen. Die Shows tun so, als ob es nur einen geben könnte, dabei

können zum Beispiel in der Musik viele Sänger nebeneinander existieren. Aber bei „DSDS“ und „Germany’s Next Topmodel“ suchen sie immer das perfekte „Gesamtpaket“ – ein ekelhaftes Wort. Und wie ist es mit der Selbstdarstellung auf Facebook? Je mehr Prominente oder Freunde man in seiner Liste hat, denen man auf Facebook imponieren will, desto wichtiger ist, was man postet. Ich würde mir den Kommentar „Heute Bauernparty bei mir im Kaff“ auch eher verkneifen, aber so etwas wie „Heute wieder ultrakrank Raven in Hamburg im Übel und Gefährlich“ posten meine Freunde und ich öfter! „Dicke finde ich eklig“, sagt ein 17 Jahre altes Mädchen in Ihrem Buch. Warum? Das stellen die Medien so dar: Dicke sind undiszipliniert, unattraktiv. Deshalb ist für Jugendliche Fettleibigkeit der schlimmste Makel. Den meisten Jugendlichen ist es wichtig, sportlich, gesund und schlank zu sein. Das Gespräch führten Kathrin Klette und Claudia Maier.


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Nare Yes˛ilyurt in ihrem Büro in BerlinNeukölln. Von hier aus organisiert sie die Einsätze ihrer Pflegerinnen.

»Die Türken

waschen sich nicht«

Dieses Vorurteil hörte eine junge Türkin von deutschen Krankenschwestern. Dann gründete sie einen muslimischen Pflegedienst – und zeigte es den Branchenriesen Text S e b a s t i a n D e l i g a Fotos Da n i e l A u g s c h o e l l

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K

onkurrenz heißt Wettlauf, und lange hat es so ausgesehen, als würde Nare Ye˛silyurt diesen Wettlauf verlieren. 1971 kam sie als Auswandererkind nach West-Berlin, dann auf die Hauptschule, ihr Start war miserabel. Heute hält sie Reden vor der deutschen Bundeskanzlerin. Mit einem Missverständnis fing es an. Nare Ye˛silyurt arbeitete als Krankenschwester im Klinikum Berlin-Steglitz. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Patienten zu waschen. Sie brachte ihnen die Schüssel mit Wasser ans Bett. Brav setzten sich die deutschen Patienten auf die Bettkante, nahmen den Waschlappen und wuschen sich. Der Erste, der sich weigerte, war ein Mann aus der Türkei, und er blieb nicht der Einzige. Nare Ye˛silyurt fiel auf, dass sich die türkischen Patienten nicht über die Waschschüsseln beugen wollten. Ihre Kolleginnen sagten: „Die Türken waschen sich nicht.“ Nare Ye˛silyurt dachte: Wie peinlich die Türken sind. Doch irgendwann dachte sie das nicht mehr. Eine ältere türkische Patientin wollte von der Krankenschwester auf den Toilettendeckel gesetzt und abgeduscht werden. Nare Ye˛silyurt verstand nicht, warum. Da erzählte die Patientin der jungen Krankenschwester von ihrem Glauben. Waschen über einer Waschschüssel, das sei unrein, weil das stehende Wasser schmutzig werde. Deshalb reinige sich eine Muslima nur mit fließendem Wasser. Den deutschen Krankenschwestern traute sie sich das nicht zu sagen. Nare Ye˛silyurt befolgte ihren Wunsch und musste deshalb die anderen Patienten warten lassen. Das brachte ihr Ärger ein mit der Oberschwester: Für Sonderwünsche haben wir hier keine Zeit, sagte die. Da hatte Nare Ye˛silyurt die Idee ihres Lebens: kulturspezifische Pflege. Aus den „Sonderwünschen“ ihrer türkischen Patienten wollte sie ein Geschäftsmodell machen, die Menschen ambulant in ihren Wohnungen pflegen. In den sechziger und siebziger Jahren waren immer mehr türkische Gastarbeiter nach Berlin gekommen. Sie wollten Geld verdienen und später zurückgehen in ihre Heimat. Die meisten blieben und holten ihre Familien nach, wurden alt – und pflegebedürftig. Oft konnten sich die Kinder nicht um sie kümmern, weil sie arbeiten mussten und ihre Wohnungen zu klein waren, um die Eltern aufzunehmen. Auch die Diakonie entdeckte den neuen Markt. Das Diakonische Werk in Deutschland

ist ein Imperium. Es gehört zur evangelischen Kirche, hat 450 000 Angestellte, 700 000 ehrenamtliche Mitarbeiter und Millionen von Kunden. Maria Matzker war die Frau, die zuständig war für die Beratungsstellen der Diakonie in Berlin. Ende der Achtziger kam ihr Chef zu ihr. Die türkischen Migranten würden langsam alt, sie bräuchten professionelle Pflege – da sei Geld zu verdienen. Der Frau von der Diakonie war klar: Dafür bräuchte sie Pflegekräfte, die Türkisch können, und darum wollte sie sich kümmern. Drei türkische Pflegekräfte gewann sie für die Diakoniestation in Berlin-Neukölln, die ihr die Arbeiterwohlfahrt vermittelte. Das war schwer genug – wegen des kirchlichen Arbeitsrechts. Eigentlich stellte die Diakonie nur Menschen mit einem besonderen Treueverhältnis zum kirchlichen Arbeitgeber ein. Diese Treue wurde durch die Kirchenmitgliedschaft nachgewiesen. Doch die Frau von der Diakonie behalf sich mit einem Trick. Sie bat die türkischen Pflegerinnen, einen Kurs zu besuchen, der die Grundlagen christlichen Glaubens vermittelte. Das reichte dann als Treue-Nachweis. Die Diakonie ließ Broschüren in türkischer Sprache drucken und verteilen, doch keiner kam, und man verstand nicht warum.

D

a war Nare Ye˛silyurt schon einen Schritt weiter. Als Privatunternehmerin würde sie die Antwort früher finden müssen als die große Diakonie, um bestehen zu können, das wusste sie. Und es fiel ihr nicht leicht. Geboren wurde sie in Sivas, mitten in Anatolien, mit drei Jahren kam sie nach Berlin. Als Türkin sei sie nach der Grundschule in die Hauptschule gesteckt worden, sagt sie – gegen ihren Willen, sie wollte mehr. Nach der Schule ließ sie sich zur Krankenschwester ausbilden, lernte weiter, arbeitete später in der Suchttherapie, schaffte es auf die Technische Universität, wo sie Pädagogik studierte. Als sie für ihre Diplomarbeit mit drogensüchtigen Jugendlichen sprach, merkte sie, dass Angebote für die Pflege von ausländischen Süchtigen fehlten. Auch bei der Altenpflege. Da hätten sich die türkischen Einwanderer selbst geholfen, sagt sie, indem die Familien ihre Töchter aus der Türkei mit türkischen Männern in Deutschland verheirateten. „Import-Bräute“ nennt Nare Ye˛silyurt diese Frauen, die unterdrückt würden „wie Sklaven“. 1999 fasste Nare Ye˛silyurt einen Plan: Sie wollte sich selbstständig machen – mit einem

Pflegedienst für Muslime. Für ihren Dienst sollten vor allem muslimische Frauen arbeiten, die sie zu Altenpflegerinnen ausbilden und von der Herrschaft ihrer Ehemänner befreien wollte, so sagt sie das. Nare Ye˛silyurts eigener Ehemann bestimmte nicht über sie. Ihn lernte sie an der Uni kennen, auch er studierte an der TU Berlin. Während ihres Studiums bekam sie mit ihm zwei Kinder, und er unterstützte sie. Er nahm sich Erziehungsurlaub und brachte die Kinder abends ins Bett. Doch als Nare Ye˛silyurt ihm von ihrer Idee erzählte, lachte er sie aus. „Wenn es da Bedarf geben würde, hätten die Deutschen das längst gemacht.“ Das waren seine Worte. Doch Nare Ye˛silyurt ließ sich nicht beirren. Sie ging zur Bank, aber bekam keinen

Stehendes Wasser gilt im Islam als schmutzig Kredit. Noch immer erinnert sie sich genau an einen Bankangestellten, der sie wieder nach Hause schickte, als er sie mit dem Kinderwagen sah. „Das ist nichts für Sie, ziehen Sie lieber Ihre Kinder groß“, habe er zu ihr gesagt. Ein befreundeter Arzt half ihr schließlich, an einen Kredit von 100 000 D-Mark zu kommen. Mit ihm zusammen wollte sie den Pflegedienst aufbauen, mietete Räume in Berlin-Neukölln, stellte acht Krankenschwestern ein, deutsche und türkische, so viele musste sie für ihre Firmenzulassung nachweisen. Jeder von ihnen zahlte sie ein Monatsgehalt von 4 000 D-Mark brutto, dazu kam die monatliche Miete von 2 000 DMark und die Leasing-Raten für drei Autos. Doch die Krankenschwestern saßen zu Hause, die Autos blieben stehen und in den gemieteten Räumen klingelte kein Telefon: Es kamen keine Aufträge, nicht im Mai, nicht im Juni, nicht im Juli. Nach drei Monaten glaubte der Arzt nicht mehr an Nare Ye˛silyurts Idee und machte sich davon. Nare Ye˛silyurt musste den Kredit durch eine Bürgschaft ablösen. Sie tat es. Zusätzlich verlangte der Arzt eine Ablösesumme von 40 000 D-Mark für seinen Ausstieg. Am Ende stand Nare Ye˛silyurt mit 180 000 D-Mark Schulden da. Nare Ye˛silyurt sagt, ihr Ehemann habe sie nun unter Druck gesetzt: Gib auf, verlangte er von ihr. Er hatte Angst, dass die Schulden die junge Familie erdrücken könnten. Für Nare Ye˛silyurt begann jetzt ein neuer Wettlauf. Daran möchte Nare Ye˛silyurt heute nicht mehr denken. Sie nennt es „Machtspiel“: Plötzlich kümmerte sich ihr 63


Mann nicht mehr um die Kinder und ging dann zur Uni, wenn sie zur Arbeit musste. Im Krankenhaus verdiente sie sich Geld dazu, weil der Pflegedienst nicht lief. Irgendwann wurde das Leben mit ihm unerträglich. Sie wusste, sie musste sich entscheiden zwischen ihrer Ehe und der Idee, an die sie glaubte. Mit ihren Kindern zog sie dann aus der Wohnung aus. Jetzt war sie eine alleinerziehende Frau. In ihrer Firma blieben die Kunden aus – obwohl sie Broschüren in türkischer Sprache verteilt und Anzeigen in den Berliner Tageszeitungen geschaltet hatte. Sie hörte sich um, bei den Bekannten ihrer Eltern und den Eltern ihrer Bekannten – und erfuhr: Viele Einwanderer der ersten Generation stammten aus dem ländlichen Anatolien, konnten nicht le-

sen und schreiben oder schauten nie in eine Tageszeitung. Nare Ye˛silyurt musste versuchen, die Menschen anders zu erreichen. Da erinnerte sie sich an einen Freund, der für TD1 arbeitete, das türkische Fernsehprogramm für Berlin. Sie fragte, ob sie Werbespots für ihren Pflegedienst schalten dürfe. Der Sender sagte zu, verlangte für die Werbung aber 5 000 D-Mark. Nare Ye˛ silyurt sagte zu, unter einer Bedingung: Sie wollte zusätzlich Sendezeit im Programm haben. Die bekam sie. In zehn Sendungen durfte sie Ratgeberin für Krankenpflege sein, ließ sich von einem Moderator befragen und beantwortete Zuschauerfragen. Zusätzlich liefen Werbespots, die Menschenmassen am Nollendorfplatz zeigten, vor Einsamkeit im Alter warnten und Nare Ye˛ silyurts Pflegedienst als

Lösung anpriesen. Jetzt meldeten sich endlich Menschen bei ihr, die Pflege brauchten. Je öfter sie in den Lokalmedien war, desto besser lief der Laden – und Nare Ye˛ silyurt begann, muslimische Frauen auszubilden, die sich wie sie von ihren Ehemännern getrennt hatten.

E

ine dieser Frauen ist Gülcan Kalkan. Sie pflegt Herrn Kavak, dem ein sauberes Kinn wichtig ist. Er sitzt auf dem Toilettendeckel in dem kleinen Badezimmer. Gülcan Kalkan, seine Pflegerin, pinselt Rasierschaum über seine grauen Bartstoppeln. Die Pflegerin darf Herrn Kavak Ibrahim nennen, irgendwie gehört sie schon zur Familie, und ihre Herkunft verbindet sie. Ibrahim streckt den Hals hoch und schnauft sich den Rasierschaum aus den

Ibrahim Kavak ist Alzheimer-Patient. Seine berufstätigen Kinder können sich nicht um ihn kümmern. Einst kam er mit seiner Familie als Gastarbeiter nach Berlin.

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Nasenlöchern. Er ist fast blind, und die Alz- on wurden mir so viele Steine in den Weg geheimer-Krankheit hat ihm seine Sprache ge- legt, dass ich daraus ein ganzes Haus bauen könnte.“ Am nächsten Tag schrieb die „Berliraubt, die türkische, Deutsch konnte er nie. Kafayı oynatmı heißt es im Türkischen ner Morgenpost“, die Kanzlerin habe besonüber die Alzheimer-Krankheit, „sein Gehirn ders diese Rede beeindruckend gefunden. Nare Ye˛silyurt hat den Wettlauf gewonwackeln lassen“. Gülcan Kalkan erkennt bei Ibrahim jedes Wanken, jede Erschütterung nen. Die Diakonie hat kapituliert. Zugeben daran, wie er mit der roten Gebetskette um- will die Frau von der Diakonie das nicht. Sie geht, seiner tesbih. 99 rote Perlen erinnern habe nur wenige muslimische Kunden, aber an die 99 Namen Allahs. Ibrahim kennt kei- für die Diakonie bedeute „kultursensibel“, nen mehr davon. Manchmal knetet er seine den Einzelnen in den Blick zu nehmen – egal, tesbih mit den Fingern, lässt die Perlen von aus welchem Kulturkreis er stamme. TatHand zu Hand fließen, ein Wettlauf um Erin- sächlich ist der Riese geschlagen. Auch den türkischen Sender, bei dem Nare Ye˛silyurts nerung an das, was ihm wichtig war. Es gibt viele Dinge, die Gülcan Kalkan ei- Werbespots liefen, gibt es heute nicht mehr. ner nicht-muslimischen Pflegekraft voraus Im Juni 2011 saß sie stattdessen in einer hat. Zum Beispiel die Lieder. Wenn die Pfle- Talkshow der ARD, Nare Ye˛silyurt gleich gerin mit Ibrahim einkaufen geht, summt sie nach dem Tatort. Selbst der eheliche Druck oft alte türkische Schlager, an die sich Ibra- von früher bedrückt sie nicht mehr: Als ihr him erinnern könnte. Dann holt Ibrahim vor- Unternehmen lief, habe ihr Ex-Mann das übergehend auf in seinem Wettlauf gegen das Firmenlogo entworfen, sagt sie. Jetzt hat sie Vergessen und summt mit. Doch die Ziellinie ihn fest angestellt, er muss sich nun um die Wünsche seiner Chefin und Ex-Frau kümwird er nie mehr erreichen. Nare Ye˛silyurt weiß, dass sie mit solchen mern. Ihre Ehe, sagt sie, sei endgültig vorbei. Pflegerinnen bei Muslimen einen Vorteil hat gegenüber ihren großen Konkurrenten wie ittlerweile braucht Nare der Diakonie, der Caritas oder der ArbeiterYe˛silyurt Leute, die sich mit wohlfahrt. Die Pflegerinnen wissen, dass es Autoreifen auskennen. In jeder zur Körperpflege fließendes Wasser braucht Filiale. Mindestens einen, in und die Fingernägel nicht über die Finger- Neukölln sogar zwei. Sie braucht sie, wie sie kuppe hinaus wachsen dürfen. Nare ihre Pflegerinnen braucht. Und Nare Ye˛silyurt selbst mag ihre Fingernägel lang Ye˛silyurt besitzt nicht zwanzig Autoreifen, nicht dreißig, sondern über vierzig. Sie hortet Reifen im Keller wie andere Leute Kartof»Auf dem Weg zur feln. Dreißig Fahrzeuge hat sie, und ohne die Integration wurden mir Reservereifen im Keller wären die Autos wertlos für sie. Denn irgendwer wolle sie am so viele Steine in den Weg Weiterfahren hindern, sagt Nare Ye˛silyurt. gelegt, dass ich Ständig sticht ihr einer die Reifen auf. Ungern erinnert sie sich an die letzten Osterdaraus ein ganzes Haus feiertage. Neun Fahrzeuge mit kaputten Reibauen könnte.« fen. Auch ihre vierzig Ersatzreifen sind ihr einmal aus dem Keller gestohlen worden. und manikürt. Auf ihrem Schreibtisch sta- Unklar, wer die Täter sind. Nare Ye˛silyurt peln sich Unmengen von Akten. Sieben Fili- vermutet: „Meine Konkurrenten wollen mir alen hat sie mittlerweile in Berlin, muslimi- schaden.“ Beweisen kann sie das nicht. sche Hauspflegedienste in Neukölln und im Über zwanzig muslimische Pflegedienste Wedding, in Kreuzberg und in Steglitz, die kennt Nare Ye˛silyurt mittlerweile in Berlin, nach eigenen Angaben vierhundert Patien- viele der Betreiber habe sie selbst ausgebilten betreuen, darunter rund dreißig Prozent det, sagt sie. Einer ihrer Kunden habe ihr Deutsche. Sie kämen zu ihr, weil sie die mus- erzählt, er würde angeblich eine Waschmalimische Art zu pflegen liebevoller fänden, schine geschenkt bekommen, wenn er zu sagt Nare Ye˛silyurt. Und die muslimischen einem anderen Pflegedienst wechsele. Patienten schätzten vor allem den Klang ihIm März 2012 hat jemand die Kennzeirer Muttersprache und den Respekt vor ihren chen von drei Dienstfahrzeugen gestohlen – Traditionen. innerhalb einer Woche. Und irgendwer Im November 2010 lud die Bundeskanzle- drückt öfter einmal Schrauben in die Reifen rin sie auf den Integrationsgipfel der Bundes- von Nare Ye˛silyurts Autos. Gäbe es den Kelregierung ein, sie sollte eine Rede halten. Nare ler mit den Ersatzreifen nicht, müsste Nare Ye˛silyurt sagte: „Auf dem Weg zur Integrati- Ye˛silyurt kapitulieren. •

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Die Journalistenschule in der Hauptstadt Noch wenige freie Plätze für 2012! Die Evangelische Journalistenschule (EJS) vermittelt in vierwöchigen Kompaktkursen für Volontärinnen und Volontäre aus Redaktionen, Agenturen und Pressestellen solides journalistisches Handwerk und legt die Grundlagen zum crossmedialen Arbeiten. ∙ Recherchetraining ∙ Online-Recherche ∙ Videojournalismus ∙ Reportage ∙ Nachricht, Bericht, Kleintexte, Stilkritik ∙ Kommentar/Glosse ∙ Kulturjournalismus ∙ Presserecht ∙ Interviewtraining vor der Kamera ∙ Arbeiten als Freie Unsere Dozentinnen und Dozenten sind erfahrene Praktiker und arbeiten für angesehene Medien (Die Zeit, Der Spiegel, Evangelische Pressedienst, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, taz - die tageszeitung, rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg etc.) In den Seminarablauf sind Besuche bei der Bundespressekonferenz, dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und ein Theaterbesuch integriert. Die Seminarräume sind modern, verfügen über neueste Technik und liegen zentral in der Hauptstadt am Bahnhof Zoologischer Garten. Ein TV- und Hörfunkstudio ist vorhanden. Termine für Kompaktkurse 2012: Volontärkurs III 04. – 29.06.2012 Volontärkurs IV 24.09. – 19.10.2012 Volontärkurs V 12.11. – 07.12.2012 Gebühr jeweils 1.500 Euro (inklusive Seminarbewirtung und ausgewählte Tages- und Wochenzeitungen) Teilnehmer maximal 16, mindestens 10 Für unsere Kompaktkurse können wir die Anerkennung als Bildungsurlaub beantragen. Es besteht die Möglichkeit, die Kursgebühr mit einem Bildungsscheck zu bezahlen. Wir vermitteln Ihnen gerne Unterkünfte. Bei Interesse melden Sie sich bitte bei Frau Sabine Seidel, Tel.: 030/31001-1217 sseidel@ev-journalistenschule.de


1+1 = 4

Rainer, Karin, Holger und Yvonne lieben mehr als einen Menschen. Die vier vertrauen darauf, nicht wegen eines anderen verlassen zu werden. Trotzdem packt sie immer wieder die Eifersucht Text A n n e B o h l ma n n Fotos S t ĂŠ p ha n e L e l a r g e

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Liebe zu dritt auf 47 Quadratmetern: Karin und Holger schlafen im Bett, Rainer auf der Couch.

A

ls Holger Karin küsst, zärtlich, auf den Mund, steht ihr Ehemann Rainer daneben und sieht den beiden zu. Er lehnt an der Küchenzeile, seine Arme locker, die Gesichtszüge entspannt. Durch das Fenster zum Hinterhof fällt Winterlicht in den schmalen Raum. Als Rainer und Karin später am Küchentisch sitzen, hält er ihre Hand. Als Partner haben sie nicht A oder B gewählt. Sondern A und B. Und C und D. Und E. Seit dreißig Jahren lieben Rainer und Karin mehrere Menschen zugleich, fast ebenso lange sind die beiden ein Paar. Holger ist seit sieben Jahren Teil ihres Lebens. Rainer hat seit Jahren zwei weitere Freundinnen, Holger eine. Beständigkeit, stabile emotionale Bindungen, das suchen sie in ihren Partnerschaften. Sex gehört dazu, ist aber nicht das Wesentliche. Ihr Konzept von Liebe ist die Polyamorie – die Viel-Liebe. Sie ist die Abkehr vom Ideal der einen, wahren Liebe, die die Erfüllung in einem einzigen Partner sucht. Das polyamore Versprechen: Liebe wird nicht weniger, wenn man sie teilt. Das Glück wird größer, nicht kleiner. Wer mit einem Partner glücklich ist, bringt das Glück in andere Beziehungen mit. Und wem es gut geht, für den freut der andere sich auch. Mitfreude heißt das. Ein Plus.

Es gibt auch ein Minus. Einer von mehreren zu sein, das führt zu Eifersucht, Neid, Verlustangst. „Liebe ist nicht ohne Konkurrenz“, sagt Karin. Hamburg. Berlin. Hamburg. Berlin. Drei Jahre fuhr Karin zwischen Holger und Rainer hin und her. Sie teilte gerecht. Jeder bekam die Hälfte ihrer Zeit. Zwei Wochen Rainer. Berlin. Zwei Wochen Holger. Hamburg. Irgendwann merkte Karin: Sie möchte mehr bei Holger sein. Das zieht Rainer den Boden unter den Füßen weg. Wer bei A ist, kann nicht bei B sein. Rainer hat Angst, seine Frau zu verlieren. Zum ersten Mal, seit er mit ihr zusammen ist, spürt er Eifersucht. Rainer, 57, grauer Stoppelbart, hat Erfahrung im Teilen. Zehn Jahre hat er in einer Kommune gelebt, im Berlin der 1980er. Damals schläft er jede Woche mit bis zu zwölf Frauen. Sie sprechen über den Umgang mit Gefühlen und über Kritik an der Zweierbeziehung. Es ist wie nach Hause kommen. Während seiner ersten Ehe hat er sich immer wieder in andere verliebt. Nach dem fünften, sechsten Mal war klar: Nur eine lieben, das kann er nicht. Seine Beziehungen stehen für Rainer an erster Stelle. Früher hat er in einer Winterdienst-Firma ge67


arbeitet, im Sommer Verwaltung, im Winter draußen. Sein Chef hät- laub fahren, wohnt Yvonne ein paar Tage bei ihm. Er findet es schön, te das Unternehmen gerne an ihn übergeben. Doch Rainer winkte ab. wenn sie Staub wischt und er den Abwasch macht. Rainer fehlt der Poly und Karriere, das beißt sich. Bei einer 60-Stunden-Woche lei- gemeinsame Alltag mit Yvonne. Er hat versucht, alle vier zusammenzubringen. Als Rainer und den die Lieben. 2005 werden Karin und Holger ein Paar. Mit Holger konkurriert Yvonne frisch verliebt sind, Anfang 2009, gehen sie zu viert am Rainer um Zeit. Und um Nähe. Lange hat Karin mehr Nähe gesucht Wannsee spazieren. Es ist März, die Sonne scheint, und es ist so als Rainer. Es war Karin, die wollte, dass Rainer und sie zusammen- warm, dass sie die Schuhe ausziehen und die Füße ins Wasser tauziehen, Karin, die sich wünschte zu heiraten. Rainer dachte erstmal chen. Zu viert laufen sie Hand in Hand in Hand in Hand. A, B, C und darüber nach. Monatelang. Er war skeptisch. Bevor sie in eine ge- D. Irgendwann sind Rainer und Karin schon ein Stück vorausgeganmeinsame Wohnung ziehen, fährt er mit Karin in den Urlaub. Drei gen, achtzig Meter vielleicht, als Holger und Yvonne stehen bleiben. Rainer dreht sich um. Wo bleiben sie denn? Die beiden küssen sich. Wochen auf einem kleinen Boot, die Müritz entlang. Es läuft gut. Mit Holger ist alles anders. Für Karin heißt es nur noch: Holger, „Die verstehen sich ja gut“, sagt er zu Karin. Er freut sich. Karin nicht. Holger, Holger. Seit er da ist, ist Karin zweimal verheiratet – innerlich. An ihrer Hand trägt sie nur einen goldenen Ehering. Der andere Yvonne, 38, verstrubbeltes Haar, mit einem Hang zum Spirituellen, ist Ring, ein schweres Oval aus schwarz lackiertem Metall, hängt an ei- seit zwei Jahren mit Rainer zusammen. Es war Liebe auf den ersten nem Lederband um ihren Hals. Er ist von Holger. Eine offizielle, Blick. Auf einer Geburtstagsfeier setzte Rainer sich neben sie, der zweite Heirat, selbst eine eingetragene Lebenspartnerschaft verbie- Stuhl war frei. Rainer will von Anfang an klare Verhältnisse, er erzählt ihr von Polyamorie, Holger und Karin sind auch auf der Party. tet das Gesetz. Es ist der 6. Februar 2009. Yvonne kann sich genau an das Datum Holger, 35, lange Haare, breite Hüften, bringt Karins Augen zum erinnern. An diesem Tag werden sie und Rainer ein Paar. Ihre Beziehung ist leidenschaftlich. Yvonne sagt, sie profitiere Leuchten. Er ist ihr Mann fürs Gefühl, für die Leidenschaft. Am Anfang haben sie drei Stunden Sex pro Tag. Sie sind einander ähnlich: von Rainers sexuellen Erfahrungen mit anderen Frauen. Wenn er bei Sie brauchen Rückzugsräume, Menschen werden ihnen schnell zu einer anderen war, ist er immer zärtlicher als sonst. Sie sehen sich zwei Mal die Woche, gestern erst waren sie zusammen im Kino, viel. Beide spielen das Online-Rollenspiel „World of Warcraft“. Rainer ist Karins Mann für den Intellekt. Mit ihm diskutiert sie „Schilf“, ein Film über Quantenphysik. Seit es Yvonne gibt, kauft Rainer Blumen. Vergangene Woche ist er über die Gleichstellung von Mehrfach-Beziehungen, über Politik. Gerade aktuell: die Personalie Gauck. Rainer und Karin kennen sich mit zwei Sträußen nach Hause gekommen. Für Karin: lila Tulpen. Für Yvonne: rote Rosen. Rote Rosen, was für ein Symbol! „Was heißt das aus Kommune-Zeiten. Sie geben einander Halt, Verlässlichkeit. Holger zieht 2007 nach Berlin. Während er eine eigene Wohnung jetzt? Und ich?“, fragte sich Karin. Es ist eine Konkurrenz um die Posisucht, kommt er bei Karin und Rainer unter. Der Deal: Zwei Monate tion in Rainers Beziehungsgefüge. In Rainers Herz. Karin mag rote Rokann er bleiben, dann muss er raus. Rainer besteht darauf. Dann sen eigentlich gar nicht. Lila Tulpen findet sie schöner. Rainer weiß das. kommt der Tag des Umzugs. Die neue Wohnung ist schon fertig ein- Er weiß auch, dass Yvonne das Feuerwerk mag, rot, wie die Rosen. gerichtet, Holger will mit der letzten Reisetasche zur Tür hinaus. Da spürt Rainer, er will gar nicht, dass Holger auszieht. Die beiden um- Karin, 52, rot gefärbte Haare, klare Worte, hat als Kind erlebt, wie armen sich, heulen. Rainer sagt: „Wenn ich bi werde, bist du der Ers- sich alles nur um die kleine Schwester drehte. Bis heute ist es für sie schwer zu ertragen, wenn eine andere Frau mehr Aufmerksamkeit te, der es erfährt.“ Eine Herzensbindung. Heute wohnen die drei auf 47 Quadratmetern in Berlin-Mitte: bekommt. Wenn sie sich unwohl fühlt, sagt sie das. „Poly heißt reden“, sagt Küche, Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer, eine winzige Diele. Anfangs haben sie zu dritt in einem Bett geschlafen. Seit Rainer schnarcht, Karin beim PolyTreff, einem monatlichen Treffen im Hinterzimmer verbringt er die Nächte auf der Couch im Wohnzimmer. Eine Tür einer Osteria in Berlin-Mitte. 15 Leute sitzen an diesem Abend im trennt die beiden Räume, wenn zwei Sex haben, kann der Dritte sie März hier im Stuhlkreis, das Licht ist schummrig, die Atmosphäre hören. Wer morgens als Erster aufwacht, kocht Kaffee. Morgens und familiär. Man merkt: Die Leute hier haben sich mit sich selbst auseiabends essen sie zusammen. Karin füttert die Fische. „Familienleben nandergesetzt. Sie können ihre Bedürfnisse formulieren, können sazu dritt“ nennt sie das. Drei Zahnbürsten, drei Kaffeetassen, drei gen, was sie in einer Beziehung wollen und was nicht. Und sie ertragen es, wenn ein anderer auspackt. Karin und Rainer sitzen Hand in Stühle. A und B und C. Für Rainers Freundin Yvonne ist da kein Platz. Die Frauen ver- Hand nebeneinander, hören zu, teilen Erfahrungen. stehen sich nicht. Karin findet Yvonne provokant. Yvonne glaubte Drei Regeln haben sie im Laufe der Jahre für sich festgelegt: Information. Auf die Gesundlange, Karin hasse sie. Als Rainer einmal bei heit achten. SelbstverantYvonne ist, telefoniert er mit Karin. Was Karin wortung. sagt, kann Yvonne nicht hören. Aber der TonSie informieren einanfall! „Da kam Hass rüber.“ Karin sagt: „Ich hasder immer. Jeder weiß von se sie nicht.“ Rainer vermittelt zwischen den den anderen Beziehungen. beiden, wie früher, zu Hause, als FamiliendiWer woanders schläft, sagt plomat zwischen Mutter und Vater, Eltern und Geschwistern. Damals fühlte jeder sich missverstanden. Rainer Bescheid. Sie sind ganz offen. Rainer und Karin lesen gegenseitig ihre brachte dem einen die Position des anderen nahe. Er redete und re- E-Mails. Sie haben nichts zu verbergen. Auch die Gesundheit ist dete. Zwischen Karin und Yvonne zu übersetzen, bringt sogar ihn wichtig: Bei neuen Partnern sind Kondome Pflicht. Und jeder trägt für sich selbst Verantwortung. Wer etwas auf dem Herzen hat, sagt es. an seine Grenzen. Als Rainer und Yvonne vergangenes Frühjahr in den Urlaub fahYvonne kommt selten bei Rainer vorbei. Nur wenn die anderen weg sind. Als Karin und Holger im vergangenen Sommer in den Ur- ren, an den Bodensee, fühlt Karin sich mies, ist verunsichert. Sie

R a i n e r h at B lu m e n ge k a u f t: L i l a T u l p e n f ü r Ka r i n , r ote R o s e n f ü r Yvo n n e

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Karin ist zwei Mal verheiratet, zumindest innerlich. Der goldene Ehering ist von Rainer, der andere von Holger. Seit er eingezogen ist, gibt es alles drei Mal – auch im Badezimmer.

spricht mit Rainer. Es bleibt dabei: Die beiden fahren. Manchmal muss man mit dem Zweifel selbst fertig werden. Alles offenlegen, das kann sehr weh tun. Einmal ist Yvonne zum Abendessen bei den dreien. Rainer hat gekocht. Kartoffelsuppe, vegetarisch, seine Spezialität. Karin erzählt Yvonne von ihrer Migräne. Sie weiß, dass Yvonne etwas Therapeutisches macht, und will nett sein, ein gemeinsames Thema finden. Später liest sie in einer E-Mail an Rainer: Yvonne hat sich „zugelabert“ gefühlt. Jeden Tag massiert Yvonne Patienten, jeden Tag jammern ihr die Leute die Ohren voll. Karin sagt, es sei keine grundsätzliche Sache, dass sie mit Yvonne nicht klarkommt. Mit Rainers zweiter Freundin versteht sie sich gut. Aber Yvonne kostet Karin Kraft. Vergangenes Wochenende waren Yvonne, Rainer und Karin auf derselben Geburtstagsfeier. A, B und C. Die beiden Frauen haben nicht miteinander gesprochen. Es hat sich nicht ergeben. Karin akzeptiert, dass auch Rainer und Yvonne ein Paar sind: „Ich habe noch nie gesagt oder gefühlt, wenn du den anderen nicht verlässt, dann ...“ Mitfreude mit Rainer, die empfindet Karin trotz allem. Manchmal, wenn sie sich vernachlässigt fühlt, ist es mit der Mitfreude schwierig. Aber sie ist froh, weil es Rainer gut geht. Sie weiß, dass Yvonne Rainer viel gibt, Yvonne ist unbeschwert, die beiden ziehen einander körperlich an. Sein Glück wächst. Und damit auch Karins: „Wenn Rainer nach Hause kommt und strahlt und sich wohl fühlt, dann bereichert das auch unsere Beziehung.“ Liebe wird nicht weniger, wenn man sie teilt. • 69


Schulter Schluss Ringen ist Zweikampf in seiner urspr端nglichsten Form: keine Schl辰ge, keine Tritte, keine Tricks. Wer die Schultern seines Gegners auf den Boden dr端ckt, hat gewonnen. Eine Fotoreportage aus dem t端rkischen Ringerverein in Berlin

Fotos Th o ma s L o b e n w e i n

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Seit der Trennung ringen die Eltern um die Zeit mit ihrem Sohn. Silas wohnt mal beim Vater, mal bei der Mutter.

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Das geteilte Kind Kurz nach Silas' Geburt trennten sich seine Eltern. F체r den Achtj채hrigen ist das ganz normal. Vater und Mutter aber leben in st채ndigem Kampf um seine Liebe Text J u l i a n e F u n k e l Fotos M a r i e l l e V i o l a M o r aw i t z

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S

ilas besitzt alle Sachen doppelt. Zwei Skateboards, zwei Lego-Raumschiffe, zwei Betten, zwei Kinderzimmer. Zwei Zuhause. Eigentlich findet er es nicht schlecht, so zu leben, meint er selbst. „Das Doofe ist nur, wenn ich bei Mama bin, vermisse ich Papa, und wenn ich bei ihm bin, vermisse ich sie.“ Die Eltern des achtjährigen Jungen leben getrennt. Sie haben nicht alles doppelt. Im Gegenteil: Sie teilen ihr einziges Kind. Der Vater, Jivan Schlag, steht in der Küche und brät Spiegeleier und Speck. Brutzelnd, duftend. Auf dem Tisch stehen drei Teller. „Silas, Nina*, kommt ihr? Frühstück ist fertig!“ Aus den Kinderzimmern am Ende des Flurs kommt ein gedehntes „Glei-eich“ von Silas und ein zartes „Ja“ von der dreijährigen Nina. Einen Moment später rennt Silas durch den langen Flur. Auf den Socken rutschend kommt er neben dem Esstisch zum Stehen. Perfekt. Das macht er nicht zum ersten Mal. „Darf ich mir Speck auftun?“, fragt Silas seinen Vater, noch bevor er sich hingesetzt hat. Die Haare der beiden Kinder sind noch feucht vom Duschen. Die ersten Frühlingsstrahlen scheinen durch das Oberlicht an der Decke. Vom Küchenregal plappert ein morgenfrischer Radiosender. Fünf von vierzehn Tagen verbringt Silas regelmäßig bei seinem Vater in Berlin. In dieser Zeit ist immer auch Nina da, Silas' Halbschwester aus einer späteren Beziehung seines Vaters. „Die Kinder sind mir einfach wichtig“, sagt der, „deshalb habe ich nach den Trennungen sehr unter dem Kampf um sie gelitten.“ Unverheiratete Väter bekommen in Deutschland nicht automatisch Anteil am Sorgerecht. Nach der aktuellen Rechtslage können sie einen Antrag darauf stellen, dem die Mutter aber zustimmen muss. 2010 ging das 78

alleinige Sorgerecht in 71 Prozent der strittigen Fälle an die Mütter. „Wenn die Kinder nicht da sind, fühle ich mich, als ob ein Stück von mir fehlt“, sagt Jivan Schlag, „erst wenn wir zusammen sind, fühle ich mich ganz.“ In Jivan Schlags Schlafzimmer ist viel Platz zum Toben. Ganz hinten steht ein breites Bett. Schönes Parkett liegt auf dem Boden. In einer Ecke unter dem Fenster stehen Schreibtisch, E-Piano und Mikrofon. Gitarren hängen an einer Säule. Der 39-Jährige arbeitet als Gynäkologe. Musik macht er nur in seiner Freizeit. Silas ist gekonnt den langen Flur von der Küche zurückgeschlittert und hüpft jetzt auf dem Bett seines Vaters herum. Immer höher. Immer waghalsiger. „Und jetzt mache ich eine Vorwärtsrolle in der Luft“, schnauft er an Nina gewandt, die neben dem Bett mit ihrem Arztkoffer spielt. Silas springt hoch, dreht sich einmal um sich selbst und landet gerade noch auf dem Bett. Schon steht er wieder auf und springt weiter. Jivan Schlag kommt ins Zimmer. „Papa, bitte, erlaub mir, auf deinem Bett zu hüpfen!“, sagt der hüpfende Sohn. Sein Vater sieht in skeptisch an: „Aber pass auf, dass du nicht runterfällst.“ Oktober 2004. Silas ist zehn Monate alt. Seine Eltern wollen sich trennen. Sie ziehen in verschiedene Wohnungen um. Den gemeinsamen Besitz teilen sie auf. Messer hier, Gabeln dort. Zwei rechts, zwei links. Aber wer kriegt das Kind? Mit Hilfe einer Mediatorin haben Jivan Schlag und Silas' Mutter Anna Lingen* versucht, doch noch als Paar, als Familie weiterzuleben. Vergeblich. Ihre endgültige Trennung folgte einige Monate später. „Wir konnten nicht mehr sachlich miteinander reden“, erzählt Jivan Schlag. Beide beharrten auf ihrer Position. Deshalb trafen sie * Name von der Redaktion geändert


Mit seiner Mutter spielt Silas am liebsten „Vier gewinnt“, mit seinem Vater tobt er herum.

»Erst wenn die Kinder bei mir sind, fühle ich mich ganz«, sagt der Vater

sich auch nach der Trennung weiter mit der Mediatorin, um zu klären, wie sie als getrennt lebende Eltern miteinander und mit Silas umgehen können. „Das war ein hartes Ringen um die Zeit mit Silas“, sagt Anna Lingen. „Die Sorge nach einer Trennung ist ja, dass man nicht nur den Partner verliert, sondern auch sein Kind.“ Jivan Schlag sieht das ähnlich: „Wir hatten beide extreme Verlustangst, aus der dann die Konkurrenz um das Kind entstand.“ Beide Eltern haben diese Zeit als sehr bedrohlich in Erinnerung: Träume, in denen Silas lieber beim jeweils anderen leben wollte, weil es dort schöner war. „Das eigene Kind zu verlieren, ist ja das Einzige, was einem wirklich Angst machen kann“, sagt Anna Lingen. Viele Väter dürfen ihre Kinder nach einer Trennung gar nicht mehr sehen. Jivan Schlag vermutet dahinter Rachemotive. „Manche Mütter sind durch die Trennung sehr verletzt und tragen das dann über dieses 'Du darfst dein Kind nicht sehen' aus.“ Nur ein paar Straßen von Jivan Schlags Wohnung entfernt arbeitet Anna Lingen im Wohnzimmer an ihrem Laptop. Sie muss

noch einen Vortrag vorbereiten, den sie am Wochenende halten wird. Auch die 42-Jährige arbeitet als Gynäkologin. Es klingelt. Silas kommt aus dem Schülerladen, wo er nach der Schule seine Hausaufgaben macht. „Mama, spielst du mit mir Karten?“, fragt er und lässt seinen Rucksack fallen. „Hallo, wie war's in der Schule?“ Im Flur hängt ein breiter Garderobenhaken hoch an der Wand. Gegenüber dasselbe Modell auf halber Höhe. Daran Silas' bunte Jacken, Mützen, Schals. Silas ist noch ganz aufgekratzt und geht in die Küche. „Willst du einen Saft?“ Anna Lingen geht zum Kühlschrank. An der Tür klebt Silas' Stundenplan. „Nee, den nicht“, meint Silas. Er ist schon auf dem Weg in sein Zimmer. Mit einem Stapel Star-Wars-Sammelkarten kommt er zurück. „Spielst du jetzt mit mir?“, fragt er. „Okay“, antwortet seine Mutter. Silas hat sich zu ihr auf einen der beiden Barhocker in der Küche gesetzt. Stolz zeigt er ihr seine Sammlung. „Hier, die Karte mit Han Solo habe ich schon mehrmals“, erzählt er ihr. „Wenn Papa nicht da wäre, hätte ich Han Solo gern als Vater.“ „Ja, warum?“, fragt ihn seine Mutter. „Der ist genauso cool“, meint Silas. Anna Lingen lacht 79


»Dass Silas seinen Vater behält, war eine der größten Aufgaben meines Lebens.«

und streichelt ihrem Sohn über den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich da ungerecht bin“, sagt Anna Lingen, „aber gerade am Anfang ist doch die Beziehung des Kindes zur Mutter enger.“ Deshalb hat sie nach der Trennung darauf bestanden, dass der Lebensmittelpunkt ihres Sohnes bei ihr bleibt. Jivan Schlag dagegen forderte eine Halbe-Halbe-Lösung. Darauf ließ sich Anna Lingen nicht ein. Im Konfliktfall könnte sie dann nicht nachweisen, dass Silas hauptsächlich bei ihr lebt. Irgendwann gab Jivan Schlag nach: Jetzt lebt Silas neun Tage bei seiner Mutter und fünf bei ihm. Außerdem darf Jivan Schlag sein Kind sehen, wann immer er will, und hat die Garantie, dass Anna Lingen mit Silas nicht einfach in ein anderes Viertel, eine andere Stadt umzieht. Trotzdem: In Schlags Augen ziehen Jugendämter und Gerichte die Mütter immer vor. „In der heutigen Zeit, in der es ja ständig um Emanzipation und Frauenrechte geht, verstehe ich nicht, dass die Behörden auf diesem traditionellen Mutterbild beharren“, sagt er. Anna Lingen weiß nicht, wie sie die jetzige Lösung findet. „In Ordnung, ja. Aber gerecht?“ Sie weiß, dass sie mehr Zeit mit Silas 80

verbringen kann als sein Vater. Aber auch sie hat Kompromisse geschlossen, und der Kampf ist auch ihr nicht leicht gefallen. „In dem ganzen Kummer und Schmerz nach der Trennung habe ich immer daran gedacht: Ich will, dass Silas seinen Vater behält“, sagt sie, „aber es war eine der größten Aufgaben meines Lebens.“ Anna Lingen und Silas sitzen immer noch auf den Barhockern. Zwischen ihnen auf dem Tisch steht ein neues Spiel: „Vier gewinnt“. Abwechselnd werfen beide rote und grüne Blättchen in eine schmale Plastikwand mit Löchern. Gerade ist Silas dran. „Es kommt darauf an, wie schlau man ist“, sagt er zu seiner Mutter, „und ich bin schlauer als du.“ Und schwupps lässt er sein grünes Blättchen in das Spiel fallen. „Stimmt, du gewinnst fast immer“, sagt Anna Lingen, „aber ob das heute auch klappt?“ Jetzt steckt sie ein rotes Blättchen hinein. „Ich habe gewonnen“, ruft sie überrascht. Silas bleibt gelassen. „Heute macht mir das nichts aus“, sagt er, „komm, wir spielen nochmal!“ Früher, als Silas noch kleiner war, gab es viele Momente, in denen Jivan Schlag die Konkurrenz zu Silas' Mutter sehr deutlich spürte. „Wenn er sich weh getan hatte oder quengelig wurde, hat er immer nach seiner Mama gerufen“, erzählt er, „das hat mich jedes Mal fertig gemacht.“ Viele Väter leiden unter dieser Rolle der Mütter. Es gab aber auch andere Situationen, die Jivan Schlag in Erinnerung geblieben sind. „Silas hat schon manchmal gesagt: 'Bei Mama bekomme ich mehr Geschenke', 'Bei Mama darf ich länger aufbleiben' und solche Sachen“, sagt Schlag und bedauert, dass er sich manchmal hat erpressen lassen. Aber Jivan Schlag hat es immer häufiger geschafft, sich in diesen Fällen mit Anna Lingen abzusprechen. Auch in ihren schwierigsten Phasen haben sich beide darüber ausgetauscht. „Und dann wurde klar, dass Silas einfach versucht hat, das Beste für sich rauszuholen“, sagt Schlag. Und Silas' Mutter meint: „Er ist eben ein kleiner Prinz. Er hat das verinnerlicht: Egal, wo er ist – ob bei Papa oder Mama –, er ist immer das Einzelkind und bekommt die volle Aufmerksamkeit.“ Sie selbst hat immer versucht, sich nicht in die Konkurrenz zum Vater drängen zu lassen. „Wenn Silas mal sagt: 'Papa erlaubt mir mehr als du', dann tropft das einfach an mir ab“, sagt sie. Und glaubt, dass Silas seine Manipulationsversuche deshalb mittlerweile aufgegeben hat. Im Laufe der Zeit haben die beiden Eltern fast jede Situation einmal durchgestanden – und immer Lösungen gefunden: Weihnachten findet abwechselnd beim einen oder anderen statt, Kindergeburtstage feiern sie gemeinsam, Entscheidungen werden einstimmig getroffen, der Kontakt zu allen Großeltern gefördert. „Für mich ist Familie einfach sehr wichtig“, sagt Anna Lingen, „der Zusammenhalt, die Struktur. Und für Jivan gilt das auch.“ Jivan Schlag und Anna Lingen wären ein gutes Paar. Sie können ihre Gefühle genau analysieren, miteinander reden, Kompromisse finden. Vor allem kennen sie die Stärken des anderen, akzeptieren sich aber auch gegenseitig mit ihren Schwächen. Vielleicht hätten sie sich nicht getrennt, wenn sie damals gekonnt hätten, wozu sie heute fähig sind. Es klingelt. „Ich glaube, das ist Papa“, sagt Anna Lingen, „er wollte dich ja abholen.“ Sie geht zur Tür und öffnet. Jivan Schlag und Nina kommen herein. Silas rennt aus der Küche in sein Zimmer und versteckt sich dort. Er begrüßt die beiden nicht. „Nina, gut, dass du da bist“, sagt Anna Lingen jetzt, „Silas hat ein kleines Einhorn hier hingelegt, das er seiner Schwester schenken will.“ Während Nina das Einhorn aus blauem Plastik genau betrachtet,


unterhalten sich die Eltern miteinander. „Was hast du heute Abend vor?“, fragt Jivan Schlag seine frühere Partnerin. „Nachher gibt es eine Modenschau, zu der gehe ich“, sagt sie. Und plötzlich fällt ihr noch etwas anderes ein. „Hast du eigentlich schon meine neue Zahnspange bemerkt?“ „Wie? Hast du die jetzt gerade an?“ „Ja, seit ein paar Tagen. Sie ist durchsichtig.“ Es hat lange gedauert, bis Anna Lingen und Jivan Schlag nach der Trennung so unbeschwert miteinander reden konnten. In kleinen Schritten ist es immer besser geworden. Beide sind inzwischen neue Beziehungen eingegangen. „In dem Moment, wo man mit jemand Neuem zusammen ist, lässt man den anderen los“, sagt Jivan Schlag, „dann gibt es keinen Schmerz mehr und damit auch keinen Grund, seinen Groll über das Kind auszutragen.“ Auch Anna Lingen ist heute froh, dass sich Silas' Vater und sie gegenseitig unterstützen. „Wir können es mittlerweile als Bereicherung sehen, dass der andere Elternteil da ist“, sagt sie, „jeder von uns beiden hat andere Qualitäten, die Silas braucht.“ Die Konkurrenz zwischen Vater und Mutter ist für Kinder getrennter Eltern auf Dauer sehr anstrengend. Nur wenn die Eltern erkennen, dass sie sich ergänzen, ersparen sie ihren Kindern den ständigen Loyalitätskonflikt. Als Jivan Schlag wieder Vater wurde, hatte Anna Lingen zum letzten Mal wirklich Angst. „Nach Ninas Geburt habe ich befürchtet, dass es Silas bei seinem Vater besser gefällt“, erzählt sie, „weil er dort ein traditionelles Familienleben bekommt, das ich ihm nicht bieten kann.“ Doch ihre Sorgen waren unbegründet. Im Gegenteil: Silas war überfordert von der neuen Situation und fühlte sich durch seine kleine Schwester benachteiligt. Die Aufmerksamkeit seines Vaters galt nicht mehr nur ihm. Heute kommen beide gut miteinander aus. „Seit ich mit beiden Kindern allein bin“, sagt Jivan Schlag, „ist Silas ruhiger, offener und auch Nina gegenüber sehr viel umsichtiger geworden.“ Die Eltern und Nina sind Silas in sein Kinderzimmer gefolgt. Auf dem Schreibtisch stehen Fotos von Silas als Baby, als Kleinkind, im Urlaub mit seiner Mutter. Nudeln kleben als Dekoration auf dem Rahmen. Jivan Schlag lacht Anna Lingen an. „Du klingst wie Daffy Duck mit der Zahnspange.“ Auch sie muss lachen. Bei allem, was sie jetzt sagt, lispelt sie übertrieben. „Bisher waren alle höflich zu mir“, scherzt sie und jedes s klingt wie ein f, „du bist der Erste, der darüber Witze macht.“ Silas ist ganz still. Während seine kleine Schwester auf dem Hochbett herumturnt, und seine Eltern Witze machen, sitzt er am Boden und sortiert seine Sammelkarten. „Silas, du weißt schon, dass nur gut gelaunte Kinder in meine Wohnung dürfen“, zieht ihn sein Vater auf. Silas reagiert nicht. Seine Mutter fragt: „Warum bist du denn schlecht gelaunt?“ „Weiß ich selbst nicht“, meint Silas. „Dir gefällt es nicht so gut, wenn wir alle zusammen sind, hm?“„Ja“, sagt Silas offen. Silas wünscht sich sehr, dass seine Eltern wieder zusammenziehen. Trotzdem: Sind beide da, wirkt er unausgeglichen und weiß nicht so recht, was er von alldem halten soll. Das ist seinen Eltern schon oft aufgefallen. „Wenn wir ihn dann auch noch gemeinsam in die Schranken weisen, ist er immens gekränkt“, erzählt Jivan Schlag. Silas wird gerade alles zu viel. „Geht bitte alle mal raus“, sagt er, „ich will meine Ruhe haben.“ Es scheint, als wüsste er bei so viel Elternpräsenz nicht mehr genau, wo er hingehört. Und vielleicht hat er in diesen Momenten Angst davor, dass sein größter Wunsch tatsächlich wahr wird. •

Gefängnis –

für die meisten Menschen ein weißer oder gar schwarzer Fleck auf der Landkarte der persönlichen Erfahrungen. Die Herausforderungen für die „Gefängnisseelsorge“ sind immens: ob im Frauengefängnis oder im Jugendstrafvollzug, in der Betreuung der Angehörigen, in der Vermittlung zwischen drinnen und draußen, in der Projektarbeit mit Gefangenen. Die Autoren zeigen Alltag und Perspektiven der Seelsorge im Strafvollzug. Sachinformationen sowie Berichte von Betroffenen machen dieses Buch zu einer wertvollen Lektüre. Ulrich Tietze (Hg.)

Nur die Bösen?

Seelsorge im Strafvollzug 232 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7859-1057-3 Lutherisches Verlagshaus

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BESTECHEN und BESTATTEN Konkurrenz belebt das Gesch채ft? Nicht, wenn das Gesch채ft der Tod ist. Eine Geschichte von f체nf Bestattern, einem Krankenhaus und zu wenigen Leichen Text A n t o n i a z u K n y p ha u s e n Fotos Th e r e s a B e c h e r e r

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Seit rund dreißig Jahren verkauft Günter Luhmann erfolgreich Urnen und Särge. Anfangs war er der einzige Bestatter im Westend.

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V Nirgendwo sonst in Deutschland gibt es so viele Bestatter wie in Berlin. Nirgendwo ist der Kampf um die Leichen gnadenloser

or drei Stunden ist Christel Schöning* verstorben. Jetzt ist sie verschwunden. Die Leiche wurde entführt. Im Protokoll für das Gericht wird später zu lesen sein: „Die Hinterbliebenen wurden umgehend darüber informiert, dass ihre Mutter und Großmutter von einem Bestatter gekidnappt wurde.“ „Leichen bergen.“ So nennen es Bestatter, wenn sie Verstorbene vom Sterbebett in den Wagen und anschließend in die firmeneigene Kühlkammer verlegen. Für eine derartige Überführung benötigen sie die Erlaubnis der Hinterbliebenen oder eine Vollmacht des Toten. Alles andere ist illegal. Doch im Berliner Bestattungsgewerbe laufen die Geschäfte oft nach anderen Gesetzen, solchen, die nirgendwo geschrieben stehen. Jeden Tag sterben in der Stadt über achtzig Menschen. Mehr als doppelt so viele Bestatter reißen sich darum, sie unter die Erde zu bringen. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Situation in Berlin dramatisch verschärft. Während die Zahl der Toten sank, eröffneten jedes Jahr mindestens vier neue Bestattungsinstitute. Nirgendwo sonst in Deutschland gibt es so viele Totengräber wie in Berlin. Nirgendwo ist der Kampf um die Leichen gnadenloser. Am Tag nach der Entführung der toten Christel Schöning ruft ein Mitarbeiter der Bestattungsfirma die Enkeltochter an: Die Verblichene sei bei ihm, die Telefonnummer habe er aus der Krankenakte, bliebe noch zu

klären, wie sie sich die Beerdigung wünsche: Feuer oder Erde? Die Enkelin legt den Hörer auf und beauftragt einen anderen Bestatter mit der Grablegung der Großmutter: die Firma Bauschke. Der Bestatter am Telefon war zwar schnell an die Leiche gekommen, Bauschke aber hatte das Vertrauen der Angehörigen. Dass die Enkelin ihre Großmutter ausgerechnet seinem Bestattungsinstitut anvertraute, freut Günter Luhmann noch heute. Endlich hatte er etwas gegen den Marktführer in der Hand, jenen übermächtigen Konkurrenten. Kaum ist Christel Schöning unter der Erde, zieht er gemeinsam mit der Enkeltochter gegen den Entführer vor Gericht. Sein Ziel: mehr Gerechtigkeit im Wettbewerb. Vielleicht will er sich aber auch in Berlin-Westend ein Stück Macht zurückholen. Günter Luhmanns Geschäft liegt nämlich nur ein paar hundert Meter entfernt von dem des beschuldigten Bestatters. Mit 31 Jahren stand Günter Luhmann vor der Entscheidung: Kneipe eröffnen oder Menschen begraben. In beiden Branchen steht der Zugang allen offen, denen mit und denen ohne Ausbildung. Das Leben als Wirt schien ihm zu ungesund, also kaufte Luhmann 1984 das Bestattungshaus Bauschke im Westend. Den Namen des alten Familienbetriebes behielt er bei. Bauschke, diesen Namen kennen und schätzen die Berliner. Die exklusive Lage direkt neben dem Krankenhaus zieht jedoch bald die Konkurrenz an. Neben Bauschke lassen sich in den Jahren darauf vier weitere Bestatter nieder. Vor dem Ostausgang der Klinik sitzt jetzt „Grieneisen“, vor dem im Süden die „Global Bestattungen“. Dazwischen haben sich die Bestattungsinstitute „Westend“ und „SargDiscount“ positioniert. Jeder einzelne Bestatter lauert auf Tote, wie die Spinne im Netz. Hat einer einen Kunden am Wickel, wird dieser so lange umgarnt, bis der Auftrag zur Beerdigung unterschrieben ist. Günter Luhmann drückt das so aus: „Als Erstes brauche ich das Vertrauen des Kunden, die Toten kommen dann von allein.“ Dunkler Anzug, schwarz-weiß gestreifte Krawatte, penibel geputzte Schuhe und Brillengläser, unter dem grauen Schnauzer ein Lächeln: Günter Luhmann ist die Pietät in Person. Die teure Uhr am Handgelenk und der schwere Goldring sind * Name von der Redaktion geändert


Am Spandauer Damm hat sich die Konkurrenz fest im Blick. Bestatter misstrauen einander. Auch Gerhard Bajzek (links) von „Grieneisen“ kritisiert die Machenschaften der Wettbewerber.

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Bestatter verkaufen seidene Sterbehemdchen und massive Eichensärge. Oder sie schaufeln möglichst viele Tote unter die Erde

Hartmut Woite geht seinen eigenen Weg. Entgegen aller Kritik eröffnete er den ersten Bestattungs-Discounter der Stadt. 86

Relikte aus der Vergangenheit: Er hat sie noch erlebt – die goldenen Zeiten der Bestattung, damals, als Krankenkassen für jeden Sterbefall noch ein paar Tausender hinblätterten und Sparen bei einer Beerdigung noch als ehrenrührig galt. Wie lange eine Bestattungsfirma überleben kann, hängt – mehr als in anderen Branchen – von ihrem Ruf ab. Zwar können Bestatter ganz allgemein für sich Werbung machen. Doch wenn ein Mensch bereits gestorben ist, dürfen sie sich den Angehörigen nicht aufdrängen, um den Auftrag zu kassieren. Wenn nicht schon zu Lebzeiten ein Vertrag abgeschlossen wurde, bleibt dem Bestatter nichts anderes übrig, als zu warten. Darauf, dass die Kunden von allein kommen. Einen Bestatter braucht jeder Hinterbliebene. Und ein guter Ruf spricht sich schnell herum. Freilich schadet es da nicht, den gu-

ten Ruf der Konkurrenz ab und an mit unüberhörbaren, kritischen Untertönen zu ramponieren. Günter Luhmann ist im Gegensatz zur Konkurrenz ein ehrbarer Bestatter. Sagt er. Er besteche kein Pflegepersonal, damit sie die richtige Adresse empfehlen, und tausche im Krematorium nicht heimlich den teuer bezahlten Sarg gegen eine billige Kiste aus. Bei seiner Konkurrenz sehe es da ganz anders aus. „Der da drüben fischt die Leichen aus dem Krankenhaus schon vor allen anderen ab,“ verrät Luhmann. Und: „Der da auf der anderen Seite nennt sich zwar Billigbestatter, preiswerter ist der aber nicht.“ Der, den Günter Luhmann nur „der da drüben“, nennt, heißt Marco Witt. Mit 33 Jahren ist er nur halb so alt wie Luhmann und sein Verkaufsraum nur halb so groß. Trotzdem macht


Der Tod in Zahlen

32 234

Todesfälle gab es im Jahr 2010 in Berlin. Vor zwanzig Jahren waren es noch 11 832 Leichen mehr. Die Zahl ist kontinuierlich gesunken.

161

Bestatter sind im März 2012 in der Handwerkskammer von Berlin eingetragen. Das sind 42 Bestatter mehr als noch vor zehn Jahren.

280 000 Euro Umsatz machte ein deutscher Bestatter durchschnittlich im Jahr 2006. Zehn Jahre zuvor waren es rund 100 000 Euro mehr.

520 Euro

verlangen die Berliner Friedhöfe für die Erdbestattung in einem gewöhnlichen Reihengrab. In Hannover müssen Angehörige dagegen 2 039 Euro für die Grablegung hinblättern.

249 Euro

verlangen Berliner Krematorien laut Gebührenordnung für die Einäscherung einer Leiche. In Tschechien kostet diese Dienstleistung nicht einmal neunzig Euro.

4 000 DM

zahlten die gesetzlichen Krankenkassen pro Todesfall bis Ende der achtziger Jahre an die Hinterbliebenen. Seit 2004 zahlen Angehörige die Bestattung aus eigener Tasche.

80%

der Berliner werden nach ihrem Tod verbrannt. Im Jahr 1950 waren es noch weniger als vierzig Prozent.

242

Friedhöfe gibt es in Berlin. Davon sind 38 bereits vollständig belegt.

er Luhmann zu schaffen. Seit 2004 liegt „Westend Bestattungen“ „Bauschke Bestattungen“ direkt gegenüber. Seitdem ist die jeweils andere Straßenseite feindliches Terrain. „Ich grüße ihn, aber mehr auch nicht. Für ein freundschaftliches Verhältnis sitzen wir zu nah aufeinander“, erzählt Witt. Jeder Bestatter wirbt beim Kunden für sich um Vertrauen, doch für die Konkurrenz gibt es nur Misstrauen. Marco Witt ist im Gegensatz zu allen anderen ein ehrbarer Bestatter. Sagt er. Schließlich sei er der Einzige hier, der seinen Beruf tatsächlich gelernt habe und noch immer alles selbst mache: Desinfizieren, Frisieren, Anziehen, Einsargen. „Die anderen sehen doch gar keine Leichen mehr.“ Das klingt abfällig. Und die Zahlen sprechen für ihn: Rund neunzig Prozent der Bestatter in Berlin beschäftigen für die Überführung der Toten Fuhrunternehmen. Diese wiederum bezahlen Subunternehmer, um die Leichen zu präparieren. Auch Bauschke spart so Zeit und Geld. Der Lebensgefährte von Marco Witt hat ein Fuhrunternehmen. Dieses überführt im Auftrag des Westend-Krankenhauses die Verstorbenen aus den Stationen in die Pathologie. So blieben die meisten Kunden gleich automatisch bei Witt kleben. Das jedenfalls vermutet Luhmann. Für ihn fällt schließlich kaum noch eine Leiche aus dem Krankenhaus ab. Zeitdruck und Unwissenheit machen Angehörige in ihrer emotionalen Ausnahmesituation zu leichter Beute für windige Konkurrenten. Und weil Witt dank seines Lebensgefährten direkt an der Quelle sitze, versperre er anderen Bestattern den Zugang zur Kundschaft. Das ärgert Luhmann. Ein anderer Wettbewerber hat Marco Witt deshalb angezeigt. Doch das Landgericht Berlin fand keine Beweise für eine Vorteilsannahme. Ab und an, gibt Witt zu, sage er auf Anfragen am Telefon schon mal einen günstigeren Preis, damit die Kunden in seinen Laden kommen und nicht gleich zum „Sarg-Discount“ um die Ecke pilgern. Aber krumme Sachen seien nicht seine Art. Über der Tür seines Geschäfts prangt die Aufschrift: www. der-preiswertbestatter.eu und die bunten Plakate im Schaufenster versprechen eine All-inclusive-Reise ins Jenseits für 949 Euro. 2004 strichen die Krankenkassen das Sterbegeld, mit dem Hinterbliebene bis dahin die Kosten der Bestattung decken konnten. Seitdem müssen die Verwandten in die eigene Tasche greifen, um Mutter, Vater oder Onkel unter die Erde zu bekommen. Solange der Preis stimmt, ist vielen egal, wie und wo der Verwandte begraben wird. Oft ist das

Geld knapp, die familiäre Bindung locker und die christliche Ehrfurcht vor dem Tod überwunden. Der Bund Deutscher Bestatter schätzt die durchschnittlichen Kosten eines preiswerten Begräbnisses in Berlin auf rund 2 500 Euro. Hartmut Woite nimmt nicht mal ein Drittel davon. „Sarg-Discount“ heißt seine Firma und erinnert mit ihren braunen Kacheln an der Außenfassade und dem vergilbten Schild über der Tür eher an eine Metzgerei aus alten Tagen. Dreimal versuchte die Deutsche Bestatter-Innung, den Namen „Sarg-Discount“ verbieten zu lassen. Vergeblich. Als Woite im Fernsehen behauptete, jeder zweite Bestatter würde nur durch Bestechung an Leichen kommen, schloss man ihn ganz aus der Innung aus. Hartmut Woite ist im Gegensatz zur Konkurrenz ein ehrbarer Bestatter. Sagt er. „Aber irgendwas Negatives müssen die anderen über mich erzählen! Sonst wäre ihre Welt nicht in Ordnung.“ Immer wieder kämen betrogene Kunden in sein Geschäft und zeigten ihm die überzogenen Rechnungen der Mitbewerber. „Die anderen verkaufen zu einem überteuerten Sarg oft auch noch Griffe, die überhaupt nicht nötig sind bei einer Einäscherung im Krematorium.“ Und überhaupt sei er der Einzige im Westend, der zu einem detaillierten Kostenvoranschlag bereit sei. Eigentlich ist Hartmut Woite Industriedesigner. Ein Feingeist mit blauen, eng zusammenstehenden Augen und schmächtiger Statur. Als er Anfang der achtziger Jahre die teuren Autos der Reichen auch vor Aldi parken sieht, denkt er sich, essen muss jeder und sterben auch. Und was beim Essen klappt, geht auch bei den Toten. Wenig später eröffnet in Berlin-Westend eine der ersten Discount-Bestattungen der Stadt. „Provokativ, aber nicht pietätlos. Preiswert, aber nicht billig“, befand Woite und der Erfolg gab ihm Recht. Aus Protest gegen so viel Chuzpe verkaufte ihm in Deutschland niemand mehr einen Sarg. Also importierte Woite massenhaft Holzkisten aus der damals noch existierenden DDR, nahm so viele, wie er brauchte, und verkaufte den Rest unter anderem Namen an die Konkurrenz weiter. „Keiner von denen wusste, dass ich dahinter stecke“, freut Woite sich noch heute. Woite importiert Särge und exportiert Leichen. Der Friedhof in Tschechien, wo er die Körper verbrennen und die Urnen an Ort und Stelle verbuddeln lässt, sei dank seines Einsatzes richtig schön geworden. Er sei eben ein guter Geschäftsmann. Kein Betrüger. 87


Profit geht vor Pietät. Doch bei „Sargdiscount“ geht es sauber zu – sagt der Betreiber.

Solange der Preis stimmt, ist vielen egal , wie und wo der Verwandte begraben wird

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ben einem Verwaltungschef einen Mercedes geschenkt.“ Das jedenfalls will Luhmann gehört haben. Woite versuchte es bei einem anderen Pflegeheim mit einer alten Münzsammlung für den Chef. Der lehnte dankend ab. Die Konkurrenz hatte offenbar mehr zu bieten. Flankiert vom Supermarktdiscounter zur Linken und „Sarg-Discount“ zur Rechten, thront die Firma „Grieneisen“ in einem modernen Bestattungspalast aus Glas, Stahl und Holz. „Grieneisen“ ist im Gegensatz zur Konkurrenz ein ehrbares Bestattungshaus. Sagt Regionaldirektor Gerhard Bajzek. Schließlich habe „Grieneisen“ schon den Kaiser beigesetzt und ist mit über dreißig Filialen Marktführer in Berlin. Gerhard Bajzek ist über die Arbeit der Konkurrenten richtig empört: „Die Trauernden sind so enttäuscht, wenn sie zu uns kommen! Die werden bei den anderen wie das Letzte behandelt.“ Das „Haus der Begegnung“, wie „Grieneisen“ seine Filiale nennt, steht erst seit 2003. Trotzdem behauptet Bajzek, man sei als Erstes im Westend gewesen. Das sei eben so, sagt Bajzek. Wo „Grieneisen“ ist, siedeln sich auch andere Bestatter an. Die Kleinen hofften wohl, vom Großen etwas abzubekommen. „Wir sind die echte Bestattung, die anderen schimpfen sich zwar Bestatter, bezahlen aber bloß Subunternehmer für die Arbeit.“ Die anderen Bestatter glauben dagegen, dass „Grieneisen“ zahlt, um lukrative Kundenquellen exklusiv zu halten. „Das ist so und wird sich auch nie ändern“, erklärt Hartmut Woite. Noch dieses Jahr, so munkeln die Bestatter, übernehme „Grieneisen“ gleich die ganBestatter können auf zweierlei Arten zu ze Organisation der Leichenhalle im WestGeld kommen: Sie verkaufen seidene Ster- end-Krankenhaus. Was wird dann aus Marco behemdchen in massiven Eichensärgen zu Witt und dem Fuhrunternehmen? Seit Jahren üppigem Blumenschmuck und Streichquar- bietet das Bestattungshaus „Grieneisen“ tett. Oder sie schaufeln mehr Tote unter die Fortbildungskurse für Pflegepersonal an, das Erde als die anderen. „Vorsorgevertrag“ ist oft mit Sterbefällen zu tun hat. „Um Personal das Lieblingswort eines jeden Grablegers, es vorzubereiten“, sagt Bajzek. „Um Leichen sorgt für rosige Zukunftsaussichten: Der abzufischen“, sagen die anderen. Kunde weiß, in welcher Urne seine Asche einmal ruhen wird, der Bestatter weiß, das Die Entführung von Christel Schönings Leiche ist nun auch schon zwei Jahre her. Luhmann Geld ist ihm sicher. Auf der Suche nach sterbewilligen Kun- musste die Klage gegen seinen Konkurrenten den und deren Unterschriften sind Pflege- inzwischen fallen lassen. Das Gericht erklärheime, Krankenhäuser und Seniorenresi- te den Fall nur wenige Monate nach der Entdenzen inzwischen zur Pilgerstätte für führung für verjährt. Günter Luhmann blieb Totengräber geworden. Schon heute stirbt auf seinen Prozesskosten sitzen und verdie Mehrheit aller Berliner in Einrichtungen pflichtete sich zudem, Stillschweigen über den Namen des Bestattungsinstituts zu beund nicht zu Hause. Manche Häuser halten dabei exklusiv wahren. „Ich lege mich nicht mehr mit dem nur einem Bestatter die Tür auf. Gegen ein Teufel an“, sagt Günter Luhmann. Vom kleines Eintrittsgeld versteht sich. „Zu Machtgerangel auf dem Markt hat er jetzt Weihnachten hat der große Kollege hier drü- erst mal genug. •


Tierische Konkurrenz Illustration J a n M o h n ha u p t Text Na d i a Pa n t e l

Die Schummel So pummelig und flauschig! Aber wieso hat die Schummel eigentlich immer einen Urlaubstag mehr?

Der Auswal Für Sie immer noch Doktor Auswal. Alles andere erfahren Sie nach Abschluss des zehnstufigen Bewerbungsverfahrens. Den Krill können Sie hierlassen. Wir melden uns.

Der Monopolyp

Die Neidechse Die Neidechse hat schon lange den Verdacht, dass der Auswal Ziegen bevorzugt. Reptilophob wie er ist. Und fett. So, jetzt isses raus.

Das Fairkel

Hinsetzen und nicht mehr aufstehen. Während der Monopolyp scheinbar unbeteiligt herumfläzt, bricht einer seiner acht Arme einem Konkurrenten das Genick.

Das Fairkel teilt. Sein Mittagessen, seine Ideen und auch seine Energie. Nur damit die Intrigans danach wieder lästert, das Fairkel habe keine eigene Meinung.

Die Intrigans Brandgefährlich und perfide. Und nie ein Klümpchen Schmutz im weißen Federkleid …

Die Ehrgeiziege Alles, aber wirklich alles richtig machen. Und richtig schnell. Und gerne laut. Denn ein Sieg ist dann erst richtig schön, wenn die Neidechse es mitkriegt.


Unter den Augen von Marx und Engels b체ffeln Studenten in der Juristischen Fakult채t am Berliner Bebelplatz.

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Mit dem Teppichmesser in die Bibliothek Wörter schwärzen, Seiten ausreiSSen, Bücher verstecken. Mit allen Mitteln kämpfen Jura-Studenten um den entscheidenden Vorsprung

Text G l o r i a V e e s e r Fotos J a c o b W aa k

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ie anderen sind schon da, als Alexander Wagner morgens um 8.38 Uhr die Marmortreppe zur Bibliothek hinaufeilt. Ein Dutzend Studenten wartet vor dem Eingang, Alexander drängt sich mitten durch die Menschentraube, ganz nach vorn an die Tür. Fast eine halbe Stunde lang starrt er mit den anderen auf die goldfarbene Türklinke. Wie jeden Tag wird sich die Jura-Bibliothek erst um neun öffnen, bis dahin versammeln sich über dreißig angehende Anwälte, Richter und Rechtsberater. Als die Tür endlich aufgeht und sich alle gleichzeitig durch den Eingang schieben, fängt das tägliche Gegeneinander gerade erst an. Alexander wirft seinen Rucksack auf einen Fensterplatz und beginnt mit der Jagd. Zielstrebig läuft er die Bücherregale ab und sammelt alles, was er zum Thema Baurecht finden kann. Die Jagd ist diesmal ungewohnt einfach, Baurecht ist nicht sonderlich begehrt. In seinem Lieblingsfach Strafrecht geht es härter zu: Dort, zwei Regale weiter, drängeln sich seine Komilitonen gerade um die neuesten Auflagen der Gesetzestexte, fünf Reihen mit dicken roten Wälzern sind sofort weg. Alexander hat bald über zwanzig Bücher auf seinem Tisch gestapelt, der größte Haufen weit und breit. Zufrieden zieht er seinen Pulli aus und schlendert im maßgeschneiderten Hemd zum Frühstück in die Cafeteria. Die Bücher lässt er liegen, Beute vom Siegertisch zu nehmen, traut sich keiner. So schweigen seine Bücher die Verlierer an, während Alexander einen Kaffee trinkt. „Ist doch ganz normal“, sagt er, das machen schließlich alle so. Es ist Ferienzeit an den Berliner Universitäten, für viele Juristen die Gelegenheit, endlich aufzuholen. Selbst sonntags ist die JuraBibliothek voll, denn der Konkurrenzdruck ist groß: Von den dreihundert Studienanfängern pro Jahr werden es einhundert nicht bis zum Examen schaffen. Ein bei Jura-Dozenten beliebtes Spiel in der Einführungsvorlesung ist darum das Abzählen von Studenten: „Eins, zwei, drei – Sie sind raus. Schauen Sie dem Kommilitonen rechts und links nochmal tief in die Augen, Sie werden ihn beim Abschluss wahrscheinlich nicht wiedersehen.“ Der größte Gegner, das ist von Anfang an der Nebenmann. Wenn Alexander durch die Bibliotheksflure geht, weiß er genau, wer wie lange lernt und was. „Hast du den Verwaltungsrechtsfall schon gelöst?“, fragt er im Vorbeigehen einen Studenten und bekommt als Antwort ein kurzes „Nein“. Alexander geht weiter, ohne nachzufragen. Er wollte nur nachmessen, ob ihn jemand einholt, mehr interessiert ihn nicht. Gefährlich wird dem 35-jährigen Alexander heute keiner mehr so schnell. Fast wäre der Diplombetriebswirt nach seinem ersten Abschluss der jüngste Steuerberater Deutschlands geworden. Dass damals, im Alter von 26 Jahren, seine Nerven versagt haben, schmerzt ihn noch heute. Dabei besteht die Steuerberaterprüfung bestenfalls jeder Zweite, in manchen Jahren fallen achtzig Prozent der Kandidaten durch. Aber Alexander mutete sich schon damals nur die höchsten Maßstäbe zu. Aus Frust über sein Versagen stürzte er sich in ein Jura-Studium. Er sagt: „Ich wollte zur Abwechslung mal was machen, was mir Spaß macht.“ Das war vor sieben Jahren, seitdem verbringt er seine Zeit damit zu beweisen, dass er doch zu den Besten gehört. 92

In der Morgendämmerung fährt Alexander in die Bibliothek, auch den Sonnenuntergang wird er hinter seinem Bücherstapel erleben. In der angespannten Stille dazwischen misst er sich mit seinen künftigen Gegnern. Jedem seiner Kommilitonen könnte er in wenigen Jahren als Staatsanwalt oder Pflichtverteidiger im Gerichtssaal gegenüberstehen. Deutschland ist ein Juristenland, es gibt hier mehr Anwälte als in jedem anderen Staat der Welt, und auch mehr Gesetze. Das macht Jura zu einer Buchwissenschaft: Für den entscheidenden Vorteil im Examen kommt es darauf an, die richtigen Bücher zu kennen. Und damit dieses Wissen einen Vorsprung bietet, darf man es nicht teilen. Bei den Examenskandidaten weckt das kriminelle Energien. Weil man die Bücher dank Sicherheitsetikett aber nicht einfach stehlen kann, werden sie in der Bibliothek versteckt. Wichtige Nachschlagewerke verschwinden unter Zeitschriftensammlungen, in falschen Regalen, unter dem Teppich oder im Lüftungsschacht. Vor Prüfungen werden einzelne Seiten herausgerissen oder Textstellen mit dem Teppichmesser herausgeschnitten. Empfiehlt ein Professor in der Vorlesung einen bestimmten Aufsatz, kann man sichergehen, dass der am nächsten Tag fehlt. „Normal“, sagt die Bibliothekarin, das sei doch inzwischen überall so. Der psychologische Berater der Universität spricht von „schwierigen atmosphärischen Bedingungen“. Die gehören in Jura zum System, denn die Notenskala wird am Durchschnitt bemessen – und der ist immer „befriedigend“. Wer „gut“ sein will, muss „erheblich über den durchschnittlichen Leistungen liegen“: Dass alle gut sind, ist also von vornherein ausgeschlossen. Für ein „sehr gut“ muss die Leistung „besonders herausragen“, und das ist ohne ein kollektives Totalversagen der Vergleichsgruppe praktisch unmöglich. Um erfolgreich abzuschneiden, versucht daher jeder auf seine Art, die anderen abzuhängen. Die einen verstecken Bücher, die anderen nehmen Einzelunterricht, und wer es sich leisten kann, bezahlt für seine Hausarbeit gleich einen Profi. Die Angst, morgen nicht mehr mithalten zu können, macht Jura zu einem einträglichen Geschäft. 150 Euro im Monat geben Juristen dafür aus, in privaten Nachhilfekursen – mit dreißig statt dreihundert Leuten – die komplet-

Die Bücher verschwinden in falschen Regalen, unter dem Teppich oder im Lüftungsschacht ten Studieninhalte zu wiederholen. Normal ist das auch für Alexanders Konkurrenten Tobi, der mittags direkt vom Kurs zum Weiterlernen in die Bibliothek kommt. Er und seine Kurskollegen Malte und Sophie haben heute ihre Probeklausuren abgeholt, eine wöchentliche Trockenübung für jeden, der sich testen will. Auf Tobis Blatt steht mit grüner Tinte eine Neun. Der Kommentar des Korrektors: „Zutreffend geprüft. Allerdings sollten sie noch juristischer argumentieren.“ Sophie unterstellt ihm, zu Hause mehr zu


die Angst der anderen. Seit dem ersten Semester gehe es „denen“ nur darum, die magischen neun Punkte fürs Prädikat „voll befriedigend“ zu erreichen. Wer das nicht schafft, darf nicht in den Staatsdienst, kann nie Richter werden. „Dabei sagt so eine Punktzahl praktisch überhaupt nichts aus“, meint Alexander und runzelt die Stirn zum Denken. Dann sagt er: „Jura ist das Beste, was es gibt, aber es kann die Leute kaputt machen.“ Damit meint er die anderen Leute. Denn Alexander erklärt auch, warum er sich vor der Alexander beherrscht das Spiel um den entscheidenden Vorsprung Zukunft nicht fürchten muss: Ihn erwartet ein sicherer Job in der perfekt. Zwischen elf und vierzehn Punkten liegen seine Ergebnisse, Kanzlei seines Vaters, egal, wie er abschneidet. Er könnte sich also das ist über dem Prädikatsniveau, das ist sogar richtig gut, denn es entspannt zurücklehnen. Aber Alexander braucht das System Jura, ist „erheblich über dem Durchschnitt“. Aber was für Alexander das ihn immer wieder bestätigt. Für ihn, den Leistungssportler, zählt, ist allein der Moment, in dem der Professor den Notenspiegel den Wettkämpfer, ist Jura „wahrer Sport“: Solange er alle Gegner bekannt gibt. Dann steht an der Wand die Liste mit der Punktzahl bezwingt, macht das Spielen Spaß. Und Alexander liebt es zu und der Matrikelnummer. Wenn dann das Geraune losgeht – „Was gewinnen. „Jeder will doch der Beste sein“, sagt er, als sei das ein hast du?“ – und sich selbst Leute, die sich nicht mal namentlich anerkanntes juristisches Argument, und dann stellt er sich vor, kennen, gegenseitig nach ihren Noten befragen, dann schweigt „wie die anderen sich ihre Noten ausrechnen“ und grinst. „Da Alexander gern. Er genießt das Gefühl, alle bezwungen zu haben. „Das fühlt sich verdammt geil an“, sagt Alexander, und während er in braucht man nur was von Punkten zu erzählen, schon kriegen die Angst.“ Er gluckst. „Wegen Noten!“ eine imaginäre Ferne blickt, wiederholt er die Worte dreimal, vierAlexander spricht über diese Angst, als habe er nichts damit zu mal, fünfmal, wie ein Süchtiger, der von seinem letzten Kick spricht. tun. Die Konkurrenz, das sind die anderen, die hat er doch längst Als die Bibliothek schließt, macht Alexander Feierabend. Unter abgehängt. Und doch wird er morgen um halb neun wieder „ganz lautem Protest, denn er habe sich ja „gerade erst warmgeschrienormal“ eine halbe Stunde lang vor der Bibliothekstür stehen. • ben“. Im nahen Grillrestaurant erklärt er dann beim blutigen Steak lernen, als er zugibt. Malte macht sein Examen im April zum zweiten Mal – beim ersten Mal hat ihm seine Note nicht gefallen. Als Sophie erzählt, dass sie für ihr Auslandsstudium in Paris ein Urlaubssemester nehmen musste, können sich die anderen ein Grinsen nicht verkneifen. „In Jura werden Auslandsaufenthalte als Zeitverschwendung angesehen“, sagt Sophie.

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Die Fischerin vom Bosporus Hafize Tahal ist die einzige Frau unter den Fischern auf der Galata-Brücke in Istanbul. Ihren Platz erkämpft sie sich jeden Tag neu Text M i r jam S c hm i t t Fotos S o n ja H ama d

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Sie sagt, dass ihr Männer egal seien, dass sie sich nicht ie hat den Fisch an der Angel. Ein Triumph! Fast eine halbe Stunde musste Hafize Tahal auf die- mit ihnen abgeben wolle. Und doch stellt sie sich fast jeden sen Fisch warten, doch jetzt hat sie ihn: einen Tag an dieselbe Stelle auf der Brücke. Und dringt damit in cinekop, einen Blaubarsch. Sie löst den Haken eine Welt ein, die in der Türkei den Männern vorbehalten ist und wirft den Fisch in eine Schale; dort zappeln – in die Welt der Fischer. Autos fahren vorbei und bringen die Brücke zum Waschon fünf Barsche und schnappen mit starrem Blick nach Luft. Hafize Tahal hebt den Kopf und schaut um ckeln. Die Tram in der Mitte spuckt Menschen aus und sich. Ein Fischer linst in ihre Fischschale und Hafize Tahal verschlingt sie wieder. Es riecht nach Tang und Abgasen; weiß, was er denkt: „Kadın nasıl balık tutar?!“ – „Wie die Straßenhändler schreien, versuchen die anderen zu übertönen, ihre Rufe vermischen sich mit dem Klang der Frau wohl fischt?“ Seit 15 Jahren kommt sie fast täglich zur Brücke, mor- Schiffshörner, der vom Meer heraufweht. Es ist eiskalt, gens um sechs Uhr ist sie da, zehn Stunden steht sie dort kein einladender Ort. Die Fischer verkaufen ihren Fang direkt auf der Brücke. und fischt. Dabei raucht sie eine Schachtel türkische Billigzigaretten. Rauchen sei eigentlich etwas für Männer, glaubt Zehn Lira, ungefähr fünf Euro, bekommen sie für eine Schale so groß wie eine Frisbee-Scheibe. An einem guten Tag sie, genauso wie Fischen. Hafize Tahal ist die einzige Frau unter den Männern, die verkaufen sie drei davon. Die meisten Angler sind Rentner, auf der Galata-Brücke angeln. Doch mit ihnen will Hafize ehemalige Fabrikarbeiter oder Textilverkäufer mit einer Tahal nichts zu tun haben: „Das sind Männer, was soll ich dürftigen Rente. Mit ihren 56 Jahren wäre auch Hafize Tahal bald Rentnerin, wenn sie denn gearbeitet hätte. mit denen reden?“

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Bei Regen beiĂ&#x;en die Barsche nicht an. Fischerin Hafize Tahal in einem Teehaus am Bosporus.

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In den Schalen der Fischer liegen abends Blaubarsche. Die Strömung hat sie unter die Galata-Brücke getrieben.

Mit 17 kam Hafize Tahal nach Istanbul; sie kam, um zu heiraten. Drei Tage nach der Hochzeit schlug ihr Mann sie das erste Mal. Hafize Tahal dachte: „Wenn ich ein Kind bekomme, wird er sich ändern.“ Nach der Geburt des Sohnes änderte sich nichts, ihr Mann schlug zu. Die nächsten 25 Jahre verlässt Hafize Tahal das Haus nur an der Seite ihres Mannes. Sie ist gefangen in der Wohnung und in ihrer Angst. Als sie das erste Mal alles beenden will, versucht sie es mit einer Überdosis Tabletten. Hafize Tahal holt die Angelschnur ein und bespickt die Haken mit Garnelen, die sie vorher auf dem Rand des Geländers in kleine Stücke zerschnitten hat. Neun Haken für neun Fische. Sie holt aus, die Schnurr surrt in die Tiefe, sticht ins Wasser, wie ein Faden eines Spinnennetzes. Hafize Tahal zündet sich eine Zigarette an, atmet den Rauch tief

»Das sind Männer, was soll ich mit denen reden.« ein, atmet ihn wieder aus und wartet. Dieser Moment gehört nur ihr. Genauso wie der Platz auf der Brücke. Früher schickten die Männer sie manchmal weg, dabei gibt es keine festen Plätze. Vertreiben lässt sich Hafize Tahal jetzt nicht mehr: Um halb fünf Uhr morgens macht sie sich auf den Weg, um einen der besten Plätze auf der Brücke zu ergattern – dort, wo die Strömung des Bosporus die Fische ins Goldene Horn spült. Als ihr zweiter Sohn auf die Welt kam, änderte sich noch immer nichts. Ihr Mann prügelte weiter. Wieder versuchte sie, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. 96

Die Menschen eilen über die Brücke. Sie haben keine Zeit, die Fischer müssen schnell sein, wenn sie ihren Fisch verkaufen wollen. Ein Mann bleibt stehen, er will den Preis wissen: „Ne kadar?“ Während die Fischer durcheinander schreien, wirft Hafize Tahal nur einen Blick über die Schulter, saugt an ihrer Zigarette, klemmt die Angel an das Holzgestell am Geländer und schiebt ihre Schale mit Fischen nach vorne. Der Mann geht weiter. Verkauft hat Hafize Tahal noch nichts. Beim dritten Selbstmordversuch wollte sie zusammen mit ihren Söhnen von der Halic-Brücke springen. Sie wollte die Kinder nicht in den Händen ihres Mannes zurücklassen. Hafize Tahal konnte nicht springen, doch endlich hatte sie die Kraft, sich zu trennen, 15 Jahre ist das her. Seitdem wohnt sie bei ihrem Sohn und dessen Familie in Istanbul. Hafize Tahal hasst es, von ihrem Sohn abhängig zu sein. Ihr Traum wäre eine eigene Wohnung. Doch das Geld, das sie beim Fischen verdient, reicht gerade einmal für Zigaretten. Wenigstens dieses Zigarettengeld will sich Hafize Tahal selbst verdienen. „Ich schäme mich, wenn ich meinen Sohn um Geld bitten muss“, sagt sie. Hafize Tahal kurbelt Schnur ein, wieder hat sie einen cinekop gefangen, der in ihren Händen zappelt. Hafize Tahal wirft den Fisch in den Eimer hinter sich. Der Fischer neben ihr reicht ihr ein Handtuch: „Al!“, „nimm!“. Osman Bey ist einer der wenigen Männer auf der Brücke, mit denen Hafize Tahal spricht. Er ist über siebzig, redet wenig, stellt keine Fragen und belästigt Hafize Tahal nicht. Er nennt sie „abla“, große Schwester. Obwohl längst geschieden, trägt Hafize Tahal noch ihren Ehering, der sie an ihr früheres Leben erinnert. Hafize Tahal hat keine Wahl, sie muss ihn tragen. Sie sagt: „Die Männer würden mich sonst nicht in Ruhe lassen.“ Manchmal fragt einer der Fischer, warum sie hier so allein stehe, dann erzählt sie, was ihr gerade in den Sinn kommt. „Mein Mann ist krank.“ „Mein Mann ist auf der Arbeit.“ „Mein Mann ist gestorben.“ Nie würde sie einem Fischer die Wahrheit erzählen: Dass sie 25 Jahre lang mit einem Mann zusammenlebte, der sie schlug, dass sie froh ist, ihn los zu sein und am liebsten überhaupt nichts mehr über ihn sagen würde. Und dass Fischen für sie mehr bedeutet, als nur Geld zu verdienen. Bis Hafize Tahal eine eigene Wohnung hat, ist der Platz auf der Brücke der Ort, der nur ihr gehört, an dem sie selbst bestimmen kann, wie viel sie raucht und mit wem sie spricht. Auf der Brücke kann Hafize Tahal beweisen, dass sie genauso viel wert ist wie all die Männer. Die Sonne hängt jetzt über dem Bosporus. Hafize Tahal schiebt ihre Angel zusammen, bis sie so groß ist wie ein zusammengeklappter Regenschirm. Eimer und Fischschale umhüllt sie mit einer Plastiktüte, damit der Rucksack trocken bleibt. Mit dem Fischmesser kratzt Hafize Tahal Garnelenreste von den vergilbten Fingernägeln. Aus der Vordertasche zieht sie eine rosafarbene Parfümflasche und hüllt Jacke und Hände in einen süßlichen Duft. Dann schnallt sie ihren Rucksack um und nickt dem Rentner Osman Bey zu. Heute hat sie viel gefangen, doch verdient hat sie nichts. Sie wird den Fisch kochen und danach ihren Sohn nach Geld für Zigaretten fragen. •


Wir danken: Den Mentorinnen und Mentoren des 9. Ausbildungsjahrgangs 2010 - 2012

Das ist die EJS Die Evangelische Journalistenschule (EJS) in Berlin ist eine leistungsstarke Medien-Ausbildungsstätte. Das belegt die Bilanz ihrer Absolventinnen und Absolventen. Sie arbeiten bei angesehenen Zeitungen, Zeitschriften, Online-Redaktionen, Rundfunkanstalten oder TV-Sendern. Viele von ihnen wurden mit Journalistenpreisen ausgezeichnet. Für die Qualität der Ausbildung spricht das vorliegende Magazin der Volontärinnen und Volontäre des 9. Jahrgangs. 1995 in Berlin neu etabliert, steht die EJS in der Tradition der bereits 1950 gegründeten Christlichen Presseakademie, der ältesten unabhängigen journalistischen Ausbildungseinrichtung in Deutschland. Die Journalistenschule wird getragen von der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) und gehört zum Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP).

Dr. Jacqueline Boysen, Evangelische Akademie zu Berlin, Berlin Anne Buhrfeind, chrismon, Frankfurt am Main Michael Elgaß, NDR, Haff-Müritz-Studio, Neubrandenburg Lars Haider, Hamburger Abendblatt, Chefredakteur, Hamburg Dr. Claudia Ingenhoven, rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg, Kulturredaktion, Berlin Dr. Matthias Kamann, WELT-Gruppe, Politikredaktion, Berlin Andreas Krieger, AFP, Geschäftsführender Redakteur, Berlin Jens Olesen, WDR, Köln Joachim Reuter, stern, Redaktion Politik und Wirtschaft, Hamburg Erhard Scherfer, ARD-Hauptstadtstudio, PHOENIX, Berlin Christine Thalmann, rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg Janko Tietz, DER SPIEGEL, Hamburg Dr. Johannes Weiß, SWR 2, Wellenchef, Baden-Baden Dr. Beatrice von Weizsäcker, Publizistin, München Birgit Wentzien-Ziegler, SWR, Leiterin Hauptstadtstudio, Berlin Wolfgang Zügel, Berliner Morgenpost, Wirtschaft, Berlin Ohne sie ist unsere Ausbildung nicht möglich: Dr. Alexander und Rita Besser-Stiftung Andere Zeiten e.V. Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft mbH ddvg Europäische Kommission Europäisches Parlament Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern FAZIT-Stiftung Karl-Gerold-Stiftung Otto Brenner Stiftung Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Die evangelische Kirche engagiert sich für eine fundierte Ausbildung von jungen Journalisten, um ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung in den Medien gerecht zu werden. Ein unabhängiger, couragierter, nachdenklicher und werteorientierter Journalismus ist nach Überzeugung der evangelischen Kirche unverzichtbar für Orientierung, Meinungsbildung und Verständigung in einer demokratischen Gesellschaft. Neben der professionellen Vermittlung des journalistischen Handwerks legt die EJS wert auf die gründliche Reflexion ethischer Standards. Maximal 16 Volontärinnen und Volontäre durchlaufen in Berlin eine konsequent praxisorientierte 22-monatige Ausbildung in Print-, Online-, Radio- und TV-Journalismus. Dazu gehören mehrmonatige Praktika in allen Medien. Im Herzen Berlins stehen freundliche und moderne Schulungsräume zur Verfügung. Sie sind technisch für die multimediale Ausbildung ausgestattet. Die EJS verfügt über ein Hörfunk- und TV-Studio, Recherche-Arbeitsplätze und eine Bibliothek. Außergewöhnlich ist die persönliche Betreuung der Volontärinnen und Volontäre durch Mentorinnen und Mentoren. Dabei handelt es sich um engagierte und angesehene Journalistinnen und Journalisten. Jedem EJS-Volontär steht ein Mentor für die Dauer seiner Ausbildung mit Rat und Tat zur Seite. So entstehen Beziehungen, die oft weit über das Ende der Ausbildung hinaus andauern. Die Ausbildung an der EJS entspricht einem klassischen Volontariat und ist kostenfrei. Die Ausschreibung für unseren 10. Jahrgang beginnt ab Juni 2012.

Kontakt: Oscar Tiefenthal, Schulleiter otiefenthal@ev-journalistenschule.de Dr. Thomas Schiller, Publizistischer Vorstand tschiller@ev-journalistenschule.de Sabine Seidel, Seminarbetrieb sseidel@ev-journalistenschule.de Dagmar Lopes, Seminarbetrieb und Bibliothek dlopes@ev-journalistenschule.de Weitere Informationen: www.evangelische-journalistenschule.de 97


Mal ehrlich Zähneklappern kommt nie gut an. Weil Journalistinnen und Journalisten neben der eigenen Arbeit immer auch sich selbst vermarkten müssen, wird es häufig mit Säbelrasseln übertönt – mit perfekten Lebensläufen, nie versiegender Motivation und Neugier. Doch Sensibilität und Hinterfragen sind mindestens genauso wichtig; ob unter uns oder später im Job. Eine Sammlung unserer ungefilterten Assoziationen zum Thema „Konkurrenz“.

bis hierhin …

Einige von uns halte ich für besonders gute Journalisten. Im Vergleich frage ich mich:

Ist das wirklich der richtige Beruf für mich? Bin ich kritisch genug? Bin ich gut genug, um von meiner Arbeit einmal Leben zu können? • Jeder von uns hat eigene Talente und Vorlieben – da kommen wir uns nicht in die Quere. • Es ist einfacher, wenn man seine Konkurrenz nicht mag – oder sogar hasst. • Es gibt immer jemanden, der besser ist, und jemanden, der schlechter ist – wenn ich so denke, bleibe ich Durchschnitt. • In einer Redaktion ging es nur darum: Was machen die anderen? Hatten die das schon? Und nie: Was müssen die Menschen zu diesem Thema wissen? • Die politischen, „härteren“ Themen haben immer die Praktikanten bekommen, nicht die Praktikantinnen. Männer fördern Männer. Da können Frauen noch so gut sein, sie laufen (meist) außer Konkurrenz. • Eine Redaktion lebt davon, dass Leute sich gegenseitig anspornen. • Komisch, dass die, die angeblich am meisten unter dem Leistungsdruck leiden, gleichzeitig die größten Stresser sind. • Konkurrenz ist belebend, solange man gewinnt. Wenn man verliert, lähmt sie einen. • Konkurrenz fühlte ich eher zu denen da draußen. Ich dachte immer, neben der Schule präsent bleiben zu müssen, Texte zu schreiben, zu arbeiten.

… und dann weiter Meine Strategie für später: mir ein Spezialgebiet erarbeiten und eine Nische finden, die nicht so umkämpft ist. • Wenn es so ist, dass es auf dem Markt zu viele Journalisten gibt, die um zu wenig Geld konkurrieren, dann sind wir überflüssig. Andererseits: Sind nicht alle schönen Dinge im Leben völlig überflüssig und erfüllen keinen besonderen Sinn und Zweck? Vielleicht sollten wir unsere eigene Überflüssigkeit lieben lernen. • Ich fühle mich fit für die Welt da draußen und will endlich arbeiten. • Ich bin sauer und unsicher. Sauer, weil ich vermute, dass die meisten von uns ein geringes Gehalt akzeptieren müssen, obwohl wir alle gut ausgebildet sind. Unsicher, weil ich nicht weiß, ob ich einen Job finde und es schwierig wird, sich als Freie durchzuschlagen. • Ich hoffe, dass sich später mein bisheriger Eindruck bestätigt: Wir sind eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt. • Wenn wir uns wiedersehen, werden wir schon vergleichen, wer es wie weit gebracht hat – aber hoffentlich auch, ob wir glücklich sind. • 98


Für angehende Journalisten

Früh beginnen– hohe Rente ernten

Die Premium-Vorsorge

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