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Tannheim unheimlich
Schon möglich, dass es irgendwann einmal einem Bewohner des Tales gelungen ist, einen der sagenhaften Schätze zu heben. Überliefert wurde so eine Geschichte aber nicht. Vielleicht, weil das Ende zu langweilig wäre und zu wenig lehrreich.
Wenn das Tannheimer Tal den Mantel der blauhimmlig-sonnigen Postkartenidylle langsam ablegt und die Rote Flüh ihrem Namen alle
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Ehre macht, weil der Sonnenuntergang diesen markanten Gipfel regelrecht glühen lässt, zeigen die Schatten der
Kirchtürme nach Osten. Wie Pfeile. Fast so, als würden sie die Menschen auffordern, das Tal geschwind zu verlassen oder zumindest nach Hause zu gehen und die Türen zu verriegeln. Denn draußen, wo es am Tag noch so klar war und friedlich, beginnt nun eine andere Zeit. Die Zeit einer anderen Welt, in der nicht Bürgermeister, Bergführer oder Schilehrer den Ton angeben, sondern Hexen, Ungeheuer und Geister.
Wer nicht weiß, was da in den Felsspalten der Tannheimer Berge lauern kann, der könnte eine Überraschung erleben.
Eine, die nicht so schnell vergessen und schon seit Urzeiten mit gruseligem
Timbre erzählt wird.
Wie jene des Bogener Ungeheuers. Keiner kann so recht sagen, wie es aussieht. Vielleicht, weil keiner die Erinnerung mit bildhaften Worten wiederbeleben will. Bekannt ist aber, dass es im Berg lebt, im Bogener Berg, der sich am Weg zum Vilsalpsee erhebt und diesem Weg auf bizarre Weise näherrückt, je dunkler es wird. Eine stattliche Felsspalte bildet den Eingang zur Höhle des Ungeheuers, das dort fast immer friedlich lebt. Fast ist das Zauberwort, denn nähert sich mit einem Gewitter „ein recht wüst Wetter“, dann wacht das Ungeheuer auf und macht mit dumpfem Geheul und einem Dröhnen auf sich aufmerksam.

Der Geologe und Heimatforscher Karl Reiser hat das in seinem 1895 erschienenen Buch „Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus“ festgehalten. Selbstverständlich ist das Tannheimer Tal ein Stück Tirol – ein ausnehmend schönes, um genau zu sein –, doch das bayerische Allgäu ist über zwei Talausgänge zu erreichen, „Resttirol“ hingegen nur über einen. Reiser scheinen diese politischen Grenzen auf seiner Schatzsuche nach den Sagen nicht beeindruckt zu haben. Und so wusste er über den Moment, in dem das Bogener Ungeheuer ungeheuerlich wird, zu berichten, dass die Luft dann regelrecht „rebellisch“ werde, halbgroße Tannen im Handumdrehen aus dem Boden reiße und ein Stück weit durch die Luft trage. Dieser Bericht ist fast schon gnädig harmlos gegenüber jenen, in denen das Ungeheuer in seiner Gewitterwut Dächer im nahen, zu Tannheim gehörenden Weiler Schmieden abdeckt und regelmäßig geladene Fuhrwerke umwirft. Zart besaitete Gemüter sollten die nun folgenden Zeilen überspringen, wird das Bogener Ungeheuer doch auch als drachenartiges Biest beschrieben, das Menschen und Tiere nicht nur raubt, sondern sie tötet, indem es das Blut aus ihren Adern saugt.

BEI TAGESLICHT BETRACHTET VERNEBELN DIE IDYLLEN DES TANNHEIMER TALES DIE SINNE. WENN ES ABER DÄMMERT, TRETEN SIE UNGENIERT HERVOR – DIE UNGEHEUER, GEISTERHUNDE ODER DIE ÜBER DIE EPOCHEN DEGRADIERTEN SALIGEN.
Wenn das Blut in den Adern gefriert.
Wem das Blut angesichts dessen noch nicht in den Adern gefroren ist, darf sich weiter wagemutig dem Vilsalpsee nähern – dieser alpinen Wasserperle, deren Anziehungskraft aus gutem Grund so stark ist. Wenn die Sonne lacht, versteht sich. Tut sie’s nicht mehr, ist eine gewisse Vorsicht von Vorteil, denn am sonst so entzückenden See gibt es einen Hund. Es ist – man ahnt es – nicht irgendein Hund. Däserpudel wird er genannt, wobei Pudel ein wenig zu niedlich klingt. Außergewöhnlich riesig ist er, tiefschwarz und er zeigt sich vornehmlich des Nachts. Seinen Namen hat er einer gemütlich klingenden Vorliebe zu verdanken: Mit Däser wird das Gestell bezeichnet, auf dem Holz vor einer Feuerstelle getrocknet wird. Auf einem Däser in einer Hütte am Vilsalpsee fühlte sich dieser Geisterhund pudelwohl und weil jeder so viel Angst vor ihm hatte, wäre niemand über Nacht in der Hütte geblieben. Es ist wohl so, dass er, wie viele andere Geisterhunde auch, einen Schatz bewacht. Der Däserpudel wurde schon

ISABELLE BACHER © lange nicht mehr gesehen. Vielleicht, weil der Schatz geborgen wurde und es für ihn schlichtweg nichts mehr zu bewachen gibt? Ein schöner Gedanke. So lange zumindest, bis der Pudel wieder auftaucht und verzweifelte Stoßgebete überm Vilsalpsee erklingen.
Beten scheint im Tannheimer Tal ganz allgemein ein recht wirksames Mittel zu sein, um einem potenziell unangenehmen Schicksal zu entrinnen. Unweit vom Vilsalpsee auf der Gappenfeldalpe hat das ein Geißenhirte erfahren. Angesichts eines ganz schrecklichen Unwetters hatte er zu beten begonnen, während sein ebenso geißenhirtender Kollege mit bösen, zornigen Flüchen auf das miese Wetter reagierte. Der Fluchende wurde sogleich unter einer gewaltigen Steinlawine begraben, die fast zwingend mit einem Strafgericht Gottes gleichgesetzt werden musste und heute noch in Form einer großen Schutthalde zur Demut mahnt. Denn der Betende blieb unverletzt.
Wundersames im sonst so Schrecklichen.
Auf nicht minder Wundersames im sonst so Schrecklichen geht auch der Bau einiger Kapellen im Tannheimer Tal zurück. Die Pest war eine Geißel gewesen, die zwei Drittel der Bewoh-
ner des Tales dahinraffte. Weil sie zwei Jungfrauen verschonte, ließen die beiden die Dreifaltigkeitskapelle erbauen. Und auch die Mariahilf-Kapelle im Hauptort des Tales steht direkt mit dem schwarzen Tod in Verbindung, hörte er doch just in dem Moment auf zu wüten, in dem die Kapelle erbaut worden war. Unheilschwangerer sind die Pestgeschichten, die sich rund um die Kapelle zum heiligen Leonhard im Tannheimer Ortsteil Kienzen zugetragen haben. An diesem ersten Gotteshaus des Tales, das im 15. Jahrhundert mitten in der Wiese, aber unweit der vielbegangenen, -berittenen und -befahrenen Hauptstraße errichtet wurde, sind die zahlreichen Pesttoten bestattet worden. Ein Totenvogel soll beim Flug über den immer größer werdenden Friedhof gerufen haben: „Esset meah Knoflach und Bibernell, nach stearbt’s it halb so schnell.“ Tja, nicht bei allen wirkten die Hausmittel, doch sollen auch nicht alle tot gewesen sein, die der Totengräber aus dem nahen Pfronten da unter die Erde brachte. Gegen Lohn tat er dies und wurde wohl pro Leiche bezahlt, weswegen er es nicht so genau nahm mit dem Pulsschlag seiner Klienten.

Die Scheintoten brachten Unruhe an den Ort. Es geisterte im kleinen Kirchlein und rundherum wurden Erscheinungen wahrgenommen. Kleine Irrlichter wanderten dort blitzschnell herum und verwirrten die Menschen. Oder es tauchte aus dem Nichts ein riesenhafter Mann mit kurzen Hosen und weißen Strümpfen auf. Als ein Einnehmer, also ein Finanzbeamter, am Weg seine Notdurft verrichtete, erblickte er diesen Riesen und fiel prompt in Ohnmacht. Dass in der St.-Leonhard-Kapelle ein Schatz begraben ist, versteht sich bei der Konzentration an Wunderlichkeiten fast von selbst. Logisch ist auch, dass der eine oder andere Tannheimer danach gegraben hat und – ja, Sie haben es erraten – von einem Pudel vertrieben wurde.

Jungfrauen hinter weissen Wänden.
Schon möglich, dass es irgendwann einmal einem Bewohner des Tales gelungen ist, einen der sagenhaften Schätze zu heben. Überliefert wurde so eine Geschichte aber nicht. Vielleicht, weil das Ende zu langweilig wäre und zu wenig lehrreich, um es weiterzuerzählen. Hirte findet Schatz, heiratet die Liebste und lebt zufrieden bis ans Ende seiner Tage. Aus dieser Geschichte lässt sich vielleicht ein kleines Märchen für rosapinkverliebte Mädchen stricken. Bestseller wird es keiner. Und Gänsehaut löst das auch nicht aus. Die Geschichte von der Weißen Wand aber schon. Die Weiße Wand ist ein nicht ganz kleiner, aber auch nicht allzu großer Fels südlich von Tannheim und man erzählt sich nicht nur, dass dort ein Schatz begraben ist, sondern auch, dass dort drei verwünschte Jungfrauen leben. Eines Tages machte ein Schafhirte ein Nickerchen am Felsen und erwachte erst, als es schon dunkel war. Die Schafe waren verschwunden, doch die drei Jungfrauen waren plötzlich da und kitzelten seine Habsucht. Sollte er sie – die Jungfrauen – erlösen, indem er drei wahrlich fürchterliche Prüfungen übersteht, könne er den Schatz sein Eigen nennen. Als Erstes sollte ein Drache mit einem langen Schweif an ihm vorbeiziehen und der Hirte durfte keinesfalls zurückschauen. Die zweite Prüfung bestand daraus, dass der Schafhirte den Eindruck haben sollte, dass Felsen und Berge über ihm einstürzen und ihn erdrücken. Kein Laut solle da über seine Lippen kommen. Die dritte Aufgabe führten die Jungfern nicht weiter aus, weil sie zu entsetzlich war, um sie zu beschreiben. Er aber solle das Entsetzliche aushalten. Nichts Übles werde ihm geschehen, versprachen sie ihm. Und dann, ja dann seien sie erlöst und der Schafhirte bekäme den Schatz. Er schlug ein und bestand die erste Aufgabe mit Bravour. Als dann aber die Felsen und Berge zu donnern und krachen begannen, schrie er laut auf und vorbei war‘s mit dem Schatz. Der Hirte hörte nur noch ein Klimpern und Klingeln,
WENN DER SONNENUNTERGANG DEN GIPFEL DER ROTEN FLÜH REGELRECHT GLÜHEN LÄSST, ZEIGEN DIE SCHATTEN DER KIRCHTÜRME NACH OSTEN.

als würden unendlich viele Geldstücke wegrollen, und die drei Jungfrauen hörte er jammern und heulen.
Tja, das mit den Jungfrauen, die von einem tapferen Kerl erlöst werden wollen, ist so eine Sache. Früher, ganz früher nämlich, waren diese wilden, geheimnisvollen Fräulein eher tolle, weise Frauen. Salige wurden sie genannt. Sie waren die Herrinnen der Tiere und überbrachten den Menschen neues Wissen oder halfen ihnen in der Not. Überall im Alpenraum gibt es sie und überall im Alpenraum wurden sie mit der Zeit degradiert – zu Hexen etwa oder erlösungssüchtigen Jungfrauen. Seit die Herrschaft der Saligen beendet wurde, ist überall und auch im Tannheimer Tal Verlass auf die weniger charmanten Charakterzüge. Das hat auch seine guten Seiten. Den Haldensee, das zweite Aqua-Idyll des Tales, haben wir schließlich ihnen zu verdanken. Denn dort, wo heute der Haldensee glitzert, stand vor vielen hundert Jahren der größte und schönste Bauernhof weit und breit. Der Bauer selbst war der reichste, er häufte Gold und Silber an und hatte überhaupt keinen Sinn für Gutes oder Frommes. Dieser Sinn fehlte auch seinen drei Töchtern, die sehr schön waren und nicht minder stolz. Selbst als die jüngste der Schwestern erblindete, änderte sich das nicht und nachdem der Bauer starb, spitzte sich das gierige Treiben zu. Die zwei Sehenden wollten die Blinde beim Aufteilen des Erbes betrügen. Als sie das bemerkte, verfluchte die Blinde fuchsteufelswild den Reichtum selbst und ihre beiden Schwestern gleich mit. Damit löste sie ein Unwetter aus, gigantische Wassermassen stürzten vom Berg herab – und bildeten den Haldensee.
Eine der tollkühnsten Geschichten aber ist die jenes jungen Mannes aus dem Tannheimer-Tal, der als Maurer in Holland arbeitete, wo er von der bevorstehenden Hochzeit eines Cousins in Nesselwängle erfuhr. So gerne wollte er dabei sein, dass ihm ein altes Weib seinen sehnlichen Wunsch erfüllte. Sie organisierte ihm einen Luftritt auf einem Geißbock, einen Bockritt im Himmel also, damit er auf schnellstem Weg nach Nesselwängle und rechtzeitig zur Hochzeit kommen konnte. Er schaffte es und hat die Geschichte auch gerne erzählt.
Möglich, dass die eine oder andere Fromme geschwind die große Tannheimer Pfarrkirche aufsuchte, nachdem sie diese Geschichte gehört hatte. Weil die Pfarrkirche St. Nikolaus in Tannheim die zweitgrößte Landkirche der Diözese Innsbruck ist, wunderschön anzusehen, herrlich barock und dem Himmel sicher ein Stück näher als andere, dürfte sie ein beliebter Zufluchtsort für alle sein, denen all die Gänsehaut-Geschichten zusetzen und die sich nach ein wenig Erlösung sehnen. Diese Erleichterung droht aber geschwind zu schwinden, wenn Ortskundige berichten, dass ein alter Mann eines Nachts an der leeren Pfarrkirche vorbeigegangen ist und plötzlich wundersamen Gesang hörte, der schöner war als alles, was er sein Lebtag hören durfte.
Alexandra_Keller
Tirol. Zurück zu dir.
www.tirol.at

ENGLISHTHE UNCANNY TANNHEIM Cursed virgins, bloodthirsty monsters, the legends of the Salige, buckriders, ghost dogs and all sorts of other tingling, scary, fabulously wonderful things characterise the Tannheim valley.
Legendary treasures are also among them.
English Summary
The Tannheim valley slowly sheds its appearance of a postcard idyll and the sunset makes the striking peak Rot Flüh glow as red as its name. The shadows of the church towers lengthen towards the east. Like arrows. Almost as if they were telling people to leave the valley quickly or at least to go home and lock the doors. Because outside, where it was still so clear and peaceful during the day, another time is now beginning. The time of another world, where it is not mayors, mountain guides or ski instructors who set the tone, but witches, monsters and ghosts. Who knows what lurks in the crevices of the Tannheim mountains or who it is howling so mournfully? Terrified screams warn of dangers and surprises for anyone with a balanced state of mind.
The Bogen monster, for example, who lives in the Bogen mountain that rises on the way to Vilsalpsee. Mostly peaceful, but in poor weather it attracts attention with a muffled howl and a distant roar that is still bloodcurdling. Or the Däser poodle in Vilsalpsee. It is unusually huge, deep black, and it appears mainly at night. It is likely that he, like many other Ghost Dogs, guards a treasure. It is quite possible that one day one of the inhabitants of the valley succeeded in snaffling one of the legendary treasures. But such a story has never been handed down.
Seen in daylight, the idyllic scenery of the Tannheimer Tal clouds the senses. But when it gets dark, they emerge uninhibitedly - the monsters, ghost dogs or the fading memories of the Salige, in the form of virgins or witches. One of the most daring stories, however, is that of a young man from the Tannheim valley who worked as a bricklayer in Holland. He found out about the upcoming wedding of a cousin in Nesselwängle. He wanted to be there so much that an old woman fulfilled his wish. She organised - obviously as any good Dutch witch would do – a ride on a billy goat for him, a buckride in the sky, so that he could get to Nesselwängle as quickly as possible and in time for the wedding. He made it and he loved to tell the story afterwards.

The never-ending and yet somehow stimulating shivers do not disappear until the foggy mists lift and the Tannheim valley returns to its idyllic postcard form. Blue skies and sunshine.
WIR FEIERN 10 JAHRE & DIE NEUERÖFFNUNG VON


ÜBER DIE SPRACHE IN DIE SEELE SCHAUEN
Mit seinem „Großen Wörterbuch der Tiroler Dialekte“ legt Hans Moser eine spannende Momentaufnahme von Dialektwörtern vor, die hierzulande (noch) gebraucht werden. Im Interview spricht er über lautliche Hürden, dialektale Grenzen, städtischen Hochmut und den unvermeidlichen „Oachkatzlschwoaf“.
ANDREAS FRIEDLE ©
