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John Bauer:Tyr and Fenrir, 1911

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Mythische Wolfsspuren in der Geschichte der Menschen : eine literarische Erkundung von Reinhard Ehgartner

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a sich die Götter vor der wachsenden Macht des Fenriswolfs zu fürchten begannen, schmiedeten sie Pläne, ihn mit einem feinen Zauberfaden zu bändigen. Zu Recht schöpfte der gewiefte Wolf Verdacht und verlangte als Sicherheit, dass ihm eine Hand ins Maul gehalten werde. Tyr wagte diesen Schritt und verlor tatsächlich seine Hand, denn die von den Alben aus Bärensehnen, Fischatem, Frauenbärten, Vogelspeichel und Katzengeräuschen gefertigten Zauberfäden schnürten den Wolf bei jeder Bewegung immer enger - und halten ihn nun bis zum Einbruch der Endzeit gefangen. Diese schaurige Geschichte um Macht und Angst, List und Rache stammt aus den nordischen Mythen und bietet vieles von dem, was das Verhältnis von Mensch und Wolf seit Jahrtausenden bestimmt und in der Literatur seinen Ausdruck fand.

Als der Mensch erschien und sich über die Erde auszubreiten begann, da war der Wolf schon da. In verschiedenen Arten entfaltet und über mehrere Kontinente verteilt, bildeten Wölfe über Hunderttausende von Jahren die am stärksten verbreitete Raubtierart. Als Jäger standen sich Mensch und Wolf als Konkurrenten gegenüber, daneben kam es aber auch zu einer wundersamen Annäherung: Wölfe waren die ersten Tiere, die von Menschen domestiziert wurden. Dass der Hund vom Wolf abstammt, ist endgültig bewiesen, wie aber diese Verwandlung vor sich ging, ist nach wie vor Gegenstand verschiedener Theorien und Hypothesen. Die Wolfsspuren, die sich so geheimnisvoll mit der Menschheitsgeschichte verknüpfen, haben sehr früh Abdrücke in unserer Kultur hinterlassen. Wo immer Mythen tradiert, Bilder gezeichnet oder frühe literarische

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