echauffier - Magazin für Empörung (#1)

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Heft 1, Januar 2011 / 2,– Euro / www.echauffier.de zur Einführung kostenlos

n e n n _i r e g i d e r p t s g n A a m e T h


Angst und Zweifel Zweifle nicht an dem der dir sagt er hat Angst aber hab Angst vor dem der dir sagt er kennt keinen Zweifel Erich Fried


Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, die Aufregung über Unrecht und Ungleichheit. Über Großmutter und Großinquisitor. Über Schwarzer-Feminismus und Schwarzenfeindlichkeit. Über Studium und Schundromane. Die Empörung über Gartenzwerge und Ganoven, über Koks und Kundus, Ausländer_innen und Ausland, Angst und Arbeitslosigkeit, Antisemitismus und Angstprediger_innen, ja, sogar die Aufregung über die Aufregung selbst: Das – in aller Bescheidenheit – ist Echauffier, das Magazin für Empörung. Wir sind wie ein gutes Orchester: Wir geigen die Meinung noch ordentlich. Objektivität ist so fabulös wie sie nebulös ist. Uns geht es um Denkanstöße, darum, dass wir einfach mal wieder reden sollten. Wir kritisieren, weil wir uns danach fühlen. Empören uns, weil wir Dinge empörenswert finden – ohne dabei Lösungsvorschläge machen zu müssen. Denn: Warum zum Teufel auch nicht? Eben drum. Rümpft die Nasen, runzelt die Stirn, grunzt trotzig in den Raum hinein: Zeit zum Echauffieren. Hohe Empörungsfünf, die echauffier-Redaktion

Inhalt Einführung Empore Empore

Thema: Angstprediger_innen Angst Brennede Ameisen »Wir zeigen eh nur Raufasertapete« Jenseits von Gut und Böse Die Angst des Nachrichtensprechers vor der Nachricht Quo vadis, Israel? »Es war einmal …« – nie wieder! »Die Fremden sind nicht von hier« Gewaltsam integriert »Eine selbstbestimmte Frau. Und Muslimin halt auch.«

Maja-Lisa Müller Khesrau Behroz Friedrich Krotz Sören Musyal Reinhard Hucke Moshe Zimmermann Johannes Smettan Patrick Stegemann Khesrau Behroz Kübra Gümüsay

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Lob der Kritik Lieber Wutbürger Geht kacken! Menschen wie C. About An Education Sie dürfen den Partner nicht küssen Studentischer Mikrokosmos Ikonen der Empörung: Erika Steinbach

Patrick Stegemann Michael Kranixfeld Oliver »Batz« Lysiak Jan Oberländer Fabian Wolff Kai Mertig Maja-Lisa Müller Fabian Raith

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Einführung

Angst von Maja-Lisa Müller

Eine soziologische und philosophische Einführung

Es ist die Enge, die einem den Hals zuschnürt – und es ist die Ausweglosigkeit, die einen lähmt. Das Herz, es pocht so plötzlich schnell, alles drumherum scheint in quälenden langen Atemzügen weiterzuziehen. Angst. Jeder kennt sie, jede ist ihr mal begegnet und jeder sieht in ihr etwas Anderes, erkennt die Angst in völlig eigenen Formen. Sie ist ein zutiefst individuelles Gefühl. Und trotzdem: Sie ist auch überall. Auf jedem Kontinent, in jedem Land, in jeder Kultur. Sie ist, um es wissenschaftlich auszudrücken, anthropologisch konstant. Diese Ambivalenz zwischen individueller Erfahrbarkeit und universeller Existenz macht Angst so interessant und wird in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen erforscht und thematisiert. Besonders spannend scheint da der Vergleich zwischen Philosophie und Soziologie zu sein: Einerseits wird das Phänomaja-lisa.mueller@echauffier.de men an sich untersucht (Wie wird die Angst von den Menschen erfahren?), andererseits Die Autorin bedankt sich bei Max Dehne (Do- die gesellschaftlichen Auswirkungen (Gibt es zent an der Universität Erfurt) für das freund- Ängste, die innerhalb von Gesellschaften empliche und furchtlose Gespräch über Angst in funden werden und welche Folgen haben sie?). der Soziologie. Während die Soziologie keine genauen Angaben darüber trifft oder treffen möchte, was denn genau die Angst eigentlich ist, wagt der Philosoph Hermann Schmitz einen Versuch. Er veröffentlicht Werke zur Philosophie der Gefühle und untersucht menschliche Emotionen nach den Gesichtspunkten der Phänomenologie, also der Lehre von Entitäten (so genannte »Seinsformen« wie Personen, Dinge, Sachverhalte), die in ihrer Tatsächlichkeit nicht bestritten werden können. Um Schmitz’ Bezugspunkte der Leiblichkeit zu verstehen, muss erst die phänomenologische Unterscheidung zwischen »Körper« und »Leib« erklärt werden. Viele philosophische Theorien der Gefühle scheitern nämlich an der sonst so üblichen Trennung zwischen Körper und Geist. Man kann zwar untersuchen und beschreiben, wie sich die Gefühle auf den Körper auswirken und wie sie sich geistig anfühlen, aber diese Vorgehensweise ist unbefriedigend, da sie zwei Prozesse getrennt betrachtet, die doch eigentlich zusammengehören: Ich, als Individuum, empfinde das alles gleichzeitig, und nicht separat. Ich zittere, wenn ein großer Hund vorbeikommt, ich will weglaufen, denke an die Gefahren, die mir drohen, bin zuerst wie gelähmt, bevor ich fluchtartig die Straßenseite wechsele. Der Begriff des Leibes ist da besser geeignet, er drückt die Anerkennung aus, dass andere 4

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Angstprediger_innen

Individuen nicht nur bloße Körper sind, sondern, ebenso wie ich, ein Inneres besitzen. Außerdem lässt er eine gleichzeitige Betrachtung der Auswirkungen von Emotionen auf uns zu und ist damit realitätsnäher. Die leibliche Fundierung ist sehr wichtig in Schmitz’ Theorien. Er unterteilt in leibliche Engung und Weitung, wobei sich grob sagen lässt, dass eher positiv empfundene Gefühle mit leiblichen Weitungen einher gehen (z. B. Glück und Liebe) und negative mit Engungen (z. B. Ekel und Hass). Ebenso verhält es sich mit der Angst. Etymologisch und leiblich hängt die Angst mit der Enge zusammen. Die Enge schnürt, wie in den einleitenden Wort schon gesagt, einem den Hals zu und die häufig mitempfundene Ausweglosigkeit wirkt lähmend. Damit geht ein Fluchtreflex einher, man will sich aus der Situation, die einen ängstigt, entfernen (siehe die zuvor erwähnte Hundesituation). Schmitz definiert die Angst daher als einen »Impuls zu entkommen, der gleichsam abprallt«. Ein weiteres Charakteristikum, das Schmitz ausmachen will, ist die Gerichtetheit der Angst. Das Angstgefühl wird selten ohne triftigen Grund empfunden, es ist immer auf Personen, Tiere, Sachverhalte etc. gerichtet. Der Mensch ist allerdings im Gegensatz zum Tier dazu in der Lage, eine Art Zukunftsangst zu empfinden, da es den Menschen ja auch vor den Tieren auszeichnet, dass er ein Zukunftsbewusstsein besitzt. Diese Unterscheidung zwischen objektgerichteter und diffuser Angst teilen sich die Soziologie und die Philosophie. Der oft gehörte Einwand, gesellschaftlich empfundene Angst würde zu Ausgrenzung bestimmter Personengruppen führen, die in diesem Fall als Sündenbock fungieren, setzt zwar beim Alltagsverständnis an, ist aber wenig wissenschaftlich und empirisch kaum zu belegen. Angst als einen Mechanismus zu sehen, welcher zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führt, ist sehr schwierig, da noch viele andere Phänomene, wie zum Beispiel Konkurrenzdruck, eine Rolle spielen. Evolutionsbiologisch sind die Anlässe, Angst zu haben, komplexer geworden, dafür ist aber die Stärke der Angst gesunken. Während die Menschen in der Steinzeit noch um ihr Überleben und ihre tägliche Sicherheit bangen müssen, quält Mitglieder der heutigen westlichen Gesellschaft eher die Frage, ob es im nächsten Mallorca-Urlaub regnen könnte oder die Sitznachbarin in der Schule ein teureres Handy besitzt.

Trotz alledem ist eine reine Angststeigerung innerhalb der Gesellschaft nicht empirisch vermerkbar, wohl aber eine Zunahme an Komplexität und ein Bestreben, Ungewissheit zu vermeiden. Feststellen lässt sich dann aber wiederum ein Zuwachs an »Angstgerede«, also das Thematisieren der Angst in der Wissenschaft und in den Medien. Kann man also die Soziologie oder die Medien als »Angstmacher« beschimpfen? In Extremfällen wird natürlich auch in den Medien bewusst Angst erzeugt, wenn die Berichte stark emotionalisiert sind und den Boden des objektiven Journalismus (insofern er denn möglich ist) verlassen. Aber auch hier können Geschichten nie völlig aus der Luft gegriffen sein, beispielsweise würde die Schlagzeile »Kühlschränke fressen Menschen auf« niemanden ernsthaft beunruhigen. Stattdessen werden bereits existierende Probleme, die die Leute nachvollziehen können, verzerrt und in andere Richtungen geleitet. Allerdings ist, um den Teufel beim Namen zu nennen, die BILD-Zeitung nicht das einzige Blatt in Deutschland: Menschen können sich von verschiedensten Quellen informieren, eine so genannte »Qualitätszeitung« lesen, um ein Pendant zum Boulevard zu haben. Sie gehen, salopp gesagt, mit ihrer Angst um, indem sie ihre Augen ein wenig über das Angebot schweifen lassen. Und genau diesen Umgang mit der Angst behandelt die Soziologie. Zum einen wäre da die Artikulation des Problems. Zum anderen wird auch häufig das Objekt, um das gefürchtet wird, in seiner Wichtigkeit herabgesetzt. Wenn also jemand Angst hat, seinen Beruf zu verlieren, wird er versucht sein, sich einzureden, dass dieser Job nicht so wichtig sei, er jederzeit einen anderen finden könnte und so weiter. Philosoph_innen dagegen beschäftigen sich mit der Angst als Ding selbst. Sie ist offensichtlich nicht aus der Welt wegzudenken und unter den meisten Wissenschaftler_innen, welche sich mit Affekten beschäftigen, herrscht Übereinstimmung, dass die Angst einen Platz in der Liste der Basisemotionen, also der Gefühle, die von Menschen aus allen Kulturen und Gesellschaftsschichten empfunden werden, verdient hat. Überraschenderweise zieht sich ein Konsens durch die Philosophiegeschichte, angefangen bei Aristoteles bis zur Neuzeit: Angst und Hoffnung gehen Hand in Hand. Beide Emotionen komplementieren einander, da sie beide mit Ausblicken in die Zukunft arbeiten. Angst ist dementsprechend die Vermutung, dass in

naher Zeit Gefahr droht oder Unheil geschehen wird. Hoffnung dagegen ist das Vertrauen auf gute Kräfte, seien es die eigenen oder externe, die eine bedrängende Situation richten werden. Auch in der leiblichen Erfahrung bilden sie Antipoden, die leibliche Weitung der Hoffnung ist dem Engegefühl der Angst eigentlich diametral entgegengesetzt. Obwohl Hoffnung im heutigen alltäglichen Sprachgebrauch nicht mehr zwangsläufig mit dem gleichzeitigen Empfinden einer Angst korrespondieren muss, bestanden Philosoph_innen immer auf den Affekt-Charakter dieser Emotion. Sowohl René Descartes, Baruch de Spinoza als auch David Hume widersprechen Aristoteles nicht in seiner Definition, dass Angst und Hoffnung zukunftsweisende Erwartungen einer Notlage oder eines Erfolgs darstellen. Hume akzentuiert dabei noch den Faktor der Unsicherheit und stellt diesem Gefühle-Paar die Zweiheit Freude-Kummer gegenüber. Freude oder Kummer sei dann eben die sichere Erwartung eines Guts oder Übels. Die Dualität Angst-Hoffnung oder Angst-Erleichterung spielt auch in anderen Bereichen eine Rolle, etwa im motivierten Suchen eines Thrills bei Extremsportarten oder in der Dramentheorie nach Schiller. Es wird jeweils nach einem Angst-Erleben gestrebt um das darauffolgende Lustempfinden oder die Katharsis zu maximieren. Soziologisch gesehen spielen diese Angstlust-Phänomene allerdings kaum eine Rolle, da sie nicht sonderlich breit in der Gesellschaft angelegt sind. So lässt sich abschließend feststellen, dass die Angst als Basisemotion in vielerlei Formen im Menschen angelegt ist und wir tagtäglich ihre großen und kleinen Ausbrüche erfahren. Die Gründe und die Stärke dieser Empfindungen haben sich geändert, allerdings wäre es polemisch und wissenschaftlich nicht erwiesen, in Stammtischmanier eine neue »Angstgesellschaft« zu propagieren. Ein Angst-Mechanismus lässt sich einfach nicht beobachten. Die Philosoph_innen wagen sich an das Experiment einer Definition und intuitiv lässt sich wenig dagegen sagen. Positiv eingestellt wie die Philosophie nun mal ist, folgt sie dem Motto der Daily Soap »Gute Zeiten Schlechte Zeiten« und paart die Angst mit der Hoffnung. Das ist mindestens so süß wie ein Einhorn aus Zuckerwatte und wir können in Zukunft allen debil grinsenden chronischen Optimisten auf ihren »Auf Regen folgt wieder Sonnenschein«-Singsang antworten: »Jaaa, also Hume sieht das ja so ähnlich … «. 5


Empore

Empore

&

GOOD NIGHT

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GOOD LUCK

Edward Murrow

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Angstprediger_innen

Angstprediger_innen lauern überall; in der Zeitung, im Fernsehen. Doch die Predigt beginnt im Kindesalter.

Brennende Ameisen Ein Medien-Essay von Khesrau Behroz

E

s fängt alles, wie so oft, mit Mama und Papa an. Ihre besorgten Gesichter schauen eindringlich in die unschuldigen Kinderaugen, die Zeigefinger über den kleinen Kopf haltend, den eigenen nach links und dann nach rechts schüttelnd: Das dürfe man nicht, und das da sei gefährlich, und das, das dürfe man erst recht nicht, denn sonst passiere dies, denn sonst passiere das. Wenn wir ehrlich sind, dann sind unsere Eltern die ersten Angstprediger_innen unserer aller Leben gewesen. Die Furcht davor, dass etwas weggenommen wird. Die Angst, auf das Zimmer geschickt zu werden. Der Schrecken vor den zu erwartenden Konsequenzen, wenn man sich mehr als dreißig Schritte von Mutter entfernt. Immer auf der Hut sein, sich nicht von Fremden einschüchtern lassen, dunkle Gassen sind tabu, zu jung für eine Freundin, zu jung für einen Freund, Küssen macht schwanger, Rauchen bringt dich um, das ist doof, das da ist doof, DAS ist erst recht doof, ach, Kind, bleib doch einfach zu Hause. Das sind sie dann, die letzten verzweifelten Worte. Spätestens, wenn die Kinder aus dem Haus sind, atmen die Eltern kurz auf, doch sitzen abends am Kamin (oder vorm Fernseher) und fragen sich, ob sie alles richtig gemacht haben, denn, ach, Gerd, wir hätten strenger sein müssen, viel strenger, hätten mehr Regeln aufstellen sollen und was sollte das vor zwei Jahren, da hast Du Torben erzählt, Du hättest Drogen genommen – das Kind raucht sich doch um Kopf und Kragen, jetzt wo er nicht mehr bei uns wohnt … Angst und Panik, das haben unsere Eltern schon gewusst, sind ganz wunderbare Erziehungsmaßnahmen. Sie funktionieren fast immer. Die Medien haben sich da ein ganzes Stück abgeschaut. Voraussetzung ist natürlich, dass sie mehr wollen, als einfach nur informieren. Es sei an dieser Stelle der geschätzten Leser_in nicht ein allzu großes Maß an Naivität unterstellt, es soll also nur im Vorbei-

gehen auf Offensichtlichkeiten hingewiesen werden: Große Medien gehören großen Medienkonzernen, die eigene Interessen haben und diese gerne kommunizieren würden über die Plattformen, die sie besitzen; Medien wollen eine gewisse Aktualität bieten und stehen unter zeitlichem Zugzwang (siehe dazu auch »Die Angst des Nachrichtensprechers« auf Seite 12); Medien stehen unter wirtschaftlichem Druck, müssen sich verkaufen, auf sich aufmerksam machen, müssen eine bestimmte Auflage erreichen und ihre Werbepartner damit ködern; Medien leben von Exklusivität – und wenn nichts Exklusives zur Hand ist, wird eben etwas kreiert: »Medien neigen dazu, künstlich Medienereignisse zu erschaffen«, sagt Udo Foht, Programmchef des MDR . Im Sommerloch hat die ZEIT dieses Jahr zum Beispiel unter Anderem den nahenden Untergang der deutschen Sprache angekündigt, einen Albtraum in der Autobahn gesehen und die Angst aller, die geglaubt haben, zu wenig politisch zu sein, mit einem Quiz wahrscheinlich auch noch bestätigt. Wenn gar nichts mehr geht, wütet wieder die Vogelgrippe. Fast schon schizophren ist dabei die Bedeutung, die einzelnen Ereignissen zugestanden wird. Man denke nur an die verunglückten Bergarbeiter in Chile, über die so intensiv berichtet wurde, als wäre es das weltweit erste und einzige Bergunglück überhaupt. Angst wird überall gepredigt. Sowohl im wahrsten Sinne, wenn offenkundig hirnlose Pastoren im Windschatten eines neu zu bauenden Islam-Zentrums in der Nähe von Ground Zero eine öffentliche Koranverbrennung ankündigen. Oder auch eher unbewusst, wenn aus einer am Ende doch recht harmlosen Paketbombe so ziemlich jede deutsche Zeitung einen versuchten Terroranschlag macht und damit über mehrere Tage titelt. Dass in der Alltagsrealität sich nun wohl niemand zu Hause eingesperrt und vorher ordentlich gehamstert hat, zeugt davon, dass die Bürger_innen nicht auf jeden Blödsinn reagieren. Fortsetzung S.11

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Empore

Man kann schon ins Grübeln kommen, wenn Bernd das Brot und Arnold Schwarzenegger im Fernsehen dazu aufrufen, nicht fernzusehen, wenn ein Medium auf ein anderes schimpft, ohne wirklich zu argumentieren. Bei aller Notwendigkeit von Medienkritik – die von Medien verursachte Angst vor Medien ist in der Regel der Versuch eines Mediums, im Konkurrenzkampf gegen andere zu bestehen und Leser oder Zuschauer auf Kosten der anderen Medien zu gewinnen.

»Wir zeigen eh nur Raufasertapete!« Wenn Medien zum Abschalten aufrufen von Friedrich Krotz

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Was mich immer wieder irritiert, ist die große Bereitschaft der so genannten alten Medien, Angst zu schüren vor den neuen digitalen Medien, die ja so neu heute nicht mehr sind. Dafür drei Beispiele und ein paar Schlussfolgerungen. »Er übte das Töten am Computer!« – titelte die Hamburger Morgenpost nach dem so genannten Amoklauf des Robert Steinhäuser in Erfurt. Computerspiele sind ja das Musterbeispiel dafür, wie ein Medium ohne weitere Argumentation in die Ecke des Gewalttätigen gestellt wird – von den Hirnforschern über die Psychologen bis hin zu denen, die unüberlegt einen Begriff wie »Amoklauf« für das Geschehen am Gutenberggymnasium verwenden. Die Taten Steinhäusers waren schrecklich, das Töten der anderen ebenso wie sein Selbstmord. Das Töten anderer verlangt, den Willen zu haben, ganz spezifische Menschen ganz konkret umzubringen. Dahinter steht ein Wille, ein Hass, eine Verzweiflung oder was auch immer, und damit etwas, das alle anderen Gefühle und Gedanken überdeckt. Am Computer bekommt man diesen Hass, diese Verzweiflung oder diesen Willen nicht. Deshalb hat die Hamburger Morgenpost hier Unrecht und wer verhindern will, dass getötet wird, muss ganz woanders ansetzen. Auch die These, dass ein Computerspiel, in dem der Spieler töten kann oder muss, dann gleich als Killerspiel bezeichnet werden soll, ist falsch. Eines der gewaltmäßig eher harmlosen Spiele sind die SIMS, es ist eines der am weitesten verbreiteten Computerspiele. Aber auch in diesem Spiel kann man andere quälen oder töten. Ein Beispiel war eine Zeit lang auf youtube zu sehen: Lassen Sie sich als SIMS -Figur einen Swimmingpool bauen, montieren Sie die Leitern ab und laden Sie ihren besten Feind ein, ins Becken zu springen. Er wird ein paar Tage darin herumschwimmen und dann

ertrinken. Man braucht natürlich eine gewisse Energie und Planung, um so etwas herauszufinden oder umzusetzen. Aber in dem jeweiligen Spiel ist aufgrund seiner Interaktivität nur die Möglichkeit dazu angelegt und diese wird von einem Spieler nur ergriffen, wenn es ihm subjektiv etwas bedeutet, im Spiel Spielfiguren von Gegnern zu eliminieren. In der Regel kann man in Computerspielen töten, ohne zu morden, weil es in einem solchen Spiel ebenso wie in jedem anderen Spiel um symbolishes und vor allem darum geht, es erfolgreich abzuschließen, es zu gewinnen. Man muss sich dazu an die Regeln halten und die lassen im Spiel Hass nicht zu – ebenso wenig wie bei Mensch-ärgere-dich-nicht oder Monopoly, die letztlich auch darauf hinauslaufen, den anderen im Spiel »zu töten«. Wer solche Spielregeln verweigert oder so spielt, dass er nicht gewinnen kann, kann letztlich das Spiel nicht spielen. Ganz woanders aber ist der reale Versuch angesiedelt, einen lebenden Menschen wirklich zu töten. Ärgerlicherweise wissen das die meisten Spielerinnen und Spieler, während die, die gegen Computerspiele aufwiegeln, meist keine Spieler sind oder sich auf die Spiele, die sie ausprobiert haben, nicht wirklich eingelassen haben: Die Diskussion ist vorbelastet, und die Argumentationen dienen häufig anderen Zwecken als vorgegeben. In einem seiner Filme mischt Arnold Schwarzenegger als Held mal wieder die ganze Stadt auf, schlägt Leute tot, sprengt Autos und Häuser in die Luft. Als er sein Töchterchen endlich aus den Händen der Entführer befreit hat, muss er sie nun allerdings noch aus dem Haus bringen, in dem sie gefangen gehalten wurde. Er steigt aufs Dach des Hochhauses, wo er mit dem Hubschrauber davon fliegen will, trifft aber dort noch ein paar Gegner. Er lässt seine Tochter nun hinter einer Tür warten echauffier #1


Angstprediger_innen

und bittet um eine schnelle Klärung der Lage, die seine Tochter nicht mitbekommen soll, denn, so Schwarzenegger in dieser Rolle, sie würde ja schon genug Gewalt in den Medien mitbekommen, da brauche sie die reale nun wirklich nicht mehr. Vielleicht eine ironische Schleife, vielleicht aber auch ein Stück Wahlkampf für ein politisches Amt, für Rückhalt in der Bevölkerung? Töten im Film, um Gewalt abzuschaffen? Welch eine hirnrissige Idee, wie verlogen, wenn sie ernst gemeint war. Schließlich noch »Bernd das Brot« als drittes Beispiel. Bernd macht das auf dem Kinderkanal relativ clever, wenn er alle Zuschauer in der Nacht auffordert, abzuschalten. Damit er nach Hause gehen kann – implizit wird hier also die These inszeniert, dass die Medien dann da und damit da sind, wenn es die Zuschauer verlangen und wonach die Zuschauer thematisch verlangen. Ob das stimmt, sei dahingestellt – oft ist es nur eine faule Ausrede dafür, dass den Redakteuren nichts Gescheites einfällt oder das Geld für etwas Ordentliches nicht reicht. Dann wird einfach irgendein Mist produziert und ausgestrahlt. Bernd das Brot sagt nicht, dass Fernsehen schädlich ist; er hat es aber satt und will gehen, darf aber nicht. Die reflexive Schleife, die entsteht, wenn jemand im Fernsehen dazu aufruft, eben genau jetzt das Fernsehen abzuschalten, ist aber wenigstens intellektuell interessant. Medien dämonisieren im Konkurrenzkampf der Medien um Aufmerksamkeit die anderen Medien. Medien machen Angst vor den anderen Medien, die man nicht genauer kennt: Man soll bei denen bleiben, denen man schon immer vertraut – bloß keine Experimente. In der deutschen – vor allem der deutschen – Bevölkerung trifft dies einerseits auf eine kritische Haltung gegenüber den Medien, sowie auf große Unsicherheit, was von den Medien zu halten ist. Andererseits aber sehen sich die Erwachsenen jeden Schrott im Fernsehen in großen Mengen an, von »Bauer sucht Frau« über Dieter Bohlen bis hin zu schlecht ge-

machten Nachrichten oder staatstragenden Dokumentationen. Zugleich verbieten sie ihren Kindern, das Gleiche zu tun. Das Argument dafür kann nur sein, dass die Eltern wissen, was für die Kinder schlecht ist. Mal abgesehen davon, dass die Eltern von heute gewiss nicht sagen können, dass sie wissen, wohin die Reise von Kultur und Gesellschaft geht, dass sie keineswegs wissen, was für ihre Kinder schädlich sein wird und was nicht, und dass sie einfach nur ihre Macht ausspielen oder sich an nicht weiter begründete Konventionen halten – auch hier wieder das gleiche Muster, nämlich der Generalverdacht gegen Medien. Keine Generation, die aufgewachsen ist, ohne dass man ihnen gesagt hat, es sei besser, im Freien zu spielen als audiovisuelle Medien zu benutzen. Statt, dass wir anders herum denken: Medien sind auch Chancen einer Teilhabe an der Welt. Fast alles, was wir wissen, wissen wir aus den Medien: Niemand in unserer Zeit hat Christus, den Teufel oder Goethe jemals live gesehen oder ist ihnen als Person begegnet. Nein, wir kennen ihre Taten und Werke, ihre Moralvorstellungen und Werte, ihr Denken und ihre Leistungen nur aus den Medien, genauso wie die Gedanken und Überlegungen von Karl Marx und Friedrich Engels. Erst wenn wir die Medien als Gefahr und Chance begreifen, zwischen denen wir uns aufstellen müssen, haben wir eine Chance, ein vernünftiges Verhältnis zu ihnen herzustellen, weil wir versuchen können, Chancen gegen Risiken abzuwägen und sie uns dienstbar zu machen. Was wir freilich gleichzeitig im Blick haben müssen, ist, dass die Medien und ihr grundgesetzlicher Schutz uns erst eine Demokratie möglich machen. Deswegen brauchen wir die Medien auch – weder der Staat darf sie kontrollieren, um Ruhe und Ordnung zu gewährleisten, noch darf die Wirtschaft sie vor allem dazu benutzen, um uns das Geld aus der Tasche zu ziehen oder um unser Konsumverhalten zu optimieren. Prof. Dr. Friedrich Krotz, Diplommathematiker und promovierter Soziologe, lehrte bis 2010 an der Universität Erfurt und ist nun Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt soziale Kommunikation und Mediatisierungsforschung an der Universität Bremen.

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Empore

Als sich Niklas Luhmann fragte, ob es überhaupt gut sei, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden, hatte er sicher nicht Unrecht mit seinen Bedenken. Denn die Kategorisierung in gut und böse geht meist mit ganz anderen Intentionen einher.

Jenseits von Gut und Böse von Sören Musyal Das Judentum als Inhaber des Weltfinanzwesens, der Islam als Bedrohung für den Okzident und die »Achse des Bösen«, die gleich den gesamten Weltfrieden bedroht. Ja, das Böse lauert überall – besonders dort, wo die Ordnung wie »wir« sie kennen, bedroht zu sein scheint. Wer »wir« eigentlich sind, spielt dabei eine nur untergeordnete Rolle, wichtig ist, wer »wir« nicht sind oder sein wollen, denn die »Anderen«, das sind die Bösen bzw. diejenigen, die dazu gemacht werden. Und eben jene »Anderen« sind so wichtig, sagt Medienwissenschaftler Knut Hickethier, denn das Böse könne immer dann herangezogen werden, wenn es gilt, Gegensätze aufzubauen, diese zu radikalisieren und zu vereinfachen, die eigene Welt von einer anderen scharf abzugrenzen, Bedrohungen auszurufen und die Menschen gegen diese zu mobilisieren. Und genau hier liegt der Schnittpunkt zwischen einem »Wir« und den bösen »Anderen«. Genau hier wird deutlich, warum das Böse schon von jeher existieren muss. Es kann ohne Böses nichts Gutes geben – und andersherum. Indem man Regeln, Werte und Normen schafft, muss man gleichzeitig ein Gegenstück konstruieren, das diese Regeln und somit das »Wir« bedroht. Nur so ist es möglich, Menschen für eigene Vorhaben zu gewinnen und sie zu mobilisieren. Hier Beispiele zu nennen, ist wahrlich nicht schwer, denn schon im Christentum brauchte man den Teufel, um die Menschen bekehren zu können. Heute wird die Person des Teufels auf ganze Menschengruppen projiziert: z. B. Muslime und Muslima. Das Ziel bleibt dabei das Gleiche. Das »Wir« muss gestärkt werden, man braucht ein Feindbild, um abgrenzen zu können, die bestehende Ordnung erhalten und bestärken zu können. Während es Goebbels 1943 darum ging, das Volk auf den »bolschewistischen Osten« einzuschwören, versuchen BILD, Sarrazin und Co. das Gleiche mit »den Moslems aus dem tiefsten Anatolien«. Es ist nicht das gleiche Niveau, aber es bleibt der stete Gedanke: »Wir« gegen die »Anderen«. 10

Spannend wird es jedoch, wenn die Existenz der Gemeinschaft »wir« in Frage gestellt wird. Als Beispiel dienen hier Nationen, die, anders als oft angenommen, keine gemeinschaftliche Grundlage haben, sondern Ergebnisse eines Rationalisierungsprozesses, des Prozesses der Staatenbildung sind. Während der Staat das Resultat eines Vertrages ist, den die Bürger_innen mit der Regierung eingehen, ist die Nation ein Mythos, der heraufbeschworen wird, um dem Staat eine – nun nennen wir es – gewichtige Grundlage zu geben. Der PR-Experte Klaus Kocks erklärt das mit dem Hang der Menschen, dem Profanen einen höheren Sinn geben zu wollen. Und da der Staat von Menschen gemacht ist, beginnt er genau hier sich selbst als Nation zu erfinden. Da werden dann geschichtliche Ereignisse aus dem Kontext gerissen und die Geschichte der Nation gedichtet, da werden alte Männer zu echten Germanen, obwohl Germanen so ziemlich nichts mit Deutschen zu tun haben, da wird eine Leitkultur geschaffen, die, wenn man sich das Ganze mal genauer ansieht, zusammengewürfelt ist aus zig anderen  / alten  / vergangenen »Kulturen«. Dass diese Geschichte der eigenen Nation und diese Leitkultur zu wahren und zu verteidigen sind, ist Ehrensache, gleichwohl sie ein Konstrukt des »Wir« sind, um gegen die »Anderen« abzugrenzen – solange das niemand merkt, ist alles gut. Und damit es keiner merkt, muss das »Wir« im beständigen Konflikt mit den bösen »Anderen« sein, müssen beständig neue Feinbilder geschaffen oder alte abgerufen werden. Nur so kann man die Gemeinschaft anleiten, ein »Wir« zu sein und zu bleiben. Der Medienwissenschaftler Hickethier nennt das Böse diesbezüglich einen »notwendigen Katalysator zur Hervorbringung des richtigen Handelns.« Wobei das »richtige Handeln« immer mit Vorsicht zu genießen ist. Was ist richtig, was ist falsch? Wer legt fest, was richtig und was falsch ist? Es kann eben keinen objektiven Richter geben, sodass Knut Hickethier ebenso feststellt, dass die Bewertung von gut und schlecht (die passive Form des Bösen) kontext- und standortabhängig sei.

Während ein GI es also für richtig erachtet, gegen die »Achse des Bösen« zu kämpfen, hält es ein islamistischer Märtyrer für besser, nach ca. 72 Jungfrauen im Paradies zu streben. Während die meisten westlichen Staaten für die Existenz Israels einstehen, zielt Ahmadinedschad seit Jahren mit fast fertigen Atomwaffen auf das Land. Merkel findet das falsch, er findet das richtig – kontext- und standortgebunden eben. Man könnte so durchaus zu dem Schluss kommen, es gäbe gar kein »Böses« per se. Man könnte auch zu dem Schluss kommen, dass jede Verschwörung, die irgendwo kursiert, z. B. die der »Achse des Bösen«, ideologisch konstruiert ist, um klare Grenzen zu ziehen. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass Shakespeare Recht hatte, als er Hamlet sagen ließ: »Denn an sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu.« Und wer dieses Denken bestimmt oder bestimmen will, das sollte immer wieder hinterfragt werden. Während ich nun also sagen würde: »Schaut hinter die Kulissen!«, sagt Knut Hickethier: »Die Frage danach, was uns die Medien als das Böse vorstellen bzw. was in deren Antlitz als das Böse erscheint, ist mitgetragen von der Frage nach den Ursachen und den Folgen der Konstruktion des Bösen heute.« – will meinen: Wenn Medien etwas als das Böse darzustellen versuchen, muss eine Intention dahinterstecken, muss ein bestimmtes Ziel angestrebt werden, das ein Feindbild benötigt, gegen das gekämpft werden soll. Abgrenzungen haben immer eine Funktion und diese gilt es zu erkennen.

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Angstprediger_innen

Fortsetzung von S. 7

Fast aber ist man schon gewillt, der Presselandschaft das zu verzeihen. Vom wirtschaftlichen Druck ist doch schließlich die Rede; davon, dass die Online-Konkurrenz immer größer wird und »Qualitätsjournalismus« nun mal seinen Preis hat. Der arrogante Ton, mit denen den Kolleginnen und Kollegen von den Blogs, den »Klowänden des Internets« (Werber Jean-Remy von Matt), begegnet wird, ist so unglaublich nicht. Der Mediensoziologe Friedrich Krotz sagt dazu: »Medien machen Angst vor den anderen Medien, die man nicht genauer kennt, man soll bei denen bleiben, die man gerade nutzt.« (Siehe Seite 8) Und tatsächlich entwickeln sich über die vielen Jahre des Medienkonsums völlig natürlich Verbindungen und Vertrauensverhältnisse. Es gibt sie noch, die SZ -Leser_innen und die BILD Leser_innen und die ZEIT-Leser_innen und die SPIEGEL -Leser_innen. Der US -Amerikaner Glenn Beck ist fast so etwas wie der Primat der Angstprediger_innen. Der Radio- und Fernsehmoderator, mehrfacher Millionär, rechtskonservativ, gottesfürchtig – natürlich, denn weder Kongress noch die Verfassung haben den Menschen jemals irgendwelche Rechte gegeben, nein, Gott ist es gewesen – nun, dieser Glenn Beck hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Ehre Amerikas wiederherzustellen. Es geht um verlorene Werte, um »big government«, es geht um den Einzug des Kommunismus und es geht – wieder und immer wieder – um Gott und konsequenterweise auch um die Apokalypse. Seine Fernsehsendung, die von Fox (Teil des gefährlich großen Murdoch-Imperiums) ausgestrahlt wird, ist eine wahnwitzige Aneinanderreihung von dümmlichen »Theorien«, idiotischen »Erkenntnissen« und schlichtweg auch Lügen. Zwischendurch heult Beck sich die patriotische Seele aus dem Leib, denn die Kinder, ach, die Kinder, wo sollen sie denn aufwachsen und, ach, das ist nicht mehr das Amerika, das die Gründerväter gewollt haben, schluchz. Sein Gedöns wird ernstgenommen: Am 28. August 2010 schafft er es, viele Tausend Menschen (die Schätzungen variieren zwischen rund 80  000 und 1.6 Millionen) zum Lincoln Memorial in Washington D.C. zu bewegen, um »die Ehre Amerikas wiederherzustellen«. Die »Restoring Honor«-Rally, so der offizielle Name des Zusammentreffens, zelebriert Religiosität und Patriotismus. Beck gefällt sich in der Rolle des Unterhalters, wird aber auch zunehmend politischer. Er ist sich seiner Rolle bewusst, schürt Ängste, wo er nur kann, warnt vor Obama und den Demokraten. Mit seiner aufbrausenden, lauten, emotionalen Art erinnert er – ja – an einen leidenschaftlichen Pastoren. Wie gesagt: Angstprediger, durch und durch. Ähnlich haarsträubende Persönlichkeiten in Deutschland sind schwer zu finden. Die BILD Zeitung jedoch kommt mit ihrer Kunst, aus Nichtigkeiten Neuigkeiten zu machen, dem gottesfürchtigen Amerikaner sehr nahe. Zudem hat sie einen Kolumnisten, der wie kein Anderer für unsäglichen Populismus steht: Franz Josef Wagner. Der Briefeschreiber mit der markanten Zahnlücke lobt Herrn zu Gut-

tenberg für seinen Kurztrip ins Kriegsgebiet (»Ihr gemeinsamer Besuch bei unseren Soldaten in Afghanistan ist einfach großartig.«), fragt sich, was wohl Julian Assanges erste Frage an das Internet gewesen ist (»Papa wo bist du?«) und nennt Thilo Sarrazin einen »Schreiber ohne Schönworte – ein wichtiger Schreiber«. Die taz stellt im August 2003 fest: »Er gilt als cholerisch, viril, impulsiv, reaktionär, hysterisch, zynisch, chaotisch, mithin unerträglich.« Kein Wunder, dass er in der BILDZeitung sein perfektes Zuhause gefunden hat, wo er derzeit »sein Gnadenbrot als ›Chefkolumnist‹ fristet«. Wagner ist der Typ, mit dem man in urige Kneipen geht und sich über »die da draußen« echauffiert. Er habe Angst, schreibt er, vor den letzten Tagen im November, weil er nicht wisse, wie er, als Bürger, gegen al-Qaida kämpfen soll. Wagner kann das gut, das mit dem schwarz und weiß. Er findet gerne eindeutige Worte, die ihm wohl den Ruf als Kolumnisten beschert haben, der kein Blatt vor den Mund nimmt. In Wahrheit hat er so wenig Platz in seiner kleinen Spalte, dass er höchstens ein paar Fragen stellen kann. »Herzlichst«, steht dann da – und dann wird man alleine gelassen in der furchtbaren Welt, die Franz Josef Wagner tagtäglich kreiert. Dabei ist es nicht einmal besonders schwer, Menschen zu verängstigen. Die meisten Gefühle sind schon da, schlummern irgendwo im Hintergrund, müssen nur angeknipst, aktiviert werden. Medien schaffen dementsprechend keine Ängste, nein, sie provozieren sie wieder an die Oberfläche, kratzen Erinnerungen auf und ziehen Vergleiche, die meistens unangemessen sind, mit Lebenssituationen, die jeder kennt. Wagner schreibt an Innenminister de Maizière: »Meine Lebenswelt basiert auf Vertrauen. Das schöne Bummeln durch die Weihnachtsmärkte, im Steiff-Laden ein Einhorn für meine Enkelin kaufen. Was ich sagen will, ist, wie schön unser innerer Frieden war.« Zwei Absätze später spricht er von Menschen, die zerfetzt am Boden liegen. Zuvor behauptet er: »Ich bin nicht geübt in Wachsamkeit, im Verdächtigen, im Anzeigen.« Das ist – natürlich – eine dreiste Lüge. Angst in den Medien ist gleichzeitig die Kunst der Überreaktion und der Überzeichnung. Der US-Satiriker Jon Stewart, der mit seiner Fake-Nachrichtensendung »The Daily Show« auf Comedy Central große Erfolge feiert als »most trusted name in news« (TIME), sagt dazu: »Die Medien sind wie unser Immunsystem. Wenn sie auf alles überreagieren, werden wir nur kränker – oder bekommen, wer weiß, Ausschlag.« Stewart ist das Gegenprogramm zu Glenn Beck. Er versucht mit Argumenten und mit Vernunft, das wilde Tagesgeschehen amerikanischer Politik zu kommentieren; macht sich lustig über offensichtliche Wortbrecher_innen, indem er aus seinem schier unendlichen Archiv Videobeweis nach Videobeweis zusammenschnippelt; führt Interviews mit Bill Clinton, Desmond Tutu und Jimmy Carter – nicht schlecht für jemanden, der behauptet, keine politische Sendung zu machen, sondern eine Comedy-Show. Fortsetzung S.15

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Empore

Die Angst des Nachrichtensprechers vor der Nachricht von Reinhard Hucke

»Ich kann es wertig klingen lassen«, »Nachrichten müssen nur hübsch verpackt werden« oder »Ich brauche eine neue Top-Meldung«, alles Sätze, die ich oder Nachrichtenkolleg_innen in Redaktionskonferenzen und anderen Besprechungen immer wieder gesagt haben. Ich habe mehrere Jahre als Radio-Nachrichtensprecher in Leverkusen und am Rande Berlins im Lokaljournalismus gearbeitet. In Leverkusen wurde ich zum Rundfunkredakteur ausgebildet. Nachrichten recherchieren, Nachrichten schreiben und Nachrichten verlesen – lange Zeit ist das meine Leidenschaft gewesen und laut Aussagen meiner Kolleg_innen soll ich meinen Job auch sehr gut gemacht haben. Als klassischer Journalist habe ich mich dennoch nie gesehen. Das lag vor allem daran, dass meine Vorstellungen vom Beruf eines Journalisten und dem von mir erlebten Radio-Alltag sehr weit auseinanderklafften. Richtige Nachrichten-Journalist_innen hatten in meiner Vorstellung Zeit zum Recherchieren, konnten sich auf Interviews mit Politiker_ innen gut vorbereiten und hatten auch beim Schreiben ihrer Nachrichten genügend Zeit zum Ausformulieren. Wahrscheinlich arbeiten diese Journalisten beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in »meinen« Privatradios habe ich sie jedenfalls nicht getroffen. Nicht, weil sie unfähig gewesen wären, meist waren es hoch gebildete Kolleg_innen, sondern weil zum Beispiel die personellen Voraussetzungen es nicht zuließen. Bei vielen Privatradios gilt das Diktat des Sparens, der Nachrichtenjournalist wird zum Alleskönner degradiert, wie ihn auch zuletzt der Publizist Tom Schimmeck eindrucksvoll beschrieben hat. Auch ich musste mich sehr schnell mit den Gegebenheiten arrangieren. Wie oft hätte ich mir nur einen Nachrichtenassistenten gewünscht, der bestimmte, komplexere Themen hätte anrecherchieren können. In Aus12

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Angstprediger_innen

nahmefällen hat diese Aufgabe ein Praktikant übernommen und selbst diese, alles andere als ideale Lösung, war bereits eine deutliche Entlastung für meine Nachrichtenarbeit. Und diese Arbeit war alles andere als ein Ruhmesblatt. Meist war ich eher von technischen Bedingungen abhängig, die mir kostbare Zeit für eine gründliche, inhaltliche Auseinandersetzung mit einem Thema nahmen. Um mehr Zeit zu gewinnen, fing ich sehr bald an, ganz praktisch zu denken. Ich setzte Prioritäten in meinem Nachrichtenblock. Wetter und Verkehr konnte ich fix schreiben, zur Not mit Blick aus dem Fenster. Die internationalen Meldungen kamen von Agenturen und konnten mit der »Copy und Paste«-Funktion schnell übernommen werden. So konnte ich mich ganz auf die lokalen Meldungen konzentrieren, obwohl die Zeit immer noch viel zu knapp für eine umfassende Recherche war. Und schon diese Prioritätensetzung konnte sich fatal auswirken. Manchmal waren nämlich die Agenturmeldungen nicht korrekt (da wird wohl auch unter Zeitdruck gearbeitet) oder ein neuer Stau hatte sich auf der Autobahn gebildet, ohne dass ich ihn bemerkt und durchgegeben hätte. Blieben noch die Lokalmeldungen. Ihre Zusammensetzung glich eher einer mathematischen Gleichung als der tatsächlichen Nachrichtenlage. Bei täglich 13 Nachrichtenausgaben sollten allein vier neue Aufmacher produziert werden, nicht immer eine leichte Aufgabe bei einer Stadt mit knapp 200  000 Einwohner_innen. Zwar wurden die Nachrichtenredakteur_innen regelmäßig angehalten, diese Vorgaben nicht als Bibel zu betrachten und mit weniger Aufmachern zu arbeiten, die wenigsten durchbrachen aber das Nachrichtenkorsett – auch ich nicht. Im Strom schwimmen hieß nämlich auch weniger anecken. Dieses Verhalten führte jeden-

falls bei mir und anderen oft zur Selbstzensur und vorauseilendem Gehorsam. Das bedeutete leider auch, wenn ich doch mal auf eine eventuell ungewöhnliche Nachricht stieß, diese dann schnell verwarf, weil ich dafür zu viel Zeit zum Recherchieren gebraucht hätte. Es ist in der Praxis immer leichter, das zu melden, was auch andere bringen, als sich mit wirklich etwas Neuem vorzuwagen. Ich passte mich zunehmend an und plante, wann ich welche Meldung platzieren wollte und schrieb den Aufmacher für die Frühausgaben des nächsten Tages. Dieses Vorgehen setzte natürlich voraus, dass die Meldungen auch tatsächlich eintrafen, die neuen Arbeitslosenzahlen, die Urteilsverkündung, der Quartalsbericht eines Groß-Unternehmens, die Ergebnisse der Stadtrats-Sitzung. Oft funktionierte die Planung, aber ab und an streikten die Ereignisse im Baudrillardschen Sinne doch einmal. Als Nachrichtensprecher vertraute ich immer mehr darauf, dass die erwartbaren Ereignisse Wirklichkeit werden. Tendenziell war ich dann doch überrascht, als manches Ereignis doch nicht stattfand oder ein ungeplantes Ereignis ganz überraschend kurz vor Ende der Nachrichtenschicht eintrat. Dabei sollte die Ausnahme, schnell auf Aktuelles zu reagieren, die Regel sein und nicht umgekehrt, die Veröffentlichung von Nachrichten von den Terminen der Pressekonferenzen oder anderen Verlautbarungen abhängen. Es gibt also ganz unterschiedliche Gründe, warum die Nachrichten nicht so präsentiert wurden wie ich sie mir vorstellte. Es war jedoch nie Bösartigkeit oder bewusste Manipulation im Spiel. Die Wirklichkeit ist viel simpler. Es ist ein Zusammenspiel aus Bequemlichkeit, Zeitknappheit, Opportunismus und manchmal auch Dummheit. Gelogen wurde in meiner Zeit als Nachrichtenspre-

cher nie. Gab es doch mal eine Falschmeldung, wurde sie umgehend korrigiert und richtig gestellt. Interessant ist daher nicht unbedingt das, was in der Nachricht gemeldet, sondern was verschwiegen wird. Fehlte fürs Formulieren die Zeit, wurde einfach der Text der Pressemitteilung ein wenig umformuliert – ein fahrlässiges Vorgehen, weil bei den meisten Pressemitteilungen Gegenrecherche und mitunter ein beharrliches Nachfragen beim Pressesprecher notwendig ist. Die eigentliche Meldung steht meist am Ende einer mehrseitigen Presse-Erklärung und ist dann sehr unverständlich in einer Worthülse umschrieben. Das Wort »Jobabbau« ist in diesen Pressemitteilungen in der Regel nicht zu finden. All diese negativen Begleiterscheinungen ließen meine Lust auf Nachrichten zunehmend schwinden. Irgendwann habe ich einen Schluss-Strich gezogen und das Laufrad Nachrichten verlassen. Bleibt die Frage, was mit diesen Erfahrungen anzufangen ist. Ich habe jedenfalls gelernt, dass besonders mit Tagesmeldungen vorsichtig umzugehen ist. Sie werden viel zu schnell publiziert, stehen oft isoliert da und ihre tatsächliche Wichtigkeit ist meist erst später erkennbar. Wer Zeit hat, sollte soviel wie möglich quer lesen, schauen oder hören im Internet, Fernsehen und Radio. Das klingt nach einer abgestandenen Binsenweisheit, ist aber nur allzu wahr. Reinhard Hucke, geboren 1976 in Erfurt, arbeitete für Sender KW, Radio Leverkusen und dpa audio. Er schreibt heute unter anderen für das »hEFt«.

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Empore

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echauffier #1


Angstprediger_innen

Fortsetzung von S. 11

khesrau.behroz@echauffier.de Weiterführende Links zum Thema: www.echauffier.de

Als Reaktion auf die zuvor erwähnte »Restoring Honor«-Rally hat er mit seinem Kollegen Stephen Colbert, der in seiner Sendung »The Colbert Report« einen konservativen Stumpfkopf spielt, die »Rally to Restore Sanity and  / or Fear« ins Leben gerufen. Ein Zusammentreffen also, um Vernunft wiederherzustellen. Gekommen sind Berichten zufolge mehr Menschen als einst zum Lincoln Memorial, mit so absurden Schildern wie »Ich bin zwar nicht deiner Meinung, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du nicht Hitler bist« oder »Was wollen wir? Vernünftigen Diskurs. Wann wollen wir das? Wann immer es dir zeitlich genehm ist«. Die Botschaft ist eindeutig: Gegenseitiges Köpfeeinschlagen ist nicht produktiv, den Menschen angst zu machen auch nicht. Dem öffentlichen Diskurs fehle die gehörige Portion Angemessenheit und werde dominiert von Menschen, die offensichtlich nicht den ganzen Tag arbeiten und ihre Kinder versorgen müssen. Stewart dazu: »Die Presse kann ihre Lupe über unsere Probleme halten, sie fokussieren, ungesehene Themen beleuchten, oder sie benutzen jene Lupe, um Ameisen anzuzünden und eine Reihe von Sendungen zu moderieren über die plötzliche, unerwartet gefährliche Brennende-Ameisen-Epidemie.« Brennende Ameisen, die gibt es überall: Lena Meyer-Landruth hat besonders schön gebrannt. Oder Griechenland und damit auch die widerliche Ausländer_innenhetze in der BILDZeitung. Ereignisse sind entweder besonders gut oder besonders böse. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann fragt gar, ob es überhaupt gut sei, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Der Rapper Sido gibt in seinem Song »Schlechtes Vorbild« eine ganz gute Antwort: »Woher wollt ihr wissen, was gut ist, wenn nichts schlecht ist. Wenn nichts schön ist, bin ich auch nicht hässlich.« Unsere Auseinandersetzung mit haarsträubenden Aussagen

ist dementsprechend wichtig, um uns ihrer Haarsträubigkeit bewusst zu werden. Das Gute ist nicht da, um benannt zu werden – das Gute ist primär dazu da, um es vom Bösen zu differenzieren (siehe dazu die Box über das Böse auf Seite 10). Es scheint also geradezu ungesund zu sein, wenn stets und überall nur vom Unheil gepredigt wird. In Wirklichkeit ist das aber für das Selbstverständnis einer Gesellschaft von enormer Bedeutung, wenn sie mit wachen Augen beobachtet, was mit ihr gemacht wird. Der Autor dieser Zeilen könnte sich darüber nicht echauffieren, gäbe es die offensichtlichen Tendenzen zur Angstpredigt nicht. Mama und Papa, bei denen alles angefangen hat, sind nicht überall gleich. In der einen Familie herrscht eine homophobe Atmosphäre, in der anderen geht es patriarchal zu, da wird noch der Männlichkeitsprotz zelebriert, und in der anderen Familie, da gibt es keine Wand, an der nicht die deutsche Flagge hängt. Bei der Familie auf der anderen Straßenseite, da hat der Junge Angst, dem Vater zu widersprechen, und dort, zwei Häuser weiter, hört man abends die Eltern, wie sie schreien und wie sie wüten, als gäbe es die Kinder in den Kinderzimmern nicht. Viele Jahre später, wenn Jugendliche die Häuser verlassen, einer chaotischen Welt ausgesetzt, die von allen Seiten versucht zu greifen, was zu greifen ist, sehen sie sich nicht nur mit neuen Erfahrungen konfrontiert, sondern auch mit alten Erinnerungen, die so tief begraben doch gar nicht liegen. Denn, wer weiß, vielleicht ist es gut, homophobe Eltern gehabt zu haben, denn nun versucht man, wenn alles gut geht, genau das nicht zu sein. Wenn Medien die Angstprediger_innen unserer Zeit sind, dann sind unsere Eltern, um bedeutungsvoll abzuschließen, nun ja, ihre Eltern. Sie sind aber auch, schlicht und ergreifend, nur der Anfang.

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Thema

Moshe Zimmermann sorgt sich um die Zukunft seines Landes und dessen Bewohner_innen.

Quo vadis, Israel? Moshe Zimmermann MZ Anne-Sophie Balzer AB Die Fronten zwischen Israelis und den Palästinenser_innen sind verhärteter denn je. Warum bewegt sich seit Jahren kaum etwas beim Friedensprozess im Nahen Osten? Weil die Israelis Frieden mehr zu fürchten scheinen als den Zustand ewigen Unfriedens, so die These des israelischen Historikers Moshe Zimmermann. Herr Zimmermann, im Sommer 2010 ist Ihr Buch mit dem provokanten Titel »Die Angst vor dem Frieden – Das israelische Dilemma« erschienen. Ist diese von Ihnen beschriebene Angst nicht ein unglaubwürdiges Paradoxon? Wie kann man denn Angst vor einem Zustand haben, den jeder Mensch im Grunde als erstrebenswert ansieht? AB

MZ Man hat als Mensch die Angewohnheit, vor Sachen Angst zu haben, die man nicht kennt. Die Leute können sich mit dem Zustand des ewigen Konfliktes arrangieren, weil sie wissen, beziehungsweise behaupten zu

Staat das Ziel haben, Israel bzw. das zionistische Unternehmen zu vernichten. Auf diesem Hintergrund scheint die israelische Politik seit längerem nicht mehr an einer Zwei-StaatenLösung interessiert zu sein.

te Siedler und das Militär in der israelischen Gesellschaft genießen. Warum haben diese radikalen Interessengruppen so viel Einfluss in der Gesellschaft?

MZ Weil sie es geschafft haben, die Idee eines Friedens, der durch den Verzicht auf eroberte Gebiete erreicht wird, zu diskreditieren. Wenn man einen Blick von innen auf die MZ Eine allgemeine Erosion in Richtung israelische Gesellschaft wirft, ist dies nicht so rechts-konservativ beginnt schon 1977. Die schwer zu erklären. Eine Gesellschaft, die sich radikalen rechten Parteien sind immer ein- seit langem in einem Kriegszustand befindet, flussreicher geworden. Die israelische Linke ist geneigt, reaktionären Kräften zu vertrauhat der Öffentlichkeit zudem kaum etwas zu en, deren Ziel es ist, den status quo zu erhalbieten, sie kämpft für die Wiederaufnahme ten, weil jede Alternative immer riskanter ist. einer Friedenspolitik und gegen die Fortset- Das ist ein psychologischer Mechanismus, der zung der israelischen Besetzung der Westbank. erklärt, warum diese radikalen Gruppen so Laut Meinung der meisten Israelis sind linke erfolgreich sind. Politiker irgendwo zwischen Schwärmern und Verrätern anzusiedeln. Die rechts-konservati- AB Herr Zimmermann, halten Sie Frieden und ven Parteien dagegen sind im Endeffekt oder eine Zwei-Staaten-Lösung überhaupt noch für a priori gegen das Recht der Palästinenser auf möglich?

Ist denn der Rechtsruck bei den Wahlen 2009 ein Symptom für diese Angst? AB

»Angst vor arabischem Antisemitismus bedeutet nicht, dass man jede Bemühung um Frieden aufgeben muss« wissen, was das bedeutet. Frieden ist etwas einen eigenen Staat und mit den Wahlerfolgen unbekanntes und für viele Menschen daher der vergangenen Jahre gibt die Öffentlichkeit angsterregend. Es ist also nicht ganz so para- diesen Parteien recht. dox, wie es zunächst klingt. AB Die Wahl 2009 stand auch unter dem EinAB: Ist die Angst vor dem Frieden nicht viel druck des Gaza-Konflikts statt. Ist nicht Angst eher eine Angst vor der Vernichtung? An rea- ein normales Gefühl, wenige Monate nach len Feinden mangelt es Israel ja nicht gerade. einem Krieg? MZ Die Angst der Menschen ist gar nicht so fokussiert, man hat in Israel nur das diffuse Gefühl, dass Frieden zwischen Israelis und Palästinensern am Ende kein Frieden sein wird und Israel als Verlierer dasteht, weil es zu viele Zugeständnisse an die Palästinenser machen musste. Außerdem kommt hinzu, dass geschickte Politiker, Populisten und Ideologen sich das Thema für ihre eigenen Interessen zunutze machen und die Menschen überzeugen, dass die Ängste fundiert sind.

Sie benennen in Ihrem Buch verschiedene Faktoren, die zu dieser ewigen Angst vor einem Frieden beitragen. Wen und was meinen Sie damit?

AB

MZ Die allgemeine Vorstellung von Frieden beruht auf der Vorstellung von zwei Staaten nebeneinander, Israel und Palästina. Wenn die Palästinenser einen Staat bekommen, das ist die Befürchtung vieler Israelis, wird dieser 16

MZ Selbst wenn man als Historiker die Kausalitäten sehr gut kennt und man alle Elemente richtig analysiert hat, gibt es immer noch die Imponderabilien, Ereignisse, die die Lage radikal ändern können, wie z. B. der 11. September. Es gibt also immer die Möglichkeit einer unerwarteten Änderung der Gegebenheiten. Andererseits muss man auch zugeben, dass die Zwei-Staaten-Lösung von Tag zu Tag an ReaMZ Angst wovor? Hätte man Angst vor dem lität verliert. Je mehr Siedler sich in der Westnächsten Krieg, ist das wahrscheinlich eine bank niederlassen, desto schwieriger wird es, zu erwartende Haltung. In Israel passiert je- dort noch einen Palästina-Staat zu gründen. doch etwas ganz anderes: Man hat Angst vor Und dann rückt der Frieden wieder in weieinem Frieden, der den nächsten Krieg un- te Ferne. möglich machen könnte, und das wohlgemerkt, obwohl man unter direktem Einfluss eines Krieges steht. Israel versucht immer, aus Moshe Zimmermann, 1943 in Jerusalem geder Position der Stärke zu agieren. Ein Krieg boren, ist Sohn deutscher Juden. 1982 wurde ist, aus israelischer Sicht, immer eine Mög- Zimmermann Professor für Neuere Geschichlichkeit, seine Stärke zu demonstrieren. Da- te an der Hebräischen Universität Jerusalem, her die Angst vor einer Situation wie die ei- seit 1986 ist er zudem Leiter des Richardnes Friedens, in der man keine Kriege führen Koebner-Institutes für deutsche Geschichte kann, in der man angeblich machtlos und so- in Jerusalem. 2005 wurde Zimmermann von mit schwach ist. Joschka Fischer in die »Unabhängige Historikerkommission-Auswärtiges Amt« berufen, AB Sie zeigen ja, dass diese Angstmaschine- um die Geschichte des Amtes im Nationalsorie nicht auf einer »jüdischen Verschwörung« zialismus zu untersuchen. Das Ergebnis dieser beruht – wie die antisemitische Propaganda Untersuchung ist im Oktober 2010 unter dem suggeriert – sondern auf dem Rückhalt, den Titel »Das Amt und die Vergangenheit: Deutnationalreligiöse Zionisten, Religiös-Ortho- sche Diplomaten im Dritten Reich und in der doxe, rassistische Araber-Hasser, verblende- Bundesrepublik« erschienen. echauffier #1


Angstprediger_innen

Es war einmal eine Zeit, in der Kinder über Nachtgeschichten erzogen wurden. — Es war einmal eine Zeit, in der Rassismus, Antisemitismus und Patriarchat in unschuldig anmutende Geschichten gehüllt wurden. — Es war einmal eine Zeit, in denen Kinder und Erwachsene ihre Ängste in Sagen, Fabeln und Märchen packten und diese an die kommenden Generationen weitergaben.

»Es war eiNmal … «  – nie wieder! von Johannes Smettan

Von dieser Zeit soll hier die Rede sein. Doch beginnen wir mit dem Wann und Wo. Märchen haben keine Orts- und Zeitangaben. Dennoch umgibt sie meist ein Hauch von Mittelalter. Königinnen, Prinzen, Ritter, holdes Burgfräulein in Not. Das Leben im Mittelalter schien ein Pendeln zwischen »Warten auf die große Liebe« und »erst muss ich noch den Drachen töten« zu sein. Kein Wort von religiösen Verfolgungen und Kreuzzügen. Kein Wort über willkürliche Feudalherrschaft, Seuchen, Kindersterblichkeit, marodierende Raubritter und ihr legales – aber nicht minder unmenschliches – Gegenstück, den offiziellen Hochadel. Woher also das idealisierte Bild des Mittelalters? Nach Stephan Neuhausen sind Märchentexte »eine Konstruktion, die im 19. Jahrhundert dazu dienen sollte, eine nationale Einigung der deutschsprachigen Länder durch die ›Entdeckung‹ gemeinsamer kultureller Wurzeln vorzubereiten«. Unschuldige Gute-Nacht-Geschichten als Steigbügelhalter für einen völkischen Nationalismus? Natürlich! Denn gerade die »Märchen« der Gebrüder Grimm waren tief verankert im aufblühenden bürgerlichen Nationalbewusstsein. Doch um den bürgerlich-nationalistischen Charakter soll es hier nicht gehen. Vielmehr soll es um einige beispielhafte Muster gehen, die den Märchenkosmos durchziehen. Und die auch heute noch – trotz oder gerade wegen der ambivalenten Aussage – auf den Bettkanten an die nächste Generation weitergegeben werden. Der Wolf ist eine wunderbar eindeutige Figur im Märchen. Schon bei der bloßen Nennung seines Namens wissen geneigte Märchenexpert_innen: Hier kommt das Böse in die Geschichte. Vom »Rotkäppchen« über »Der Wolf und die sieben Geißlein« bis hin zum angelsächsischen Märchen vom »Wolf und den drei Schweinchen«. Der Wolf ist böse und hinterlistig und am Ende – das weiß jedes Kind – muss er sterben. Doch hier verbirgt sich auch eine Weltanschauung. Denn der Wolf ist in den Märchen ein Wesen, das »aus dem Wald kommt«. Ein Wesen ohne

Gesellschaftsbezug. Während beispielsweise die Schweinchen sich ihre Häuser selbst gebaut haben, ist der Wolf »obdachlos«. Lesen wir die Geschichten nun als Metaphern, so könnte der Wolf für das »fahrende Volk«oder auch für Aussteiger_innen und Co. stehen. Die Geißlein und Schweinchen, als domestizierte Tiere würden dann für das strebsame Bürgertum stehen. Diese verstoßen zwar gegen die Anweisungen der Autorität (Geißenmutter) und die gesellschaftlichen Idealvorstellungen (Faulheit der zwei Schweinchen) aber am Ende der Geschichte siegt dann doch das vermeintlich »Gute« über das vermeintlich »Böse«. Dabei ist besonders interessant, dass der Wolf meist mit dem Tod bestraft wird. Keine mildernde Umstände oder erzieherischen Umschulungen werden ihm zugestanden. Im Gegensatz zu den Helden_innen der Märchen bekommt er keine zweite Chance. Ebenso wie die meisten alten, alleinstehenden Frauen- im Märchensprech auch »Hexen« genannt. Das wahrscheinlich berühmteste Hexenmärchen im deutschsprachigen Raum ist »Hänsel und Gretel«. Und gerade hier schaffen es Vorurteile und blinder Aktionismus eine besonders beängstigende Wirkung zu entfalten. Hier ist besonders das Frauenbild interessant, denn das Patriarchat zieht sich durch fast alle westlichen Märchen. Frauen nehmen nur positiv-dominierende Rollen ein, wenn ihnen Glück geschieht auf Grund ihrer Tüchtigkeit oder sie in irgendeiner – heterosexuellen! – Beziehung zu einem Mann stehen. Negativ-konnotierte Frauen gibt es hingegen viele. Von der »Hexe« einmal abgesehen, kommen da zusammen die Stiefmutter, die bösen Schwestern und und und. Frauen sind in den meisten Märchen einfach passiv und werden dem erfolgreichen männlichen Helden mitunter sogar als »Lohn« für seine Arbeit angeboten. Die Frau als Ware ist eben doch nicht nur auf das Prostitutionsgewerbe beschränkt. Es gibt im Grimmschen Märchenkosmos eine Reihe von Märchen, die heute kaum noch bekannt sind. Dennoch geben sie Aufschluss

über die gesellschaftliche Denken vieler Generationen. Eines dieser unbekannteren Märchen trägt den Titel: »Der Jude im Dorn«. Hier wird die Geschichte eines Knechtes erzählt, der drei Zaubergegenstände besitzt. Mit deren Hilfe foltert er einen Juden und nimmt ihm sein Geld ab. Er begründet das vor sich selbst mit den Worten »du hast die Leute genug geschunden«. Als der Jude später vor einem Richter Gerechtigkeit fordert, wird der Knecht verhaftet. Doch dieser schafft es, mit Hilfe seiner Zaubergegenstände, den Richter umzustimmen und am Ende wird der Jude gehängt, weil der Knecht ihn, mit der Androhung von neuer Folter, zur Falschaussage zwingt. Wer an dieser Stelle die aufrüttelnde Moral der Geschichte erwartet, sieht sich getäuscht. Der Knecht geht als »Held« aus der Geschichte, während dem Juden »Gerechtigkeit« widerfahren ist. So könnten wir uns Märchen für Märchen vornehmen und nach den Mustern der Angst suchen. Fest steht: Im traumhaften Märchenland haben Menschen, die nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft sind, selten was zu lachen. Märchen festigen die Vorstellungen, dass Loyalität, Arbeit und Unterwürfigkeit belohnt werden, Aufbegehren gegen Autoritäten jedoch hart bestraft wird. Die Suche nach Angstprediger_innen ist jedoch nur eine Lesart. Märchen lassen sich – wie bei Erich Fromm – psychoanalytisch interpretieren. Und sogar in alter Klassenkampfmanier – wie bei Iring Fetcher – sind sie deutbar. Alle drei Ansätze vereint jedoch, dass die Märchen überholte, konservative Werte vermitteln, die heute keinen Platz in Kinderohren finden sollten. Und deswegen sollte für Märchen gelten: » … und wenn sie nicht gestorben sind, dann erzählen wir sie heute nicht mehr weiter.«

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Thema EMPORE

Aus inte Empore griert 18

Echauffier Nr. 1


Angstprediger_innen

In sehr verlässlichen Zyklen wird die Integrationssau durchs Debattendorf gejagt. Unsere Empörung sollte nicht nur den Hetzern wie Thilo Sarrazin gelten. Wer von Integration redet, will Ausgrenzung.

»Die Fremden sind nicht von hier«

D

Eine Empore wider jede Integration von Patrick Stegemann.

er greise Methusalix bei Asterix und Obelix sagt in »Geschenk des Cäsars«: »Ich habe nichts gegen Fremde. Aber diese Fremden sind nicht von hier.« Über den Comickonsum von Sarrazin, Seehofer und Steinbach ist wenig bekannt. Es scheint jedoch, als holten sie sich beizeiten Inspiration für ihre abenteuerlichen Thesen in den Werken unserer Kindheit. Dass wir keine weitere Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen bräuchten, schwadroniert da zum Beispiel der Bayer Seehofer und klingt dabei doch nur wie eine billige Kopie des Galliers Methusalix. Deutschland am Beginn des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts gleicht einem gallischen Dorf, das Angst hat, dass ihm das langgehütete Rezept seiner Stärke abhanden kommt. Die Gefahr kommt, so scheint es, von »Integrationsunwilligen«, die die aus der Mottenkiste gekramte »Leitkultur« zu unterlaufen drohen und die wirtschaftliche Zukunft des Landes gefährden. Pikiert rümpften manche Feuilletonisten die Nase, als Thilo Sarrazin von Spiegel, Bild und Co. hofiert wurde. Doch munter wurde daraufhin über Integrationsverweigerer gestritten, die nun endlich die harte Hand Vater Staats spüren sollten. Wem dies allzu wenig weltoffen klang, schränkte ein, besänftigte und zeigte, wie nützlich »unsere Migrant_innen« doch eigentlich seien. Wobei das »unsere« stets als »Minus« gemeint war – es waren die Minus-DeutscheHerkunft-Deutschen. Doch nichts an dieser Debatte ist richtig. Und es ist nichts Gutes daran zu finden, »dass wir endlich mal wieder über Integration« reden. Denn seit Jahrzehnten tun wir nichts Anderes. Und seit Jahrzehnten ist es falsch.

Ferit Demir möchte nicht mehr reden. Er findet sich in diesem Diskurs nicht wieder, in dem nur angebliche Integrationsverweigerer_ innen und jene, die über sie diskutieren, vorkommen. Deshalb hat er die Initiative »Integrationsdebattenverweigerer« ins Leben gerufen, die in zwei Monaten über zweitausend Anhänger_innen in den sozialen Netzwerken fand. »Ich habe mich integriert und hier selbstständig gemacht. Mehr Integration geht nicht. Die ganze Debatte macht einen nicht integrierter.« Es scheint, als seien in der Integrationsdebatte kaum Fortschritte zu erzielen; es ist ein gleichförmig langweiliger Diskurs, der nur manchmal mit hysterischen Äußerungen und Tabubrüchen aufgeladen wird. »Eine enorme Langeweile« verspürt auch der Rassismusforscher und Autor Mark Terkessidis angesichts der sich ständig wiederholenden Debatten. »Tatsächlich werden seit den mittleren 70er Jahren immer die gleichen Themen besprochen. Unter Integration werden immer nur Sprachprobleme, patriarchale Familienverhältnisse oder Ghettobildung verhandelt.« Man könnte dies schlicht für mangelnde Debattenkultur halten und entspannt dem Streit im Feuilleton lauschen. Doch eine wachsende Mehrheit stellt die Einwanderungsgesellschaft, zu dessen Bekenntnis sich Deutschland erst sehr spät durchringen konnte, wieder in Frage. Geprägt ist die Integrations-Auseinandersetzung von kulturalistischen Argumenten, die stets in alten Mustern verhangen bleibt: Wir hier und die da. Dies liegt nicht allein, ja nicht einmal vorrangig an Sarrazin und all seinen Vor- und Nachbereitern, es liegt am Kern des unlängst anachronistisch gewordenen Begriffs der Integration. Fortsetzung S.21

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Empore

In Tausend Träume, Taugenichts, zerfällt das Leben. Ich rearrangiere mich. Wende den Blick von meinem Torso, schau fürwahr sie nun lieber an, die grässlich glotzenden Gestalten, schleiche mich an ihre Körper, forme ihre Worte, jeder Schritt eine Abkürzung, alle Gesten nur Diebesgut. Mein Herz, es pocht und poltert panisch nur – sogleich, wie wahr, hofft es bloß, dass sich heilend schließt, was einst schmerzlich geöffnet war.

Gewaltsam integriert von Khesrau Behroz

Winter. Ich lernte dieses Wort an einem Gruppentisch in der Vorklasse. Die Deutschlehrerin hat es gesprochen, als wäre es Sommer. Es wird dementsprechend wohl auch der Winter 1994 gewesen sein, an dem ich mein erstes deutsches Wort gelernt habe. An die Kälte jener Monate erinnere ich mich nicht, auch nicht an den Weihnachtsmann oder den Christbaumschmuck. Ich bin zu sehr damit beschäftigt gewesen, eine Sprache zu sprechen, die mein Tor werden sollte, zu dem, als den ich mich heute begreife: Ich, Khesrau Behroz, 23 Jahre alt, gebürtiger Afghane, finde, dass ich ein Künstler bin. Ich schreibe Texte, ich schreibe Literatur, ich schreibe Prosa, ich schreibe Lyrik, irgendwo dazwischen, da schreibe ich über Dich – aber das ist jetzt Nebensache. Menschen, die überrascht sind davon, dass ich ganze Sätze sprechen kann, behaupten gerne, ich wäre ein Paradebeispiel dafür, wie Integration gelingen könnte. Meine Stirn, meistens, runzelt daraufhin, meine rechte Hand hält die rechte Backe und drückt sie nach links, bis der Kopf wieder zurückfedert; das macht er so oft, bis es wie das deutlichste Nein aussieht, das ein Ausländer je gesprochen hat. Denn das mit der Integration, das habe ich initiiert. Ich habe mich gewaltsam selbst integriert. 1994 also, Deutschland im Winter, zuvor hatte ich noch Russland, die Ukraine und die Türkei von innen gesehen. In Afghanistan war ich in den Jahren, in denen Personen sowieso nicht für ganz zurechnungsfähig gehalten werden: nämlich als Kleinkind. Ich bin über Kabuls Boden gekrochen, bin gegen Kabuls 20

Schränke gelaufen und habe meine Wange Kabuls Tanten hingehalten. An den Großteil meiner Kindheit jedoch erinnere ich mich sowieso nicht. Nur den Nikolaus auf dem Roten Platz in Moskau, zwischen Tauben und Taubenscheiße, den habe ich noch sehr gut in Erinnerung. Meine gewaltsame Selbstintegration beginnt mit den Anbiederungsversuchen bei Thomas*, einer äußerst bemitleidenswerten Phase meines damals (und natürlich auch heute noch) jungen Lebens: Er ist einer der populäreren Schüler an unserer Grundschule in Kassel gewesen, einer, dem man stets gefolgt ist, in der Hoffnung, das Ende eines Regenbogens zu finden oder zumindest ein lausiges T-Shirt. Ich habe kaum ein Wort von dem verstanden, was Thomas alles gesagt hat, glaubte in meinem Willen, mich gewaltsam zu integrieren, seine Stimme mit der eines Engels vergleichen zu müssen (ich hatte natürlich keine Ahnung, wie ein Engel klingt – Kinder sind halt voll mit Scheiße) – aber ich habe immer nett gelächelt und hätte ich Brüste gehabt, hätte ich sie ihm wohl auch gezeigt. Irgendwann war jedoch die Zeit gekommen, wo ich überhaupt keine ausländischen Freunde mehr hatte, nur noch Thomas, Daniel, Torben, Hannes und wie sie alle geheißen haben. Man hat mir dann auch so üble Beschimpfungen wie »Du Deutscher!« hinterhergeworfen. Ich habe pariert. Aber irgendwo und irgendwann bin ich über mein Selbstbewusstsein gestolpert, habe Bühnen gesucht und Plattformen, wollte hinausschreien und hineinrauschen. Freunde und Lehrer haben mich in meinem literarischen

Tun bestärkt (Gedichte damals: »Liebestrug«, »Liebeslust«, »Verlass mich nicht!«, »Lebe lieber ungeliebt«, »Du hast mein Herz gebrochen«, »Oh, es tut so weh«, u. s. w.). Ich hatte das Gefühl, in einer völlig neuen Welt gelandet zu sein; einer Welt, in der ich mich nach Jahren des stillen Nomadismus endlich ausdrücken konnte. Stehen bleiben. Durchatmen. Eine Ex-Freundin hat mich, während eines langen Spaziergangs im schönen Bergpark Kassels, mit ernsthaftem Ausdruck mal gefragt, ob denn meine Eltern erwarten würden, dass wir heirateten, sie seien ja schließlich Afghanen und dort drüben würde man ja schon ziemlich früh den Bund der Ehe eingehen. Ich lächelte. Einen Tag später trennten wir uns. Und so endete meine gewaltsame Integration. Und ich schaute auf mein Werk und ich ward zufrieden. * Name von der Redaktion geändert

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Fortsetzung von S. 19

»Hinter dem Begriff der Integration steckt inzwischen ein solcher Wust an Angriffen auf Migranten, die sich zum Teil schon in der dritten Generation hier niedergelassen haben, dass ich es eigentlich schon gar nicht mehr ertragen kann. Und vor allem kann ich es kaum ertragen, dass dem kein Aufschrei entgegen schlägt von Demokraten und liberalen Menschen, die noch was auf Bürgerrechte halten«, findet Sabine Hess. Sie forscht an der Universität München und hat den Aufruf »Demokratie statt Integration« mitinitiiert. Im Gerede um Integration geht es vor allem um Zwang, Sanktionen und Daumenschrauben. Fraglich ist schon, wo eigentlich die Integrationsverweigerer_innen sitzen: im vielzitierten türkischen Teehaus oder in deutschen Amtsstuben. Beständig wird über die Zwangsteilnahme an Sprach- und Integrationskursen gesprochen, denen sich angeblich viele Migrant_innen entziehen würden. Das so herbeiphantasierte Phänomen der »Integrationsunwilligen« darf dann gleichsam wieder dazu dienen, die Anforderungen an Migrant_innen anzuheben. Sabine Hess sieht darin eine grundlegende Kontinuität in der Integrationsdebatte, die hierzulande zunehmend restriktiv geführt werde. Von den Zuwander_innen werde immer mehr gefordert und das Stöckchen, über das diese zu springen haben, würde immer höher gehalten. Ganz ähnliche Beobachtungen hat auch Mark Terkessidis gemacht. »Das kann man an der Einbürgerung sehr gut sehen. 2000 ist das Gesetz verändert worden. Dann haben sehr viele Leute sich einbürgern lassen und seitdem sind die Bedingungen immer mehr verschärft worden. Es ist heute schon so, dass man wirklich sehr viele Bedingungen mitbringen muss, damit man das Recht hat, sich einbürgern zu lassen. Kontinuierlich sind die Anforderungen erhöht worden.« Zunächst sei ein Einbürgerungstest eingeführt worden und dann noch eine derart schwierige Deutschprüfung, dass sie gerade für ältere Menschen nicht mehr zu bewerkstelligen sei. Doch in der Öffentlichkeit möchte man an dem lieb gewonnenen Relikt der 1970er Jahre festhalten. Als würde an der Integration Wohl und Wehe der Gesellschaft hängen. Längst ist sie dabei zum Kampfbegriff geworden. Die öffentliche Erregung um Ziel und Richtung der Ausländer_innenpolitik schaukelte ihrem Höhepunkt entgegen. Während von vielen Seiten für eine Deutschpflicht plädiert wurde, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge neue Richtlinien erlassen. Diese machte die Teilnahme an etwaigen Kursen für Menschen, die vor 2005 in die Bundesrepublik kamen, de facto unmöglich. Ein gewisses Maß an Bigotterie kann der Politik da schon vorgeworfen werden, beständig Forderungen zu erheben, ohne bereit zu sein, ihre Hausaufgaben ordentlich zu machen. Doch nicht nur Integrationskurse wer-

den zunehmend restriktiv geregelt. Klamme öffentliche Kassen sparen an Kinderbetreuung, Bildung und Sozialleistungen. Daran leiden jedoch nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund. Überhaupt: das omnipräsente Gerede von Migrant_innen-Problemen und Integration verstellt den Blick auf die wahre Gemengelage. Arbeitslosigkeit, schlechte Bildungsaussichten, Kriminalität: all dies sind vor allem soziale Probleme. Es wird jedoch gerade so getan, als gäbe es eine kulturelle, quasi natürliche Neigung »Nicht-Deutscher«, arbeitslos, kriminell oder dumm zu werden. Es wird versucht, kulturelle Identitäten zu konstruieren und gegeneinander auszuspielen. Doch hat die türkische Facharbeiterin nicht viel mehr mit ihrem deutschen Kollegen gemein, als dieser mit der deutschen Managerin? Es sei, behaupten Menschen wie Erika Steinbach oder Thilo Sarrazin, »unsere« Kultur. Mozart, Goethe, Heine, Bach – sie seien, was uns ausmacht. Gleichsam so, als würden aus den dicken Boxen in deutschen Diskotheken Bachkantaten krachen. Wir müssen reden: über Millionen Arbeitslose, über Menschen, die sich nicht angekommen fühlen, obschon sie, ihre Eltern und Großeltern niemals jenseits deutscher Grenzen lebten. Sozial Deklassierte finden sich in jeder Stadt, jedem Landstrich, ganz gleich, ob sie dort geboren wurden oder nicht. Dass Kinder von Nicht-Akademiker_innen so unfassbar schlechte Chancen haben, selber jemals eine Universität von innen zu sehen, dass mehr als vier Millionen Menschen in diesem Land kaum lesen können, dass Frauen schlechter bezahlt und patriarchalen Strukturen unterworfen sind; dies alles liegt nicht an jenen, die in den vergangenen Jahrzehnten hierher kamen. »Integration« tut aber so, als würden die zentralen Konflikte nur von Nicht-Deutschen ausgehen. Wer spricht von Integration, wenn hunderttausende Deutsche östlich der Elbe sich so gar nicht mit dem bundesrepublikanischen Modell anfreunden wollen? Warum reden wir nicht von Integrationsproblemen, wenn 13 % der Schüler_innen in manchen ostdeutschen Ländern, in denen bekanntlich kaum Ausländer_innen zu finden sind, keinen Schulabschluss haben? Sprechen wir von Integration, heißt das immer: da muss jemand in die Mehrheitsgesellschaft aufgenommen werden. Doch wer oder was ist die Mehrheitsgesellschaft? Ist es die kleiner werdende Mittelschicht, die vor lauter Abstiegsangst Schweißperlen auf der Stirn hat? Sind es die vielen Einkommensmillionär_innen, die ihr Vermögen nach Liechtenstein schaffen? Oder sind es die vom Staat gegängelten Arbeitslosen, die längst den Glauben an sich und die Gesellschaft verloren haben? Die Wahrheit ist: die Mehrheitsgesellschaft, die da ins Auge genommen wird, gibt es schlichtweg nicht mehr (sollte es sie überhaupt jemals gegeben haben). Fortsetzung von S. 25

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»Eine selbstbestimmte und eigenständige Frau. Und Muslimin halt auch.«

Kübra Gümüsay KG Fabian Raith FR

FR Du trägst selbst Kopftuch und sagst darüber »Mein Kopf gehört mir.«. Wieso hast du die Entscheidung getroffen, Kopftuch zu tragen und dich damit auch Missverständnissen auszusetzen?

aufgesetzt haben, eine Sonnenbrille dazu und dann mit dem Cabrio durch die Gegend gedüst sind. Das war das Kopftuch als Kleidungsstück. Eine Entpolitisierung, die Madonna in den 90er Jahren mit dem Kreuz vollzogen und damit aus dem religiösen Symbol ein Modeaccessoire gemacht hat, wäre auch für das Kopftuch wünschenswert. Das hätte mehrere Effekte: Zum einen wäre der Druck geringer, den eine Familie eben wegen der religiösen und traditionellen Ansichten des Kopftuchs erzeugen kann, verringert. Andererseits wären Frauen, die Kopftuch tragen, eben nicht mehr sofort als muslimisch oder unterdrückt angesehen, sondern wären einfach nur Frauen mit Kopftuch. Erst ihre Handlungen, ihre religiösen Überzeugungen und das, was sie sagt und spricht, würden diese Frau zu einer Muslimin machen.

Ich habe das Kopftuch anfangs eher aus traditionellen Gründen getragen. In meiner Umgebung haben die meisten Frauen Kopftuch getragen und für mich stand das Kopftuch für intelligente, souveräne und selbstbewusste Frauen. Erst als ich mit 16 Jahren in meiner Umgebung bemerkt habe, dass das Kopftuch anders wahrgenommen wird als ich es verstehe, habe ich mich intensiver damit beschäftigt und mich auch mit meiner Religion auseinander gesetzt. Also eben auch, ob und wie religiös ich leben möchte. Dann habe ich mich sehr bewusst für das Kopftuch entschieden. Der Hauptgrund war und ist also immer noch die religiöse Pflicht. FR Also ist das Tragen eines Kopftuchs und Feministin sein gar kein Widerspruch? FR In letzter Zeit werden häufig konservativfeministische Argumente gegen das Kopftuch KG Zum einen gibt es verschiedene Arten angebracht, weil es angeblich vor allem ein des Feminismus, unter anderem einen islaInstrument zur Unterdrückung der Frauen in mischen Feminismus. Denn der Islam gibt muslimisch geprägten Familien sei. Was ent- den Frauen bestimmte Rechte und Schutz. Zum Beispiel darf ein Mann das Geld, das gegnest du dieser Kritik? seine Frau verdient, nicht beanspruchen. Es KG Ich denke, was diese Argumentationslinie gehört ihr. Auch weitere kleinere Dinge, wie macht, ist, die Deutungshoheit über das Kopf- das Recht ihren Familiennamen zu behalten, tuch an sich zu reißen und irgendetwas hin- das Recht auf Unterhalt und auch das Recht einzudeuten. Daraus ziehen dann Frauen wie auf Scheidung. Leider werden diese Rechte in Alice Schwarzer irgendwelche anderen Schlüs- einigen Gesellschaften nicht praktiziert, was se über den Islam, Frauenunterdrückung und ich auch stark kritisiere, aber genau deswesonst noch was. Das Kopftuch, das ja eigent- gen gibt es eben in bestimmten Ländern wie lich nur ein Kleidungsstück ist, wird auf den Marokko oder Syrien eine FeminismusbeweIslam reduziert. Was ich fordere, ist genau gung, die auf dem Koran basiert, und die gedas Gegenteil, nämlich die Entpolitisierung nau diese Rechte einfordern. Das ist islamides Kopftuchs. Das Kopftuch muss nicht für scher Feminismus. Wenn ich mich also einem Musliminnen stehen. Vor 50 Jahren gab es Feminismus zuordnen müsste, dann dieser ja auch noch Frauen, die sich das Kopftuch Richtung. Eben weil ich glaube, dass der IsKG

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lam den Frauen viele Rechte gibt. Aber Feminismus ist als Begriff ja eher negativ besetzt, deswegen würde ich mich eher als selbstbestimmte und eigenständige Frau beschreiben. Und Muslimin halt auch. FR Die Debatte über Integration ist ja eigentlich eher eine Debatte über den Islam. Da werden Begriffe vermengt und vermischt, dass es nicht mehr feierlich ist. Versteckt sich hinter der scheinbar rationalen Islamkritik nicht eher eine neue Form von Rassismus? KG Bei der herrschenden Islamophobie spielt generelle Abneigung gegenüber Religionen eine wichtige Rolle. Nach meiner Beobachtung gab es für Religion bisher keinen Platz in der Öffentlichkeit. Nun tauchen plötzlich kopftuchtragende Menschen auf oder Männer mit Bärten, die sagen, ich gehöre dieser und jener Religion an. Ihre religiöse Identität wird damit in der Öffentlichkeit sichtbar. Das verursacht bei denjenigen, die sich damit noch nicht beschäftigt haben, Unbehagen. Wenn man sich also noch nicht religiös entschieden hat, fühlt man sich plötzlich unter Zugzwang. Ich kann mir gut vorstellen, dass es vielen Deutschen jetzt auch so geht. Das kann natürlich zu Abwehrreaktionen führen. Aber davon mal abgesehen, finde ich, dass die jetzige Islamophobie tatsächlich einfach nur eine neue Form von Rassismus ist. Vor einigen Jahren noch war das ein Tabuthema, da konnte man die beiden Begriffe noch nicht gleichsetzen, weil es damals einfach gewisse Vorbehalte gegenüber den religiösen Praktiken gab. Heute richtet sich die islamophobe Argumentation allerdings nicht mehr gegen fromme, orthodoxe Muslime, sondern gegen Menschen aus scheinbar islamischen Kulturkreisen, Menschen die mit dem Islam vielleicht gar nichts zu tun haben, aber so aussehen, als würden sie

aus einem islamisch geprägten Land stammen. Also die Gastarbeiter von damals, die heute nur noch Muslime sein sollen. Die Feindseligkeit ihnen gegenüber wird gerechtfertigt, indem man sagt, dass der Islam dies und jenes mache und dann wird daraus ein Problem mit der Person konstruiert. Vor allem ist die Religion in den Augen dieser »Kritiker« aber auch nicht ablegbar. Wäre es tatsächlich nur eine Feindseligkeit gegenüber der Religion, müsste sie ja aufhören, sobald die Person den Glauben nicht mehr praktiziert. Aber so, wie ich das wahrnehme und auch erlebe, ist es doch so, dass selbst Menschen, die überhaupt nicht religiös sind, auf Grund ihrer angeblichen Religiösität Rassismus oder Feindlichkeit erfahren. Die heutige Islamophobie ist also gleichzusetzen mit Rassismus und ist einfach eine Erweiterung davon. Kübra Gümüsay (geb. Yücel) ist 22 Jahre alt, studiert Politikwissenschaften in Hamburg und bezeichnet sich selbst als praktizierende Muslimin. Sie trägt seit ihren Jugendjahren Kopftuch, bloggt unter ein-fremdwoerterbuch. com und arbeitet als freie Journalisten unter anderem für die taz.

Die kompletten Gespräche mit Sabine Hess, Mark Terkessidis, Ferit Demir und weitere Interviews zum Thema können nachgehört werden unter: www.echauffier.de

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In den großen westdeutschen Städten haben mehr als Zweidrittel aller Kinder einen Migrationshintergrund. Es ergibt keinen Sinn, all diese auf ihre Defizite zu reduzieren und ihnen zu sagen: werdet so wie die Anderen. Jovial spricht die sich weltoffen gebärdende Bürgerin zwar gerne vom Wert eines multikulturellen Zusammenlebens, gemeint ist dabei zumeist jedoch ein hübsches Nebeneinander ohne Konflikte – und ohne Veränderung. Natürlich darf der türkische Nachbar gerne zum Kaffee vorbeikommen, Baklava und seine Kinder mitbringen. Selbige sollten jedoch lieber nicht auf die gleiche Schule gehen, das verdirbt den NDH-Anteil. Nicht-Deutscher-Herkunft: so werden all jene bezeichnet, die nicht, wie es neuerdings heißt, biodeutsch sind. In Berlin beispielsweise werden unter dieser Kategorie hunderte Nationen, die die Hauptstadt bevölkern, zusammengefasst. Dort gibt es eine NDH-Quote, die für jede Schule ausgewiesen wird. Multikulti ist ein Konzept der schwammigen Mehrheitsgesellschaft, das kulturelle Unterschiede unterstreicht, soziale und politische Veränderung aber nicht will. Unter dem Schlagwort Multikulturalismus ist ein Bereicherungsdiskurs geführt worden, der, wie Mark Terkessidis hervorhebt, immer ein bisschen kulinarisch geprägt gewesen ist. »Da wurde gesagt: Ihr dürft eure Differenzen mitbringen und wenn wir sie lecker finden, dann sind sie okay, aber wenn es um den Islam geht, finden wir das nicht mehr lecker.« Straßenfeste der Kulturen mögen uns gefallen, weil wir es da so schön bunt finden. Allein, helfen tun sie nicht. Eine offene Gesellschaft muss kein Problem haben mit ethnisch gefärbten Traditionen. Doch all das, was Menschen unterschiedlicher Hintergründe (und eben nicht nur Kulturen) mitbringen, sollte einfließen in eine neue Definition von Raum, in dem für alle Platz ist. Niemand muss werden wie die Anderen, aber es soll auch nicht jeder bleiben, wie er ist. »Ich will Veränderung«, formuliert Terkessidis diesen Anspruch. Wir könnten ziemlich gut damit leben, dass alle unterschiedlich sind. Das ist nicht immer toll, nicht immer bunt. Im gesellschaftlichen Leben geht es rau zu – alle Gesellschaften sind geprägt von Konflikten. Da stinkt es oft, selten sieht alles toll aus, fast immer ist es laut. Gefallen muss uns das nicht, nur leben müssen wir damit. Letztendlich geht es um Teilhabe. Darum, dass alle gesellschaftlichen Gruppen partizipieren können. Wir leben in einer Gesellschaft, die wahnsinnig unterschiedlich ist. Das Herausstellen dieses einen Unterschieds der Herkunft ist letztlich nicht nur ideologisch, sondern vor allem wenig hilfreich. Menschen verschiedener Hautfarben, sexueller Orientierung, politischer Einstellungen usw. leben zusammen. Im Fachjargon wird dies Diversität genannt. Hier werden einzelne Gruppen nicht als defizitär gebrandmarkt und mit der Aufforderung zur Integration versehen; es geht darum, Diskriminierung dort zu verhindern, wo sie entsteht: am Arbeitsplatz, im Fußballverein, in den Behörden. Wir sollten den Blick also weg von irgendwie als andersartig erkannten Gruppen richten. Vielmehr sollten wir dafür

sorgen, dass jede_r seinen Platz in der Gesellschaft einnehmen kann. Dabei geht es nicht um eine Ausländer_innen-Pädagogik, sondern darum, Menschen beizubringen, wie sie in heterogenen Alltagen zurecht kommen. Sabine Hess, die sich sehr lange mit dem Thema Integration und Migration als Wissenschaftlerin und kritische Begleiterin auseinandergesetzt hat, plädiert für eine neue Offensive im Sinne sozialer Teilhabe. »Es geht um Teilhabe, um gleiche Rechte, es geht um Bürgerrechte. Das sind die Begriffe, die wir gegen die Integration anbringen müssen. Begriffe, die nicht vertuschen und nicht kulturalisieren. Sondern konkret benennen, worum es eigentlich geht.« Genau diese gleichen Rechte werden Migrant_ innen jedoch konsequent verwehrt. Denn das restriktive Ausländerrecht verwehrt Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie werden Jahrzehnte im Wartestand gehalten, für sie gelten keine Bürger_innenrechte, sondern Sondergesetzgebungen, die Integration, Spracherwerb und Anpassung regeln sollen. Tatsächlich aber verhindert Integration eben diesen Partizipationsprozess, weil sie nicht fragt, was für Teilhabe getan werden kann, sondern was Migrant_innen tun müssen, um so zu werden, wie es andere wollen. Längst ist Migration kein Thema unter anderen mehr. Es ist eines der zentralen Themen, um zu verstehen, wie sich Gesellschaft wandelt – und das für alle. Wir müssen darüber sprechen, unter welchen Bedingungen Zusammenleben geschehen kann. Das alles ist keine Frage der Migrant_innen, sondern die etwas altbackene Frage nach den Bedingungen, unter denen wir leben wollen: die Fragen nach Bildung, Gesundheit, Arbeit, Demokratie und allem, was dazu gehört. Diese Fragen zielen auf alle als Individuum ab und sondern nicht aus, konstruieren keine Gruppen. Für Sabine Hess geht es, man kann es nicht passender sagen, um eine »Gesellschaft, die sich trifft als eine aus Gleichen.« Die Alternative ist weniger erbaulich. Es ist die Alternative, die Thilo Sarrazin vorschlägt, wenn er unverhohlen von Abgrenzung, Aussonderung und Abschottung spricht. Ein Dazwischen gibt es vermutlich nicht. Und auch kein »Mir egal«. Denn so geschieht es auch bei Asterix und Obelix. Als die Dorfgemeinschaft über den Verbleib der Fremden beratschlagt, sagt Methusalix: »Ich habe nichts gegen Fremde, aber man muss sie fortjagen.« Den anderen ist es egal. Hauptsache, es gibt weiterhin Wildschweine und Römer … Schließlich skandiert Methusalix bei einer spontanen Versammlung: »Raus! Fremde! Raus!«. Machen wir uns keine Illusionen: Was Thilo Sarrazin offen sagt und viele andere wollen, ist genau das. Uns aber sollte es um mehr gehen als Römer und Wildschweine, um mehr als Integration und Multikulti. Die Geschichte dieses Comics, sie sollte nicht unsere werden. patrick.stegemann@echauffier.de

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Lob der Kritik von Patrick Stegemann

In einem Interview mit dem Spiegel unterbrach Adorno einst den Reporter, der sagte: »Herr Professor Adorno, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung … « Adorno fuhr dazwischen: »Mir nicht.«

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Er ist immer ein bisschen miesepetrig, er findet auch in Papas fantastischer Kartoffelsuppe das noch so kleinste Haar. Wenn alle anderen lachen, schaut er betrübt zu Boden und redet vor sich hin. Die voller Zweifel gerunzelte Stirn, das ist seine Insigne. Mögen die anderen sich ruhig amüsieren, er schleudert ihnen mit Brecht entgegen: »Der Lachende  / Hat die furchtbare Nachricht  / Nur noch nicht empfangen.« So ist er. Der Kritiker. Würde der Kritiker zur Unternehmensberatung gehen, sie würde ihn wohl eine mangelnde Performance attestieren, eine Imagekampagne würde unumgänglich. Ja, ja, die geneigte Leserin mag einwenden: aber nein, kritisches Bewusstsein ist doch überall gefragt. Keine Stellenausschreibung, kein Universitäts-Seminar, keine Talkshowmoderatorin kommt ohne »Kritikfähigkeit« aus. Seid kritische Arbeiter_innen, Student_innen und – ja! – seid kritische Konsument_innen! Arbeitet, lernt, konsumiert – haltet das Rad am Laufen; aber wenn ich bitten darf: immer schön kritisch. Der Schein trügt, denn Kritik, die an die Wurzel geht, hat ein negatives Image. Kritik, die nicht nur fragt, ob denn das hippe T-Shirt auch wirklich bio sei. Sondern Kritik, die beklagt, dass das T-Shirt – egal wie bio – ein Produkt der Ausbeutung ist und eben jene keine Frage von Lifestyle-Ökotum ist. Nach wie vor dient der Affekt gegen angeblich bloß zersetzende Kritik oft dazu, diejenigen mundtot zu machen, die Missstände erkennbar machen, ohne gleich ein Rezept zu seiner Lösung parat zu haben. Diese Kritik sei doch gänzlich unkonstruktiv, wird dann gemosert. Wer nicht wisse, wie man es besser machen könne und nur zerstören wolle, solle besser schweigen. Das Gerede von der konstruktiven Kritik jedoch kastriert eben diese um ihren Kern: sie wird berechenbar und macht sich beliebt. Dabei hat Kritik, wenn man so möchte, immer ein destruktives Element. Wer jemanden oder etwas kritisiert, verhält sich negierend zum Bestehenden. Die Kritikerin ruft: So wie es ist, so will ich es nicht haben! In dieser Art der Kritik steckt dann gewissermaßen auch etwas Positives: das Falsche, Unwahre, Verbrecherische zu benennen, ist eine notwendige Vorarbeit für die Konstruktion des Richtigen, Wahren, Gerechten. Und das ganz gleich, wie konkret sich das Positive benennen lässt. Dabei geht es immer auch ums Ganze. Gemeint sind nicht die viel beschworenen Wutbürger_innen, die sich brüskieren über Bahnhöfe, Ausländer_innen und alles andere, was ihre kleine Orchideen-Welt ins Wanken bringt. Kritik ist, wie Berufszweifler Marx es einst nannte, keine Leidenschaft des Kopfes, sondern der Kopf der Leidenschaft. Auf der einen Seite steht also der Kampf gegen Zustände, die wir nicht hinnehmen können, aber auf der anderen Seite müssen die Fragen hinzutreten: Woher kommt das? Was unterscheidet diese Welt von einer menschenwürdigen? Wo ist der Kern der Sache? Sie sind ein bisschen groß diese Fragen, auch ein bisschen naiv. Umweht vom Hauch der ewigen Unbeantwortbarkeit. Doch es geht nicht um Einzelne, die unzufrieden sind, nicht um die Nörgler_innen am Stammtisch. Eine ziemlich alte Parole, die noch ein bisschen 68er-Mief atmet, bringt das passend auf den Punkt: »Wir wollen kein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei.« Und solange uns die anderen die Brötchen vorsetzen, steigen wir weiter auf die Empore und rufen heraus, was uns stört – ob ihr wollt oder nicht und ob wir wissen, wie es besser geht, oder nicht. Denn die voller Zweifel gerunzelte Stirn, die ist unsere Insigne. echauffier #1


Lieber Wutbürger, von Michael Kranixfeld

ich weiß nicht, ob du manchmal montags mit wachem Blick durch deine Einkaufsstraßen läufst. Aber ich bin mir sicher, dass du sie da finden könntest. Sie sind müde vom Kämpfen, aber noch halten sie wacker ihre selbst gemalten Plakate hoch, während vorne einer von ihnen heiser und wütend ins Mikrofon skandiert. Sie sind die letzten ihrer Art. Ihre Zeit war knapp bemessen, das muss man zugeben. Ein kurzes Aufwallen nur, dann brachen die Tausenden auseinander, weil sie keine Lust hatten, sich auf gemeinsame Forderungen zu verständigen. Von den Protesten gegen die Hartz-Reform blieb nur der traurige Nachgeschmack des nutzlosen Aufbegehrens gegen eine übermächtige Regierung. Aber wozu Trauer blasen, es gibt Grund zum Jubeln: Unsere Demokratie blüht wieder! Ein Tiefbahnhof in Stuttgart, die Schließung des Wuppertaler Schauspielhauses oder eine Schulreform in Hamburg – was die Menschen momentan auf die Palme bringt, bildet das ganze Spektrum politischer Handlungsfelder wunderbar ab. Protestieren ist in: Die Initiativen rühmen sich, Superhelden in Sachen gelebte Demokratie zu sein, Task Forces einer neuen Bürger_innenbeteiligungswelle. Mir schmeckt das aber nicht. Es ist doch mehr als auffällig, dass es sich immer nur um temporäre Aktionsbündnisse handelt, dass die Demonstranten nach kurzer Zeit wieder von der Bildfläche verschwinden. Dann nämlich, wenn es an der Zeit wäre, sich langfristig zu engagieren. Und darauf hat die Mehrheit offensichtlich keine Lust. Es reicht aber nicht, wenn du auch noch drei Wochen nach dem CastorTransport stolz wie Oscar mit dem »Nein Danke«-Button rum rennst und glaubst, die Welt verändert zu haben. Wenn Protestieren eine coole Attitüde ist, die du an deinen Jute-Beutel stecken kannst, brauchen Politiker diesen Ausdruck des Volkswillens erst recht nicht mehr ernst zu nehmen. Anketten statt Hau den Lukas, na servus. Versteh mich nicht falsch: Demos sind klasse. Man schafft Öffentlichkeit für seine Forderungen, produziert spitzen Bilder für die Presse und zeigt den Teilnehmenden, dass es noch viel mehr Leute gibt, die ihre Ansicht teilen. Nur müsst ihr auch danach für diese Sache einstehen und nicht nach Hause trotten und euch wundern, dass die Politiker erst mal abwarten, ob sich auch nach der Demo noch Leute für das unliebsame Thema Datenschutz engagieren. Wirklich Einfluss neh-

men wollen, das heißt, den Marsch durch die Institutionen anzutreten. Du wirst erfahren, dass die politischen Mühlen langsam mahlen (zu Recht, aber das wäre ein anderer Brief). Das wird dich, der du dich mit jugendlicher Verve in alles stürzt, immer wieder vor den Kopf stoßen. An den pragmatischen, politischen Realitäten siehst du deine Utopien zerschellen. Warum nicht einfach das Grundeinkommen beschlossen und ein generelles Moscheeverbot ausgesprochen wird, will dir einfach nicht in den Kopf. Leider wirst du dich damit abfinden müssen, dass nicht alle Menschen glauben, dass langes gemeinsames Lernen zu besseren PISA-Ergebnissen führt. Aber wenn du es ernst meinst mit deinen Visionen, wenn du die Steuererklärung auf dem Bierdeckel und den Austritt aus der EU willst, dann sei so mutig und stelle dich der politischen Realität. Geh zur Grünen Jugend, Jungen Union, schlag dich im Ortsbeirat mit den alten Säcken rum, engagier dich bei Transparency International, attac und Greenpeace oder trete der Partei Bibeltreuer Christen bei. Gestalte deine eigene Lebenswirklichkeit zum Wohle aller. Und hör endlich auf, uns mit deinen Artikeln zu belehren! Michael Kranixfeld, Jahrgang 1988, studiert nach dem Abitur und dem obligatorischen Jahr in Berlin Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis in der wunderbaren Stadt Hildesheim. Er macht Theater, schreibt Kritiken und arbeitet beim NDR.

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Geht kacken! von Oliver Lysiak

Wenn ich etwas wirklich vermisse in Blogs, sozialen Netzwerken und Foren, dann ist es der »Geh kacken!«-Button. Denn je länger ich als Digital Native unterwegs bin, desto häufiger stolpere ich über die virtuellen Jammerlappen, die anonymen Gegenstücke zu den Menschen, die ich schon zu Schul- und Unizeiten ganz real nicht ausstehen konnte. Menschen, deren Selbstwertgefühl anscheinend so sehr an ihren »Likes«, wie man heute sagt, hängt, dass sie nicht in der Lage sind, irgendeine Form von Kritik zu akzeptieren, ohne sich persönlich bis tief runter in die langweilige Dunkelkammer, in der ihr ICH wohnt, angegriffen und beleidigt, verletzt und getroffen zu fühlen. Was es für einen Kritiker, der sich gerne auch mal einer deutlichen Zuspitzung bedient, nicht eben einfach macht. Denn wenn jede Filmkritik, jede Aussage über eine Musikrichtung, Sockenfarbe oder Zeitschrift gleich als zwischenmenschlicher Holocaust interpretiert wird, fehlt einfach eine gewichtige Grundlage der Diskussion: Der gesunde Menschenverstand. Nun wäre das einfach, wenn diese Reaktionen nur aus Richtung adoleszenter Pubertätsbolzen kämen, deren im Aufbau befindliches, fragiles Selbst schon durch zu lautes Husten aus der Balance gebracht werden kann. Die 30

Zielgruppe, die früher mit wütenden Briefen Zeitschriftenabos kündigte, weil ein Redakteur unvorsichtigerweise andeutete, die Kelly Family stamme vielleicht doch nicht in direkter Linie von Jesus ab. Heute werden natürlich nicht mehr Briefe geschrieben, sondern Foren mit Rudimentär-Grammatik und veritablen Todesdrohungen zugepflastert, wenn das Idol des frischhormonierenden Backfischs in irgendeiner Form verunglimpft wurde. Doch das sind Teenager, die lebenden Argumente gegen ein Wahlrecht ab 16 und für die Abtreibung bis zum vollendeten 11. Lebensjahr. Die haben genug damit zu tun, überhaupt erstmal eine Persönlichkeit, Sexualität und einen Gleichgewichtssinn zu finden und leben in einer spannenden Wachstumsblase in der sehnsüchtige Selbstsuche, halbgares Philosophieren gleich wichtig ist, wie Furzgeräusche und wissendem Kichern, sobald das Wort »Loch« fällt. Was nahelegt, dass »Matrix« nur noch durch die Tatsache hätte verbessert werden können, dass statt Keanu Reeves Adam Sandler oder Kevin James den Neo gespielt hätten. Leider ist es ein verbreiteter Irrglaube, mit Abschluss des 20. Lebensjahres oder wann auch immer die Adoleszenz heutzutage endet (glaubhafte Studien versichern, spätestens Ende 40 sei das Schlimmste überstanden),

wäre das Gequengel endlich vorbei. Denn je länger es gilt »jung« zu bleiben, desto weniger diskursfähig werden die Leute. Und so wimmelt es im Netz wie in U-Bahnen, Arztpraxen und Selbsthilfe-Gruppen wie »Prenzlauer Jungmütter ohne Doppelnamen« von Menschen, die nicht in der Lage sind, zu diskutieren oder andere Meinungen hinzunehmen, ohne gleich ihr Ego aufs Schafott zu stellen und dem Autoren in sprachlich meist eher einfacher Form ein baldiges Ableben oder zumindest eine exotische, aber sehr schmerzhafte Darmkrankheit zu wünschen. Und während die viel beschworene Generation LOL immerhin noch den Jugendbonus als Entschuldigung anführen kann und mittels eines Idiotenfilters (der einfach jeden Kommentar automatisch löscht, der mehr als ein Ausrufezeichen verwendet) ignoriert werden kann, beanspruchen die älteren Heulsusen menschlich ernst genommen zu werden. Was schwerfällt, da sie in der Regel nicht in der Lage sind, eine Kritik oder auch nur einen Ausspruch zu Ende zu lesen oder sich gar dessen Argumente vorzunehmen. In verletztem Harnisch regnet es mit schöner Regelmäßigkeit also dieselben Kommentare. Text für Text kommen im Gespräch oder in Kommentaren dieselben Erwiderungen: »Du kennst das Werk ja gar nicht«, »Du hast das echauffier #1


Oliver Lysiak, ein Freund deutlicher Zuspitzung, über vermisste Ausdrucksmöglichkeiten via Kack-Button, fehlende Freude an der Kontroverse und die Liebe zur Subkultur, die oftmals weder Sub noch Kultur ist

bloß nicht verstanden«, »Wenn du den Film nicht magst, dann guck ihn einfach nicht«, »Du findest den bloß doof, weil ihn alle anderen toll finden«, »Du findest ihn bloß toll, weil ihn alle anderen doof finden«, »Jeder hat halt seine Meinung!«, »Das ist eben Popcorn-Kino!« und immer wieder das klassische MantraTriumvirat aller Idioten: »Du bist überhaupt nicht objektiv!«, »Machs doch selbst erstmal besser!« und »Man muss sein Gehirn auch mal ausschalten können!«. Eine Forderung, die weniger absurd wäre, machten diejenigen, die sie bringen, nicht den Eindruck, ihr Hirn beim ersten Kino-Besuch ausgeschaltet und es danach nie wieder angeschaltet zu haben. Doch ehe sich die Leser mit Abitur oder Hochschulabschluss jetzt freuen: Obige Reaktionen kommen gerne und oft auch von Menschen, die für sich überdurchschnittliche Bildung reklamieren und über Mainstream die Nase rümpfen. Denn wenn sie die Altare ihres eklektischen Geschmacks besudelt sehen, mutieren sie ebenso zum beleidigten (und beleidigenden) Troll, wie der gemeine Inception- und AvatarFan, der eher unerfreut zur Kenntnis nimmt, dass die von ihm angehimmelten Filme nicht zwingend das Weltwissen auf eine nie dagewesene Stufe anheben, nur weil er dort zum allerersten Mal davon erfuhr, dass es doof ist,

die Natur zu zerstören, und dass Träume psychologisch deutbar sind. Sheeesh. Kinder. Wo bleibt die Freude am Diskurs, das genüssliche Sezieren eines Arguments im Versuch, es zu entkräften? Woher kommt diese Konsens-Sucht, nur hören und lesen zu wollen, was eh die eigene Meinung ist? Wie langweilig ist es, nur Kritiker zu lesen, deren Meinung ich zustimme. Wieviel spannender ist es, sich konträren Sichtweisen zu öffnen, ohne den Anspruch zu haben, am Ende müsse ein Konsens stehen. Woher stammt die, gerade in Deutschland so verbreitetete Kuschelsucht, die nach objektiven »sowohl-als-auch«-Bewertungen hungert und deutliche Positionen ablehnt? Warum ertönt, ausgerechnet in Deutschland so häufig der Ruf, eine Kritik solle »objektiv« sein? Worin gründet sich die dauernde Drohung der Leser, beleidigt abzuhauen, weil man nicht ihre Meinung sekundiert? Woher kommt die Masse der Leute, die Dinge mögen, aber nicht sagen können, warum? Diese Unfähigkeit, ein Argument zu verstehen, weil Popkultur selbst nicht mal auf einer Minimal-Ebene reflektiert wird – und das auch von Leuten, die gerne »mal was anspruchsvolles sehen«. Was in dem Fall dann meist bei »American Beauty« anfängt und bei »Lost in Translation« aufhört.

Deren Ego angesichts einer Kritik an etwas, dass sie mögen (nicht etwas, dass sie etwa selbst geschaffen haben), so bedroht zu sein scheint, dass sie nur noch durch persönliche Vorwürfe (»du findest sicher keine Frau zum ficken, deswegen schreibst du sowas«) reagieren können. Woher kommen diese Massen an Menschen, die exakt dieselben Sätze ausspucken und die absolut unfähig sind, zu diskutieren? Und wie könnte man sie ändern? Wahrscheinlich ließe sich da mit anständiger Bildung, Medienpädagogik und wechselwarmen Bädern viel erreichen. Doch ich bin es mittlerweile müde und habe aufgehört, mir diese Fragen ernstlich zu stellen. Aber den »Geh Kacken!«-Button – den hätte ich wirklich gerne. Oliver »Batz« Lysiak, geboren in den 70ern, studierte Mediensoziologie und arbeitete als Redakteur für NDR, RTL, Pro7, wo er lernte, dass »die Zuschauer Ironie nicht verstehen«. Heute betreibt er, zusammen mit vier anderen Cinemaniacs, Deutschlands erfolgreichstes Filmblog »Die Fünf Filmfreunde« und arbeitet als »Head of Content« beim Filmportal moviepilot.de. Er mag Wombats, Katzen und Leute die im Kino die Klappe halten und träumt davon, irgendwann von Stephen Fry adoptiert zu werden. 31


Menschen wie C. von Jan Oberländer

Mannmannmannmannmann. Was ist hier los? Ein Jahr lang nicht gesehen, aber beim allweihnachtlichen Stammkneipenbier ist es sofort wieder wie immer. C. kann einfach nicht anders: »Das ist ungerecht, verdammte Scheiße nochmal!« C. ist Anfang Dreißig und Lehrer, kurz vor der Verbeamtung. Er ist Fan des FC St. Pauli, in seinem CD-Regal steht das Gesamtwerk der Deutschpunkband Die Toten Hosen neben unzähligen Büchern über das Dritte Reich. C. unterrichtet Geschichte und Deutsch. Und ein bisschen Wirtschaftskunde. Er findet, dass Lehrer eigentlich zu viel verdienen – »guck dir doch mal einen einfachen Handwerker an, mit was der nach Hause geht!« Und der sei noch nicht mal privat krankenversichert. Jajajajaja. Ein bisschen weniger »Verdammt!« und »Scheiße!«, ein bisschen weniger Nachdruck, VIEL weniger Funkeln hinter den Brillengläsern – C. hätte ja gar nicht Unrecht! Aber einem Biertischredner, der dann irgendwann auch noch, uah, mit der Faust auf die Pressspanplatte haut, dem hört man nicht gern zu. Geschweige denn, dass man ihn ernst nimmt und sich womöglich gar sein Anliegen zu eigen macht. Zumal C.s flammende Empörung vor allem ein Ziel hat: sich selbst als moralisch tadellos zu präsentieren, als knallhart kritisch und unkorrumpierbar. C., Freund des kleinen Mannes! Gewissen seiner Zunft! C.s Tiraden sind in Wahrheit Lobreden – auf ihn selbst. Aber so ist er eben. Kein schlechter Mensch, im Gegenteil. Aber einer von vielen, die meckern, selbst wenn es ihnen eigentlich gut geht. Denen das Sich-Aufregen zum Standardmodus geworden ist. Die gar nicht anders auf die Welt zugehen können als im vollen Brast. Und das ist anstrengend. EXTREM anstrengend, verdammte Scheiße nochmal. Anderes Beispiel. Die Endvierzigerin G. arbeitet in einem kleinen städtischen Gästehaus, Frühstück machen, Zimmer reinigen, kein schwerer Job, ein bisschen eintönig, aber da sind ja die Kolleginnen. Und den Zivi kann sie auch herumschicken, zur Jahrtausendwende gab es die ja noch. G. praktiziert eine andere Form des Sich-die-ganze-Zeit-Aufregens als C. Auch sie beschwert sich ständig über irgendetwas – aber sie ist immer das Opfer. Das miese Wetter, die hohen Spritpreise, die Sprüche vom Chef – alles macht G. das Leben schwer, absichtlich und gezielt natürlich. Was bei aller Beschwerlichkeit ganz praktisch ist: Schuld haben immer die anderen. Wer den ganzen Tag, ob am Aufschnitthobel oder an der Wäschemangel, beim zweiten Frühstück oder in der Raucherpause, über die böse Welt schimpft, der braucht sich nie selbst in Frage zu stellen. Und genau das ist ja doch das Ekelhafte an der ewigen Motzerei: Dass Menschen wie C. und Menschen wie G. nur an sich selbst und nicht an ihr Publikum denken. Dass sie kein Maß dafür haben, was wichtig ist. Und darum einfach einen kontinuierlichen Giftstrom absondern – der ihre Umgebung auf die Dauer unsensibel macht. Wie in der Geschichte von dem Jungen, der immer »Wölfe, Wölfe!« ruft. Irgendwann glaubt ihm das keiner mehr, und plötzlich ist dann mal wirklich Alarm, aber keiner hört mehr zu. Und das ist blöd. Denn: Es ist natürlich gut und richtig und lebenswichtig, sich auch mal aufzuregen. Wenn Leib und Leben in Gefahr sind, zum Beispiel. Wenn Willkür und Terror und Atomstaat dräuen, wenn die Demokratie wackelt. Wenn es also WIRKLICH was zu meckern gibt. Dann aber. Und dann richtig. Für alle anderen Lebenslagen gilt die Empfehlung: Einfach mal durch den Mund atmen. Die Jacke wieder anziehen. Einen Punkt machen. Chillen. Auch so lässt sich die Welt verbessern. Punkt.

Irgendwas stört sie immer: Leute, die sich ständig aufregen. Dabei müsste die Welt gar nicht so schlimm sein. Ein Appell dafür, einfach mal durchzuatmen!

Jan Oberländer, geboren 1980 in Braunschweig, arbeitet beim Tagesspiegel in Berlin. Er ist eher der entspannte Typ. 32

echauffier #1


About an Education

Fabian Wolff ereifert sich über einen seiner Meinung nach »ekligen« Film, der, ohne mit der Wimper zu zucken, ein altes antisemitisches Klischee nach dem anderen auspackt, hübsch verpackt in intellektuell anmutendes IndependentPopcornkino von Fabian Wolff

Es gibt da ein Wort: Jude. Ein gutes Wort, finde ich – stark, schneidend und zerbrechlich. Irgendwie altmodisch. Man hört das Wort nur selten. Ich selbst benutze es auch nicht sehr oft und bevorzuge »member of the tribe« oder »einer von uns«. Dabei würde ich das Wort gerne öfter hören und lesen. Aber es wurde verdrängt, von vorsichtigen Umschreibungen wie »jüdischen Glaubens« oder »jüdischer Herkunft«. Schade eigentlich. (Muss ich denn in die Synagoge gehen und an Gott glauben, um ein Jude zu sein? Nein, auch wenn das manche Leute – und ich rede nicht von Rabbinern, sondern von dummen goyischen Deutschen – nicht gerne hören.) Denn es ist kein schmutziges Wort, im Gegenteil. Und Judesein, als Fakt, ist erst recht nicht schmutzig. Schmutzig hingegen ist es, wenn es als leiser Vorbehalt oder Vorwurf durchschimmert und durchklingt. Aber überhaupt: »Die Juden sollen mal nicht so ein Gewese um ihr Judesein machen!« Wer Jude ist, das bestimmen in Deutschland die goyim immer noch selbst: eben durch ignorante und blinde Reduzierung des Judentums auf Religion. Das mag als Ausgleich zur rassistischen 3/8-Großväteraufrechnung der Nazis praktisch und gesund gewesen sein, führt aber heute dazu, dass so etwas wie vitales jüdisches Leben in der Öffentlichkeit quasi nicht stattfindet. Beziehungsweise: Es findet schon statt, es interessiert sich nur niemand dafür. Mit toten Juden hingegen hat niemand Probleme, und für die Identität als Deutscher ist das Wissen um Zyklon B sowieso wichtiger als der Unterschied zwischen Hanukkah und Hanuta. Denn: Ein Feind des Antisemitismus ist ja doch jeder, und sei es zur Not auch ohne die Juden. Oder wenigstens ein Feind dessen, was man für Antisemitismus hält. Ich selbst sehe es so: Antisemiten sind Arschlöcher, ebenso wie Rassisten, Sexisten, Homophobe und Islamo-

phobe Arschlöcher sind. Mehr gibt es da gar nicht dran zu deuteln. Man kann noch darüber reden, wie jemand antisemitisch ist, und wie man mit dieser Person dann umgeht, ob man sie meiden oder verbannen soll, und ob man ihr vorher noch einen Tritt gibt. So schicke ich mich jetzt an, einen Film zu treten. Er heißt »An Education« und bildet mit Oskar Roehlers »Jud Süß«-Travestie die antisemitische Doppelspitze des Kinojahres 2010. Ich würde ihn gerne verbrennen und zerschneiden, und säßen jetzt die Macher, Lone Scherfig und Nick Hornby, vor mir, ich würde ihnen beiden eins mit meiner Menorah verpassen. Dabei fängt es harmlos an: England, 1961. Die 16-jährige Jenny ist Musterschülerin und hat das Ziel, in Oxford zu studieren. Dann trifft sie David, wohlhabend, charmant, Mitte Dreißig. Mit ihm und seinen Freunden lernt sie eine andere Welt kennen, mit Jazz, Parties und Wochenendreisen nach Paris. Ihre Ambitionen schwinden dahin, denn Ehefrauen reicher Geschäftsmänner brauchen keine Universitätsabschlüsse. Dann zerbricht das Idyll, als sie hinter Davids Lügen sieht. Am Ende hört sie auf den Rat ihrer Lehrer und Eltern und verlässt ihn. Das ist alles ganz nett inszeniert und gut gespielt, wenn auch mit leicht konservativer Moral am Ende. Nur: David ist Jude. Und er ist gierig, verlogen, leicht pervers. Wurzellos und kriminell zieht er durch die Welt und verführt kleine Christenmädchen. Dadurch wird der Film natürlich noch nicht antisemitisch. Manche Juden sind schlechte Menschen, natürlich. Es soll nur niemand auf die Idee kommen, dass das Eine mit dem Anderen etwas zu tun hätte. Aber genau das ist die psychologische Erklärung, die der Film anbietet: »So sind wir nun einmal« zuckt David apologetisch mit den Achseln und seine

betrogene Ehefrau erklärt der ebenfalls betrogenen Jenny: »Er kann nichts dafür.« David, so der Film, ist böse, weil er Jude ist. Das ist alles wirklich ekelhaft. Noch ekelhafter : Dass das in Deutschland fast niemand gemerkt hat, dass er sich, durch seinen Retro-Charme, zum Indie-Kultfilm der Saison entwickeln konnte. In keiner großen Tageszeitung war zu lesen, dass da gerade ein echtes Remake von »Jud Süß« in den Kinos läuft. Das wurde einfach ignoriert, ebenso wie Davids Judesein überhaupt. Als ob man sich nicht traute, es auszusprechen. Im ohnehin schon dummen Tagesspiegel stand dafür der Satz »David mit dem sprechenden Nachnamen Goldman«. Und eben dort beginnt das Unglück: Weil Unwissen und Indifferenz gegenüber der jüdischen Thematik herrscht, kann sich Schmutz wie »An Education« unbehelligt ausbreiten. »Damit kennen wir uns nicht aus! Eine fremde Welt!« werfen die dummen Deutschen die Arme in die Luft und freuen sich auf die nächste Dokureihe von Guido Knopp. Jüdisches Leben in der Öffentlichkeit: Ja, das wäre schön. Redet mit uns und nicht über uns. Es würde ja schon reichen, mal Fragen zu stellen. Fabian Wolff, 21, ist Student und schreibt u. a. für Intro, die Jüdische Allgemeine, Brennpunkt F! und driftermagazin.de.

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Sie dürfen den Partner nicht küsseN von Kai Mertig Es ist doch kurios. Als im Jahr 2001 Bayern gemeinsam mit Sachsen und Thüringen vor das Bundesverfassungsgericht zog, um ein Normenkontrollverfahren gegen das über Jahre hinweg umkämpfte Lebenspartnerschaftsgesetz einleiten zu lassen, war von Links her helles Jauchzen zu vernehmen, man freute sich über die Niederlage der christdemokratisch regierten Länder, die es nicht schafften, der Institution Ehe eine inakzeptable Vormachtsstellung einzuräumen. Damals begründeten die drei Länder ihren Antrag unter Berufung auf den gebotenen Schutz von Ehe und Familie. Sie argumentierten, die Lebenspartnerschaft schade dem Bild der Ehe in einer Weise, die nicht zu verantworten sei. Bayern, Sachsen und Thüringen scheiterten fulminant – zum Glück für all jene, die sich unterdessen für die Gleichstellung von Regenbogenfamilien stark machten und sich an Werten orientierten, die viel eher ins 21. Jahrhundert passen. Seit 2001 hat sich vieles getan, zum Guten wie zum Schlechten. Das mag man der Sache zugestehen. Mittlerweile darf Frau ihre Frau heiraten, Mann seinen Mann, die Rechtslage wurde in einen wesentlich faireren Rahmen gebracht als noch vor zehn Jahren. Lesben und Schwule können sich nun in einer Institution einrichten, die der Ehe in zahlreichen Rechtsbereichen auf gleiche Höhe gestellt ist, vor allem was Güter-, Erbschafts-, Steuer- und Sozialrecht betrifft. Freilich lassen sich noch einige mehr benennen. Eine andere Frage drängt sich da aber trotz allem auf. Sie ist grundsätzlich und geläufig. Deswegen einmal sehr deutlich: Warum wird die Ehe unter besonderen Schutz durch das Grundgesetz gestellt, während neuen Lebensformen diese Gunst vorenthalten ist? Mit welchem Recht? Seit der Einführung des deutschen Lebenspartnerschaftsgesetzes und seiner Erweiterung in den vergangenen Jahren wurde der Rechtsraum detailliert ausgelotet, Feinheiten abgestimmt. Freilich, es wurde gebaut in die richtige Richtung, die Gleichheit vor dem Gesetz ständig weiterverfolgt. Der Adoption sind homosexuelle Paare im Vergleich zu heterosexuellen hierzulande zwar noch immer ungleichgestellt, was heißt, dass aktuell ausschließlich leibliche Kinder aus einer früheren heterosexuellen Beziehung eines der Partner in die Familie aufgenommen werden darf. Und auch über die Angleichung der Erbschaftssteuer diskutieren die regierenden Parteien seit Monaten an oberster Stelle. Genauso bleibt offen, mit welcher Begründung soeben erst lesbischen Paaren das Recht versagt wurde, eine künstliche Befruchtung durchführen zu lassen. 34

Und wenn dann zusätzlich der CDU/    CSU-Fraktionschef Äußerungen laut werden lässt, die sich in der Tat nur allzu schwer halten lassen und nichts anderes als aus der Luft gegriffen sein können, nämlich, dass Kinder generell nicht wünschten, bei gleichgeschlechtlichen Paaren aufzuwachsen, kommt das öffentliche Gespräch – versteht sich von selbst – an seinen Siedepunkt. Das sind die Kinderkrankheiten unserer Politik: Konservative, die das Land nicht braucht und die sich auf Begründungen stützen, die faktisch oft nicht einmal zu belegen sind. Der Papst nickt dann immer und gibt seinen Segen. Es geht natürlich darum, einen konservativen Ton in solchem Bezug scharf zurückzuweisen; aber viel mehr noch geht es um etwas anderes, um die Ehe-Frage nämlich und das wird verschleiert – oder zumindest falsch wahrgenommen. Es geht darum, dass Lebenspartnerschaft und Ehe nicht das Gleiche sind und darum, dass sich Wertvorstellungen und die mit ihnen verbundenen Begriffe mit der Zeit ändern. Sie müssen passen, jedoch nicht in der Weise, dass lediglich neue Wörter in unseren juristischen Kanon eingeschleust werden, die dann einen eigenen Denkraum erzeugen; sondern insofern, als dass der Sinngehalt alter Begriffe erweitert wird. An eine gleichgeschlechtliche Ehe zu denken, das kommt der deutschen Rechtsprechung nicht in den Sinn, sie hält an der Lebenspartnerschaft fest, wie der Ochse, der das rote Tuch sieht. Sie begnügt sich mit Ideen politischer Spekulanten und versäumt es, Konzepte zu überarbeiten, die ohnehin längst nicht mehr in unsere Wirklichkeit passen. Ein Blick ins Ausland genügt, um sich vernünftiger Alternativen bewusst zu werden, tatsächlicher Alternativen, die dazu überdies noch wunderbar funktionieren. In Belgien können homosexuelle Paare den Bund fürs Leben in Form einer gleichgeschlechtlichen Ehe eingehen, ohne dass dies einem traditionellen Familienbild in irgendeiner Weise im Wege stehen würde. Dort funktioniert die Aufwertung eines Begriffes von Ehe ohne Probleme, auch ohne am historischen Kontext allein haften zu bleiben. Das stellt ein gutes Beispiel dafür dar, wie der Begriff sinnvoll erweitert wird und rechtliche Minderheiten gekonnt integriert werden. Was der Debatte in Deutschland vollkommen fehlt: Grundsätzlicher Widerspruch. Ein Gesetz, das mit verbalen Alternativen hantiert, ungelenk mit Begriffen wie »Angleichung« und »Aufhebung« arbeitet, statt von Erweiterung und Scheidung zu sprechen. Lieber denkt man sich in Berlin alles neu. echauffier #1


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Es soll nicht darum gehen, eine Rechtslage in Frage zu stellen, die darum bemüht ist, neuen Lebensformen ähnliche Verhältnisse zu bescheren. Das wäre ein fatales Missverständnis. Das Eine geht mit dem Anderen Hand in Hand. Es geht darum, dass uns ein Grundsatzdiskurs darüber fehlt, wie Regenbogenfamilien herkömmliche Muster erweitern dürfen, und zwar als wesentlicher Teil unserer gesellschaftlichen Identität. Diese Identität schläft zunehmend ein, am ehesten von den Jüngsten her. Denn was sich im Allgemeinen verzeichnen lässt, ist im Speziellen nicht anders, vom abflauenden Interesse an politischer Initiative ist hier die Rede, von Demonstration und politischer Interaktion, die abseits von CSD -Partys funktioniert. Allerorts schlafen homosexuelle Interessenverbände ein oder es wird ihnen das Geld aus fehlender Initiative entzogen. Gerade in ländlichen Regionen verebbt das politische Engagement derer, die für ihre eigenen Interessen eintreten müssten. Wer dieses Problem realisiert, sollte auch empört sein über die stillschweigende Ruhe in der deutschen Gleichstellungspolitik. Ein Aufruf! Weil es um Freiheitsrechte und Gleichheit geht. Weil sich Rechte nur erhalten, wenn aktiv für sie eingetreten wird. Die deutsche Bundespolitik benötigt keine dringende Orientierung an Zielen wie der Angleichung des Bafögs für den Lebenspartner von der ersten Stelle her, sondern endlich einen radikalen Umbau des Lebenspartnerschaftsgesetzes mittels einer Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Anderes folgt danach. Sie benötigt darüber hinaus – wie es auch die BAG Schwulenpolitik der Grünen seit längerem fordert – einen umfassenden, wirksamen Schutz vor Diskriminierungen durch ein Antidiskriminierungsgesetz. Sie benötigt die Schaffung eines Rechtsinstituts für homosexuelle Paare. Sie benötigt eine aktive Gleichstellungspolitik. Sie benötigt eine Auslandspolitik, die sich gegen die Verfolgung von Schwulen und Lesben im Ausland wendet, und – das nicht zuletzt – die Aufarbeitung und Entschädigung derjenigen, die im Dritten Reich und mittels § 175 aufgrund ihrer sexuellen Lebensweise verfolgt und geschädigt wurden. All das zusammen ergibt eine neue Agenda, die an erster Stelle stehen muss. Danach können wir weiterreden: Meinetwegen über Bafög und Adoption.

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echauffier #1


Studentischer Mikrokosmos Der Mikrokosmos wird für die meisten vom Studentenleben so weit entfernt sein wie der Pluto vom Planetenstatus, steht doch das Studium immer noch für unbegrenzte Freiheit und ein gammliges Leben. Dass die Realität anders aussieht, merkt man erst, wenn man mal drin steckt. von Maja-Lisa Müller

Gemeckere über das Bachelor-Master-System ist so alt wie die Einführung desselbigen, aber ich möchte nun einmal den Teil beleuchten, an dem wir vielleicht selbst schuld sind, nämlich unsere Abkapselung von alldem, wofür wir keine Credit Points bekommen. Also holt eure Textmarker raus, es könnten vielleicht wichtige Passagen kommen! An der geisteswissenschaftlichen Universität, an der ich immatrikuliert bin, sehen sich die Studierenden mit zwei großen Problemen konfrontiert. Erstens, die Rechtfertigung vor Anderen. Jede(r) Studierende, der sich auf das geisteswissenschaftliche Feld gewagt hat, wird vermutlich schon 200 Mal die Frage von seiner Großmutter, dem Patenonkel oder der alten Klassenlehrerin gehört haben: »Hmmmm….Philosophie  / Kommunikationswissenschaft    /  Soziologie? Aber was willst du denn damit mal machen?«. Nun gut, die Großmütter, Patenonkels oder alten Klassenlehrerinnen, die solche Fragen stellen, haben vermutlich selbst den geradlinigen Berufsweg gewählt und daher selten Verständnis für Fächer, die aus Interesse her belegt werden, trotz alledem beginnen die Zweifel an uns zu nagen. Der zweite Punkt wäre die Rechtfertigung vor uns selbst. Späterer Beruf hin oder her, aber haben wir denn überhaupt einen Nutzen, wenn das Studieren und Produzieren von »Texte über Texte« und »Bücher über Bücher«

alles ist, was wir tun? Verlieren wir beim ewigen Hinaufsteigen auf der Metaebenen-Leiter nicht irgendwann den Kontakt zum Boden? Hat nicht jeder Handwerker uns gegenüber einen gewaltigen Vorteil, da er sein Produkt und den Zweck, den es hat, direkt erfahren kann? Diese Minderwertigkeitskomplexe der sogenannten Bildungselite mögen wie Meckern auf hohem Niveau anmuten, sind aber Konflikte, die wir tagtäglich austragen. Wenig hilfreich an dieser »Angstspirale« ist die Tatsache, dass man der Institution Studium  / Universität kaum entkommt. In der wenigen Freizeit, die gewissenhaftliche »Ich möchte meinen Bachelor auf alle Fälle in sechs Semestern schaffen«-Student_innen noch haben, treiben sie sich auf Studenten-Partys oder im Uni-Café herum, begleitet von den Kommilitonen, von denen es jedem noch schlechter geht als einem selbst. Andere Gesprächsthemen als der universitäre Alltag sind fast nicht mehr möglich, außerstudentische Interessen kaum vorhanden oder es fehlt die Zeit und als ich das letzte Mal unter meinen Literaturwissenschafts-Kommilitonen nachfragte, ob jemand gerade ein Buch liest, das nicht für die Uni benötigt wird, war betretenes amKopf-Kratzen die einzige Antwort. Extrem und nicht gerade gesundheitsförderlich wird es dann in den Prüfungsphasen, oft hat man von Leuten gehört, die tagelang nur

mit einem Minimum an Essen und Schlaf vor den Büchern saßen und lernten. Es ist nicht schön, mit anzusehen, wie die beste Freundin die Weihnachtsferien mit tiefen Augenringen antritt oder der Mitbewohner regelmäßig vor Klausuren durchmacht. Was ist mit unserer persönlichen Weiterbildung? Wie soll man die denn noch mit einplanen, wenn man noch nicht einmal den regulären Uni-Kram auf die Reihe bekommt? Eigentlich sollte bei uns als Student_innen eine Freude am Lernen und Wissbegier vorausgesetzt werden, stattdessen leiden wir alle an der berüchtigten Lern-Bulimie und können gerade Mal die benötigten Leistungspunkte zusammenrechnen. Was lernen wir also daraus? Vermutlich nichts, denn es gibt ja keine Punkte dafür. Wer von ähnlichen Symptomen betroffen ist, kann sich ja gerne mal melden und wir gründen einen Selbsthilfeverein … »Früher war alles besser e. V.« oder so ähnlich. Vielleicht wird Pluto ja dann auch wieder in die Reihe der Planeten aufgenommen.

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Ikonen der Empörung: Erika Steinbach von Fabian Raith

Die wilde Erika, sie wütet wieder. Empörung über den Ivan, der ihr, im Alter von kläglichen drei Jahren, Haus und Hof nahm, und sie zur Zwangsmigrantin machte. Zusammen mit anderen Zwangsmigrant_innen steht sie dem Klamauk- und Komikverein »Bund der Vertriebenen« vor. Sie erkennt die Oder/Neiße- Grenze nicht an, da diese »einen Teil unserer Heimat abtrennt.«. Ihre Heimat, wo sie die ersten drei Lebensjahre verbracht hat. Eine Vertriebene, wie sie im Buche steht. Sie ist die Reinkarnation des Blitzkriegs, wenn es nach ihr ginge, wäre Polen ein deutscher Bundesstaat. Sie haut gern mal auf die Pauke, fordert eine Entschädigung der Vertrieben, die mit Hitler Polen besetzten und mit Hitler auch wieder gehen mussten. Meinungsstark vertritt sie unhaltbare Thesen. Wissenschaft ist nur Gewäsch, sobald man selbst betroffen ist und historischen Fakten kann man, sollte man, immer aus seiner subjektiven Sicht heraus beurteilen. Dass man alles auch anders sehen kann, beweist sie immer wieder. Danke, Erika Steinbach.

Impressum Projektleitung V.i.S.d.P.

Khesrau Behroz Sören Musyal Patrick Stegemann

Redaktion

Anne-Sophie Balzer Paul-Ruben Mundthal Maja-Lisa Müller Fabian Raith

Mitarbeiter dieser Ausgabe

Reinhard Hucke Michael Kranixfeld Prof. Dr. Friedrich Krotz Oliver Lysiak Kai Mertig Jan Oberländer Johannes Smettan Fabian Wolff

Design Druck Auflage

Ludger Jansen Sebastian Lechler primeline print, Berlin 1500

Anschrift echauffier – Redaktion Magazin für Empörung Klausener Straße 2 99099 Erfurt www.echauffier.de post@echauffier.de

Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Union durch das Programm »Jugend in Aktion« finanziert. Der Inhalt dieses Projektes gibt nicht notwendigerweise den Standpunkt der Europäischen Union oder der Nationalagentur Jugend für Europa wieder und sie übernehmen dafür keine Haftung.

Eine Anzeigenpreisliste kann angefordert werden. Schreiben Sie uns hierzu bitte einfach eine E-Mail. Die Textrechte liegen selbstverständlich bei den jeweiligen Autorinnen und Autoren.

Wir bedanken uns sehr herzlich bei Radio F.R.E.I. und beim hEFt für die freundliche Unterstützung. 38

echauffier #1


Freilich, wenn ihr den Zweifel lobt, so lobt nicht Das Zweifeln, das ein Verzweifeln ist! Bertolt Brecht



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