Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau

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Die Legende vom Sozialen

Wohnungsbau Andrej Holm • Ulrike Hamann • Sandy Kaltenborn

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Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau 5

(Un)sozialer Wohnungsbau Schwerpunkt der Berliner Verdrängungsdynamik 13

1. Berlin auf dem Weg in die Wohnungsnot 14

2. Sozialer Wohnungsbau 48

3. Berliner Kostenmietwahnsinn 74

Leseempfehlungen 100


Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau Ulrike Hamann • Sandy Kaltenborn

Nach dem langen Sommer der Migration 2015 wird landauf landab der Mangel an sozialem Wohnraum problematisiert. Woher kommt in Zukunft der Wohnraum für Menschen mit niedrigen Einkommen, der in vielen Großstädten heute schon nicht mehr existiert? Und wie und wo werden die neuen Bewohner*innen dieses Landes, die aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und vielen anderen Regionen einwandern, in Zukunft leben? Aktuell wird von unterschiedlichen wohnungspolitischen Akteuren und Forsch­ ungsinstituten ein zusätzlicher bundesweiter Bedarf von bis zu vier Millionen Wohnungen prognostiziert. Angesichts dieser Lage stimmt ein Chor aus Regierung und Wirtschaft ein Lied nach neuen Wohnungsbauförderprogrammen an. Und plötzlich ist der lange eingestellte und in Verruf geratene Soziale Wohnungsbau wieder in aller Munde. Es ist also der richtige Zeitpunkt, sich die Frage zu stellen: Was war eigentlich sozial am Sozialen Wohnungsbau und was kann man aus seiner Geschichte lernen?

Sozialer? Wohnungsbau Der Klang des Namens ‚Sozialer Wohnungsbau‘ ruft verschiedene Bilder und Vorstellungen hervor. Die einen denken, es handele sich um bezahlbaren Wohnraum, den der Staat mit kommunalen Wohnungsunternehmen im Rahmen der Daseinsvorsorge geschaffen hat. Andere denken an Großsiedlungen, in denen sich soziale Probleme häufen. Wieder andere assoziieren damit die Abwesenheit von Kiez­leben und die Verdrängung der armen Schichten der Gesellschaft an den Stadtrand. Mit dem Begriff wird in jedem Fall verbunden, dass Menschen -5-


mit Wohnraum versorgt werden, die sich Wohnungen auf dem freien Markt nicht leisten können. Selbst wenn vielerorts der Druck der Wohnungsmärkte steigt, mögen viele meinen, die Bewohner*innen des Sozialen Wohnungsbaus könnten ohne Probleme ihre Mieten zahlen, denn dafür sei er ja mit Steuermitteln gebaut worden. Mit diesem Heft widerlegen wir diesen Mythos gründlich. Nichts von den Vorstellungen stimmt – weder ging es beim Sozialen Wohnungsbau jemals um eine nachhaltige Wohnraumversorgung für das untere Drittel unserer Gesellschaft, noch sind die Mieten dort dauerhaft niedrig.

Alles für die Wirtschaft Andrej Holm stellt in einer grundlegenden Analyse dar, auf welche Wurzeln der Soziale Wohnungsbau zurückgeht und wie er in die Nachkriegsgeschichte der bundes­deutschen Wohnungsbaupolitik eingebettet ist. Von seinen Anfängen bis zu seinen Extasen in den 1970er und 1980er Jahren in West-Berlin wird aufgezeigt, dass der Soziale Wohnungsbau vor allem eins war: eine Eigentumsförderung für Privatpersonen und Unternehmen. Mithilfe der Förderprogramme konnten Gutverdienende Steuern abschreiben und profitabel in Immobilien investieren. Nach Rückzahlung der Darlehen und nach Wegfall der Belegungsbindungen steht die Gesellschaft jedoch ohne Gegenleistung da. Die öffentlichen Mittel wurden privatisiert und traumhafte Renditen staatlich garantiert. Die ehemalige Sozialwohnung ist am Ende Privat­besitz, ein antisoziales Ziel, das die Wohnungsförderpolitik der letzten Jahrzehnte bestimmte. Umverteilung ohne Gegenleistung Das dramatische Ausmaß der Umverteilung öffentlicher Gelder an private An­ leger*innen ist schon im vorigen Jahrhundert von Mietervereinen kritisiert worden. Doch in der Öffentlichkeit wurde und wird bis heute davon ausgegangen, dass diese Milliardenverschiebung von Öffentlich nach Privat zumindest für die Mieter*innen soziale Effekte haben würde. Das Gegenteil ist der Fall: Ein Großteil der Sozialwohnungen ist in Berlin inzwischen teurer als der Mietspiegeldurchschnitt und die Mieten steigen aufgrund der irrwitzigen Fördersystematik weiter an. Gleichzeitig nimmt der Bestand an Sozialwohnungen rapide ab, weil, wie es im Fachjargon heißt, die ‚Bindungen’ nach und nach ‚auslaufen’. Das Recht der Kommunen auf Belegungsbindungen war die Gegenleistung der privaten Eigentümer*innen für die staatliche Förderung. Dadurch konnten die Kommunen auch bei der Mietengestaltung mitreden und so z.B. festlegen, dass nur Mieter*innen mit geringem Einkommen bzw. mit Wohnberechtigungsschein -6-


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(Un)sozialer Wohnungsbau Schwerpunkt der Berliner Verdrängungsdynamik Andrej Holm

Seit 2012 steht eine selbstgebaute Hütte mitten in der Stadt am Kottbusser Tor. Von denen, die sie dort hingestellt haben und nutzen, wird sie Gecekondu genannt. Der Begriff kommt aus dem Türkischen und bedeutet so viel wie ‚über Nacht gebaut‘. Der Bau eines Gecekondus gilt nach altem osmanischen Recht als Voraussetzung für die Nutzung eines derart in Beschlag genommenen Stück Landes zu Wohnzwecken. In Istanbul und anderen Städten der Türkei sind ganze Stadtviertel nach dem Gecekondu-Prinzip der informellen Selbsthilfe entstanden. Vor allem die neu in die Stadt Kommenden nutzten diese Möglichkeit, um sich mit Wohnungen zu versorgen, die ihnen die Stadt nicht zu bieten hatte. Auch beim Protest-Gecekondu der Mietergemeinschaft Kotti & Co geht es um die Wohnungsfrage. Doch anders als in Istanbul ist das Gecekondu nicht von frisch Zugewanderten erbaut worden, sondern von den Mieter*innen des Sozialen Wohnungsbaus, die damit ihre Verdrängung aus Kreuzberg verhindern wollen. Was Sozialer Wohnungsbau, Gentrification und eine Protesthütte in Kreuz­berg miteinander zu tun haben, soll in diesem Text geklärt werden. Der erste Abschnitt beschreibt die aktuellen Tendenzen der Berliner Wohnungsversorgung und zeigt, dass sich Berlin auf dem Weg in eine Wohnungsnot befindet. Der zweite Abschnitt analysiert den Sozialen Wohnungsbau als eine Wirtschaftsförderung mit beschränkten sozialen Effekten, um zu verstehen, wie sich ein wohnungspolitisches Programm vom Teil der Lösung in einen Teil des Problems verwandeln konnte. Im dritten Abschnitt schließlich werden einige der Berliner Besonderheiten in der Organisation und Abwicklung des Sozialen Wohnungsbaus aufgeführt, woran sich darstellen lässt, was geschieht, wenn private Verwertungsinteressen und die Austeritätsorientierung staatlichen Handelns über die sozialen Bedarfe der Mieter*innen gestellt werden. - 13 -


1. Berlin auf dem Weg in die Wohnungsnot Berlin galt lange Zeit als eine der preisgünstigsten Metropolen Europas. Durchschnittliche Mietpreise um die 5 €/qm im Bestand, eine erhebliche Leerstands­ reserve und nur wenige Gebiete mit ausgeprägten Gentrification-Dynamiken waren bis vor ein paar Jahren kennzeichnend für die Wohnungsversorgungssituation in der Stadt. Eine Mischung aus hohen Anteilen von öffentlichen Wohnungs­ beständen, einer intensiven Neubauaktivität und substantiellen Förder­programmen für die Stadterneuerung in den Ostberliner Altbauquartieren prägten die Wohnungspolitik Anfang der 1990er Jahre. Verstärkt durch den ausbleibenden Bevölkerungsboom waren die Ertragserwartungen privater Investoren eingeschränkt, und großen Teilen der Bevölkerung verblieb die Möglichkeit der freien Wohnortwahl in den meisten Vierteln der Stadt. Doch diese Situation hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Seit 2007 sind die Mietpreise in fast allen Gebieten deutlich gestiegen. Die Mieten der Altmieter*innen mit oft langjährigen Miet­verträgen erhöhten sich im Durchschnitt um 26 % auf 5,84 €/qm (nettokalt). Bei den Angebotsmieten, also den Mieten, die bei einer Neuvermietung gefordert werden, waren es sogar 50 %. Hier wurden 2015 im stadtweiten Durchschnitt fast 9 €/qm (nettokalt) verlangt.1 Die Mieterstadt Berlin hat sich zur Stadt der steigenden Mieten entwickelt. Die Lücke zwischen den Bestands- und den Neuvermietungsmieten hat sich von 1,34 €/ qm auf weit über 3 €/qm vergrößert. Damit ist der immobilienwirtschaftliche Anreiz für den Abschluss neuer Mietverträge deutlich gestiegen. In den attraktiven Lagen sind Ertragssteigerungen durch Neuvermietung noch deutlich größer und haben einen massiven Verdrängungsdruck in weiten Teilen der Innen­stadt ausgelöst.2 Die Einkommensentwicklung in Berlin konnte mit den schnell steigenden Mieten nicht Schritt halten und für Haushalte mit geringen Einkommen gibt es nicht genügend bezahlbare Wohnungen. Eine Bedarfsanalyse für die knapp 650.000 Berliner Haushalte, die mit weniger als 80 % des Durchschnittseinkommens auskommen müssen, zeigt für das Jahr 2014, dass es im Mietspiegelbestand eine Versorgungslücke von über 130.000 Wohnungen gibt, wenn eine maximale Mietbelastungs­ quote von nicht mehr als einem Drittel des Einkommens angenommen wird.3 Doch auch unabhängig von den Einkommenslagen gibt es in Berlin zu wenige Wohnungen. Die Zahl der Haushalte ist inzwischen höher als die der Wohnungen. 2014 standen für die 1,96 Millionen Haushalte nur 1,89 Millionen Wohnungen zur Verfügung, sodass die Wohnversorgungsquote in Berlin nur noch 96 % betrug. ➞ Abb. 1 / Seite 18: Entwicklung der Wohnversorgungsquote in Berlin (1991–2014)

Steigende Mieten, eine negative Wohnversorgungsquote und ein gravierendes Defizit an bezahlbaren Wohnungen: Berlin hat sich zu einer Stadt der Wohnungsnot entwickelt. Die Gründe für die neue Berliner Wohnungsnot sind ein Markt- 14 -


versagen bei der Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Wohnungen, ein wohnungs­politisches Versagen bei der Versorgung mit leistbaren Wohnungen und die Marktextase einer ausgeweiteten Ertragserwartungsspekulation.

Marktversagen Ein Vergleich der Bevölkerungsentwicklung und der Bauaktivitäten zeigt, dass die Zahl der fertiggestellten Wohnungen in Berlin mit der Entwicklung der Bevölkerung nicht Schritt halten konnte. Im Zeitraum zwischen 1992 und 2014 stieg die Zahl der Haushalte um etwa 328.000. Die Summe der Baufertigstellungen in diesem Zeitraum lag bei 210.000 Wohnungen. Das Defizit von 118.000 Wohnungen hat zu einer erheblichen Verengung des Wohnungsangebotes geführt und begünstigt die Monopolstellung von Vermieter*innen. Der Berliner Wohnungsbau der letzten 25 Jahre gestaltete sich als weitgehend von der realen Bevölkerungsentwicklung entkoppelt. Während bis 1994 die Zahl der zusätzlichen Haushalte mit über 85.000 deutlich über der Anzahl der neuerrichteten Wohnungen (ca. 31.000) lag, kehrte sich dieses Verhältnis in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre um. Zwischen 1995 und 1999 wurden über 100.000 Wohnungen neu gebaut. Gleichzeitig reduzierte sich die Zahl der Haushalte um über 30.000. In diesem Zeitraum entstand – begünstigt durch eine negative Bevölk­ erungsentwicklung sowie umfangreiche Förderprogramme und Steueranreize für den Wohnungsbau – ein Überschuss von über 130.000 Wohnungen. Seit dem Jahr 2000 jedoch übersteigt die Zunahme der Haushalte die Menge der fertiggestellten Wohnungen deutlich. Allein zwischen 2012 und 2014 wuchs die Zahl der Haushalte in Berlin um über 85.000. Dem steht eine Summe von lediglich 21.000 neuen Wohnungen gegenüber. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich im Verhältnis von Bevölkerungsentwicklung und Bauaktivitäten ein Defizit von fast 120.000 Wohnungen gebildet. Auf­ fallend ist dabei auch die Ungleichzeitigkeit von Bevölkerungsentwicklung und Bau­fertigstellungen. Die höchste Neubauleistung fällt in den Zeitraum zwischen 1995 und 1999, und damit ausgerechnet in die einzige Phase, in der Berlin mit einem umfangreichen Bevölkerungsrückgang konfrontiert war. Die offensichtliche Unfähigkeit des Marktes, die tatsächliche Nachfrage mit Wohnungen zu bedienen, ist nicht nur auf seine fehlende Anpassungsfähigkeit und die zeitlichen Verzögerungen des Wohnungsbaus zurückzuführen, sondern verweist auf ein tieferliegendes Problem der Verwertungslogik. Da Neubaumieten durch die oft hohen Baukosten in der Regel höher sind als im Bestand, sehen viele potentielle Investoren ein Vermietungs­risiko von Neubauten, wenn es viele preiswerte Wohnungsangebote im Bestand gibt. Im Ergebnis werden marktrationale Neubauinvestitionen erst dann ausgelöst, wenn ihre Rentabilität durch steigende Mietpreise im Bestand gesichert ist. Zugleich steigen aber mit den höheren Ertragserwartungen - 15 -


in den Bestandsimmobilien auch die Investitionsanreize in diesem Bereich, sodass Investitionsmittel verstärkt in den Bestand fließen. Unter Marktkonditionen ist damit die Neubauaktivität unmittelbar mit der Bestands­mietentwicklung einer Stadt verbunden. Sowohl ‚zu geringe‘ als auch zu hohe Mieten in den bereits vorhandenen Wohnungen beschränken die Bereitschaft für den Wohnungsbau. Der von ideal­typischen Marktmodellen versprochene Ausgleich von Angebot und Nach­ frage ist im Bereich des Wohnungsbaus nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung von Investitionen. So lange ein Wohnungsdefizit hohe Erträge im Bestand ermöglicht, werden aus der Markt­logik heraus nicht genügend Neubauwohnungen errichtet. Da eine Unter­versorgung mit Wohnungen Eigentümer*innen hinsichtlich der Preis­gestaltung eine Monopolstellung sichert, liegt ein ausreichender Neubau nicht im Verwertungsinteresse der Eigentümerschaft, sodass wir von einem systematischen Marktversagen bei der Sicherung einer ausreichenden Wohnungsversorgung ausgehen müssen. Entspannte Wohnungs­marktsituationen entstehen nicht durch den Markt selbst, sondern gehen ausschließlich auf externe Faktoren (z.B. schrumpfende Bevölkerung, öffentlicher Wohnungsbau) zurück. ➞ Abb. 2 / Seite 18: Entwicklung der Haushalte und Fertigstellung von Wohnungen in Berlin (1992–2014)

Versagen der Wohnungspolitik bei der Sicherung der sozialen Wohnungsversorgung Dieses absolute Defizit an Wohnungen verstärkt sich mit Blick auf die sozialen Wohnversorgungsbedarfe für Haushalte mit geringen Einkommen zu einem Mangel von mietpreis- und belegungsgebundenen oder anderweitig regulierten Wohnungen. Während die Anzahl der Haushalte mit den geringsten Einkommen zwischen 1992 und 2014 von 440.000 auf 490.000 gestiegen ist, haben sich sowohl die Sozial­ wohnungsbestände als auch die Wohnungen der landeseigenen Wohnungsbau­ gesellschaften deutlich verringert. Statt über 700.000 Wohnungen wie im Jahr 1993 umfasste das gesamte Segment der öffentlichen, regulierten und sozialen Wohnungs­versorgung 2013 nur noch 385.000 Wohnungen.4 ➞ Abb. 3 / Seite 19: Entwicklung der sozialen und öffentlichen Wohnungsbestände in Berlin (1992–2014)

Der drastische Abbau des regulierten Wohnungssektors ist auf die umfangreichen Privatisierungen der landeseigenen Wohnungsbestände, die weitgehende Einstellung der Wohnungsbauförderung sowie den beschleunigten Abbau von Belegungs­bindungen zurückzuführen. Privatisierung des kommunalen Wohnungsbestandes: Von den etwa 480.000 Wohnungen, die sich Anfang der 1990er Jahre im Besitz der landeseigenen Woh- 16 -


nungsbaugesellschaften befanden, waren nach einer Kette von In-sich-Geschäften, Restitutionsfällen, Wohnungsverkäufen und Anteilsprivatisierungen im Jahr 2009 lediglich 260.000 Wohnungen in städtischem Besitz.5 Ein erheblicher Anteil dieser insgesamt 220.000 privatisierten Wohnungen wurde an institutionelle Anleger verkauft und damit unmittelbar den bilanzorientierten Verwertungsstrategien des Finanzmarktes unterworfen.6 Zugleich wurden die zuvor durch die Landesregierung geschröpften kommunalen Wohnungsbaugesellschaften auf einen wirtschaftlichen Konsolidierungskurs ausgerichtet, sodass sich die Mietgestaltung an den Marktmieten in der Stadt orientierte.7 Erst im Jahre 2012 korrigierte der Berliner Senat diese Strategie und verpflichtete die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften in einem Bündnis für soziale Wohnungspolitik und bezahlbare Mieten zu einer sozialeren Ausrichtung ihrer Bewirtschaftung.8 Dezimierung des Sozialwohnungsbestandes: Auch die Anzahl der mietpreisgebundenen Sozialwohnungen hat sich in Berlin von über 370.000 Wohnungen Anfang der 1990er Jahre auf aktuell 140.000 Wohnungen verringert. Die Gründe dafür sind verschieden: Durch die Kürzung der Förderung in den 1990er Jahren und die komplette Einstellung aller Neubausubventionen im Jahr 2001 konnten die Abgänge von Sozialwohnungen aus früheren Förderjahren nicht mehr kompensiert werden. Beschleunigt wurde der Abbau des Sozialen Wohnungsbaus durch den Ausstieg aus der sogenannten Anschlussförderung im Jahr 2003, bei der für etwa 28.000 Sozialwohnungen die Fortsetzung der laufenden Förderung eingestellt wurde. Mit dem 2011 beschlossenen Wohnraumgesetz Berlin (WoG Bln) schließlich wurden die Möglichkeiten einer vorzeitigen Ablösung der Landes­darlehen erleichtert, sodass sich in vielen Förderhäusern die Mietpreis- und Belegungs­bindungen auf eine beschränkte Nachfrist von zehn Jahren verkürzten. Plausiblen Schätzungen zufolge haben Eigentümer*innen in den letzten Jahren für etwa 80.000 Sozialwohnungen einen solchen vorzeitigen Ausstieg aus dem Sozialen Wohnungsbau vollzogen.9 Ende der Behutsamkeit: Eine ähnliche Entwicklung durchlaufen die etwa 24.000 Wohnungen, die im Rahmen der Förderprogramme für die Behutsame Stadterneuerung in den 1980er und 1990er Jahren umfassend modernisiert10 wurden.11 Auch hier erlöschen die Mietpreisbindungen nach Ablauf der Förderverträge, sodass die öffentlich sanierten Wohnungen in überwiegend begehrten Innenstadtlagen nun zu Marktpreisen vermietet werden können.12 Der größte Teil dieser Wohnungen liegt in den ehemaligen Sanierungsgebieten in Kreuzberg und den Ostberliner Innen­stadtquartieren, die mit ihrer zentralen Lage und dem inzwischen – dank der Förderung – hohen Sanierungsstand zu den teuersten Wohngebieten der Stadt gehören. Die Einstellung der Wohnungsbauförderung, der Ausstieg aus der Anschluss­ förderung und die umfangreichen Privatisierungen haben den Anteil des sozial regulierbaren Wohnungsbestandes von 44 % (1993) auf knapp 20 % (2014) ab- 17 -


Abb. 1: Entwicklung der Wohnversorgungsquote in Berlin (1991–2014)

Abb. 2: Entwicklung der Haushalte und Fertigstellung von Wohnungen in Berlin (1992–2014)

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Abb. 3: Entwicklung der sozialen und öffentlichen Wohnungsbestände in Berlin (1992–2014)

Abb. 4: Mietentwicklung in Berlin (1991–2014)

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Vorherige Doppelseite: Kinder spielen mit Bausteinen in unmittelbarer Nähe einer der größten Sozial­ bauten in Berlin-Kreuzberg, dem Neuen Kreuzberger Zentrum (NKZ), ca. 1975. Foto: Steffen Osterkamp | Bild links: Privateigentum dank Eigenheimförderung: Collage verschiedener Bausparanzeigen der 1970er Jahre aus der WDR-Dokumentation Küche Stube usw. Geschichte der Arbeiterwohnung, Jonas Geist und Joachim Krausse, 1978 | Oben: Das Geld fließt und die Häuser sprießen. Still aus Wohlstand für jeden, einem Sparkassen-Werbefilm von 1955, Deutscher Sparkassen Verlag, Stuttgart - 29 -


Zeitgenössische Werbung für Investitionen in den Sozialen Wohnungsbau. Ganz ungeniert wird mit der staatlichen Super-Förderung privater Gewinne geworben. Quelle: Johannes Ludwig, Wirtschaftskriminalität. Schleichwege zum großen Geld, Frankfurt am Main 1992, S. 58; Micha Ulsen, Susanne Claassen, Das Abschreibungs-Dschungelbuch, Berlin 1982, S. 83 - 30 -


Das Abschreibungs-Dschungelbuch von Micha Ulsen und Susanne Claassen skandalisierte schon 1982 in Comicform die Fördersystematik des Sozialen Wohnungsbaus in Berlin und die damit verbundenen steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für Anleger*innen, hier S. 90/91 | Folgende Doppelseite: ebd., S. 95 und S. 44 - 31 -


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Das Neue Kreutberger Zentrum (NKZ) im Jahr 19XX. Die Jägerzaun-Idylle ist inzwischen einem regen Fußgängerverkehr gewichen. Foto: Steffen Osterkamp - 41 -


Unter dem Druck des Ereignishaften entstehen blinde Flecken, alternative Sichtweisen und Erzählungen bleiben verborgen, Texte und Bilder unveröffentlicht, das Verschwinden von Orten undokumentiert. Die Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt sind eine fortlaufende Reihe kleiner Publikationen, die künstlerische, essayistische und aktivistische Praxen mit­einander verbinden. Die Hefte thematisieren die sozialen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen in Berlin und anderen Städten, und greifen in die stadtpolitischen Debatten sowohl historisch reflektierend wie aktuell informierend ein. Die Berliner Hefte verstehen sich als ein Produktionszusammenhang, der unterschiedlichen Autor*innen und Herausgeber*innen offensteht und das analoge und digitale Publizieren in Veranstaltungs- und Ausstellungsformate einbezieht.

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Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #2 Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau Ulrike Hamann, Sandy Kaltenborn (Hg.) März 2018 Texte: Andrej Holm, Ulrike Hamann, Sandy Kaltenborn Lektorat und redaktionelle Betreuung: Ines Schaber, Florian Wüst Korrektorat: Natalie Schütze Gestaltung: Sandy Kaltenborn / image-shift.net Covergestaltung: Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt in Zusammen­ arbeit mit Sandy Kaltenborn / image-shift.net Titelbild: Europaletten, aus denen das Protest-Gecekondu der Mietergemeinschaft Kotti & Co erbaut wurde, 2012, Foto: Sandy Kaltenborn. Innencover: Kottbusser Tor/Skalitzer Straße, 1977, Foto: Jürgen Henschel. Seite 2: Ansicht eines Berlin-Modells in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin, Foto: flickr/jmv. Seite 10–11: Das heutige Gecekondu, 2015, Foto: Sandy Kaltenborn. Seite 92–93: Demonstration der Mietergemeinschaft Kotti & Co, 2012, Foto: Sandy Kaltenborn. Erschienen bei: eeclectic, contact@eeclectic.de, www.eeclectic.de © die Autor*innen, Herausgeber*innen, Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt e.V. und eeclectic ISBN 978-3-947295-02-9 (epub) ISBN 978-3-947295-09-8 (pdf) Druckfassung erschienen bei: Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt (Valeria Fahrenkrog, Joerg Franzbecker, Erik Göngrich, Heimo Lattner, Katja Reichard, Ines Schaber, Florian Wüst), 2016, www.berlinerhefte.de ISBN 978-3-946674-01-6 Vertrieb Druckfassung: Books People Places, Kulmer Straße 20a, D-10783 Berlin, +49-30-23633447, distribution@bookspeopleplaces.com, www.bookspeopleplaces.com Die Herausgeber*innen danken Andrej Holm, der Mietergemeinschaft Kotti & Co, dem Bezirkskulturfonds Friedrichshain-Kreuzberg, dem FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum, Ines Schaber und Florian Wüst. Einen besonderen Dank an Claas Osterkamp für die Zurverfügung­stellung der Fotos aus dem Fundus seines Onkels Steffen Osterkamp. In Kooperation mit dem FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum Gefördert durch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin, Amt für Weiter­bildung und Kultur, Fachbereich Kultur und Geschichte / Projektförderung

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Die Wohnungsfrage ist zurück im gesellschaftlichen Diskurs. Es ist die Frage nach einer Wohnraumversorgung für diejenigen, die durch einen boomenden Immobilienmarkt nichts gewinnen. Dazu gehören in Zukunft auch die Menschen, die bei uns heute Zuflucht suchen. Politik, Wirtschaft sowie verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure fordern vor diesem Hintergrund ein Mehr an Sozialem Wohnungsbau. Doch taugt das Fördersystem des Sozialen Wohnungsbaus dazu, langfristig niedrige Mieten zu garantieren? Dieses Heft räumt mit Missverständnissen auf und erklärt, warum der Soziale Wohnungsbau in seiner bundesdeutschen und Westberliner Ausprägung eine Legende ist: Statt einer nachhaltigen Wohnraumversorgung für einkommensschwache Haushalte ging es bisher vor allem um Wirtschaftsförderung und private Eigentumsbildung. Grund genug, sich mit dem Prinzip des Sozialen Wohnungsbaus auseinanderzusetzen.


Erhältlich als E-Book bei: EECLECTIC Digital Publishing for Visual Culture www.eeclectic.de oder als Buch bei: Books People Places www.bookspeopleplaces.com

Mehr Informationen: BerlinerHefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt www.berlinerhefte.de


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