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EINLEITUNG

von Eugenio Maria Cipriani

Verstehen kann man das Leben oft nur rückwärts; leben muss man es aber vorwärts Søren Kierkegaard

Der dänische Philosoph hat absolut Recht: auf die Zukunft bereitet man sich vor, indem man die Vergangenheit zu Grunde legt, sich der Gegenwart bewusst ist und den Blick auf neue Ziele richtet. Davon soll auch dieser Kletterführer zeugen. Ein Werk, das bis vor wenigen Jahren noch undenkbar schien und nun als Konzentrat der Arbeit einer unglaublich heterogenen Gruppe von Leuten vorliegt. Heterogen in Bezug auf das Alter, den kulturellen Hintergrund und die Lebenserfahrung. Auf den Seiten dieses Buchs finden sich die Beiträge vieler Leute, die in sowohl der alpinen Welt als auch „nebenan” in den Klettergärten der Region Verona unterwegs sind und dort seit fast einem halben Jahrhundert ebenfalls eine liebenswerte Heimat gefunden haben. Ob nun früher oder später; ob als Wegbereiter oder Epigone.

Anfang der 1980er Jahre sprach man nicht nur in der Region Verona, sondern in ganz Europa zum ersten Mal vom „Sportklettern” an natürlichen Felsstrukturen, die bald mit dem schön klingenden Oberbegriff „Klettergarten” bezeichnet wurden.

Realistisch und auch ein bisschen zynisch betrachtet, war das etwa wie die Entdeckung des heißen Wassers, denn für viele der herausragenden Alpinisten der Region, die vor allem in den Dolomiten kletterten, waren die kurzen Felswände schon immer Trainingsgebiet für ihre großen Unternehmungen. Schon zu Ende des 18. Jahrhunderts bereiteten sich die österreichischen Mitglieder der „Gilde zum großen Kletterschuh” in solch kurzen Wänden auf große Besteigungen vor; so zum Beispiel die Erstbesteiger des Campanile di Val Montanaia im Jahre 1902. Dieser Ansatz wurde bis in die 1960er und 70er Jahre verfolgt, u.a. (um nur einen von vielen zu nennen) trainierte der junge Armando Aste, ein außergewöhnlicher Alpinist aus Rovereto, in den 50er und 60er Jahren an den soliden Wänden im Val Scodella. Keinesfalls vergessen werden darf in diesem Zusammenhang Emilio Comici aus Triest, dem in der Mitte dieser Zeitperiode herausragende Erstbegehungen gelangen. Er starb ausgerechnet in einem „Klettergarten” (vermutlich wegen eines dummen Fehlers und nicht, wie es oft berichtet wird, weil eine Seilschlinge riss). Comici erfand so etwas wie den Prototyp des Sportkletterns (mit vielen kontrollierten Stürzen) an den Felsmassiven im Val Rosandra und betrachtete sie schon damals als eine Art Kletterhalle im Freien.

Kurzum: Sportklettern ist wie ein bunter Schmetterling, der aus der glanzlosen Puppe eines lange Zeit prägenden Alpinismusgedankens entstanden ist. Diesem Gegankengang gebührt zwar sicherlich das Verdienst, diese Puppe jahrzehntelang behütet zu haben, aber er hat auch aus verschiedenen Gründen verhindert, dass der Schmetterling seine Flügel öffnen konnte. Erst Anfang der 1990er Jahre, nachdem Wettbewerbe wie „Rockmaster Arco” oder Kletterweltmeisterschaften schon einige Jahre durchgeführt worden waren, konnte sich das Sportklettern als eigenständige Disziplin im Bergsport durchsetzen. Es schaffte sich seine eigenen Helden und Heldinnen, die nicht mehr ausschließlich dem Bergsteigen verbunden waren. Sportklettern wurde nun auch in wirtschaftlicher Hinsicht immer bedeutender und erhielt zunehmend auch offizielle Anerkennung, die in der Zulassung zu den Olympischen Spielen gipfelte.

Klettern an kleinen Wänden war anfangs die reduzierte Form einer alpinen Unternehmung mit Händedruck am Gipfel und anschließendem Abstieg. Ablassen am Umlenker ging weit über die Vorstellungskraft vieler Bergsteiger hinaus, immer wieder mussten noch eigene Haken gesetzt oder

Schlingen gefädelt werden. Der Übergang von Bohrhaken zu gebohrten Haken mit Lasche (es gibt einen Unterschied, auch wenn meist von „Bohrhaken” gesprochen wird) oder auch Klebehaken erfolgte in den Gebieten der Region Verona innerhalb eines Jahrzehnts und war keineswegs unumstritten. Die einen bejubelten diesen Schritt, die anderen, die Sportklettern und Klettern an hohen Wänden nicht trennen wollten, hielten ihn für die Abkehr von der wahren alpinen Ethik. In den 1980er bis Anfang der 90er Jahre gab es infolgedessen nicht wenige kurze und für die damalige Zeit schwierige Routen, die zum Teil mit Bohrhaken abgesichert wurden, wobei sich Alpinisten beim Bohren oft etwas „schuldig” fühlten. Mit der Zeit verstanden aber auch die konservativsten unter ihnen, dass Sportklettern und alpine Kletterei zwei verschiedene Dinge sind. Wer schwierige alpine Routen klettern will, sollte deshalb in Klettergärten ab und an trainieren, aber wer harte kurze Routen klettern will, muss nicht erst durch die harte Schule des alpinen Kletterns. Ethische Diskussionen um Haken, um das Einbohren oder Ausnageln gibt es heute kaum noch. Wenn jetzt mal Haken, besser gesagt Laschen, fehlen, dann waren das vermeintliche Schlaumeier, die damit eine eigene Route ausstatten wollen, wohl wissend, dass sie der Klettergemeinschaft Schaden zufügen. Unsere ethisch-moralischen Werte entwickeln sich zwar weiter, aber solch unsägliche Taten wird es wohl immer geben. Der Übergang vom alpinen Klettern zum Sportklettern wie auch der zum Klettern in Klettergärten brauchte ein gewisse Zeit – die Zustimmung zum Klettern an künstlichen Griffen in Hallen erfolgte hingegen umgehend. Heutzutage erlernen mehr Leute das Klettern in Hallen als am natürlichen Fels. In Verona verwirklichten 2008 ein paar vorausblickende Kletterer und Unternehmer ihren Traum von einer Halle, die mit den anderen in Italien mithalten sollte. Das „King Rock” wurde schon bald zum Ziel vieler Kletterinnen und Kletterer aus dem gesamten Nordosten Italiens.

Dank der Unabhängigkeit von Wetter und der Möglichkeit, das ganze Jahr über zu klettern, stieg der durchschnittliche Könnensgrad beträchtlich und damit auch das Durchschnittsniveau derjenigen, die „draußen am Fels” zugange sind. Auch die Besten können von den Trainingsmöglichkeiten in Hallen profitieren und somit am Fels immer schwierigere Routen klettern. Auch darüber ist in diesem Führer zu berichten, der (wie schon eingangs erwähnt) nicht nur das Ergebnis der uneigennützigen Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Einzelpersonen und Verbänden ist, sondern auch ein Zeugnis davon, dass auch jahrzehntelanges Misstrauen, Meinungshoheit, Ratlosigkeit, Verwirrung und Missverständnis zwischen Individuen und Verbänden überwunden werden kann – im Namen eines gemeinsamen Interesses und einer gemeinsamen sportlichen Leidenschaft.