Gedanken über Fragen nach der Wirklichkeit

Page 1

Andreas Fritzsche

Gedanken

Ăźber Fragen nach der Wirklichkeit

fĂźr Marie und Timo


Inhalt

Wir Menschen suchen mit unserer Vernunft Wahrheit, wir streben mit unserem Willen oder Herzen nach dem höchsten Gut, nach unserem persönlichen Glück, und wir suchen mit den Sinnen nach Schönheit – und das alles so gut, wie wir es können, das heißt: bis zu der uns möglichen vollendeten Wirklichkeit. Diese Bewegung oder diesen Drang haben wir nicht gewählt, dieses Ziel legte der Schöpfer uns in die Wiege, weil wir eben Menschen sind. Letztlich geht es um die vier Fragen, wie sie Immanuel Kant so prägnant formulierte. Was kann ich wissen? Was soll ich tun?

Was darf ich hoffen?

Was ist der Mensch?

Die klassische Philosophie und die christliche Theologie bieten riesige Schätze, um Antworten auf die genannten Fragen zu finden. Diese Schatzkammer will das Buch öffnen.

Autor

Dr. Andreas Fritzsche, geb. 1955 in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), studierte katholische Theologie in Erfurt und Münster, promovierte in Philosophie und publiziert über Fragen der Ethik, Philosophie und Theologie. An den Universitäten Lüneburg und Hannover lehrte er Philosophie sowie angewandte Ethik. Er ist verheiratet, Vater von vier Kindern und Opa von vier Enkeln. www.dr-andreas-fritzsche.de

© 2019 Andreas Fritzsche


Inhalt Vorwort ........................................................................................................................................ 7 Acedia – der Tanz über dem Nichts .................................................................................. 9 Das Handeln folgt dem Sein: agere sequitur esse.................................................... 11 Anfang und Prinzip ............................................................................................................... 13 Aporie ......................................................................................................................................... 15 Aufklärung ................................................................................................................................ 17 Auge ............................................................................................................................................ 19 Authentisch sein .................................................................................................................... 21 Axiom.......................................................................................................................................... 23 Bauchgefühl ............................................................................................................................. 25 Berufsethos .............................................................................................................................. 27 Bewegung ................................................................................................................................. 29 Bild............................................................................................................................................... 31 Bildung ....................................................................................................................................... 33 Billigkeit .................................................................................................................................... 35 Bliss-Point ................................................................................................................................ 37 „böse“ .......................................................................................................................................... 40 Credo........................................................................................................................................... 42 Deutsch sprechen .................................................................................................................. 44 Dialog .......................................................................................................................................... 46 Ebenen der Wirtschaftsethik............................................................................................ 48 Ego ............................................................................................................................................... 49 Der ehrbare Kaufmann: Sein Wort gilt......................................................................... 51 Ens – das Seiende .................................................................................................................. 53 Entelechie – ein Ziel in sich haben ................................................................................. 55 Entgrenzung von Raum und Zeit .................................................................................... 58 Was ist Erfolg? ........................................................................................................................ 61 Erste und zweite Ursachen................................................................................................ 63 Wie erziehen wir unsere Kinder? ................................................................................... 65 Freiheit: anders können. .................................................................................................... 69 Freimut ...................................................................................................................................... 71 Freude ........................................................................................................................................ 73 Freundschaft ........................................................................................................................... 75


Führen ........................................................................................................................................ 77 Geist............................................................................................................................................. 79 Geist-Seele des Menschen .................................................................................................. 83 Gelassenheit............................................................................................................................. 85 Das „liebe“ Geld ...................................................................................................................... 87 Der moderne Midas .............................................................................................................. 89 Gerechtigkeit – die Andere im Blick haben ................................................................ 91 Gespräch.................................................................................................................................... 93 Gewissen ................................................................................................................................... 95 Glaube......................................................................................................................................... 96 Glück ........................................................................................................................................... 99 Glücksökonomie ................................................................................................................. 101 Gott – ein Gattungsbegriff ............................................................................................... 103 Wer ist Gott? ......................................................................................................................... 105 Gott – warum bist Du so schweigsam? ...................................................................... 107 Gott – wir brauchen ihn. .................................................................................................. 109 „gut“.......................................................................................................................................... 111 Habitus .................................................................................................................................... 113 Wasserscheide: hedone – eudaimonia ...................................................................... 115 Heimkino................................................................................................................................ 117 Herrschaft .............................................................................................................................. 119 Herz .......................................................................................................................................... 121 Homo ludens ........................................................................................................................ 123 Homo oeconomicus ........................................................................................................... 128 Hypothese .............................................................................................................................. 129 Idealismus und Realismus .............................................................................................. 130 Idee ........................................................................................................................................... 134 Ikone ........................................................................................................................................ 136 indifferent .............................................................................................................................. 138 Indikativ und dann erst der Imperativ...................................................................... 140 Intuition .................................................................................................................................. 142 Irrtum ...................................................................................................................................... 144 Kampf der Kulturen........................................................................................................... 146 Katharsis ................................................................................................................................ 148 Klugheit .................................................................................................................................. 150


Kosmos.................................................................................................................................... 152 Kultur....................................................................................................................................... 154 Kündigung ............................................................................................................................. 156 Seven: Laster – Todsünde ............................................................................................... 158 Wofür lohnt es sich zu leben? ....................................................................................... 160 Licht.......................................................................................................................................... 162 Liebe......................................................................................................................................... 164 Logik des Herzens .............................................................................................................. 166 Logos ........................................................................................................................................ 168 Lust als Grundlage der Ethik ......................................................................................... 170 Macht ....................................................................................................................................... 173 Mainstream ........................................................................................................................... 176 Mainstream-Philosophie ................................................................................................. 178 Maß: Temperantia.............................................................................................................. 180 Materie .................................................................................................................................... 183 Metaphysik ............................................................................................................................ 185 Motivator No. 1: Freude ................................................................................................... 187 Muße ........................................................................................................................................ 190 Mythos..................................................................................................................................... 192 Nachhaltigkeit ...................................................................................................................... 194 Der Name ............................................................................................................................... 196 Natur ........................................................................................................................................ 198 Nihilismus .............................................................................................................................. 200 Odyssee ................................................................................................................................... 202 Ordnung der Güter............................................................................................................. 205 Ordnung der Werte ........................................................................................................... 207 Ordo amoris .......................................................................................................................... 209 Philosophie............................................................................................................................ 211 Philosophieren als Christ ................................................................................................ 213 Scham ...................................................................................................................................... 216 Schicksal – gibt es das? .................................................................................................... 218 Die Schönheit Gottes ......................................................................................................... 221 Schönheit ............................................................................................................................... 223 Seele ......................................................................................................................................... 224 Skepsis .................................................................................................................................... 227


Sophistische Rhetorik....................................................................................................... 229 Spielwitz ................................................................................................................................. 230 Sprechen................................................................................................................................. 232 Staunen ................................................................................................................................... 234 Subsidiarität ......................................................................................................................... 236 Sünde ....................................................................................................................................... 238 Symposion ............................................................................................................................. 240 Temperantia – die Tugend des Maßes ...................................................................... 242 Transzendent – transzendental ................................................................................... 244 Transzendentalien ............................................................................................................. 246 Ursache ................................................................................................................................... 248 Verantwortung .................................................................................................................... 250 Vernunft und Leidenschaft ............................................................................................. 252 Vernunft – zwei Vermögen und doch eine .............................................................. 254 Verstehen – ein paar Differenzen ................................................................................ 256 Vertrauen senkt die Transaktionskosten................................................................. 257 Wahrheit ................................................................................................................................ 259 Wandern................................................................................................................................. 262 Weisheit – und zwar die menschliche ....................................................................... 264 Werte und Güter ................................................................................................................. 266 Wertschätzung..................................................................................................................... 268 Wesen und Eigenschaften............................................................................................... 270 Wirklichkeit .......................................................................................................................... 273 Wirklichkeit und Möglichkeit........................................................................................ 275 Würde des Menschen ....................................................................................................... 277 Zeit ist Leben. ....................................................................................................................... 280 Ziel ............................................................................................................................................ 282 Zinsen ...................................................................................................................................... 284 Zum Schluss die Frage: Was bleibt? ........................................................................... 286


Vorwort Jeden Monat schreibe ich seit 2007 einen „Gedanken“ und versende diesen per Email an Menschen, die sich für Themen der Philosophie interessieren. So entstanden über die Jahre 136 solcher „Anregungen des Monats“. Dabei habe ich den Anspruch, knapp und bündig 1 Begriffe, Beobachtungen aus Gesprächen und anderen Situationen darzulegen und einen philosophischen Beitrag zu strittigen Themen zu liefern. So entstand unter der Hand ein kleines Lexikon oder Nachschlagewerk. Die Leserin kann also ein paar Gedanken lesen und muss sich nicht das Buch von Deckel zu Deckel zumuten. Inspiriert wurde ich durch das wunderbare Buch von Blaise Pascal „Pensées sur la Religion” – Gedanken über die Religion.

Provoziert werde ich von der aktuellen Phrasendreschmaschine, mit der klares Denken vernebelt und die Urteilsfähigkeit behindert wird.

Die klassische Philosophie und die christliche Theologie bieten große Schätze, die uns helfen können, dass unser Leben gelingen kann. Diese Schatzkammern möchte ich öffnen und der Leserin zur Verfügung stellen. Einen roten Faden wird die Leserin entdecken. Mich beschäftigt durchgängig der Bliss-Point (Bliss-Point – Sättigungspunkt) und diesen möchte ich mit einer Metapher erläutern. An den Säuglingen sieht man sehr schön, was „stillen“ heißt. Wenn die Kleinen Hunger haben, schreien sie, nörgeln und tyrannisieren alle anderen. Werden sie dann „gesättigt“ und gestillt, benehmen sie sich völlig anders. Nach der Portion Milch liegt der Wonneproppen entspannt, ruhig und alle Viere von Als Ratsherr lernte ich, auf der Rathausdeele mein Anliegen in drei, höchstens fünf Minuten vorzutragen, oder ich erreiche die Anderen nicht, weil keiner mehr zuhörte. „Rede so, dass dich auch deine Oma verstehen kann“, war die Maxime. Darüber kann man streiten, aber etwas ist dran.

1

7


Vorwort

sich gestreckt auf der Decke. Was will man mehr vom Leben? Wir möchten gern mit ihm tauschen.

Bei dem Kleinen kann man vielleicht noch von Bedürfnisbefriedigung sprechen, doch greift dieses Satisfaktionsmodell schon bei vielen Kindern und Teenagern nicht mehr. Sie wollen mehr. Menschen bewegt eine Sehnsucht nach Sättigung. Was macht meine Seele satt? Was füllt mich wirklich aus? Die Leserin bitte ich um Geduld mit sich selbst, mit den nichtalltäglichen Gedanken und meinem Versuch, angemessene Worte und ansprechende Metaphern zu finden. Der geduldige Aufwand lohnt, denn es geht immerhin um ein angemessenes Verhältnis zur Wirklichkeit. Die entscheidende und wirklich wichtige Frage ist doch:

Wie können wir in Wahrheit und in Freundschaft mit uns selbst, mit anderen und mit Gott leben?

8


Acedia – der Tanz über dem Nichts Dieses Laster wird im Deutschen fast immer mit Faulheit übersetzt, denn wir Deutschen sehen schon das Nichts-Tun als Laster – frei nach dem Motto „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ – an und meinen, fleißig sein sei schon Tugend. Sehr viele sagen „Heute war ich fleißig“ und wollen dafür gelobt sein. Da bleiben allerdings die Fragen offen: Worin war ich heute fleißig? Was habe ich fleißig verfolgt? Wahrscheinlich ist der gegenwärtige Aktionismus, der sich nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Politik und in der ökologischen Weltrettung austobt, die Krankheit unserer Zeit, weil Muße und Gelassenheit abhandengekommen sind. Erstaunlicherweise rührt Aktionismus vom Laster der Acedia. Eine innere, gähnende Leere macht sich im Herzen breit, was auf die Dauer keiner aushält und sich darum in die tollsten Projekte stürzt. Äußere Rastlosigkeit soll vom Nichts im Inneren ablenken, es übertünchen und vergessen machen.

Was ist nun Acedia? Mit einem Wort kann man das im Deutschen nicht sagen, und folgende Übersetzungsversuche bieten sich an: Sorglosigkeit, Nachlässigkeit, Nichtsmachenwollen, Trägheit, Faulheit, Traurigkeit, Melancholie, Widerwille und Überdruss. Jedes dieser Worte spricht jeweils einen Aspekt an, bringt jedoch nicht das ganze Phänomen der Acedia zum Ausdruck. Sorglosigkeit wäre die genaue Übersetzung, denn das lateinische Wort „acedia“ übersetzt das griechische Wort „akedeia“ und bedeutet „ohne Sorge“. Umgangssprachlich sprechen wir auch von einem sorglosen Mensch, was ja kein wirkliches Kompliment ist, und damit nahe an der griechischen Bedeutung. Der Geist – oder die Seele oder das Gemüt – eines Menschen ist so niedergedrückt und erschlafft, dass derjenige keine Lust und Motivation hat, etwas zu tun. Traurigkeit (tristitia) verdunkelt das Innere und macht alles „trist“, so dass die eigenen Begabungen, Talente und Charismen nicht mehr wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Wenn sie doch entdeckt werden, dann werden sie sogar verachtet und mit Widerwillen beargwöhnt. Diese maßlose Traurigkeit beschwert die Seele und alles – in der Tat alles – wird ohne nachvollziehbaren Grund zur Last. 9


Acedia – der Tanz über dem Nichts

Schwere, Last, Trägheit ziehen wie die Gravitationskraft die Seele nach unten. Was zieht nach unten? Die innere Leere. Widerwille gegenüber allem folgt aus der inneren Leere.

Wenn man fragte „Wofür lohnt es sich zu leben?“, würde der Mensch, welcher der Acedia erlegen ist, „Nichts“ antworten, weil sein Herz leer ist. Dann gibt es in der Welt nichts mehr, wofür es sich lohnen würde, auch nur irgendetwas zu tun. In dieser Hinsicht ist Acedia Faulheit – ein Nichtstun aus Sinnlosigkeit. Das ist Nihilismus in seiner ethischen Form, und wie ihn Juli Zeh in ihrem Roman „Nullpunkt“ beschreibt, tritt dieser ethische Nihilismus bei wohlhabenden und ganz besonders bei intelligenten Menschen auf. Bei ihnen äußert sich Acedia als geistreich brillierender Zynismus, der wortgewandt über alles einen Eimer Gülle ausschüttet. Warum soll Acedia ein kapitales Laster sein? Das Herz ist leer, weil es nicht liebt. Liebe füllt und belebt das Herz. Alles, was die Liebesfähigkeit eines Menschen korrumpiert, ist ein kapitaler moralischer Fehler. Keine Liebe, keine Kinder, keine Zukunft – was soll tödlicher sein als das?

Wie tritt Acedia nach außen? Was sind ihre Erscheinungsformen? Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung; Feigheit als gespielte Bescheidenheit; Stumpfheit gegenüber seinen persönlichen Pflichten mit Faulheit, Schläfrigkeit, Nachlässigkeit als Folge; Zynismus, Groll und Bitterkeit; Ausschweifung, Rücksichtslosigkeit, Geschwätzigkeit – viele Worte um Nichts; Unruhe des Körpers, die einen unruhigen Geist offenbart; Rastlosigkeit und Wankelmut. Solch ein Mensch zieht sich von dem zurück, was ihn traurig macht, nämlich seine Begabungen und bekämpft sie mit intellektuellen Fähigkeiten. Schließlich geht er zu dem über, was ihm augenblicklich Lust verschafft, von der Leere des Herzens ablenkt und kitzelt. Er läuft vor sich weg und verliert sich in Aktionismus, um ja keine Minute der Besinnung eintreten zu lassen; oder ein solcher Mensch gibt sich lustvoll seiner Traurigkeit hin und genießt die Melancholie.

10


Das Handeln folgt dem Sein: agere sequitur esse. Vor Jahren stolperte ich über einen mittelalterlichen Merksatz: „agere sequitur esse“ – das Handeln folgt dem Sein – und diesen Satz möchte ich Ihnen mitteilen. Was ist damit gesagt?

Wie wir sind, so handeln wir. Aus dem persönlichen Sein entspringen die Handlungen. Sind wir frohen Mutes, so prägt diese Zuversicht unsere Aktionen; sind wir mit uns selbst im Klaren, so fließt diese Ordnung in unsere Handlungen ein. Darum waren für Sokrates die Aufmerksamkeit und Sorge um sein inneres Sein so wichtig, dass er dafür manche Ablehnung hinnahm. Das hat mit einer egoistischen Suche nach Seelenheil nichts zu tun, denn nur derjenige, der mit sich selbst befreundet ist, kann auch mit anderen befreundet und langfristig erfolgreich sein.

Es gibt eine Ethik des Erfolgs. Der in seinem Leben Erfolgreiche ist klug, gerecht, tapfer und maßvoll. Diese Charakterzüge bzw. Haltungen bewähren sich seit dreitausend Jahren in unserer Zivilisation und beschreiben den sittlichen Charakter dessen, der sein Ziel zu erreichen sucht. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß gestalten das praxisorientierte Denken und den handelnden Willen. Wer sich mit diesen Tugenden in Form bringt, dem wird auch sein Leben glücken. „Agere sequitur esse“ – das Tun folgt dem Sein.

Wer ist der Erfolgreiche? Der Erfolgreiche ist erst einmal ein Mensch mit Haut und Haaren, mit Leib, Seele und Geist, mit Talenten, Neigungen und Leidenschaften. Darin sind wir alle gleich. Ungleich sind wir in der ganz persönlichen Art und Weise der Talente, Neigungen und Leidenschaften, auch in der konkreten Gestaltung des Leibes und der Seele sind wir schrecklich ungleich. Diese Gleichheit und Ungleichheiten sehe ich als Chance eines Reichtums. Wie können wir mit unseren unterschiedlichen Talenten wuchern?

Tugendethik, welche Verstand und Wille zuverlässig gestalten möchte, führt Menschen zur festen Haltung und zu guten Gewohnheiten, so dass sie sich auf sich selbst verlassen können. Dadurch wird Höchst11


Das Handeln folgt dem Sein: agere sequitur esse.

leistung möglich, die persönlichen Potentiale können realisiert werden. Tugendethik nimmt das innere Sein der Person in den Blick – etwas, was sie immer bei sich hat und die Basis jeglicher Praxis ist. Sie schaut auf den Charakter eines Menschen, sozusagen auf seine zweite Haut. Ist der Charakter gut gelungen, dann sieht dieser Mensch, was zu tun ist, und hat seinen Willen so im Griff, dass er tatsächlich das tut, was er will. Die vier Dreh- und Angelpunkte des Charakters sind die Tugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Mut und Maß; sie qualifizieren das innere Sein eines Menschen. Ist dieses Sein in Ordnung, gelingen ihm seine Aktionen. Ist der Charakter verdorben, misslingt die Praxis.

Das Glück liegt im Handeln, wenn es denn von Gott gesegnet wird, und die Qualität unseres Tuns folgt unserem inneren Sein – agere sequitur esse.

12


Anfang und Prinzip Wenn wir das lateinische Wort „principium“ einfach ins Deutsche mit „Prinzip“ übersetzen, denken wir sofort an Logik oder an einen Prinzipienreiter. Der Lateiner hört das Wort etwas anders: „Principium“ heißt auch „Anfang“, und so beginnt die Bibel. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Genesis 1,1) und auch das Johannesevangelium fängt so an „Am Anfang war das Wort – In principio erat verbum – En arche en ho logos“ (Johannes 1,1). Die ersten Philosophen, die sogenannten Vorsokratiker, suchten nach der „arche“ (griechisch für principium), nach dem Anfang. Thales von Milet meinte, Wasser wäre am Anfang gewesen. Sein Schüler Anaximander fand den Anfang in etwas Unbegrenztem, dem „apeiron“. Heraklit meinte, am Anfang sei Feuer. Wir modernen Menschen ziehen diesen Gedankengang weiter und sehen den Anfang im Urknall.

Warum ist der Anfang so interessant? Menschen suchen den Anfang mit einer ganz bestimmten Vermutung. Wenn man den Anfang – also das Prinzip – habe und verstehen würde, dann habe man auch den ganzen Sachverhalt verstanden. So fragen wir zum Beispiel nicht nur Kinder bei einem Streit: Wer hat denn angefangen? Wir vermuten nämlich, so den Streit zu verstehen und den Schuldigen zu finden.

Prinzip steckt noch in einem anderen Wort: „Princeps“ heißt der Führer, der Fürst, der Vornehmste und der Herrscher. So betitelte Niccolo Machiavelli sein berühmtes Buch „Il Principe“, zu Deutsch „Der Fürst“. Im antiken, klassischen Athen hieß der höchste Beamte der Demokratie „archont“, was nicht unbedingt „Anfänger“ bedeuten muss, sondern wohl eher „Herrscher“, weil „archein“ herrschen meint. Das Prinzip regiert also die Sache, ordnet die einzelnen Teile zu einem sinnvollen Ganzen und verursacht ganz bestimmte Bewegungen. Dann gibt es noch die Redewendung „Aller Anfang ist schwer.“ In der Tat machen wir die Beobachtung, dass zum Beispiel ein Auto beim Anfahren sehr viel Energie verbraucht, dass beim Schreiben einer Haus13


Anfang und Prinzip

arbeit die erste Seite ein Riesenakt ist und dass die meisten guten Vorsätze am fehlenden Anfang scheitern. Auf den Anfang kommt es eben an. Der Start eines Flugzeugs ist gar nicht so leicht. Das finden wohl die meisten Fluggäste so. Wenn der Start gelungen ist, macht es ja der Autopilot, und kaum einer bibbert noch.

Das Prinzip scheint also der Dreh- und Angelpunkt einer Sache zu sein.

14


Aporie In der Philosophie tauchen Wörter auf, die wir umgangssprachlich nicht benutzen. Dazu gehört auch „Aporie“. Häufig versteht sich so ein Wort von seiner Herkunft her.

Das griechische Wort „poros“ heißt Durchgang, Furt, Weg. Stellen Sie sich einfach einen Kaufmann vor, der mit seinem Wagen voller Seide unterwegs ist und einen Markt erreichen will, um seine Ware zu verkaufen. Da versperrt ihm ein Fluss den Weg und er kommt nicht weiter. Mit voller Aufmerksamkeit sucht er eine Furt, um auf die andere Seite des Flusses zu kommen. Es gelingt ihm nicht, einen Weg zu finden, obwohl er intensiv sucht und sich dabei alle Mühe gibt. Er bleibt stecken, weil er sich in einer Ausweglosigkeit – in einer Aporie – befindet und kann den widrigen Fluss nicht überqueren. Das griechische Wort „aporía“ heißt Unwegsamkeit, Ratlosigkeit, Verlegenheit, Not, Schwierigkeit und Unmöglichkeit. Wenn man es wörtlich nimmt, „ohne Furt“, „ohne Weg“ sein. Auch beim Nachdenken oder im Gespräch kommen wir bisweilen in solch eine Situation. Eine Frage stellen wir uns und kommen ganz munter voran. Doch auf einmal taucht eine Schwierigkeit auf, die uns den Weg zur Lösung versperrt, und wir bleiben zum Beispiel im Pro und Contra stecken: Ist der Mensch frei? Hier lassen sich gleich viele Argumente für die These, dass der Mensch frei sei, wie für die Gegenthese, dass der Mensch nicht frei sei, anführen. Zumindest kommt Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft hier nicht weiter.

Wie können wir mit solchen Aporien bzw. aporetischen Situationen umgehen? Eine Möglichkeit geht immer: Wir halten uns an das, was gegenwärtig gilt, an die öffentliche Meinung, an den Mainstream. Der Vorteil dabei ist, dass das, was gegenwärtig gilt, nicht begründungspflichtig ist und wir nirgendwo anecken. Allerdings hat die öffentliche Meinung auch Nachteile: Sie liegt nicht immer richtig und ändert sich manchmal rasant schnell. Die Achtundsechziger, um bei unserem Beispiel zu bleiben, gingen von einer nahezu grenzenlosen menschlichen 15


Aporie

Freiheit aus. Im Gegensatz dazu wird gegenwärtig der Mensch als genoptimierende Biomaschine verstanden. Da gibt es keine Freiheit und Würde mehr. Freiheit wird als Illusion gedeutet, welche dem Genträger Selektionsvorteile bringt. Meines Erachtens hilft es erst einmal nur, die Aporie demütig anzuerkennen und stehen zu lassen. Auch der Kaufmann mit seinem Wagen voller Seide kommt nicht über den Fluss, wenn er ständig ruft „Ich will aber“. Vielleicht braucht die Lösung Zeit und irgendwann wachsen wir in die Antwort hinein. Eine andere und sympathische Variante der Aporie gibt es am Ende der Dialoge Platons. Nahezu alle Dialoge enden aporetisch, das heißt, ohne Ergebnis. Am Ende des Symposions schläft der Berichterstatter erschöpft ein, und so erfahren wir nicht die Lösung der Frage „Was ist Liebe?“ Warum macht das Platon so? Ist er zu faul, zuende zu denken? Meines Erachtens gibt es keine abschließende und immer gültige Antwort auf die Frage, was Liebe ist. Jede Generation oder jeder Mensch darf sich und muss sich um eine Antwort auf so eine Frage mühen. Eine abschließende, immer gültige Definition würden wir uns auch nicht bieten lassen.

Bisweilen sind Aporien nötig, damit wir uns nicht mit Vorgekautem zufriedengeben.

16


Aufklärung Bei aller Aktivität vergessen wir schnell, woher wir kommen und wohin wir gehen wollen. Ebenso schnell vergessen wir, wer wir sind und was uns wirklich wichtig ist. Darum erlaube ich mir das Thema aufzugreifen, dass ein syrischer Student im Sommersemester 2016 wählte: Er hielt ein Referat über Vernunft und seine Hausarbeit schrieb er über Aufklärung, weil wir im Seminar „Management und Philosophie“ dem Buch von Reinhard K. Sprenger, Das anständige Unternehmen, München 2015, und dem Aufsatz von Immanuel Kant „Was ist Aufklärung?“ Königsberg 1784, eine Sitzung gewidmet haben. Wenn uns Aufklärung wirklich wichtig ist, dann lohnt es sich, Kant zu Wort kommen zu lassen, denn besser kann man es nicht formulieren:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außerdem dass er beschwerlich ist, auch für sehr

17


Aufklärung

gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. … Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“2 Aufklärung bedeutet also nicht in erster Linie, sich von fremden Autoritäten, Repressalien oder äußeren Zwängen zu befreien. Aufklärung ist der Anspruch an eine Person, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und als mündiger, erwachsener Mensch zu leben. Unmündigkeit ist selbstverschuldet und artikuliert sich in der Opferrhetorik.

Ein Mensch, die Verantwortung für sein Leben übernimmt, unterzieht sich den Mühen, die Kriterien seiner Entscheidungen, seine Wertrangordnung und seinen Handlungsspielraum zu kennen. Freilich erfordert dieser Anspruch an sich selbst Energie und so jemand riskiert Scheitern, Ablehnung und Irrtum. Doch immerhin darf jeder Mensch an die Wahlurne gehen, den Urlaub selbständig auswählen und sogar Kinder erziehen. Was hindert also, auch die Verantwortung für das eigene Leben zu tragen?

Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Darmstadt 1983, S. 53 – 61, A 481 – 494. 2

18


Auge Beim Wort Auge denken wir zuerst an das Organ der visuellen Wahrnehmung. Es gehört zu den fünf Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung und ermöglicht uns neben dem Tasten, Schmecken, Riechen und Hören eben das Sehen. Die Augen nehmen visuelle Reize auf und geben dem Intellekt weiter, was sie vom gesehenen Gegenstand aufgenommen haben. Ob dann – zum Beispiel – der gesehene Baum tatsächlich so ist, wie das Auge ihn sieht, ist eine andere Sache. Sinnliche Reize teilen die Augen mit, nicht mehr und nicht weniger. Nun können die Augen auch erkranken. Dann muss eine Augenärztin aufgesucht werden, die zum Beispiel eine Bindehautentzündung diagnostiziert und kurieren kann. Wenn die Augenerkrankung behoben ist, steht das Sehvermögen wieder vollständig zur Verfügung. Bei manchen macht sich allerdings eine Augenerkrankung wie zum Beispiel der grüne Star so breit, dass das Sehvermögen teilweise oder ganz verloren geht. Das Auge als leibliches Organ muss also gesund sein, damit wir visuell wahrnehmen können. Damit die Augen etwas sehen können, benötigen sie neben der Gesundheit und dem Gegenstand noch ein Drittes: Licht. Im Dunkeln können wir zwar tasten, schmecken, riechen und hören, aber wir sehen nichts, selbst wenn die Augen gesund sind und der Gegenstand da ist. Die visuelle Wahrnehmung benötigt.

Nicht nur mit den leiblichen Augen sehen wir. Erinnern wir uns an etwas, dann kann das Erinnerte uns vor dem „inneren Auge“ stehen und wir sehen es. Auch wenn wir ein Buch lesen, können wir etwas sehen. Die Fantasie oder Vorstellungskraft stellt uns Bilder zur Verfügung. Selbst in einem Buch über Quantengravitation kann man lesen: „Die

19


Auge

Physik entsteht vor seinem geistigen Auge, und mit seinem Vorstelungsvermögen erschafft er (Faraday) neue Welten … Er ‚sieht‘ etwas Neues.“3

Eine Metapher knüpft hier an. Sprachlich heißt „wissen“ so viel wie „ich habe gesehen“. Darum benutzen wir umgangssprachlich die visuelle Wahrnehmung als Metapher für den intellektuellen Erkenntnisvorgang. Einsehen, was ein Baum ist, heißt so viel wie, ich weiß, was ein Baum ist. Dann sehe ich einen Baum vor meinem „inneren Auge“. Nun wird es allerdings schwierig. Die Organe der sinnlichen Wahrnehmung sind mit dem Leib verbunden, und wir können sie ausmachen: Haut, Zunge, Nase, Ohren und Augen. Ist das „innere Auge“ ein Organ? Wo können wir es lokalisieren? Vom „Auge des Herzens“ und auch vom „Auge der Seele“ wird gesprochen. Dass es sich dabei nicht um ein leibliches Organ handelt, ist klar. Können wir mit dem Herzen und der Seele sehen? Welches Licht benötigt das innere Auge? Kann auch das „innere Auge“ erkranken oder gar erblinden? Was ist damit gemeint? Vielleicht bieten sich zwei Lösungen an. Metaphorisch sprechen wir so von mentalen Phänomenen und beschreiben Tätigkeiten wie Erinnern, Vorstellen, Denken und Erkennen. Das innere Auge existiert wirklich, und wir stellen es uns in Analogie zum leiblichen Auge vor, weil wir es nicht anders beschreiben können. Auch wenn wir kein Organ wie den Augapfel feststellen können, nehmen wir ein geistiges Auge an, welches erkranken und sogar erblinden, aber auch genesen und scharf sehen kann.

Carlo Rovelli, Die Wirklichkeit, die nicht so ist, ...: Eine Reise in die Welt der Quantengravitation, Reinbeck 2014.

3

20


Authentisch sein Gestritten wird, ob eine Führungskraft wahrhaftig sein müsse oder nicht, ob sie lügen dürfe oder nicht, ob Verstellung angebracht sei oder nicht. Nicht nur Niccolo Machiavelli, sondern auch eine Reihe von Beratern empfehlen eine Inszenierungstechnik wie im Theater: Der Job verlange, dass die Führungskraft perfekt die jeweilige Rolle spiele, die ihr der Regisseur im Drehbuch vorschreibt. Mal müsse sie den knallharten Sanierer, den Händchenhalter oder den sozial verantwortlichen Teamleader spielen. Auf Rollenpassung, überzeugenden Auftritt und auf die Wirkung beim Publikum komme es an – also auf den Schein und nicht auf das Sein. Falls es mal Schwierigkeiten mit dem inneren Sein der Führungskraft, mit ihrem Personenkern oder Gewissen gibt, könne sie ja in der Freizeit für Ausgleich sorgen. Typisch sei der knallharte Sanierer, der sich sozial stark engagiert – und sein Gewissen beruhigt. Topmanager würden ihre Emotionen im Job ausblenden und sie ganz gezielt an anderer Stelle ausleben. Die mittelalterlichen Philosophen kannten die Tugend „virtus veritatis“, die zum Umfeld der Gerechtigkeit zählten. Was ist damit gemeint, einfach nur Wahrhaftigkeit? Die Anderen haben ein Recht darauf zu wissen, woran sie mit mir sind. Das schulden wir einander. Die Führungskraft ist demzufolge gut beraten, in den verschiedenen Aktionen auch die Persönlichkeit durchscheinen zu lassen. Die Anderen, die Untergebenen, erspüren sowieso, was das für einer ist, und ob jemand nur spielt oder es ernst meint. Da darf man die Anderen niemals für dümmer halten, als man selbst ist. Freilich liegt ein gewisses Risiko in der Authentizität: Fehler, persönliche Macken und Schwächen können zutage treten. Aber die bekommen die Anderen sowieso raus. Die Frucht der Authentizität ist Vertrauen, und Vertrauen senkt die Transaktionskosten. So gewinnt eine Führungskraft die Kreativität, volle Leistungs- und Leidensbereitschaft der Mitarbeiter und auch die Kundschaft. Der Authentische erhält obendrein noch einen Lohn: Er kann im Einklang mit sich selbst leben. 21


Authentisch sein

Eine Bemerkung sei noch gestattet: Manch einer meint, er sei ganz authentisch, wenn er seinen Emotionen freien Lauf lässt. Zum Beispiel, wenn er zornig ist, dann macht er eben seinem Zorn in Beleidigungen oder Grobheiten Luft. Wegen der Verletzungen zur Rede gestellt, sagt dann jener, er sei eben authentisch und mache aus seinem Herzen keine Mördergrube. Freilich offenbart er – ganz authentisch – seine Unbeherrschtheit und seinen ungehobelten Charakter, nur ist Authentizität nicht die Einladung zum unflätigen Benehmen. Selbstbeherrschung, verstanden als vernünftige Ordnung der Stimmungen und Gefühle, könnte ja auch zu seinem Charakter gehören und „ganz authentisch“ zutage treten.

22


Axiom In der Wissenschaft gehe es immer wissenschaftlich zu, das heißt, jede Aussage und Annahme wird logisch begründet und bewiesen. Mit einer Ausnahme ist das auch richtig. Was ist die Ausnahme? Die grundlegenden Annahmen, sprich Axiome, werden nicht bewiesen. Wie das deutsche Wort Grundannahme sagt, werden die Axiome angenommen. Noch deutlicher gesagt: Die grundlegenden Annahmen können nicht bewiesen werden. Was soll das? In der Mathematik geht man davon aus, dass die „0“ von der „1“ unterschieden ist. Diese fundamentale Differenz, auf der die ganze Mathematik aufbaut, wird eben angenommen und kann nicht bewiesen werden. Unsere Computerwelt, auch das Notebook, auf dem ich gerade diesen Gedanken aufschreibe, basiert auf dieser Differenz: 0 ist von 1 unterschieden; 0 kann nicht 1 sein. Nun könnte jemand sagen: „Das funktioniert doch und muss darum wahr sein.“ Richtig, doch diese Verifikation ist „ex eventu“, also im Nachhinein, und darum kein zwingender Beweis.

Axiome sind gemeinsame Überzeugungen und Grundsätze, die als selbstverständlich gelten, nicht beweisbar sind und prinzipiell unbewiesen bleiben. „Ein Axiom ist ein Satz, der eines Beweises weder fähig noch bedürftig sei“, so das Historische Wörterbuch der Philosophie. Man könnte auch sagen, der gesunde Menschenverstand wird sie nicht bezweifeln. Ein kleiner Haken ist allerdings dabei.

Beschäftigen wir uns mit vergangenen Epochen oder anderen Kulturen, wundern wir uns über deren Selbstverständlichkeiten und sagen vielleicht: „Das war ja alles unwissenschaftlich.“ Bei den Anderen bemerken wir deren zweifelsfreie Grundannahmen. Die eigenen Axiome bemerken wir jedoch nicht, weil wir uns wie die Fische im Wasser selbstverständlich darin bewegen und von ihnen, ohne mit der Wimper zu zucken ausgehen. Lässt man sich die Irritation durch die Anderen gefallen, kann es interessant werden. Was sind denn unsere Axiome? 23


Axiom

In der Ökonomie nehmen wir theoretisch und pragmatisch „die unsichtbare Hand des Marktes“ an. Es funktioniert ja auch. Bewiesen hat allerdings noch niemand, dass aus Eigennutz Gemeinwohl wird.

In den Wissenschaften lassen wir gegenwärtig nur quantifizierbare Dinge gelten und verzichten auf Aussagen über das immaterielle Wesen eines Dinges. So wird zum Beispiel Denken auf die messbare Gehirntätigkeit reduziert, weil es jenseits des Materiellen und Quantifizierbaren nichts anderes geben darf. Ich betone, etwas Immaterielles wird prinzipiell ausgeschlossen – so unser wissenschaftliches Axiom. Paradox wird die Situation allerdings, wenn die Psychologie, also die „Wissenschaft über die Seele“, Seele prinzipiell ausschließt. Die Gretchenfrage lautet: Was sind die unbewiesenen, selbstverständlichen und fundamentalen Annahmen unserer Zivilisation?

24


Bauchgefühl „Es fühlt sich gut an“, kann man von vielen Menschen hören und bei Entscheidungen, dieses zu tun und jenes zu lassen, folgen sie dann ihrem Gefühl. Abschätzig kann man vielleicht sagen, dass solche Menschen nicht nachdenken und einfach oberflächliche Bauchmenschen sind, welche aus ihrem Bauch heraus Entscheidungen fällen. Gefühle sind ja an den Reiz des Augenblicks gebunden, obendrein noch leicht zu manipulieren und darum nicht immer der beste Ratgeber.

Und trotzdem: Gefühle liefern einen ersten Zugang zum Wertgehalt der Wirklichkeit. Worüber freuen wir uns? Was ekelt uns an? Was erregt unsere Aufmerksamkeit? Wovor möchten wir am liebsten weglaufen? Wie das zu bewerten ist, sei erst einmal dahingestellt. Dass wir allerdings vorrational mit unseren Emotionen werten, ist eine Tatsache, die zu ignorieren nicht klug ist. Es gibt grundlegende menschliche Gefühle, weil wir schlicht und einfach Menschen sind.

Dann gibt es auch Gefühle, die aus dem Habitus – aus der Tiefe einer Person – kommen und etwas reklamieren, was die operative Vernunft im Eifer des Gefechts vielleicht übersieht. Was ist damit gemeint? Es gibt Gefühle, die von unserer inneren, persönlichen Haltung herrühren und das, was jemand ist, emotional artikulieren. Dann schämen wir uns zum Beispiel wegen einer Handlung, obwohl die Vernunft diese Handlung legitimierte.

Wie kommt das? Was ist das? Warum schämen wir uns überhaupt? Man kann zum Beispiel sagen, dass wir uns schämen, wenn der öffentliche Ruf gefährdet wird. So sagen bisweilen Jugendliche, wenn die Mutter übereifrig vor Freundinnen agiert: „Mama, das ist peinlich, ich schäme mich.“ Das ist Scham vor Schande, die berechtigt sein mag oder auch nicht. Da gibt es aber noch eine andere Scham: Das, was ich getan habe, möchte ich mir gar nicht anschauen oder darüber reden, ich möchte es einfach nur vergessen, weil es mir, im Gedanken an jene Handlung, die Schamesröte ins Gesicht treibt. Dieses Schamgefühl artikuliert emotional glasklar: Jene Handlung passt nicht zu mir und ich 25


Bauchgefühl

bin ganz anders, als ich mich in der Handlung gezeigt habe. Die Scham reklamiert eine eklatante Abweichung vom Habitus.

Hier tritt eine Zwiespältigkeit auf. Kann ich mich überhaupt auf mein Gefühl verlassen? Im Grunde genommen kann man sich auf das Bauchgefühl verlassen, wenn der Bauch keine Blähungen hat. Wenn der Bauch nicht in Ordnung ist, dann ist er kein guter Ratgeber. So kann sich der Lustmolch wohl nicht auf sich und sein Gefühl verlassen, denn durch seine Lebensführung hat sein Habitus einen Defekt: Ihm fehlt etwas, nämlich die Scham, und darum benimmt er sich schamlos. Auch der Ungehobelte kann sich nicht auf sein Gefühl verlassen, denn es fehlt ihm etwas; er ist einfach unsensibel und unkultiviert. Das ist ein eklatanter Defekt: Das moralische Gefühl fehlt. Wer kann sich auf seine Gefühle verlassen? Der Tugendhafte darf sich auf seine Gefühle verlassen. Der Lasterhafte, sei es der Unsensible oder der Lustmolch, wird von seinen chaotischen Gefühlen sehr wahrscheinlich in die Irre geführt. Ergo: Eine Portion Skepsis gegenüber dem Bauchgefühl ist angebracht, denn wer weiß schon genau, ob die innere, persönliche Haltung angegriffen ist oder nicht. Wem das Wort Bauchgefühl zu platt klingt, der darf auch Intuition sagen.

26


Berufsethos Unternehmer, Mitarbeiter und große Teile der Öffentlichkeit beklagen den Werteverfall und, dass die deutsche Sitte verschwunden ist. Große Unsicherheit greift um sich: Was gilt? Wohin geht die Reise? Wer bin ich? Woran bin ich mit anderen Menschen? Diese Situation der Orientierungslosigkeit einfach zu beklagen oder zu jammern, bringt auch nicht weiter und schon gar keine Lösung. Machen wir es wie der Joker im Kartenspiel. Der Joker kann jede Karte sein und darum muss er sich zwei Fragen beantworten: 1. Was wird hier gespielt? 2. Wer bin ich in diesem Spiel? Das Berufsethos kann eine klare Antwort auf diese Orientierungsfragen geben und emotionale Zugehörigkeit stiften.

Was ist Beruf? Auf jeden Fall kein Job, denn diesen könnte man wechseln wie Unterhosen, und einen Arzt, der seinen Beruf als Job versteht, würde keiner an seinen Blinddarm heranlassen. Beruf kommt von Berufung – da hat jemand einen Ruf gehört und folgt ihm, da hat jemand sein Talent entdeckt und eine Kunstfertigkeit daraus gemacht, da widmet jemand sein Leben einer Aufgabe.

Was ist „ethos“? Wenn wir handeln, wollen wir etwas bewirken – zum Beispiel ein Brillenglas schleifen. Darüber hinaus hinterlässt eine Handlung in uns Spuren. Schleifen wir öfters ein Brillenglas, dann können wir das auch (mit verbundenen Augen), weil wir diese Fertigkeit erworben haben und schließlich kompetente Brillenschleifer sind. Handlungen hinterlassen im Handelnden Spuren: Kompetenzen, Charakterzüge und Gewohnheiten. Das griechische Wort für Gewohnheit heißt „ethos“ – und da gibt es gute Gewohnheiten, wir nennen sie Tugend, und da gibt es auch schlechte Gewohnheiten, wir nennen sie Laster. Handeln mehrere Menschen gemeinsam oder arbeiten sie zusammen, dann entstehen gemeinsame Gewohnheiten. Wenn wir sie fragen „Warum macht ihr das so und nicht anders? Warum ist euch das wichtig und jenes nicht?“, werden sie sagen „Das ist bei uns so üblich. Das ist bei uns so Brauch.“ Diese gemeinsamen Gewohnheiten nennen wir 27


Berufsethos

Brauchtum, Sitte und auf einen Berufsstand bezogen „Berufsethos“. Übrigens brauchen Menschen gemeinsame Gewohnheiten, um miteinander leben zu können, denn Menschen wollen immer wissen, woran sie miteinander sind, sie wollen einander vertrauen können.

Warum ein Berufsethos? „Gesetze sind wie Zaunlatten. Jede neue Latte schafft eine neue Lücke.“ Normen und Gesetze können Wirklichkeit nicht vollständig regeln. Auf die Haltung, die Einstellung und den Charakter kommt es an: Was bindet diese Person? Woran hängt ihr Herz? Wofür steht dieser Mensch? Einige Berufsstände wie Ärzte oder Kaufleute haben Antworten auf diese grundlegenden Fragen formuliert. Das Berufsethos des Arztes können wir im Eid des Hippokrates lesen und dort auch berufsspezifische Sätze finden. Das Berufsethos des ehrbaren Kaufmanns kann man auf die drei Worte reduzieren: „Sein Wort gilt.“ Neben technisch, handwerklichen Fertigkeiten geht es um moralische Haltungen, um Tugenden und gute, gemeinsame Gewohnheiten. Werte bzw. Güter werden benannt, die – berufsbedingt – besonders schutzbedürftig sind. Zum Beispiel wird der Kaufmann durch Gier besonders gefährdet. Unterliegt ein Kaufmann diesem Laster, verfällt er der Schande; hält er der Versuchung stand, bewahrt er seine Ehre. Das Berufsethos verfügt also über die Sanktionen Ehre und Schande. Was an diesem Geschäft schandbar war, weiß der aufmerksame Kaufmann sehr wohl, und das muss ihm nicht erst ein Gesetz beibringen.

Das Berufsethos liefert Sinnbezug und Identität. Damit können wirtschaftliche Akteure Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei Kollegen, Mitarbeitern, beim Kunden und der Öffentlichkeit gewinnen, was sich durchaus ökonomisch positiv darstellt. Obendrein liefert das Berufsethos für die Ausbildung des Nachwuchses ein moralisches Fundament, den jeder weiß, wohin der Hase läuft.

28


Bewegung Manchmal gehen wir ins Kino und das hat etwas mit Bewegung zu tun, nicht nur weil wir uns ins Kino bewegen müssen, sondern weil es dort bewegte Bilder zu sehen gibt. Darum auch der Name Kino von „kinesis“ – griechisch: Bewegung.

Wir moderne Menschen verstehen unter Bewegung nahezu ausschließlich die Ortsbewegung, also wenn wir uns vom Sofa ins Kino bewegen, oder wenn sich der Film im Projektor bewegt. Dann haben Menschen schon seit Jahrtausenden die Vorstellung einer vollkommenen Bewegung – und zwar die des Kreises. Der Kreis entsteht durch die Bewegung eines Zirkels um den Mittelpunkt und auf dem Kreisumfang können sich Dinge ganz gleichmäßig, ohne Anfang und Ende bewegen. Beobachten kann man solch eine vollkommene, kreisförmige Bewegung an den Planeten und Sternen. Über eine weitere Bewegung kann man auch mal nachdenken: über Werden und Vergehen. Sowohl natürliche, als auch technische Dinge entstehen und vergehen, was eben auch eine Bewegung ist.

Eine dritte Bewegung können wir an Kindern beobachten, wenn sie ihre Begabungen realisieren, zum Beispiel wenn sie anfangen zu laufen. Sie haben als Menschen das Vermögen, laufen zu können, und verwirklichen dieses Potential, wenn sie tatsächlich laufen. Anfänglich ist das zwar etwas täppisch, aber mit der Zeit wachsen Muskeln, Füße sowie Beine und sie laufen ganz selbstverständlich. Diese dritte Bewegung beschreibt den Weg von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, von „dynamis“ zu „energeia“. Ohne Bewegung kommt man nicht ans Ziel, an die vollkommene Wirklichkeit „entelecheia“. Genauso wird aus einer Eichel eine Eiche in voller Pracht. Auf die vierte Bewegung kommen wir moderne Menschen nicht, nämlich auf das Denken. Doch umgangssprachlich sagen wir einem stumpfsinnigen, gedankenträgen Menschen: „Setz doch mal deine Gedanken in Bewegung und denke nach!“ Was passiert beim Denken? Ich denke 29


Bewegung

nach, bin aufmerksam und schaue gedanklich voraus. Auf jeden Fall erleben wir uns beim Denken in Bewegung.

Freilich kann man fragen, woher die Bewegung kommt und wohin sie fĂźhrt. Eine Antwort: Bewegung rĂźhrt von einem Ersten her, welches selbst nicht von einem anderen bewegt wird oder bewegt worden ist, weil das Erste selbst Bewegung ist. Bewegung steht am Anfang und ist ein Prinzip der Wirklichkeit, in der wir leben.

30


Bild Bis vor zweihundert Jahren gab es Bilder nur in Kirchen und Schlössern. Mit dem farbigen Druck änderte sich das, und seit einigen Jahren dominieren Bilder unsere Lebenswelt: auf ziemlich großen Bildschirmen in den Wohnzimmern, auf Bussen im Straßenverkehr, in Smartphones und beim Öffnen einer Website. Ob wir es wollen oder nicht, unsere Augen werden gereizt und wir sehen Bilder, Ikons, Banner etc. Was passiert da? Was ist überhaupt ein Bild?

Das Bild ist erst einmal ein zweidimensionales Abbild und rührt vom Abgebildeten her. Da steht auf dem Schrank das Bild von meiner Oma Klara. Oma war aus Fleisch und Blut, dreidimensional, konnte sich bewegen und hatte auch Kinder. Anders das Bild der Oma. Auf einem mehr oder weniger zweidimensionalen Träger, der nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Fotopapier ist, sind Farbpigmente aufgetragen. Doch Oma und das Bild von ihr müssen etwas gemeinsam haben, sonst würde ich nie sagen „Das ist das Bild meiner Oma Klara.“ Bei aller ontologischen Differenz, denn ein Lebewesen ist etwas anderes, als ein Blatt Papier, haben beide das Schema gemeinsam. Das Bild beschreibt eine Relation: Das Abgebildete ist Ursprung, Ursache des Bildes. Das Bild bietet die Form des Abgebildeten, obwohl beide zwei völlig unterschiedliche Dinge sind, so dass man sagen muss: Der Unterschied zwischen Abgebildeten und Bild ist größer als die Gemeinsamkeit. Sehe ich das Schema, die Form oder Konturen meiner Oma, dann passiert etwas in mir: Ich erinnere mich an Klara und sie ist in meinem Geist gegenwärtig. Das Bild präsentiert das Abgebildete und funktioniert wie eine Bombe; es ist „Erinnerungszündstoff“ und knallt in unserem Bewusstsein – ob wir es wollen oder nicht. Diese mentale Präsenz des Abgebildeten können wir kaum steuern. „Diese Bilder werde ich nicht los, sie verfolgen mich“, sagen wir dann. „Was das Wort dem Ohr, ist das Bild dem Auge.“ Nur haben die Bilder einen intensiveren, kräftigeren Zugriff auf unser Bewusstsein, weil wir Menschen „Augentiere“ sind, sie uns stärker emotionalisieren als Worte und Bilder direkt in die Seele durchmarschieren. 31


Bild

Nun gibt es noch wahre und falsche Bilder. Auf Griechisch heißt das wahre Bild „eikon“ und so kommt Veronika zu ihrem Namen: vera icona – wahres Bild. Auf dem Weg zur Kreuzigung hielt Veronika dem geschundenen Christus ein Tuch hin, und zum Dank hinterließ er sein Antlitz im Tuch. Das Schweißtuch der Veronika bietet ein wahres Bild Christi, ein „nicht von Menschenhand gemachtes“.

Das falsche Bild heißt auf Griechisch „eidolon“ und wir verwenden dieses Wort als „Idol“. Wenn jemand einem Idol hinterherläuft, dann verwechselt dieser etwas und lebt nicht mehr sich selbst, er lebt falsch. Ein Idol ist wie Falschgeld, welches wie Geld aussieht, aber nicht echt, sondern eine Lüge ist.

Welche Bilder muten wir uns zu?

Bettina schaut sich gerade Bilder ihrer beiden Enkelkinder an und lacht.

32


Bildung An anderer Stelle spreche ich über Erziehung und möchte daran anknüpfen. Erziehung soll den jungen Menschen in eine freundliche Welt einführen und in ihm Vertrauen wecken; sie soll Kinder befähigen, sich von der Auslieferung an den Reis des Augenblicks zu befreien, fähig, wirklich das zu tun, was sie wollen. Der junge Mensch soll lernen, sein Leben zu führen, statt gelebt zu werden und seine Möglichkeiten ins Spiel zu bringen.

Die Aufgabe der Bildung dreht sich wiederum um Wirklichkeit, um die Welt, so wie sie ist. Bildung versetzt Menschen in die Lage, Wirklichkeit wahrzunehmen und zu differenzieren. Das klingt schrecklich abstrakt, ist aber ganz selbstverständlich und fast eine Binsenweisheit. Ein gebildeter Mensch realisiert, dass es außer ihm noch ganz viel anderes in der Welt gibt. Der Dumme lässt alles nur um sich selbst kreisen, sitzt permanent im Heimkino und bezieht alles auf sich; er kann einfach nicht von sich absehen. Das macht den Umgang mit ihm auch so ätzend. Wenn jemand von Zahnschmerzen erzählt, wird der Dumme sagen: Ja, das ging mir auch schon so und sogar noch viel schlimmer. Der Gebildete kann schweigen und zuhören, weil er zur Kenntnis genommen hat, dass außer ihm noch etwas anderes in der Welt ist, dieses andere seinen eigenen Wert hat und dass es sich lohnt, es kennenzulernen. Die Welt muss nicht mehr um ihn und seine Befindlichkeit tanzen, er kann sich – ganz unbefangen – für sie interessieren. „Bildung nennen wir die Herausführung des Menschen aus der animalischen Befangenheit in sich selbst, die Objektivierung und Differenzierung seiner Interessen und damit die Steigerung zu Freude und Schmerz.“ 4

Eine gute Bildung hilft dem Menschen, seine Wahrnehmungen und Interessen zu differenzieren. In der Menge von Bauwerken kann er zwischen Häusern und Brücken, zwischen gut und schlecht gebauten Brü4

Robert Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 2015, S. 38. 33


Bildung

cken unterscheiden und den Baustil erkennen. Um diese Differenzen wahrnehmen und das Urteilsvermögen schärfen zu können, gehen Menschen zur Schule. Da will einiges gelernt und entdeckt werden, da geht es um Fakten und Einsichten, dem der Dumme nicht folgen kann, weil er immer fragen wird: Was kann ich damit machen?

Bildung erschließt uns die Freude an der Wirklichkeit, am Detail und am feinen Unterschied, von dem man erst einmal nichts hat – außer der Freude. Der Gebildete freut sich über eine gut gebaute Brücke, wird sich allerdings über Pfusch intensiver ärgern als jemand, der davon keine Ahnung hat.

Bildung hat es also mit Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit – so wie sie ist, und auch ohne mich ist – zu tun. Menschen entwickeln Interessen, nehmen die Welt und ihren Wertgehalt auf und differenzieren, das heißt, entwickeln Urteilsvermögen. Auf diesem Wege werden Fakten gelernt und verstanden, Einsichten gewonnen und Entdeckungen gemacht.

Bildung ist Selbsttätigkeit, in ihr sind Menschen äußerst aktiv und frei. Dass in der Bildung Kulturgüter vermittelt und Wissensbestände aufgenommen werden, ist selbstverständlich, aber nicht des Pudels Kern. Durch Bildung werden Menschen zu Menschen: sie nehmen Wirklichkeit auf und gestalten sich selbst. Wie gelingt das? Im Wort – Menschen können miteinander sprechen. Im Gespräch mit Kindern und Eltern, mit Freunden und Fremden bilden wir uns. Zumindest sagt meine Beobachtung: Gibt es in einer Familie keine Gesprächsthemen außer das werte Wohlbefinden, dann verkümmern in den jungen Menschen Möglichkeiten, weil sie es sehr schwer haben werden, sich für irgendetwas – außer ihr Wohlbefinden – zu Interessieren.

34


Billigkeit Hören wir das Wort „billig“, denken wir wohl zuerst an einen billigen Einkauf und stellen dann wahrscheinlich fest: „Dieser Schuh war zu billig“. In dieser gängigen Bedeutung heißt „billig“, dass ich zu wenig Geld für den Schuh ausgegeben habe und wohl besser den teureren genommen hätte. Auf der anderen Seite haben wir auch die Ausdrücke „jemandem etwas zubilligen“ und „Diese Entscheidung billige ich.“ Hier hat „billigen“ die Bedeutung von „zustimmen“ und „gutheißen“.

Billigkeit ist ein Rechtsprinzip und heißt auf Griechisch „epieíkeia“ und im Lateinischen „aequitas“. Was soll dieses Rechtsprinzip und warum brauchen wir es? Gesetze sprechen allgemein und sollen für alle möglichen Fälle oder Situationen gelten. Der Gesetzgeber wird vielleicht von einer konkreten Situation angeregt, einen Regelungsbedarf zu erkennen. Singulär soll so eine Lösung allerdings nicht bleiben, und darum wird sie als Regelung in Gesetzesform gegossen. Wie gesagt, spricht das Gesetz allgemein und kann nicht den konkreten Fall in den Blick nehmen.

An dieser Stelle kommt die Billigkeit zum Zuge, denn sie wendet das allgemeine Gesetz auf eine konkrete Situation an. Dabei korrigiert sie das gesetzlich Gerechte, indem sie nicht auf den Buchstaben, sondern auf die Absicht des Gesetzgebers achtet. Die Billigkeit schließt Lücken. Gesetze sind wie Zaunlatten, und jede neue Zaunlatte schafft eine neue Lücke. Hält man sich buchstabengetreu an das Gesetz, kann man zum Legalisten verkommen und ungerecht entscheiden, obwohl man formal juristisch korrekt bleibt. Davor bewahrt die Billigkeit. Sie schließt die Lücken zwischen den Zaunlatten, um bei diesem Bild zu bleiben, indem sie die Intention des Gesetzgebers nicht vergisst und der konkreten Situation mit ihren Beteiligten Aufmerksamkeit schenkt. Mit der Tendenz, unnötige Härten des Gesetzes zu vermeiden, wehrt sich die Billigkeit dagegen, das Gesetz kleinlich auszulegen oder gnadenlos anzuwenden, und mildert das Strafmaß. 35


Billigkeit

Billigkeit – so unsere europäische Tradition – ist eine Art von Gerechtigkeit, und man könnte sie auch „das situationsgerechte Urteil“ nennen. Ob sie nun das bessere Recht als das Gesetz ist, darüber kann man streiten. Meines Erachtens bedarf das eine des anderen, denn die Gesetze liefern eine Maßgabe und die Billigkeit wendet diese an, um der Situation gerecht zu werden. Vielleicht kommt unsere landläufige Bedeutung von „billig“ daher, dass die Billigkeit die Tendenz hat, eine Strafe abzumildern und das Strafmaß herabzusetzen.

36


Bliss-Point Bliss-Point, auf Deutsch „Sättigungspunkt“, kommt aus der Ökonomie und bezeichnet den optimalen Zustand einer Aktion, also den Grenznutzen. Was heißt hier optimaler Nutzen? Das ist der Punkt, an dem das Bedürfnis befriedigt wird, an dem wir satt sind.

Normalerweise denken wir ja „Viel hilft viel“ – schnelleres Internet, mehr Anwendermöglichkeiten, größere Speicherkapazitäten, mehr Zugriffe auf die Homepage sind immer besser. So preisen sich zum Beispiel die Medien des digitalen Zeitalters an. Das mag ja richtig sein. Aber bisweilen widerspricht dem Mehr schon eine fatale Erfahrung: Wenn ich zum Beispiel zu viel von dem leckeren Gänsebraten esse, dann habe ich drei Stunden später nicht nur einen Stein im Magen liegen, sondern auch noch heftige Schmerzen.

37


Bliss-Point

Ökonomisch betrachtet passt der Bliss-Point in ein Modell. Sehen Sie sich bitte das Diagramm an: Auf der Horizontalen steht ‚Gütereinsatz‘ und auf der Vertikalen ‚Nutzenzuwachs‘. Anders als wir erwarten entsteht im Diagramm keine Linie von 45 Grad, sondern eine Kurve, welche ansteigt, einen Höhepunkt erreicht und dann – bei weiter steigendem Gütereinsatz – wieder abfällt. Der Gütereinsatz bringt anfangs einen Anstieg des Nutzens, bis ein Höhepunkt (der Bliss-Point) erreicht wird. Dann minimiert jedoch jedes weitere Gut den Nutzen. Als bekennender Raucher kenne ich dieses Phänomen: Die Zigarre mundet wunderbar und ich möchte gleich das Genusserlebnis mit einer weiteren Zigarre wiederholen. Doch das klappt nicht, denn die nächste Zigarre schmeckt fade. Der optimale Genuss stellt sich dann ein, wenn ich ‚die Schlagzahl‘ der Zigarren verringere und nur eine im Monat rauche. Die Ökonomie sagt dazu: Der Grenznutzen beschreibt den Nutzenzuwachs. Hermann Heinrich Gossen (1810–1858), ein Mathematiker, beschrieb dieses Phänomen mit der Formel „Erstes Gossen‘sches Gesetz“. Wenn also der Grenznutzen den Nutzenzuwachs markiert und nicht ein Mehr an Gütern, dann drängt sich die Frage auf: Ist "je mehr, desto besser" sinnvoll? Mehr Geld für die Bildungseinrichtungen und die Leute werden klüger? Das soll kein Kulturpessimismus werden und auch keine Abrechnung mit der sozialen Marktwirtschaft. Auf eine grundlegende – philosophische und theologische – Frage, die wir gar nicht oder nur ganz selten stellen, intendiere ich mit diesem Gedanken:

Was sättigt die Seele eines Menschen? Wo liegt mein Bliss-Point?

Dabei habe ich ein Bild vor Augen. Mein sieben Monate alter Enkel Ilyas ist noch ein ‚Milchmastlamm‘, weil ihn seine Mutter stillt. Wenn er Hunger hat, dann quengelt er nicht nur, er macht richtig Krawall, bis er ‚gestillt‘ wird. Danach lässt er gesättigt alle Viere baumeln und auch sein Gesicht schaut entspannt aus. Analogie: Bisweilen habe ich den Eindruck, dass meine Seele auch so ein ‚Milchmastlamm‘ ist und quengelt. Nur ist der seelische Bliss-Point weder mit Milch, Zigarren und ähnlichen Gütern zu erreichen (oder nur scheinbar, wenn ich mir was vormache.) 38


Bliss-Point

Was sättigt die Seele eines Menschen? „Die Schau des Schönen selbst“, bietet Platon im Symposion an. „Die Schau der Wahrheit“, sagt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik. „Du hast uns auf Dich hin geschaffen, und unruhig ist das Herz in mir, bis es Ruhe findet in Dir“, bekennt Augustinus in den Confessiones. Was ist denn groß genug, um die Seele überhaupt (nachhaltig und nicht nur für einen Kick) ausfüllen zu können?

39


„böse“ Das Wort „böse“ benutzen wir bisweilen ohne moralische Hintergedanken. Vom „bösen Fuß“ sprechen wir, weil er schmerzt und Sorgen bereitet. Da ist etwas schlimm, unheilvoll und bereitet ein Übel, weil es schädigt und Ärger verursacht. Etwas ist nicht in Ordnung, hat nicht das richtige Maß oder etwas fehlt.

Auf der moralischen Ebene tritt „böse“ mit dem Wollen, mit dem Willen zutage. Ein böser Wille hat nicht nur seinen blinden Fleck, er ist gänzlich ohne Aufmerksamkeit und will sogar nicht wissen, was er tut. Hier geht es nicht um ein Vergessen oder ein unbewusstes Verdrängen; hier geht es um ein absichtliches Nicht-Hinsehen-Wollen, Nicht-WahrHaben-Wollen. Ein „böser“ Wille will nur sich selbst und sonst nichts. Das Ego steht unverrückbar im Mittelpunkt und alles andere kreist um dieses Gravitationszentrum; das Ego verleiht erst allem anderen – Situationen, Menschen, Dingen – Sinn und Würde. Diese Einstellung führt schließlich zur Empörung, dass alles nicht so ist, wie es sein soll; dass die Welt schlecht ist. Zwei Elemente fallen am „bösen Willen“ auf. Erstens stellt er die Dinge nicht an den richtigen Platz, wertet sie unangemessen, irrt sich in ihrer wirklichen Bedeutung und bringt sie durcheinander. Ob dem ein Wahrnehmungs- oder Bewertungsdefizit zugrunde liegt, sei dahingestellt. Zweitens sieht und wertet der „böse Wille“ die bunte und vielfältige Wirklichkeit eindimensional; zum Beispiel reduziert er Dinge nur auf ihren Geldwert. Diese Person wird einseitig, und das kann nicht gut ausgehen, weil Irrtum die Dinge auf den falschen Platz setzt und die Ordnung zerstört. Im Ergebnis gefährdet ein „böser Wille“ Leben und zerstört es vielleicht, denn er „lebt gegen die Natur“, wie es die Stoiker sagten.

40


„böse“

Der „böse Wille“ schädigt nicht nur die Welt, in der er sich bewegt, sondern korrumpiert und verletzt sich selbst. Die Einstellung und Haltung eines Menschen wird deformiert. Insbesondere die Einseitigkeit verformt den Charakter dieser Person, die Einseitigkeit wird ihr zur Last. Meine Empfehlung: „böse“ ist das, was Leben behindert, zerstört und vernichtet. Auch wenn das abstrakt ist, haben Sie ein Kriterium.

41


Credo Die Geldschätze einer Polis wurden in Tempeln „thesauriert“, und die Priester dienten als Banker, weil die Gottheit für den Wert des Geldes bürgt. Geld hat etwas mit Vertrauen und Glauben zu tun, oder es verliert seinen Wert. „Kredit“ kommt von „credo“ – ich glaube. Sehr anschaulich wird das in Rom. Die Göttin Juno hat noch einen zweiten Namen: Moneta – daher auch „Moneten“. Der Tempel der Moneta stand auf dem Kapitol und war zugleich die Münzstätte Roms, das heißt hier wurden die Münzen geschlagen und thesauriert. Eine römische Münze hieß „solidus“, wurde überall anerkannt, und daher kommt unser Wort „solide“ – belastbar, hart und standfest. Die Römer prägten gern Kaiserköpfe auf die Münzen. Das hatte den Vorteil, dass man so eine Münze sehr genau datieren kann. Die Nachteile wogen allerdings diesen Vorteil nicht auf: Genoss diese Münze auch noch Akzeptanz, wenn der Kaiser starb oder in Ungnade fiel? Die Christen formulieren ihre Axiome im Glaubensbekenntnis und sagen klar, dass diese geglaubt werden: „Credo in …“ – „Ich glaube an …“ Wie die Kirchengeschichte zeigt, stritten sich die Christen bis aufs Messer über ihr „Credo“. Allerdings weisen sie ihre Axiome aus und legen sie auf den Tisch. Im Mainstream geht es dagegen diffus zu. Welche Grundannahmen, die man nicht beweisen kann und die auch keines Beweises bedürftig sind, fundieren sie?

Die gegenwärtigen Glaubenssätze des Mainstreams – meiner Wahrnehmung nach – liste ich auf:

o Kausalität, das heißt: den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, und daraus abgeleitet die Naturgesetze. o Evolution, das heißt: Aus einem einfachen Anfang entwickelte sich die Wirklichkeit immer komplexer, vervollkommnet sich autopoetisch und schreitet fort. o Zusammenhang von Denken und Sein, das heißt: Die Welt ist vollständig erklärbar. Wenn zwar jetzt noch nicht, dann aber in Zukunft. 42


Credo

o Mathematik korreliert mit der Wirklichkeit und kann sogar technisch angewendet werden. Menschliches Denken stellt Fakten fest wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. o Relativität der Wahrheit, was dem 3. Axiom widerspricht, das heißt: Eine absolute Wahrheit gibt es nicht, sondern nur subjektive, individuelle oder kulturabhängige. o Sprache gibt Wirklichkeit nicht wieder, Sprache ist nur ein Funktionssystem. o Alles ist materiell, das heißt: Auch wenn geistige Phänomene wie Sprache nicht zu ignorieren sind, ist alles im Grunde genommen materiell. Mentale Phänomene werden als Epiphänomene, also als etwas von der Materie Abgeleitetes, verstanden.

Dann hat der Mainstream auch Verbote:

• Die Dinge haben kein Wesen. • Seele kann nicht sein, denn wir stellen nur Bewusstseinszustände und emotionale Befindlichkeiten fest. Damit fallen auch Geist und Gott – sogenannte Matrix-Theorien – weg. • Transzendenz, also die Frage nach einer tieferen Dimension der Wirklichkeit jenseits des empirisch Erfassbaren, ist nicht gestattet.

Der Satz „Ich glaube, morgen wird es regnen.“ ist nicht korrekt. Banktechnisch sprechen wir dagegen korrekt: Da ist der Gläubiger, welcher jemandem einen Kredit (das heißt doch: Ich glaube, ich vertraue dir.) gewährt und damit zeigt, dass er ihn finanziell für glaubwürdig hält.

Die Stelle im Hebräerbrief 11,1 bringt einen exakten Begriff des Glaubens: „Feststehen in dem, was man erhofft, und überzeugt Sein von Dingen, die man nicht sieht.“ Christen meinen, Glaube sei Gnade, eine „eingegossene Tugend“ oder das Wirken (energeia) des Heiligen Geistes im Menschen. Differenziert wird: 1. Credo ad deum – an Gott glauben; 2. Credo deo – ihm glauben, Gott; und 3. Credo in deum – in Gott, also aus Gnade, glauben.

43


Deutsch sprechen Als ich ein Kind war, lernte ich in der Schule „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.“ und es wurde Russisch gesprochen. Vor einigen Jahren hatte ich den Eindruck „Von der englischsprachlichen Welt zu lernen, heißt siegen lernen.“, und es wurde Englisch (oder DEnglisch) gesprochen. Zumindest bedeutete der Verweis auf die Praxis dieser Länder, dass wir in Deutschland nicht auf der Höhe der Zeit, altbacken und irgendwie dumm sind – zumindest seien die anderen fortschrittlicher, erfolgreicher und besser. Wer seine Gedanken in Sätze einpacken konnte, die mit Anglizismen garniert (und vielleicht sogar mit Power Point präsentiert) waren, hoffte nicht ohne Grund, Eindruck zu schinden oder zu hinterlassen.

Woher dieser Hang? Verwalter des esoterischen Wissens werden auch eine esoterische Sprache benutzen, ob das nun Parteichinesisch, Kirchenlatein oder Wirtschaftsenglisch ist. Wer diese Sprache benutzt, dokumentiert, dass er „eingeweiht“ ist und damit alles andere auch kennt. Vom großen Kreis der Dummen hebt er sich ab und weiß, wie die Realität wirklich funktioniert. Er zeigt, dass er dazu gehört. Das scheint ja auch zu funktionieren, denn viele Menschen lauschen ehrfurchtsvoll diesen Äußerungen und wollen auch so sprechen können. Aber Achtung: Wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ könnte ein Kind genau hinschauen und rufen „Der Kaiser hat ja gar nichts an.“ Dann kommt es heraus: Hinter der Phrasen-Dreschmaschine steht rein nichts.

Meine Empfehlung: Sinn und Zweck der Sprache ist Verständigung. Sprechen Sie so, dass Sie verstanden werden können. Sprechen Sie die Sprache Ihrer Zuhörer, Ihrer Gesprächspartner – und das ist in der Regel die gepflegte Umgangssprache. Sicherlich hat da jeder seine Macken, seinen eignen Stil; das ist ja auch gut so und macht sympathisch, wenn es passt. Wie gesagt, sprechen wir, um uns mitzuteilen und zu verstehen. Im Deutschen haben wir sogar ein Sprachbild dafür – „eine gemeinsame Sprache sprechen“. 44


Deutsch sprechen

Seitdem in den USA eine Blase platzte, hat sich etwas geändert. Die Anglizismen sind auf dem Rückmarsch und Sie können Worte wie „der ehrbare Kaufmann“ oder „familiengeführtes Unternehmen“ wieder hören bzw. lesen. Wenn Sie deutsch sprechen, liegen Sie sogar im Trend.

45


Dialog Bei Philosophie denken wohl die meisten an dicke Bücher oder Vorträge. Platon, und ihm schließe ich mich an, war da anderer Meinung. Er schrieb Dialoge und nicht Abhandlungen mit Kapiteln und Paragrafen. Warum? Bücher sind Monologe und diese neigen zu einer einseitigen Darstellung. Dabei werden Aspekte oder Perspektiven, die nicht zur monologisierten Darlegung passen, ausgeblendet oder ignoriert. So bleibt die Wahrheit auf der Strecke. Darüber hinaus sei die Schriftform problematisch. Ein Gedanke werde in tote Buchstaben gesteckt und verdorre darin. Außerdem kann man ein geschriebenes Wort nicht befragen, wenn man es nicht versteht. Eine kleine Ironie gibt es aber auch bei Platon. Seine Gedanken kennen wir nur, weil er sie aufschrieb und in toten Buchstaben beerdigte. Auch Sokrates, der Wortführer in Platons Dialogen, monologisiert gewaltig, obwohl er genau das anderen – wie Protagoras – vorwirft und verbietet.

Trotzdem trifft Platon meines Erachtens ins Schwarze. Einsichten, Erkenntnisse kommen uns häufiger im Gespräch als beim Lesen einer Abhandlung. Ich glaube, das hat schon jeder von uns erlebt. Da sitzen wir im Pons, trinken ein Glas Wein und unterhalten uns, oder wir wandern im Harz und führen ein Gespräch. Mitten im Gespräch geht einem ein Licht auf und man erfährt das als unbeschreibliches Glück. Wahrscheinlich klappt das nur dann, wenn jemand mit einer Frage schwanger geht, und die Gesprächspartner unwissentlich wie Hebammen agieren, weil sie zuhören und nachfragen. Ob man das methodisch organisieren kann, weiß ich nicht. Plötzlich wird etwas klar. Freilich verlangt das einiges von den Gesprächspartnern ab – nämlich intellektuelle Demut und Disziplin. Aus dem Heimkino, aus der Welt der liebgewonnenen Themen und Meinungen, müssen sie heraustreten und zuhören können. Ganz Ohr sein. Dann können sie auch einen anderen Gedanken nach-denken und den Faden weiterspinnen. Dialog. Nimm man dieses griechische Wort auseinander, dann findet man „dia“, das heißt „durch“ oder „zwischen“, und „logos“ – Wort, Re46


Dialog

de. Dialog ist als ein „Wort dazwischen“ oder eine „Unterredung“ – ein Gespräch zwischen zwei oder mehreren Personen.

Dieses gesprochene Wort hat den Vorteil, dass erstens eine Person dafürsteht, es also ein Gesicht hat. Das Wort bleibt im Sprechen lebendig, beseelt und persönlich. Zweitens richtet sich das gesprochene Wort an Personen, an Zuhörer, an Gesprächspartner. Bei ihnen kann es in die Tiefe gehen, die Seele erreichen oder wie man das nennen mag. Drittens kann die Person befragt werden, wenn man das gesprochene Wort nicht verstanden hat, und die Bitte geäußert werden: Erkläre mir das noch ein Mal. Versuche es noch einmal mit anderen Worten.

Der Dialog inspiriert, und bisweilen fliegt uns im guten Gespräch etwas entgegen: „Mitten im Gespräch taucht plötzlich die Wahrheit auf wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht, und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn.“5

5

Platon, 7. Brief 341 cd. 47


Ebenen der Wirtschaftsethik In den vergangenen Jahren erlebten wir eine Entgrenzung von Raum und Zeit. Rund um den Globus kann zum Beispiel an einem Projekt pausenlos weitergearbeitet werden. Komponenten eines Produkts wurden möglicherweise in einem chinesischen Umerziehungslager oder von Kindern aus Pakistan hergestellt. Diese Unübersichtlichkeit verwirrt und lässt vielleicht resignieren. Vielleicht können an dieser Stelle die vier Ebenen der Ethik Klarheit bringen: o o o o

Mikroebene: die Moralität der Person Mesoebene: die Unternehmenskultur Makroebene: die Volkswirtschaft und Sozialethik Globale Ebene: das Ethos der Menschheit

Bisweilen werden die einzelnen Ebenen gegeneinander ausgespielt als habe die Moralität einer Person nichts mit der Sozialethik zu tun. Dabei gebe ich zu bedenken, dass Organisationen immer von Personen vertreten werden und ihr Image erhalten. Wie eine Person ist, so vermuten wir in der Regel, so ist es um das Unternehmen oder den Staat bestellt. Nahezu jeden Monat lassen sich dafür neue Beispiele zeigen. Unternehmens- und Sozialethik haben eine große Schnittmenge mit der Moralität der handelnden Person, und darum ist die Individualethik keine reine Privatsache (zumindest nicht bei den Machtbesitzern).

48


Ego Egoismus hat einen schlechten Ruf, und der Satz „Du bist ein Egoist.“ ist sicherlich nicht als Kompliment gemeint. Doch mal Hand aufs Herz und ganz ehrlich gefragt: Kommen wir aus unserem Ego heraus?

Immer stehen wir im Mittelpunkt unserer Welt. Das sagen nicht nur unsere fünf Sinne, sondern auch unsere Gefühle. Die Zahnschmerzen eines anderen kann ich nicht nachempfinden, weil es eben nicht meine sind. Bestenfalls kann ich mich an meine Zahnschmerzen erinnern und eine Analogie aufbauen. Ja, dem muss es jetzt wohl genauso ergehen wie mir damals.

„Natürliche Egozentriertheit“ kann man das nennen, denn wir können dagegen nichts machen. Immer werde ich im Mittelpunkt meiner Welt stehen, und das gilt es zu respektieren. Wie kommt es zu dieser „natürlichen Egozentriertheit“? Eine Vermutung habe ich: Weil wir Lebewesen sind, legte die Natur uns zwei Aufgaben in die Wiege: 1. Selbsterhaltung; 2. Arterhaltung – und das in dieser Reihenfolge. Deshalb sorgen wir uns zuallererst darum, dass wir am Leben bleiben. Wir sorgen uns um Essen, Schlaf, Gesundheit usw. Diese Sorge, manche sprechen sogar von „Angst um sich selbst“, werden wir nicht los. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob die Angst um mich selbst die Zügel in der Hand hält und meinen Wagen steuert, oder ob sie auf der Ladefläche hockt. Nicht nur Lebewesen sind wir, wir sind auch physikalische Körper: Den Raum, den ich einnehme, kann kein anderer einnehmen. Archimedes entdeckte das freudig überrascht, als er in die Badewanne stieg und Wasser über den Rand floss. Den Raum, den Archimedes in der Wanne einnimmt, kann das Wasser nicht einnehmen und wird darum verdrängt. Diese physikalische Tatsache zeigt sich allerdings auch in anderen Bereichen des Lebens: Den Arbeitsplatz, den ich habe, kann kein anderer haben. Diese Lebenschance gebe ich für andere erst wieder frei, wenn ich kündige oder in Rente gehe. 49


Ego

Fatal wird es allerdings, wenn ich mein Ego wie den Mittelpunkt eines Kreises behandle und um diesen Mittelpunkt herum einen Kreis schlage; wenn ich mich mit meinen Wahrnehmungen, Einsichten und Wertungen zum MaĂ&#x; aller Dinge mache. Das Essen, was mir schmeckt, muss auch anderen schmecken. Die Einsicht, die ich gewonnen habe, mĂźssen auch andere treffen oder sie sind dumm. Aber das ist eine moralische Fehlhaltung, eben Egoismus, und ein anderes Thema. Wie gesagt, gilt es zu respektieren, dass ich ein Lebewesen bin und nicht nur einen KĂśrper habe, sondern auch bin.

50


Der ehrbare Kaufmann: Sein Wort gilt. In Krisen stellen Menschen grundsätzliche Fragen – zum Beispiel: „Was ist die richtige Haltung, Einstellung eines Betriebswirts?“ „Was hat sich bewährt und genießt allgemeine Anerkennung?“ „Worauf kann ich mich verlassen?“ Darum darf es nicht verwundern, dass gegenwärtig über den „ehrbaren Kaufmann“ gesprochen und geschrieben wird.

Im Mittelalter (insbesondere in Italien und in der Hanse) tauchen sogenannte Tugendkataloge in Handelsbüchern auf und beschreiben das Ethos eines guten, tüchtigen Kaufmanns. Ethos meint die Summe von gefestigten Charakterstärken, die grundlegende Haltung und Einstellung, ein persönliches Leitbild.

Was heißt Ehre? Ehre meint die öffentliche Anerkennung und Achtung. Die Ehre des hanseatischen Kaufmanns lag in den Tugenden Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Mäßigkeit, Ordnung, Genügsamkeit, Fleiß, Demut und Treue im Wort. In einem Satz formuliert, kann man sagen „Sein Wort gilt.“ Weitere Tugenden werden genannt:         

Treu und Glauben Redlichkeit, Aufrichtigkeit und Schweigen Weitblick Gerechtigkeit Mut und Entschlossenheit Barmherzigkeit Mäßigung Gemütsruhe, Ordnung, Reinlichkeit Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit

Das Gegenteil der Ehre, die Schande, wurde auch formuliert. Die Schande des Kaufmanns tritt im Wucher und Glücksspiel zutage, denn hier offenbaren sich seine Laster, zum Beispiel die Gier.

Aus dem historischen Ethos „eines ehrbaren Kaufmanns“ kann für die Gegenwart ein Leitbild gewonnen werden, welches Orientierung, Identität, Sinnbezug und ein klares Wertekonzept bietet. Im Kernbestand geht es um Glaubwürdigkeit und Vertrauen als Basis von Interaktionen 51


Der ehrbare Kaufmann: Sein Wort gilt.

zwischen Kaufmann und Kunde, Unternehmer und Mitarbeiter, Berufsgruppe und Öffentlichkeit. In der Ausbildung bzw. Erziehung neuer Mitarbeiter bietet der „ehrbare Kaufmann“ neben den fachlichen und praktischen Elementen das tragende, moralische Verhaltensmuster. Was steht dem „ehrbaren Kaufmann“ entgegen? Was behindert dieses Ethos? Neben den persönlichen, individuellen Schwächen behindern Bürokratie, juristischer Formalismus, mangelndes Unrechtsbewusstsein, die rein „wissenschaftliche“ Lehre an den Hochschulen, verdorbene Sitten in einzelnen Unternehmen und der Gesellschaft das Leben dieses Ethos’. Letztlich sprechen diese Hindernisse nicht gegen ihn, sondern zeigen eher die Notwendigkeit solch eines Leitbildes auf. Einen Menschen, dessen Wort gilt, schätzen wir geschäftlich und privat, und diese Anerkennung darf schon einer Mühe wert sein.

52


Ens – das Seiende Wo beginnt Philosophieren? Das können wir von kleinen Kindern lernen. Gehen wir mit ihnen spazieren, dann werden sie uns auf etwas aufmerksam machen, mit dem Finger darauf zeigen und uns fragen: Was ist das da? Sie wollen wissen, was „das da“ ist, und geben nicht eher Ruhe, bis wir ihnen eine Antwort geben. Auch die Philosophie geht wie ein kleines Kind vor und fragt nach dem unmittelbaren Bekannten, denn es ist anscheinend etwas, was man nicht erst beweisen muss.

Kann man ein Wort finden, das für alles zutrifft, was unmittelbar bekannt ist? Für jedes Ding, für jede Situation usw. soll es ganz allgemein gelten. Ein Seiendes – griechisch: to on; lateinisch: ens – muss es sein, denn wir können nur über das sprechen, was ist. Darum benennt die klassische Philosophie dieses unmittelbar Bekannte mit dem lateinischen Wort „ens“ – ein Seiendes; „ens“ ist das Partizip Präsenz aktiv des infiniten Verbes „esse“ also „sein“. Umgangssprachlich benutzen wir „das Seiende“ nicht und sagen dann eher „das da“ oder „etwas“, wenn wir auf ein ganz konkretes Ding oder Gedanken hinweisen wollen: „Da ist doch etwas“. So ergeht es mir, wenn ich im ICE die Glastür nicht bemerke und auf einmal spüre, da ist doch etwas.

53


Ens – das Seiende

Wie kann man nun das Seiende – ens – genauer auffassen? Ein Seiendes, in sich betrachtet und bejahend formuliert, ist „res“ – also ein Ding, eine Sache – und „quid“ – ein Etwas. Das Seiende, in sich betrachtet und verneinend ausgesagt, ist eine Individualität, ein „NichtGeteiltes“, und damit etwas Ganzes und eine Einheit (unum).

Das Seiende in Relation zu anderem gesehen ist, verneinend formuliert, etwas Anderes (aliquid) und dabei wird die Abgrenzung von anderem Seienden betont. Jedes Seiende ist in dieser Hinsicht eines von vielen oder eines unter anderen.

Wenn uns etwas begegnet, und das mag eine Schnecke auf dem Weg oder ein Gedanke im Kopf sein, dann muss es erst einmal da sein. In dieser altertümlichen philosophischen Sprache gesprochen: es muss ein Seiendes sein. Danach können wir von allem, was vorkommt, feststellen, dass es ein „etwas“ – ob Ding, Gedanke, Einfall usw. sei dahingestellt – ist. Dieses „Etwas“ kann nicht mehr zergliedert, zerteilt werden, oder es wäre etwas anderes. Zerteile ich ein Rind, dann habe ich nicht mehr das Rind, sondern einen Kopf, vier Beine usw. – also etwas anderes. Wenn ich das Universum zergliedere, habe ich nicht mehr das „eine Ganze“, sondern Galaxien, Spiralnebel usw. Dieses „Etwas“ kann sinnvoll nur als ein individuelles (unteilbares) Ganzes genommen werden. Wenn wir später vielleicht wissen, was dieses Etwas ist, geben wir ihm einen Namen. Betrachten wir dieses „Etwas“ in Beziehung zu anderen, also die Schnecke auf dem Weg, dann stellen wir fest: Die Schnecke ist etwas anderes als der Weg. Dieses „Etwas“ ist „etwas Anderes“ als das Danebenliegende und in dieser Hinsicht eines von vielen. Die Schnecke auf dem Weg ist eines der vielen Dinge, welche meine Enkelin Adila auf dem Spaziergang interessant fand. Das trifft auch auf Gedanken und Worte zu, denn diese definieren (deutsch: ab-grenzen) wir, um sie sinnvoll benutzen zu können. Auch wenn das Wort „das Seiende“ philosophisch abgedreht und total abstrakt anmutet, haben wir mit ihm die allgemeinste Bestimmung von dem, was wir wahrnehmen, beobachten, handhaben … können. 54


Entelechie – ein Ziel in sich haben Im Frühjahr staunen wir, wie aus den scheinbar toten Ästen der Bäume grüne, zarte Blätter sprießen und sich entfalten. Dann sieht der Baum nicht mehr tot, sondern ganz vital aus. Wir fragen uns dann, woher dieses Sprießen, dieser Drang nach Lebendigkeit und das Aufblühen kommen. Nach der Blüte setzt der Baum Früchte an und lässt sie reifen. Rote Kirschen hängen dann an ihm. Was bewegt den Baum dazu?

Aristoteles entwickelte für diesen Wachstumsdrang das philosophische Kunstwort „entelechia“ – ganz wörtlich übersetzt „ein Ziel in sich haben“. Was soll das heißen? Alles Lebendige will einfach leben und sein Leben entfalten. Dieses Ziel oder dieser Drang nach Leben steckt in jedem Lebewesen inwendig drin, und dieser Werdedrang hat auch eine Richtung. Alles Lebendige will zur Blüte, zur Reife und zur Frucht, will alles, was in ihm steckt, herausholen und realisieren. Anders gesagt: Jedes Lebewesen will das ihm Mögliche auch Wirklichkeit werden lassen. Natürlich muss man sagen „unter den gegebenen Bedingungen“, aber entscheidend ist doch der zielgerichtete, innere Drang, aus dem die Bewegung zur Verwirklichung des Potentials kommt. Wir moderne Menschen begnügen uns in der Regel mit dem faktischen Vorhandensein dessen, was ist, doch lohnt es sich weiter zu fragen: Woher kommt das? Was ist das? Worauf ist das aus? Zumindest will alles Lebendige am Leben bleiben und will Leben weitergeben. Man muss sogar sagen, dass es nicht nur am Leben bleiben will, sondern den Umständen entsprechend zur artspezifischen Höchstform auflaufen und sich vollenden will. Der Drang dahin – mit dem Ziel Höchstform oder Vollendung – liegt in allem Lebendigen als Triebfeder und Beweggrund inne. Alles Lebendige ist auf etwas aus und trägt ein Ziel in sich. Mit einem anderen Bild gesprochen: Das Weizenkorn drängt danach, nicht nur zu wachsen, sondern sogar reife Ähre zu werden – und das auch unter schwierigen Umständen. Risse man dieses Ziel aus dem Lebendigen heraus, dann nähme man ihm das Leben und es wäre tot. 55


Entelechie – ein Ziel in sich haben

Manchmal wird „entelechia“ auch mit „vollendeter Wirklichkeit“ übersetzt. Wie ist das zu verstehen? Wenn das Ziel erreicht ist, dann gelangt das Lebewesen an die artspezifische Höchstform. Die Bewegung des Lebens findet ihre Vollendung im Erreichen des Ziels. So finden wir auch Pflanzen im Lexikon abgebildet – in der Blüte und mit Frucht.

Zum Leben gehören beide Aspekte: der zielgerichtete Werdedrang von einer omnipotenten Zelle zu einem vollständigen Lebewesen und die Beendigung dieser Bewegung in der artspezifischen Höchstform, in der vollendeten Wirklichkeit.

Eben sprach ich über Entelechie als „ein Ziel in sich haben“, als innerer Werdedrang und als „vollendete Wirklichkeit“. Alle Lebewesen haben dieses Ziel im Leibe. Nun ist zwar auch der Mensch ein Lebewesen, doch heben sich Menschen von anderen Lebewesen darin ab, dass ihnen eine wortartige und geistbegabte Seele eigen ist. Was heißt das mit Blick auf die artspezifische Höchstform oder vollendete Wirklichkeit des Menschen? Was drängt uns Menschen? Wann kommen wir in Bewegung? Zweifelsohne sind wir erst einmal Lebewesen und drängen ganz natürlich wie alle Lebewesen nach Leben, das heißt mehr oder weniger banal nach Selbst- und Arterhaltung. Zwar klingt das wie eine Binsenweisheit, scheint jedoch gegenwärtig nicht ganz selbstverständlich zu sein. Welches Ziel sollen Menschen darüber hinaus noch in sich haben? Schauen wir auf kleine Kinder. Sie freuen sich und glucksen herzerfrischend, wenn sie etwas bewegen können. Zuerst greifen sie nach der Holzkugel an der Gummischnur, ziehen diese zu sich und lassen sie irgendwann schnappen. Das Gesicht strahlt. Später räumen sie die unterste Reihe des Küchenschranks aus, und die Töpfe scheppern nur so. Ein paar Jahre später fahren sie bei Dunkelheit mit dem Moped durch den Wald und landen wahrscheinlich in irgendeinem nassen Graben. Was bewegt sie dazu? Menschen wollen nicht nur etwas bewegen, sie wollen ihr Können bis zu einer Grenze ausreizen; sie wollen zeigen, was sie vermögen, auch wenn das nicht immer ganz rational ist. Was wollen wir auf dem Mond oder Mars? Ist das vernünftig? Selbst die Menschheit sagt: „Das schaffen wir.“ 56


Entelechie – ein Ziel in sich haben

Kleine Kinder probieren fast alles aus, stecken es in den Mund und später fragen sie nahezu nervend: „Was ist das?“ Auch wenn dieser Durst den meisten – warum auch immer – abhandenkommt, wollen immer noch einige wissen, was das ist, und die Welt, in der sie leben, verstehen. Was treibt sie dazu? Nicht nur kleine Kinder, sondern auch Erwachsene freuen sich, wenn sie mit ihrem Namen angesprochen werden, zumindest hören sie aufmerksam hin, wenn dieser fällt. Menschen wollen einen Namen bzw. einen guten Ruf haben, das heißt, wir wollen von der Gemeinschaft als Person anerkannt sein. Das lässt sich auch nicht einfach als kulturbedingt relativieren, das ist interkulturell, auch wenn die Spielregeln der Anerkennung kulturell sehr verschieden sein können.

An den Säuglingen sieht man auch sehr schön, was „stillen“ heißt. Nach der Brust liegt der Wonneproppen völlig entspannt, endlich ruhig und alle Vier von sich gestreckt auf der Decke. Was will man mehr vom Leben? Bei dem Kleinen kann man vielleicht noch von Bedürfnisbefriedigung sprechen, doch greift dieses Satisfaktionsmodell schon bei vielen Teenagern nicht mehr. Menschen bewegt eine Sehnsucht nach Sättigung. Was macht meine Seele satt? Was füllt mich wirklich aus? Glück – und zwar ein menschliches Glück mit Leib, Seele und Geist.

Meines Erachtens fragen Menschen mit ihrer Vernunft nach Wahrheit, streben mit ihrem Willen oder Herzen nach dem höchsten Gut, nach ihrem persönlichen Glück, und suchen mit ihren Sinnen nach Schönheit – und das alles so gut, wie sie es können das heißt: bis zu der ihnen möglichen vollendeten Wirklichkeit. Diese Bewegung oder diesen Drang haben sie nicht gewählt; diese Entelechie legte ihnen die Natur in die Wiege, weil sie Menschen sind.

57


Entgrenzung von Raum und Zeit Die Entgrenzung von Raum und Zeit erleben wir gegenwärtig. Bislang wurde in der Fabrik produziert und im Bürogebäude verwaltet – in festgelegten Räumen. Bislang wurde während klar definierten Zeiten gearbeitet und dies dokumentierte der Dienstplan oder die Stechuhr. Die Informations- und Kommunikationstechnologie des digitalen Zeitalters veränderten die Eingrenzung der Arbeit grundlegend. An einem Projekt kann heute rund um den Globus gleichzeitig oder pausenlos nacheinander gearbeitet werden; die Arbeit fließt kontinuierlich. Smartphones und WiFi im Notebook verschaffen dem Nutzer an jedem Ort Zugang zu den Datennetzen. Sie entgrenzen den Raum der Arbeit und machen diese Zuhause, im Urlaub während einer Alpenwanderung oder im Auto vor dem Seminargebäude möglich. Die Tatsache, dass permanente Kommunikation möglich ist, erzeugt auch die entsprechende Erwartung, permanent und überall erreichbar zu sein, überall und jederzeit zu arbeiten: 24 Stunden am Tag, an sieben Tagen in der Woche und das an jedem Ort. So nennen sich ja auch Vergleichsportale „Check24“ und Softwareprodukte „Office365“.

Diese Situation soll nicht beklagt werden. Darum geht es nicht. Die Konsequenzen für die persönliche Lebensführung, die Selbstorganisation und die Gestaltung des Miteinanders sollen aufgezeigt und Lösungen gefunden werden. Die neuen Kommunikationstechnologien schaffen Freiräume und Handlungsmöglichkeiten, die jedoch von uns noch zu gestalten sind. Mit der Entgrenzung von Raum und Zeit entfallen gemeinsame Gewohnheiten und Rituale. Fast alles steht zur Disposition und Gemeinsamkeiten müssen ausgehandelt werden. Die Synchronisation zwischen Menschen erfolgt nicht mehr automatisch, sie muss erwirkt werden. Die einzelne Person kann sich daher nicht auf einen gemeinsamen Rhythmus verlassen, weil arbeiten, einkaufen usw. überall und jederzeit möglich ist. Sie kann sich nicht einfach an gute Gewohnheiten anlehnen, sie muss sich selbst strukturieren, wenn sie ein gewisses Ziel verfolgen will. 58


Entgrenzung von Raum und Zeit

Eine Vielzahl von Informationen strömt auf uns ein und hinterlässt eine irritierende Unübersichtlichkeit. Wir hätten es aber viel lieber schlicht und übersichtlich, wir wollen es einfach. Wie kann die Unübersichtlichkeit reduziert werden? Angesichts grenzenloser Handlungsmöglichkeiten sind wir „zur Freiheit verdammt“. Ob wir es wollen oder nicht, wir müssen uns selbst strukturieren, organisieren, verabreden und unsere Ziele definieren. Welche Orientierungsmarkierungen liegen vor? Welche Entscheidungskriterien stehen zur Verfügung? Einige empfinden diese Situation als Überforderung und erleben sich selbst gestresst. So sagte eine junge Frau: „Das ist ein riesiger Berg vor mir, und ich habe Angst davor“.

Eine Alternative gibt es: Wir verweigern uns dem Entscheidungsstress und lehnen uns bedingungslos an die Konventionen des eigenen Milieus oder der augenblicklichen Mode an; wir lassen uns leben. Der Schrei nach klar strukturierten Arbeitsabläufen wird auch immer lauter. Insofern jenes konventionelle Leben keine echte Alternative sein soll, entsteht der Anspruch: „Ich bin der Autor meines Lebens – auch im Gelingen und Scheitern; ich bin der Täter meiner Taten.“ Dieser Anspruch mag pubertär oder existentialistisch wirken. Dem ist aber nicht so. Gerade Unternehmer wünschen sich Mitarbeiter, die ihr Leben in die Hand nehmen, Verantwortung für ihr Leben übernehmen und aufmerksam, sorgsam und ausbalanciert mit sich umgehen. Diese zentrale Frage „Will ich Autor meines Lebens sein, oder lasse ich mich leben?“ zielt auf die Haltung der Autorenschaft. Weil die Antwort eine grundlegende Haltung ist, artikuliert sie sich weniger in rationalen Sätzen, sondern eher in der Alltagsrhetorik: „Man muss …“, „Wenn man nur mehr Zeit hätte, …“ usw. In dieser Hinsicht ist Sprache verräterisch. Diese Opferrhetorik gibt das Subjekt des Sprechens – und damit der Lebensführung – nicht zu erkennen. Gibt es eine Alternative? Eine Ethik im Fahrwasser eines Aristoteles macht die persönliche Lebensführung zum zentralen Thema und fragt nach den Zielen des Lebens, nach Entscheidungskriterien, nach Gestaltungsmöglichkeiten und -bedingungen, nach Methoden und guten 59


Entgrenzung von Raum und Zeit Gewohnheiten; diese Ethik stellt sich der Herausforderung, in einer differenzierten, unübersichtlichen Wirklichkeit Wege und Methoden zu finden, auf denen das Leben gelingen kann. Wie kann ich mein Leben führen, so dass es gelingt, dass es ein „gutes Leben“ wird?

60


Was ist Erfolg? Am 22. Oktober 2009 stellten Kaus Berger, Christoph Kumpf und ich unser Buch „Ethik des Erfolgs“ in der Dombibliothek Hildesheim vor. Bischof em. Dr. Josef Homeyer fragte mich, was denn Erfolg sei, und hielt eine sehr kritische Buchvorstellung.

Die Meister des Marketings sagen: „Erfolg ist das Erreichen selbstgesetzter Ziele.“ Das ist richtig und falsch. Richtig ist, dass Erfolg etwas mit Zielerreichung zu tun hat, und es in der Regel um Ziele geht, die wir uns selbst setzen. Jedoch geben uns das Leben, die Wirklichkeit und andere Menschen sowie auch Gott Aufgaben, also Ziele, die wir uns gerade nicht selbst gesetzt haben. Darum ist es für den Erfolgreichen ein Gebot der Klugheit, die Aufgaben zu erkennen, die uns die Wirklichkeit stellt, sowie die eigene Berufung zu entdecken und den Handlungsspielraum zu erkunden.

Unter Erfolg verstehen die meisten eine berufliche Karriere, öffentliche Anerkennung und eine gewisse Machtfülle. „Freiheit für mich und Macht über andere“ lautet das Motto. Sicherlich sind Güter wie Karriere, Geld, Wohlstand und Anerkennung wichtig. Sie erhalten erst dann ein angemessenes Gewicht, wenn sie Gütern wie Leben, Zuneigung, Achtung, Freundschaft sowie Schönheit und Gesundheit gegenübergestellt werden. Deutlich tritt diese Wertrangordnung hervor, wenn wir die Zeitachse verlängern, diese Güter also „nachhaltig“ betrachten und auch den Ressourcenverbrauch – zum Beispiel einer beruflichen Karriere – in Betracht ziehen. Dem Erfolgreichen gelingt sein Leben als Ganzes und er lebt in Freundschaft mit anderen und mit sich selbst – so Gott will. Kurzfristigen Zielen, die möglicherweise noch eindimensional sind, das Leben zu opfern, wird sich als sinnlos herausstellen. Der Erfolgreiche kann sich selbst führen, was übrigens eine Voraussetzung dafür ist, dass er andere Menschen führen kann. Auch hier steht letztlich die Frage: Wer führt mich eigentlich? Sind es Prinzipien wie die Goldene Regel, der kategorische Imperativ, der Respekt vor dem 61


Was ist Erfolg?

Leben oder Machthunger, Gier usw.? Wem darf sich der Erfolgreiche anvertrauen?

Der Erfolgreiche gestaltet sich klug, gerecht, mutig und maßvoll, und er lässt sich mit Glaube, Hoffnung und Liebe beschenken. Die Selbstgestaltung geschieht auf den bisweilen steinigen und langen Wegen der Lebensführung; und Geschenke müssen auch angenommen und ausgepackt werden. Auf den Charakter eines Menschen kommt es an. Ist dieser in Ordnung, wird er in seinem Handeln die Früchte des Erfolges ernten. Ein Mensch, der seinen Charakter in eine vernünftige Ordnung bringt, also tugendhaft ist, wird seine selbst gesteckten Ziele – so Gott will – erreichen. Er wird über Energie und Kreativität verfügen, weil er in Freundschaft lebt, weil er zur Ruhe kommt und sich der Wirklichkeit in einer zuversichtlichen Gelassenheit stellt.

Das Glück liegt im Handeln, wenn es denn gesegnet wird, und der Erfolg unserer Handlungen folgt unserem inneren Sein, unserem Charakter.

62


Erste und zweite Ursachen

Erste und zweite Ursachen

Aristoteles spricht in der sogenannten Metaphysik von ewigen und vergänglichen Ursachen oder von ersten und erzeugbaren Prinzipien. Kommt hier etwas durcheinander? Später nennt man das die ersten und zweiten Ursachen. Was kann man darunter verstehen?

Vielleicht hilft ein Beispiel. Wenn wir im Kino sitzen, wollen wir einen Film sehen und diesen genießen. Wir sehen die bewegten Bilder und hören Töne, wir verfolgen die Handlung und sind mitten drin im Film. Mit den Personen gehen wir mit, finden sie vielleicht sympathisch oder denken unseren Teil über den Film. Dabei merken wir gar nicht, dass es eigentlich nur bewegte Bilder auf der Leinwand und Töne, die wir durch Lautsprecher hören. Plötzlich fällt der Strom aus. Nichts passiert, und wir sitzen verdutzt in einem dunklen, stillen Raum. Was ist passiert? Der Projektor steht aus irgendwelchen Gründen still, und nichts ist – zumindest kein Film. Dann fangen wir an nachzudenken und bemerken, dass der Projektor die fundamentale Ursache der bewegten Bilder und Töne ist.

Verhält es sich mit der Wirklichkeit, in der wir leben, ebenso? Ganz selbstverständlich gehen wir davon aus, dass etwas ist, dass die Naturgesetze funktionieren, dass die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht, oder dass ich mir auf die Fußspitzen schauen kann.

Warum ist überhaupt etwas? Es könnte ja auch nichts sein.

Diese Frage will das Paradigma der ersten und zweiten Ursachen klären. So wie der Filmprojektor die notwendige und erste Ursache dafür ist, dass wir einen Film sehen und erleben können, so müsse es erste Ursachen für die Existenz der Wirklichkeit, in der wir leben, geben. Die ersten Ursachen liegen auf einer anderen (ontologischen) Ebene als die wahrnehmbare und denkbare Wirklichkeit, konstituieren diese jedoch und gehen in ihr nicht auf. 63


Erste und zweite Ursachen

Wir bewegen uns auf der Ebene der wahrnehmbaren und denkbaren Wirklichkeit. Die technischen Geräte funktionieren, die natürlichen Dinge überraschen uns zwar manchmal, bleiben aber ganz zuverlässig, was sie sind, die Naturgesetze zeigen sich stabil und verlässlich. Auch unser Denken lässt uns nicht ganz im Stich. Das soll gar nicht ironisch oder böse gemeint sein. Wir bewegen uns selbstverständlich in dieser Wirklichkeit wie Fische im Wasser. Da stimmen einfach unsere Erkenntnisse, Aussagen und Entscheidungen. Trotzdem fragen Menschen: Warum ist das so? Wissen die Punkte auf dem Kreisumfang, dass es einen Mittelpunkt gibt, der sie konstituiert und anordnet? Denken wir im Kino an die Daseinsgrundlage des Films? Nein, und trotzdem ist die erste, sogar notwendige Ursache des Kreises ein Mittelpunkt und ein Projektor ist Ursache des Filmgenusses.

Freilich kann man sagen, das sei eine unangemessene Metapher und solche Fragen nach ersten Anfängen und Ursachen seien sinnlos. Gut, dann braucht man auch nicht weiter zu fragen und schaut sich eine Computersimulation von schwarzer Materie an. Dann hat man wenigstens etwas Handfestes.

64


Wie erziehen wir unsere Kinder? Wenn es um die Kinder geht, wird es ernst. Schon bei den Tieren kann man das beobachten. Kleine Vögel greifen größere Vögel, welche die Brut rauben wollen, an und riskieren dabei alles. Bei Menschen, wenn sie nicht völlig verwahrlost sind, kann man das ebenso beobachten. Warum suchen die Eltern nach Kriterien, was ihren Kindern zuträglich oder schädlich ist? Warum sind sie weniger tolerant und wählen sorgfältiger aus? Sie sind ihr eigen Fleisch und Blut. Die Kinder sind den Eltern ans Herz gewachsen; sie sind ihnen so nahe am Herzen, näher geht es nicht. Darum haben Eltern den sehnlichsten Wunsch: Die Kinder sollen „gute Menschen“ werden; und darum machen sie sich Gedanken, sprechen und streiten, was richtig oder falsch ist.

Ergo: Erziehung ist der Ernstfall der Ethik, denn erstens geht es in der Erziehung um das Wertvollste, was Menschen haben – um ihre Kinder. Zweitens geht es um etwas, was Menschen zu Menschen macht – um einen guten Charakter. Und drittens wollen Eltern in der Erziehung klare Kriterien für „gut“ und „böse“ haben.

Wie erziehen wir unsere Kinder? Liebevoll.

Wir wollen, dass unsere Kinder zuerst einer freundlichen Wirklichkeit begegnen, und dass sie grundsätzlich Vertrauen aufbauen können. Auf dieser Basis können sie ihre Kräfte entfalten und sich entwickeln, Fremdes erkunden und Neues entdecken. Wir wollen, dass unsere Kinder der Wirklichkeit vertrauen und an die Güte der Welt glauben können. Glücklicherweise hat das Kind es zuerst mit der Mutter, dem Vater und den Geschwistern zu tun, womit dafür gesorgt ist, dass es zuallererst einer liebevollen, gütigen Wirklichkeit begegnet. Ohne Vertrauen oder Glauben werden sie es schwer haben, all die wunderbaren Begabungen, Talente, den ganzen inneren Reichtum ans Tageslicht zu bringen und zu realisieren. Ohne Vertrauen, dass es die Anderen mit uns gut meinen, gelingt kein Selbstvertrauen und die Entwicklung der Fähigkeiten kommt nicht in Gang. 65


Wie erziehen wir unsere Kinder?

Wie erziehen wir sie? Wir verwöhnen sie nicht, wir nehmen sie in Zucht.

Auch wenn Nuckeln angenehm ist, insbesondere wenn etwas Süßes rauskommt, und das Kleine immer mehr und sowieso immer nur nuckeln will, werden Eltern dafür sorgen, dass es nicht permanent dem süßen Lustgewinn frönt. Das Kind ist damit wahrlich nicht einverstanden, was die Eltern auch zu hören bekommen: Es schreit. Erziehen heißt hier, in Zucht nehmen. Das Kind wird der Lust-Unlust-Steuerung entwöhnt, und dadurch erhalten andere Motivatoren eine Chance. Ob nun Verwöhnen das Schlimmste ist, was man einem Kind antun kann, darüber lässt sich sicherlich streiten; doch eines wird klar: Die Entfaltung der Möglichkeiten und Begabungen kommt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zum Zug. Mental wird es auch als Erwachsener nuckelnd seinen Daumen im Mund bewegen und infantil bleiben.

Eltern muten ihren Kindern einiges zu.

Was denn? Das Leben, so wie es ist. Das gibt es auch Unangenehmes und sogar Schmerzen, zum Beispiel Zahnschmerzen. Wenn das Kind Zahnschmerzen hat, geht es trotz aller Angst zum Zahnarzt, und die Mutter wird dem Kleinen sagen „Sei tapfer!“ Alles andere hat keinen Sinn. Wir müssen einfach lernen und üben, mit unserer Angst vor Unangenehmem und Schmerzen umzugehen. So wächst das Kind, entdeckt seine Fähigkeiten und entfaltet sie. Wir wachsen an unseren Aufgaben und mit ihnen. Freilich ist dabei eine Balance zwischen Unterforderung und Überforderung zu beachten, doch das Schlimmere ist die Unterforderung. Kinder wachsen an ihren Aufgaben, und darum brauchen sie Aufgaben – Pflichten, die ihnen obliegen: das Altglas in den Container bringen, einkaufen, Telefonate entgegennehmen und all die Klassiker wie Tisch decken. Außerdem kann jeder – auch der Kleine – einen Beitrag für das Leben in der Familie bringen. Das tut allen gut und schafft auch ein gewisses Selbstwertgefühl bei dem Kleinen: „Ich kann das schon.“ 66


Wie erziehen wir unsere Kinder?

Erziehung sei der Ernstfall der Ethik, ist meine These, und darum suchen wir nach Kriterien für „gut“ und „böse“.

Wie erziehen wir unsere? Gut, und bitte nicht das Beste.

Eine Zeit lang waren Erwachsene der Meinung, die Kinder sollen es besser haben als sie, und räumten ihnen alle möglichen Hindernisse aus dem Weg. Freilich sollte ein Kind nicht unnötig frieren oder hungern, doch es soll entdecken, dass zu jedem Wunsch eine Aufgabe – und zwar seine – gehört. Wenn die Eltern zum Beispiel dem Kleinen gestatten, in einer Mannschaft Fußball zu spielen, darf das noch lange nicht heißen, dass der Kleine zum Fußballtraining gefahren wird. Wie er zum Fußballplatz kommt, ist seine Aufgabe, und er kann sie allein lösen. „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.“ Das Kind entfaltet dabei nicht nur seine Fähigkeiten und Kräfte, es legt sich – sozusagen auf dem Weg zum Fußballplatz – gute Gewohnheiten zu, die es im späteren Leben dringend nötig haben wird. Durch diese Praxis lernt das Kind, sich zu strukturieren und Maßstäbe zu entdecken. Da hilft nicht viel Reden und Belehren, da hilft nur Machen – „Mach es einfach.“ Die Gewohnheiten, die uns wirklich strukturieren und stabilisieren, haben wir sehr früh erworben.

Eltern muten ihren Kindern auch Konflikte zu und lösen nicht alle anstehenden Entscheidungen in Wohlgefallen auf. Im Konflikt, wenn zwei Werte miteinander konkurrieren, entdecken wir erst, was die eine Sache uns wert ist. Auch für Kinder sind Zeit und Geld knapp, auch für das Kind ist ein schönes Ergebnis mit mühseliger Anstrengung verbunden und wenn es das eine wählt, kann es nicht auch noch etwas anderes tun. Entscheidungen sind mit Enttäuschungen verbunden. Wenn zum Beispiel Georg sich für Tischtennis entscheidet, entscheidet er sich damit gegen Fußball und Schwimmen; und Georg wird sich dabei überlegen, was ihm Tischtennis wert ist.

67


Wie erziehen wir unsere Kinder?

Wie erziehen wir unsere Kinder? Bevor Opa stirbt.

Werden Kinder größer, haben sie bekanntlich Schwierigkeiten mit den Eltern und finden ihre Großeltern wieder interessant. Maria quetschte die Gerda-Oma regelrecht aus, wie sie die Nachkriegszeit erlebte. Vielleicht ist es Abenteuerlust, vielleicht ist es Suche nach der eigenen Herkunft – auf jeden Fall hing Maria der guten Gerda an den Lippen. Spannende Erzählungen kommunizieren unter der Hand moralische Einstellungen und Einsichten, die mit einer glaubwürdigen Person verbunden echt, authentisch und überzeugend sind. Simon stellte kürzlich lapidar fest: „Bevor Opa stirbt, müssen wir seine ganzen dummen Sprüche noch aufschreiben, sonst gehen sie verloren.“ In dieser kleinen Respektlosigkeit steckt viel Respekt vor Opas Lebensweisheit. Was zählt im Leben? Was ist wirklich wichtig? Kinder und junge Erwachsene mögen und suchen diese Weisheiten. Vielleicht hatte Simon auch nur den Unterhaltungswert der großväterlichen Sprücheklopferei im Sinn, was umso besser wäre, denn der Witz steigert die Aufmerksamkeit und verlängert die Verweildauer im Gedächtnis. Übrigens kommen Sie als Erwachsener besser durch schwierige Situationen, wenn Ihnen eine eiserne Reserve an dummen Sprüchen zur Verfügung steht.

Fazit: Erziehen und nicht Klagen

Über die heutigen Schwierigkeiten bei der Kindererziehung wird viel und gern gesprochen. Doch glaube ich nicht, dass früher die Wiesen grüner waren als heute. Erziehung war, ist und wird auch künftig eine anspruchsvolle, schwere und zugleich schöne Aufgabe sein. Die entscheidende Frage ist, ob sie sich der Erziehung Ihrer Kinder entziehen oder nicht.

68


Freiheit: anders können. Wie lange kann ich die Luft anhalten? Kinder finden das faszinierend und probieren es, bis sie blau anlaufen oder umfallen. Manche von ihnen können es ganz schön lange und das, bis sie ohnmächtig werden. Einige Aktivitäten müssen wir nicht tun, wir können sie tun oder auch sein lassen. Auf andere Aktivitäten haben wir keinen Einfluss, auch wenn wir sie selbst tun. Ob mein Herz schlägt oder nicht, ob mein Darm verdaut oder nicht, hängt nicht von meiner Zustimmung ab. Beide Organe tun es einfach – auch ohne meine Zustimmung. Bei einigen Aktivitäten können wir anders, bei anderen nicht.

Auch wenn das naiv erscheint, bestehe ich auf diese handfesten Beobachtungen aus dem Alltag. Es gibt Situationen, in denen wir anders können. Klingelt das Telefon, muss ich den Anruf nicht entgegennehmen. Ich kann es auch klingeln lassen. Jetzt kann ich einen Kaffee kochen, aber ich schreibe weiter. Diese Beispiele mögen banal und schlicht erscheinen. Trotzdem zeigen sie auf, dass wir sehr häufig „anders können“.

Wenn wir handeln, erledigen wir nicht nur Dinge draußen, wir bewirken in unserem Inneren auch etwas: wir bilden Gewohnheiten aus und gestalten unseren Charakter. Wenn Menschen immer wieder den gleichen Weg über eine Wiese gehen, entstehen Trampelpfade, ob sie es wollen oder nicht, und sie werden künftig auch auf solchen Trampelpfaden gehen. Handeln, und zwar wiederholtes Handeln, legt in unserem Charakter solche Trampelpfade an, die sich neurologisch sicherlich als Synapsenverbindungen darstellen und abbilden lassen. Durch Handeln legen wir uns fest und wir werden uns selbst zum Schicksal, weil wir Automatismen und Gewohnheiten entwickeln. Dann hängt nicht nur der Schlüssel am gewohnten Ort, wir decken auch den Tisch gewohnheitsmäßig so und nicht anders. So entwickelt fast jeder seine Rituale und Routinen und das ist, Gott sei Dank, so. Gewisse Dinge oder Aufgaben müssen nicht entschieden werden. Soll ich überlegen oder erst entscheiden, ob ich mir heute die Zähne putze oder nicht? Das wäre banal, und ich käme zu nichts, wenn ich meine Aufmerksamkeit an 69


Freiheit: anders können.

Fragen wie „Zähneputzen – ja oder nein?“ verschwenden würde. Diese Aufgaben entscheiden wir auch nicht. Vielleicht denken wir ab und zu über sie nach, wir reflektieren (beugen uns zurück) im Nachhinein.

Bisweilen kommen wir auch zu dem Entschluss, eine Gewohnheit abzulegen, zum Beispiel mit dem Rauchen aufzuhören. Dann merken wir, wie schwer es ist, gewohnte Handlungsmuster zu durchbrechen, und zum Beispiel auf die Pausenzigarette zu verzichten. Schwer und schmerzlich ist dieser Durchbruch und man merkt, wie fest und mächtig Handlungsmuster sind. Trotzdem kann ich die Zigarette sein lassen; wir können Gewohnheiten ablegen, wir können uns selbst gestalten und darin sind wir frei. Hier haben wir Handlungsalternativen, hier können wir anders. Essen, schlafen, usw. müssen wir weiterhin, da können wir nicht anders. Unsere Freiheit ist dabei an diesen menschlichen Leib, diese Seele und diesen Geist gebunden, denn wir haben uns selbst nicht gemacht. Diese Gegebenheiten sind die Grenzen menschlicher Freiheit. Trotzdem bleibt festzuhalten: Wir können anders, wir können wählen und wir können entsprechend handeln. Menschen haben Alternativen und wir leben Alternativen. So erleben wir uns, so gehen wir – in aller Höflichkeit – miteinander um und legen großen Wert auf diesen Respekt. Allerdings ist uns nicht alles möglich, weil wir Geschöpfe sind. Unsere Freiheit stößt an Grenzen. Allein können Menschen nicht leben und nach wie vor ist auch bei Menschen die Sterblichkeitsrate mit 100% gleichbleibend hoch. Innerhalb ganz bestimmter und konkreter Grenzen leben wir als Kreaturen und handeln darin frei. Das ist zwar keine absolute Freiheit, aber immerhin Freiheit.

Menschen können anders – zwar nicht alles, aber immerhin das Entscheidende: Sie können sich jemandem zuwenden und sich an ihn binden. So wachsen und reifen sie und tragen schließlich Frucht.

70


Freimut Dieser Gedanke schließt sich an den Gedanken über „Geist“ an. Vor einigen Tagen war Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes. Schon als Kind faszinierte mich die Pfingstgeschichte, weil ich anscheinend in der Schule Schwierigkeiten mit dem Erlernen fremder Sprachen, des

„Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören?“6

Menschen können einander verstehen, und anscheinend spielen Barrieren keine bedeutende Rolle mehr, wenn sie eines Geistes sind. Dann sprechen sie Eine Sprache.

Noch eines: Als Kind hörte ich, dass der Heilige Geist bei mir sei und mir die richtigen Worte in den Mund lege, wenn mich die Lehrerin wegen meines christlichen Glaubens fertig machen wollte. „Habe keine Angst vor den Richtern dieser Welt. Ich werde bei dir sein, und dir die richtigen Worte in den Mund legen“, hörte ich. Das half. Als Student lernte ich den Begriff „parrhesia“ – Freimut, innere Freiheit, Souveränität – kennen. Dieses Wort kommt bei Platon im Symposion vor. „Nachdem Alkibiades dies gesagt habe, sei nun ein Gelächter wegen seiner Freimütigkeit entstanden, weil er immer noch in Sokrates verliebt zu sein schien.“ 7

Apostelgeschichte 2, 4-8. 7 Platon, Symposion 222c. 6

71


Freimut

Auch die Apostelgeschichte kennt „parrhesia“.

„Als sie den Freimut des Petrus und Johannes sahen und merkten, dass es ungelehrte und einfache Leute waren, wunderten sie sich.“8

Für die junge Kirche scheint diese innere Freiheit ein Dreh- und Angelpunkt in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft zu sein, denn sowohl die Christen in Jerusalem als auch in Ephesus beten um „parrhesia“ in der Verkündigung des Evangeliums.9 Mich faszinierte dieses Phänomen. Dann trat der Ernstfall ein. Mein Freund verließ im Februar 1980 die DDR illegal, beging also Republikflucht und zwar erfolgreich. Das ärgerte gewisse Organe der DDR, obendrein wussten sie nicht, wie mein Freund abgehauen ist – also doppelter Ärger. Weil ich diesen Freund im Dezember 1979 für mehrere Tage besucht hatte, luden mich die Mitarbeiter dieses Organs zu Gesprächen ein. Zwei Dinge führten mich durch diese Gespräche. Erstens: „Wenn Wissen Macht ist, dann macht Nichts-Wissen auch nichts.“ Mein Freund hatte mir nämlich nicht gesagt, was er vorhatte oder gar wie er es anstellen wollte. Zweitens stärkte mir der Gedanke an die „parrhesia“ den Rücken: Wenn ich vor den Mächtigen dieser Welt stehe, muss ich mir keine Sorgen machen, was ich sage und wie ich dastehe. Der Heilige Geist wird bei mir sein, den guten Gedanken aufkommen lassen und das richtige Wort in den Mund legen. „Keine Angst, ich bin bei dir.“

Apostelgeschichte 4, 13. 9 Apostelgeschichte 4, 29 und Epheser 6, 19. 8

72


Freude Freude ist zunächst eine Lust. Doch lohnt es sich, noch einmal genauer hinzuschauen und Lust zu differenzieren, denn es gibt verschiedene Arten von Lust. Es macht ja schließlich einen Unterschied, ob jemand sich den Bauch gierig vollschlägt oder ein schön zubereitetes Essen auch genießen kann. Worin liegt der Unterschied? In der Bildung, genauer gesagt: im Wissen und der Kunstfertigkeit. Derjenige, der weiß, was man mit einem argentinischen Hüftsteak machen und wie man es kunstvoll zubereiten kann, wird es intensiver genießen können und die Kochkunst zu schätzen wissen, als wenn jemand nur seinen Hunger sättigen will und gerade auf das gut zubereitete Hüftsteak stößt. Kennt jemand die unterschiedlichen Sorten von Hüftsteak und verschiedene Arten der Zubereitung, dann wird ihm das Essen ein Genuss sein und er wird sich sowohl über den Koch als auch über das Steak freuen. Will damit sagen: Der Verständige empfindet eine andere Lust als der Unverständige, weil er nicht nur lustvoll das Sättigungsgefühl empfindet, sondern sich auch noch am Essen erfreuen kann. Die Freude ist eine Art der Lust, welche mit Verstand verbunden ist, zumindest nicht ohne Verstand sein kann; und weil Menschen nicht nur in ihrer biologischen Natur aufgehen, sondern auch eine kulturelle (logosartige) Natur haben, ist Freude die menschliche Lust. Freude ist Lust, aber eine ganz und gar menschliche Lust, weil sie mit Vernunft und Verstand auftritt. Wenn wir uns über etwas freuen, meinen wir sogar, das Glück zu spüren, und schätzen uns glücklich.

Die Freude – diese Lust der Vernunft – lässt uns Flügel wachsen, wir spüren Energie in uns und sind motiviert, denn nichts motiviert mehr als die Freude über Gelungenes. Auch Wertungen fällen Menschen mittels der Freude. Worüber wir uns freuen, das schätzen wir als „gut“ und wählenswert. Wir wollen und suchen das, was uns Freude bereitet. Die Freude offenbart auch den Habitus eines Menschen. Wenn man herausfinden will, welchen Charakter ein Mensch hat, dann solle man ihn einfach fragen, worüber er sich freut. Die Freude eines Menschen 73


Freude

offenbart sein Inneres, die Qualität seiner inneren, persönlichen Haltung.

Auch geistige Tätigkeiten wie Forschen, Gewinnen einer Einsicht und selbst Staunen können richtig lustvoll sein. Wir geraten dann in einen euphorischen Zustand. Menschen haben einfach Lust am Lernen und Entdecken, obwohl das Streben nach Wissen mit Anstrengung und Mühe verbunden ist. Die Suche nach Neuem und das Wissen-Wollen entsprechen unserer geistigen Natur viel mehr als der Genuss an gutem Essen. Deshalb lassen einige Menschen sogar für eine Erkenntnis ein gutes Essen sausen, weil der Genuss einer Einsicht größer ist als der eines Essens. Wenn wir uns über Erkenntnisse und Einsichten freuen, unterstützt diese Lust unseren Vernunftgebrauch, „denn wir tun mit größerer Aufmerksamkeit das, was wir mit Lust tun; Aufmerksamkeit aber unterstützt. Dann kommen wir in Schwung, können uns richtig gut konzentrieren, merken gar nicht, dass wir uns anstrengen. Uns wachsen Flügel.

74


Freundschaft Dieser Tage musste ich an das Thema Freundschaft denken. Da hat mir Aristoteles auf die Sprünge geholfen. Da gibt es Beziehungen, die wie Freundschaft aussehen, aber doch keine sind: • Freundschaft aus einem gemeinsamen Nutzen; und kommt dieser Nutzen abhanden, dann ist die „Freundschaft“ auch bald vorbei. Vielleicht sollten wir dann doch lieber „Geschäftspartner“ sagen, denn manch einer mimt „Freundschaft“ und will uns doch nur emotional einwickeln. • Freundschaft um der Unterhaltung willen; und kommt der Spaß abhanden, dann laufen die „Freunde“ auseinander. Vielleicht sagen wir dann doch lieber „Kumpel“.

Diese Beziehungen, die wie Freundschaft aussehen, zielen auf eine angenehme Eigenschaft des anderen und nicht auf die Person. Das scheint mir die Gretchenfrage zu sein: Meine ich den anderen als Person mit Licht und Schatten, mit Stärken und Schwächen?

75


Freundschaft

Die echte Freundschaft braucht ganz viel Zeit, denn der Wille, jemand Freund zu sein reicht nicht aus. Bei aller Unterschiedlichkeit müssen gemeinsames Interesse, Wertschätzung und der Wille zur Ehrlichkeit vorhanden sein. Dann entsteht dieses emotional verankerte Vertrauen, dass unserem Leben Halt gibt. Aber Vorsicht: Die Fehler beim Freund ärgern uns richtig und viel mehr als bei Menschen, die uns gleichgültig sind. Da kann es bisweilen sehr grob werden. Aristoteles gewinnt mit „Freundschaft“ eine Beschreibung für Glück:

„Glücklich ist derjenige, der mit sich selbst und mit anderen befreundet ist.“ 10

Als Christ möchte ich diesen Gedanken um ein Element ergänzen: „und mit Gott“.

10

Aristoteles, Nikomachische Ethik 1170b. 76


Führen Nachdem vor einigen Jahrzehnten der Führer abhandenkam, wird heute wieder von Führen, Führung und vor allem von Führungskompetenzen gesprochen. Darum gestatte ich mir die Frage, was Führung überhaupt ist.

Führung ist Machtausübung, denn es gibt ein Gefälle zwischen dem Führenden und den Geführten. Dafür hat das Arbeitsrecht verschiedene juristische Begriffe wie Weisungsbefugnis. Nun leben wir in einer Demokratie, welche eine Grundannahme hat: Es gibt Freiheit und die Menschen sind frei. Angenommen, wir akzeptieren diese Unterstellung, dann drängt sich die Frage auf: Was rechtfertigt die Herrschaft von Menschen über freie Menschen? Warum nehmen wir das Machtgefälle hin? Die klassische Antwort, der ich mich anschließe, lautet: Das Engagement um das Gemeinwohl (bonum commune) rechtfertigt Herrschaft, Machtausübung und Führung, denn nicht alle können gleichzeitig die Verantwortung für das Gemeinwohl zeichnen und zuständig sein.

Im Kontext der Ökonomie ist das „bonum commune“ in der Regel das Unternehmenswohl. Der Unternehmer oder die Führungskraft erhält mit dem Verweis auf das Unternehmenswohl – und nichts anderem – die Machtfülle, Menschen einzustellen und zu kündigen, Beurteilungen (und kein Feedback) zu formulieren, überhaupt Entscheidungen zu fällen und Anweisungen zu geben. Der Grund dieser Machtfülle liegt im Unternehmenswohl und in nichts anderem. Worin liegen die Führungsaufgaben aus dem Blickwinkel der klassischen Ethik? Meines Erachtens:

 Die führende Person ist klug beraten, eine „Kultur des Vertrauens“ ins Leben zu rufen. Vertrauen senkt die Transaktionskosten. Misstrauen ergibt keine Kooperationsbasis und verplempert Geld und Zeit – eben die knappen Ressourcen.  Die führende Person muss die anderen orientieren, denn diese brauchen jemanden mit Überblick. Dabei ist sie klug, wenn sie 77


Führen

sich intensiv beraten lässt, couragiert selbst die Entscheidung fällt und diese dann auch klar kommuniziert. Menschen wollen wissen, was los ist und wohin der Hase läuft.  Nicht motivieren, denn das ist manipulieren, soll die führende Person, sondern überlegen, warum die Mitarbeiter ihre Potentiale nicht ausleben. Wo gibt es Demotivatoren – also Blockaden der Motivation – im Unternehmen? Was behindert die Menschen, ihre Energie fließen zu lassen?  Häufig wird „Wertschätzung“ genannt und das ist richtig. Allerdings besteht Wertschätzung nicht allein im Loben, sondern auch im Tadeln. Hier geht es um Wahrheit und Wirklichkeit. Alles andere – nämlich der Verzicht auf Tadel und Sanktionen – ist für mündige und aufgeklärte Menschen unwürdig. Übrigens, ehe man Mitarbeiter lobt, muss man sie erst einmal als Person (und nicht nur als AK-Stelle) wahrgenommen haben.  Die führende Person muss Controlling betreiben, und das darf nicht mit Kontrolle verwechselt werden.

Der Führer führt. Bekanntlich ist es an der Spitze eines Berges einsam und zugig; ebenso an der Spitze eines Unternehmens. Darum die essenzielle Frage: Wer führt den Führer? Wer führt mich?

78


Geist An anderer Stelle werden Sie einiges über die Seele lesen. Soviel sei jetzt vorweggenommen, dass Menschen aufgrund ihrer Sprachfähigkeit Zutritt zu einer immateriellen Dimension haben: zur Welt des Geistes. Was ist das – der Geist? Menschen können sich über Sachen unterhalten, Pläne schmieden oder Häuser bauen, was nur geht, wenn sie etwas Gemeinsames haben. Dieses Gemeinsame ist der Geist.

Auch wenn Menschen mit ihrem Leib an einem Tisch sitzen, können sie mit den Gedanken ganz woanders sein. Sie können zum Beispiel den Roman „Der Name der Rose“ lesen, mit den Gedanken in einem mittelalterlichen Kloster leben, den Mönchen beim Singen des Chorals zuhören oder mit ihnen Mittag essen und einen Mörder suchen. Im Geist können Menschen andere Welten erschaffen und diese bevölkern. Das funktioniert sogar so gut, dass Menschen Anderen davon erzählen können und wie Umberto Eco sogar ein Buch schreiben, dass ermöglicht der Leserin eine gemeinsame Klosterwelt vor dem inneren Auge entstehen zu lassen.

Insbesondere Kommunikation und Verstehen gehen ganz praktisch von einem Zusammenhang – von einem Dritten – aus, aufgrund dessen unterschiedliche Menschen sich verstehen können. Das passiert ja gerade jetzt, wenn Sie diese Worte lesen und dem Gedanken nachgehen.

Deutlich wurde dieses Phänomen auf der KSZE-Konferenz 1973-1975 in Helsinki. Dort wurde eine Schlussakte über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einvernehmlich erstellt. Als dann die Delegationen in ihre Heimatländer zurückkehrten und das Protokoll in die jeweilige Landesprache übersetzten, legte jeder die Akte nach nationalen Interessengesichtspunkten aus. Schließlich zerbrach das gemeinsame Verständnis, obwohl buchstabengetreu interpretiert wurde. Da beschworen einige den „Geist von Helsinki“, was sicherlich keine esoterische Geisterbeschwörung war, sondern an die Atmosphäre des gemeinsamen Verstehens erinnerte. Das Einander-Verstehen benötigt 79


Geist

einen Zusammenhang, eine Übereinkunft, eine intellektuelle Atmosphäre oder ein Medium – eben Geist.

Wie kommen wir zu diesem Geist in? Die Bibel erzählt am Anfang einen Mythos. „Jahwe bildete den Menschen aus Staub vom Erdboden und blies in seine Nase einen Lebenshauch. So wurde der Mensch ein lebendes Wesen.“ 11

Diesen Lebenshauch kann man direkt als Atem verstehen, aber auch als Inspiration – Einhauchung – der menschlichen Seele. Das lateinische Wort für Geist „spiritus“ kommt vom Verb „spirare“ – wehen, hauchen, blasen, brausen. Geist ist damit etwas Verbindendes, etwas Ganzes und ein Drittes, was nicht gleich wahrgenommen wird. So wie das Sonnenlicht als Drittes hinzukommen muss, damit das Auge die Blume sehen kann, so muss eine Atmosphäre des Denkbaren dazukommen, damit unser Denken das Gedachte denken kann – und diese Atmosphäre des Denkbaren nennt man „Geist“. Weil die menschliche Seele eine geistartige Seele ist und am Geist partizipiert, kann sie mit allem Seienden übereinkommen und Wirklichkeit immateriell aufnehmen, denken und erkennen. So kann die menschliche „Seele in gewisser Weise alles sein“ (anima quadammodo est omnia), weil sie Wirklichkeit nicht nur sinnlich wahrnimmt, sondern auch geistig aufnimmt.

Geist ist die immaterielle Wirklichkeit, die Welt des Denkbaren.

Der jüngst verstorbene Philosoph Odo Marquart bemerkte, dass alle Philosophen Nussknacker seien. Eine neckische Wortspielerei ist das, denn das griechische Wort „nus“ wird in der Regel im Deutschen mit „Geist“ übersetzt und den wollen die Philosophen, so Odo Marquart, knacken. Bei Geist muss man nicht gleich an sonderlich hochtrabende 11

Genesis 2, 7.

80


Geist

oder intellektuell verzwickte Gebäude wie Hegels Weltgeist denken. Das Substantiv „nus“ kommt vom Verb „noein“ – denken; „noeo“ – ich denke. Dieser Wortstamm wird dann ausgefaltet: „noesis“ – das Denken; „noeton“ – das Denkbare; „nooumenon“ – das Gedachte. Auf Lateinisch heißt das Wort „mens“. Boris Becker benutzte es einmal als er seinen Zustand beschrieb: „Da war ich mental nicht gut drauf.“ Blicken wir nicht nur auf Boris Becker, sondern auf alle Menschen, und fragen wir uns, was uns Menschen von anderen Lebewesen abhebt, so kann man sagen: „Geist ist das, womit die menschliche Seele denkt.“ 12

Mittels des denkenden Vermögens können wir intelligible Formen aufnehmen. Wenn ich zum Beispiel einen Stein in die Hand nehme und ihn anschaue, dann habe ich doch nicht einen Stein im Kopf, sondern den Gedanken „Stein“. Es geht also um Aufnahme von Wirklichkeit außerhalb des Subjekts. Die Pflanze nimmt physische Stoffe außerhalb ihrer auf und verwandelt sie zu körpereigenen Stoffen wie Blätter und Kohlenstoff. Tiere tun das auch, wenn sie fressen und trinken. Darüber hinaus nehmen sie mit ihren Sinnen Wirklichkeit auf und verwandeln Wahrnehmungen zu Vorstellungen. So jagt die Katze einer Maus hinterher und frisst sie auf, falls die Katze erfolgreich war. Menschen können noch mehr. Zwar nehmen wir Wirklichkeit materiell und ästhetisch wie andere Lebewesen auf, wir können jedoch darüber hinaus Formen gedanklich aufnehmen und verfügen somit über einen erweiterten Weltbezug. Darauf aufbauend kann die denkende Seele des Menschen „alles werden“ – kann die Vorstellungen so oder anders denken, kann Künftiges und Vergangenes vergegenwärtigen und neue Welten entstehen lassen. Die menschliche Seele wird zu einer denkenden Seele, weil sie am Geist partizipiert und darum denken kann.

Geist (nus) scheint meines Erachtens etwas Intersubjektives – zumindest mit Blick auf uns Menschen – zu sein. Wenn wir lernen, nehmen wir etwas von der Weisheit der gesamten Menschheit auf. Wenn wir

12

Aristoteles, Über die Seele, 429a.

81


Geist

ein Buch lesen, nehmen wir teil an der geistigen Welt des Autors, obwohl wir einen anderen Erfahrungshorizont haben und manches anders verstehen als dieser. Auf jeden Fall tauchen wir in eine gemeinsame, immaterielle – eben geistige – Wirklichkeit ein. Geist als mentales Epiphänomen irgendeiner biologischen Substanz zu interpretieren, wie das die Neurophysiologie gegenwärtig „wissenschaftlich“ verkündet, scheint mir zu kurz gegriffen. Geist ist ein kosmisches Prinzip, das heißt: Aufgrund seiner Anfänglichkeit (arche, principium) ordnet der Geist. Geist ist eine immaterielle Wirklichkeit, das heißt: Er geht nicht in den materiellen, natürlichen Dingen auf und ist darum auch nicht sinnlich wahrnehmbar, messbar usw.

82


Geist-Seele des Menschen Alle Lebewesen wollen auf ihre Art und Weise leben, sie sind beseelt und verfolgen in sich ein Ziel: Sie wollen leben. Darum empfinden sie Hunger, Schmerzen und Lust. Die Seele der Lebewesen gibt ihnen eine artspezifische äußere Gestalt, und wenn wir genau hinschauen sogar eine individuelle Gestalt. Über die Wahrnehmung der sie umgebenden Welt, können einige Lebewesen auch sich selbst in ihren Empfindungen erleben. Dem Hund sieht man es an, wenn er sich „freut“.

Nun haben wir gesehen, dass Menschen darüber hinaus sprechen können und sich darin von den anderen Lebewesen abheben. Menschen tauschen nicht nur Informationen und Stimmungen aus, sie können sich verständigen und die Welt aus den Augen eines anderen sehen. Sprache ermöglicht es uns Menschen, die Welt da draußen nicht nur wahrzunehmen, sondern auch differenziert zu sortieren. Auch unsere Innenwelt können wir so differenziert wahrnehmen: Das Gefühl des Zornes wird benannt, sozusagen ins Wort gehoben, und dann kann auf dem Weg der Selbstbeherrschung der Zorn gestaltet, zum Beispiel gemäßigt werden. Ohne Worte wäre Selbstbeherrschung unmöglich. An der Sprachfähigkeit wird eine neue Dimension deutlich, zu der Menschen Zutritt haben: die Welt des Geistes. Wie kommt es, dass Menschen sich über eine Sache unterhalten können? Sie müssen etwas Gemeinsames haben, sonst würde jedes menschliche Individuum nur bei sich bleiben. Mit der gemeinsamen Sprache steht Menschen die Welt des Geistes zur Verfügung und sie kommen „aus ihrer Haut heraus“, können sich mitteilen und zum Beispiel ihre Wahrnehmung anderen zur Verfügung stellen.

Diese gemeinsame Sprache zeigt deutlich an, dass den Menschen etwas Immaterielles und von sinnlichen Wahrnehmungen Abstrahiertes – also etwas vom Konkreten „Abgezogenes“ – zur Verfügung steht. Diese Dimension ist allgemein und steht allen zur Verfügung, weil sie vom Individuellen und Konkreten abstrahiert ist. Sie kann damit auch auf andere konkrete Fälle angewendet werden. Das Wort „Hund“ kann ich 83


Geist-Seele des Menschen

zu verschiedenen Hunden sagen und nicht nur zu meinem Bello. Die Welt der Wörter verbindet uns Menschen, macht uns allgemein, wenn wir sprechen gelernt haben, und verschafft uns Zugang zum Geist. In dieser Sphäre des Geistes wird nicht nur Kommunikation möglich, sondern auch Mathematik, Musik oder das Bauen eins Hauses, das ja zuerst im Kopf konstruiert und dann mit den Händen gebaut wird.

Sowie Menschen aufgrund der geistigen Seele räumlich und zeitlich aus ihrer Haut herauskommen, so können sie auch aufgrund dieser geistigen Seele bei sich einkehren und mit sich selbst ins Gespräch kommen. Der Umgang mit der Wirklichkeit und das Gespräch mit anderen bietet Menschen die Möglichkeit, sich zu reflektieren, über sich nachzudenken und um sich selbst zu wissen. Wie kommt der Geist in die menschliche Seele? Auf diese Frage gibt es viele, ja sehr viele Antworten. Wie dem auch sei, meines Erachtens staunen fast alle Menschen darüber und meinen, etwas Göttliches sei in uns.

84


Gelassenheit Das Wort "Gelassenheit" kommt aus der deutschen Mystik und lässt sich sowohl bei Meister Eckhard als auch bei Johannes Tauler finden:

„Das Pferd macht den Mist in dem Stall, und obgleich der Mist Unsauberkeit und üblen Geruch an sich hat, so zieht doch dasselbe Pferd denselben Mist mit großer Mühe auf das Feld; und daraus wächst der edle schöne Weizen und der edle süße Wein, der niemals so wüchse, wäre der Mist nicht da. Nun, dein Mist, das sind deine eigenen Mängel, die du nicht beseitigen, nicht überwinden noch ablegen kannst, die trage mit Mühe und Fleiß auf den Acker des liebreichen Willen Gottes in rechter Gelassenheit deiner selbst. Streue deinen Mist auf dieses edle Feld, daraus sprießt ohne allen Zweifel in demütiger Gelassenheit edle, wonnige Frucht auf.“ 13

Der Gelassene lässt sein, er respektiert die Wirklichkeit, so wie sie ist, und sagt „ja“ zu ihr, auch wenn er sie für verbesserungswürdig hält. Der springende Punkt liegt darin: Wir können erst sinnvoll handeln, wenn wir uns selbst, die Welt um uns herum und all das Material Wirklichkeit respektieren oder gar bejahen, eben akzeptieren. Wir sind ja nicht Götter, die ohne Vorlage oder Material, sozusagen „aus dem Nichts“, etwas grundsätzlich Neues schaffen können. Die einzig sinnvolle Antwort auf diese Situation liegt in einer demütigen und bejahenden Annahme der Wirklichkeit, so wie sie ist. Ohne diese Zustimmung, ohne die Akzeptanz der Wirklichkeit landen unsere Handlungen entweder im pubertären „Ich will aber“ oder im spießbürgerlichen „Lass mich in Ruhe“.

13

Johannes Tauler, Predigten, Freiburg 1961 S. 43f. 85


Gelassenheit

Wie verhalten wir uns zu den Dingen, die wir nicht ändern können?

Befreunden. Nur wer mit sich selbst (und mit anderen) befreundet ist, kann überhaupt sinnvoll handeln. Der Gelassene schafft es, sich selbst anzunehmen; das ist ja die Wirklichkeit, die uns am nächsten ist – wir selbst. „Nicht nur die Wirklichkeit außer uns ist, wie sie ist, auch wir selbst sind in einem gewissen Maße, wie wir sind, ohne das ändern zu können.“14

Gelassenheit sagt an dieser Stelle: Der Handelnde bejaht sich selbst als sinnvolle Wirklichkeit, er kann mit sich selbst befreundet sein. Auch wenn der Handelnde sich durchaus fehlerhaft, lasterhaft oder irrend – eben als verbesserungswürdig – erachtet, liegt das Entscheidende in der Silbe „würdig“. Das Engagement für Verbesserung ist nicht ganz sinnlos, der Einsatz lohnt sich.

Gelassenheit ist eine Tugend. Ohne diese Tugend gelingt das Leben nicht. Als Mitte bietet sie den Ausweg aus den zwei Extremen Zynismus und Fanatismus. Der Gelassene weiß, dass er nicht erst „Sinn machen" muss; er darf Sinn dankbar annehmen – einen vorgegebenen Sinn.

14

Robert Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 2004, S. 107. 86


Das „liebe“ Geld Zunächst ist Geld ein Kunstding und ganz unnatürlich, denn es kommt in der Natur nicht vor und wird von Menschen hergestellt. Der griechische Name „nomismos“ verweist darauf, dass Geld durch das Gesetz (nomos) gemacht wird und die politische Gemeinschaft für die Validität bürgt. Weil Geld völlig neutral – wie jedes Maß, wie zum Beispiel ein Zollstock – ist, kann es auf ganz Vieles angewendet werden, um dessen Wert – genau gesagt: dessen Handels- oder Marktwert – zu messen. So kann Geld völlig unterschiedliche Produkte, Dienstleistungen, Steuerlasten oder Besitzgüter nicht nur messen, sondern auch vergleichen, das heißt, einen Ausgleich bewirken. Findet Geld in einem Gemeinwesen Anerkennung und genießt es öffentliches Vertrauen, dann dient es als omnipotentes Kommunikationsmittel, indem es ganz verschiedene Güter, Leistungen und Pflichten kommensurabel (messbar, vergleichbar) macht. Die Akzeptanz deckt sozusagen diesen Wertmaßstab, oder Geld bleibt einfach nur ein Stück Papier, Metall oder eine Zahl in irgendeinem digitalen Medium, dann ist es nur „ein nicht eingelöstes Versprechen“.

Indem Geld fast alles ganz abstrakt messen, bewerten und vergleichen kann, gewinnt es eine gewaltige Macht über uns. Besitz ist immer an ein konkretes Gut – an ein Haus, Grundstück oder nur ein Fahrrad – gebunden. Geld kann vom konkreten Gut ablösen, das heißt abstrahieren, und im Gegenzug auf alles angewendet werden. Darin liegt seine gewaltige – fast göttliche – Macht: Mit Geld kann man fast alles machen.

Nicht nur die Evangelien sprechen von der nahezu göttlichen Allmacht des Geldes und nennen es Mammon, auch die Römer legten das Geld in den göttlichen Bereich. Auf dem Kapitol in Rom stand der Tempel der Moneta und hier wurde das Geld geschlagen, hier stand die Münzstätte Roms. Moneta ist ein anderer Name der Göttin Juno. Anders gesagt, Geld hat die Aura des Göttlichen, des Faszinosums. 87


Das „liebe“ Geld

Trotzdem muss man festhalten: Geld ist moralisch indifferent, das heißt, es ist weder gut noch schlecht. „Pecunia non olet“, Geld stinkt nicht, wie Kaiser Vespasian feststellte. Was schlecht sein kann, ist der Umgang mit dem Geld. Das ist wie mit einem Messer, welches man zum Wurstaufschnitt benutzen oder auch einem Menschen in die Brust rammen kann. Das Messer selbst bleibt unschuldig – jenseits von gut und böse. Die Gretchenfrage ist nicht nur, ob ich an diesen Gott glaube, ob er mein Herz ausfüllt und ich ihm mein Leben opfere, sondern auch wie ich mit dem Geld umgehe und wozu ich dieses Mittel gebrauche.

88


Der moderne Midas „Die Geschichte von König Midas ist jedem wohlbekannt, der mit Hawthornes Tanglewood Tales groß geworden ist. Wegen seiner außergewöhnlichen Vorliebe für Gold gewährte ein Gott diesem ehrenwerten König das Vorrecht, dass alles, was er berührte, sich in Gold verwandelte. Anfangs war er entzückt; als er jedoch erleben musste, dass die Speisen in seinem Munde zu massivem Metall wurden, begann die Sache ihn zu beunruhigen; und als dann noch seine Tochter, der er einen Kuss gab, zur leblosen Goldsäule erstarrte, entsetzte er sich und bat den Gott, die Gabe wieder von ihm zu nehmen. Seither wusste er, dass Gold nicht das einzig Wertvolle ist.“ 15 Über den Stellenwert des Geldes geht manch einer einem Irrtum auf den Leim. In erster Linie gehe es um Geldvermehrung. Darum würden wir arbeiten, wirtschaften und uns mühen. Bei Oswald von NellBreuning, dem alten Jesuiten und Erfinder des „Subsidiaritätsprinzips“, habe ich eine andere Wertschätzung des Geldes gefunden. In erster Linie arbeiten wir, um die Produkte und Dienstleistungen herzustellen, die wir zum Leben benötigen; darüber hinaus benötigen Menschen sinnvolle Tätigkeitsfelder, eben Arbeit. Erst an zweiter Stelle steht das liebe Geld. Als knappes Gut ist Geld ein Hygienefaktor und evaluiert Prozesse. Als Gewinn versetzt es Unternehmen in die Lage zu investieren. Geld ist gut, es ist ein Gut, und wir benötigen es, um die Wohnung, Bücher und so weiter und so fort mieten oder erwerben zu können. Übrigens wollte noch keiner Streicheleinheiten in der Lohntüte haben, da sind uns echte Euros ganz lieb. Nur verkehrt wird es, wenn Geld den ersten Platz einnimmt. Dann wird es pervers (verdreht) und diabolisch (durcheinandergeworfen). Gier –

Bertrand Russell, Der moderne Midas; in: Lob des Müßiggangs (Nobelpreis 1950), München 1981, S. 123.

15

89


Der moderne Midas

avaritia – heißt dieses Laster. Geld muss einfach stimmen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Meine Empfehlung: Lassen Sie sich nicht verrückt machen. Entzaubern Sie Geld, sonst verwandelt sich Ihr Liebstes in Gold und ist tot. Geld muss stimmen – nicht mehr und auch nicht weniger.

90


Gerechtigkeit – die Andere im Blick haben Ein Kapitän der Bundesmarine erzählte mir, nicht die Waffen einer Fregatte und die ganze Technik seien das Schwierige seiner Aufgabe. Schwierig sei das Zusammenleben der Hundertzwanzig Mann Besatzung, die in wenigen Kubikmetern zwischen wasserdichten Stahlplatten eingesperrt sind und von denen sich keiner auch nur für eine Stunde entfernen kann. Wie können es die Männer auf dem Schiff miteinander aushalten? Welche Anforderung stellt diese Situation an den Kapitän?

Würden wir in einer Welt leben, in der alle Güter vorhanden wären, bräuchten wir keine Gerechtigkeit. Doch unsere Welt ist durch Knappheit gekennzeichnet, Knappheit an Lebenszeit, an Arbeitsplätzen und Ressourcen, an finanziellen Mitteln und Grundstücken, an Chancen und Ersten Plätzen. Die Knappheit will organisiert und sowohl Güter als auch Lasten wollen verteilt werden – nach welchen Gesichtspunkten?

Dann haben wir es noch mit Gleichheit und Ungleichheit zu tun, stellen Symmetrien und Asymmetrien fest. Alle sind wir Menschen, aber daneben sind wir auch noch Frauen und Männer, Junge und Alte, Leistungsträger und Leistungsschwache; wir kommen aus verschiedenen Milieus und haben unterschiedlich viele Talente.

Worin sind wir Menschen gleich?

Was schulden wir einander prinzipiell? Worin sind wir Menschen ungleich?

Wie gehen wir mit dieser Ungleichheit um?

Gerechtigkeit hat Pflichten, hat etwas mit „Du sollst“ oder mit „Du musst“ zu tun, denn wir schulden einander etwas und der Andere hat ein Recht darauf. Gerechtigkeit heißt darum erstens, den Anderen als Anderen anerkennen, und zweitens, jedem das Seinige geben. 91


Gerechtigkeit – die Andere im Blick haben

Gleich sind wir als Menschen, die Respekt und Anerkennung als Person verdienen. Darum besteht die Gerechtigkeit erstens in der Anerkennung des Anderen als einer Person – unabhängig davon, ob der Andere zufällig mein Feind, mein Konkurrent ist: Anerkennen da, wo ich nicht lieben kann, wo keine Sympathie vorhanden ist. Diese grundlegende Symmetrie fällt nicht immer leicht, manchmal erfordert sie sogar eine moralische Höchstleistung von mir, wenn ich den Anderen nicht nur auf sein Feind-Sein-für-mich reduzieren soll.

Ungleich sind wir in unseren Eigenschaften, Leistungen, Stellungen und Ansprüchen. Darum zielt die zweite Pflicht der Gerechtigkeit auf den Ausgleich, indem jedem das zu geben ist, was ihm zusteht. Der Umgang mit diesen Asymmetrien ist nicht einfach. Hier verknüpft sich Klugheit mit Gerechtigkeit und sucht das richtige Maß, sie sucht das Angemessene. Was steht dem Anderen zu? Wie viel und in welcher Qualität, zu welcher Zeit und an welchem Ort? Klugheit wägt die Ungleichheit ab und errechnet das Angemessene, sie informiert den Willen, so dass dieser zur guten, gerechten Handlung drängt. Kriterien des Angemessenen sind hier gefragt, und die Kulturen der Menschheit geben in der Kriterienauswahl bisweilen unterschiedliche Antworten. Trotz aller Unterschiedlichkeit bleibt das gemeinsame Muster des Ausgleiches: Unterschiedliches soll unterschiedlich behandelt werden, so dass eine gewisse Gleichheit wiederhergestellt werden kann. Darum geht es hier wie in der Geometrie zu und Proportionalität wird gesucht.

Im Himmel sind wir noch nicht. Darum dürfen wir Perfektion, Vollkommenheit nicht auf Erden erwarten. Das soll kein frommer Spruch werden. Die Welt ist allein durch unsere Gerechtigkeit nicht in Ordnung zu bringen oder zu halten.

92


Gespräch An einem Sonntag im Juni führten wir – einige Studierende und ich – einen sokratischen Dialog über die Frage „Was ist Schönheit?“ Natürlich fanden wir keine erschöpfende Antwort auf diese Frage, obwohl sich das Ergebnis durchaus sehen lassen kann. Doch etwas anderes kam heraus: Das Gespräch selbst war schlicht und einfach schön.

Die Studierenden waren richtig überrascht, wie sie sich über diese Fragen unterhalten haben und ins Gespräch gekommen sind. Für sie war das ein schönes Erlebnis. Der Mensch ist „das Lebewesen, welches Worte hat“, lautet eine Beschreibung; und in der Tat hebt der Wortgebrauch Menschen von anderen Lebewesen ab. Wir können uns unterreden, unsere Sicht der Dinge zu Wort bringen und einander mitteilen. Daraus entsteht Verständigung über die Welt, in der wir leben. Gelingt diese Verständigung, erfahren wir sie als beglückend. Warum empfinden wir das Gespräch so beglückend? Wir erleben uns im Gespräch als Mensch.

Freilich muss man nun überlegen, was ein Gespräch ist. Auf jeden Fall nicht bloßer Informationsaustausch oder Abblassen von Befindlichkeiten, nicht das Wiederkäuen dessen, was „man“ gerade sagt oder das Springen von einer Assoziation zu einer anderen, und auch nicht die Betätigung der Phrasendreschmaschine. Zum Gespräch gehören Zuhören und die Intention, den anderen verstehen zu wollen. Außerdem brauchen wir ein gemeinsames Thema – etwas, worüber wir sprechen. Ein Gesprächsfaden will mit Konzentration und Aufmerksamkeit gesponnen werden, und wir brauchen auch Muße dazu. Dann kann es passieren, dass wir uns eine Inspiration oder Einsicht einhandeln, wie Platon es im 7. Brief schildert. „Plötzlich mitten im Gespräch blitzt die Wahrheit auf wie ein vorbeifliegender Funke.“ 16

16

Platon, 7. Brief 341 cd.

93


Gespräch

Übrigens bildet sich das äußere Gespräch auch im inneren Dialog ab. Wer geübt ist, mit anderen in einen Dialog zu treten, dem wird auch das Zwiegespräch mit sich selbst gelingen.

Mein Doktorvater war bis 1956 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, wovon er zwei Jahre in Workuta unter Tage und ohne Sonnenlicht verbrachte. Auf die Frage, wie er diese Zeit überlebte, antwortete er: Diejenigen, die nicht an einer körperlichen Schwäche verstarben und die Brutalitäten überlebten, holten abends alles aus ihren Köpfen heraus, was sie dort besaßen. Wir erzählten und hörten zu. Der eine hatte viel Goethe im Kopf, der andere die Bibel usw. So füllten wir die Abende, blieben am Leben und vor allem Menschen, weil wir Gespräche führten. Der Mensch ist „das Lebewesen, welches Worte hat“17. Im Gespräch bleiben wir nicht nur Mensch, wir erleben es auch als bereichernd. Übrigens kostet ein gutes Gespräch nichts und ist auch unter schwierigsten Umständen wie in Workuta möglich. Allerdings macht es auf die Dauer süchtig und anspruchsvoller. Lassen wir uns einmal darauf ein, dann schmerzt uns das belanglose Gequassel. Noch einmal zurück zum sokratischen Dialog im Juni. Vielleicht war das geführte Gespräch selbst die Antwort auf die Frage „Was ist Schönheit?“ Schön ist ein gutes Gespräch.

17

Aristoteles, Politik, Buch A 1253a.

94


Gewissen Zum Umfeld der Klugheit gehört das Gewissen. Oft wird das Wort „Gewissen“ in Anspruch genommen, und darum stellt sich die Frage, was nun das Gewissen sei. Was klagt uns an, was tadelt oder foltert uns? Was spornt uns an und bindet uns? Das Gewissen ist kein Orakel in uns, sondern eher ein Organ; und Organe können verkümmern, sie können aber auch durch intensivere Nutzung kräftig und gut ausgebildet sein. Wie eine Hand, schreiben gelernt hat und schreiben kann, und darin tüchtig ist, so wird das Gewissen durch gute Entscheidungen aktive Wirklichkeit in uns.

Normalerweise richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf ein Ziel oder eine Handlung. Diese Konzentration kann andere Dimensionen ausblenden, Wirklichkeit reduzieren, die Wahrnehmung verzerren und unsere Wertungen einseitig werden lassen. So können wir Gutes wollen und trotzdem in die Irre gehen, sozusagen daneben liegen. Nachher wissen wir es häufig besser.

Gewissen heißt auf Lateinisch „conscientia“, was man mit „ZusammenWissen“ oder „mit anderem verbundenes Wissen“ wiedergeben kann. Das Gewissen sieht mehrere Perspektiven und größere Zeiträume, es sieht das eine, augenblickliche Ziel im Kontext des gesamten Lebens und nimmt weitere Aspekte der Handlung als nur diese eine Zielorientierung wahr. Daher kommt das Gewissen bisweilen zu anderen Wertungen als das augenblickliche Urteil, weil es umfassender den ganzen Menschen als Leib-Seele-Geist mit dessen ganzer Biographie „mitweiß“ und in seiner Stimme aktive Wirklichkeit werden lässt.

Das Gewissen ist die moralische Authentizität einer Person, ihr ethischer Fingerabdruck, der nicht einfach heute so und morgen anders sein kann, sondern eine Person bindet und dafür sorgt, dass sie auch noch morgen mit ihrer gestrigen Entscheidung leben kann. Das Gewissen sorgt dafür, dass wir es bei uns selbst aushalten können und dass die Anderen wissen, woran sie mit uns sind. Darum wird es bisweilen unerbittlich aktiv. 95


Glaube Gegenwärtig hat „Glaube“ einen schlechten Ruf. Menschen, die sich zu einem Glaubensbekenntnis bekennen, seien dogmatisch, intolerant und vor allem unwissenschaftlich und von gestern. So benutzen wir das Wort „glauben“ auch: Ich glaube, morgen wird es schneien. Also Glaube im Gegensatz zum Wissen.18 Gehen wir allerdings zur Bank, dann gibt es auch einmal den Gläubiger und den Schuldner.

Auf der Bank gibt es auch einen Kredit. Wie kommt das? Leiht jemand einem anderen Geld, dann tut er das in dem Vertrauen, dass der Darlehensnehmer das geliehene Geld auch zurückzahlen wird und nicht Privatinsolvenz anmeldet. Er glaubt dem anderen, und ohne diesen Glauben kommt kein Darlehnsvertrag – sprich: Kredit – zustande. Selbst Basel I bis III oder das juristisch Kleingedruckte können den Akt des Vertrauens, den Gläubiger und Schuldner schultern müssen, nicht ersetzen. „Vertrauen senkt die Transaktionskosten“, lautet die Formel. Glaube ist also mehr als nur „dafürhalten“ oder „meinen“. Das griechische Wort „pisteuo“ kann man sowohl mit „ich glaube“ als auch mit “ich vertraue“ und „ich halte für wahr“ übersetzen. Darum können wir Glauben und Vertrauen synonym verwenden, wenn wir

Ein Skatfreund, der Elektroingenieur und Diakon Norbert Fernkorn, beteiligt sich an der Diskussion um die Spannung von Glaube und Vernunft: „Lieber Andreas, vielen Dank für Deine Gedanken. Du hast diesmal einen kontrovers diskutierten Punkt angesprochen: ‚die Spannung von Glaube und Vernunft‘, wobei sich jeder Mensch diesem Spannungsfeld stellen sollte. Denn Glaube und Vernunft bedingen einander, ohne einander kann das Verständnis der Welt nicht vollständig sein. Glaube und Vernunft können aneinanderwachsen. Vernunft ohne Glaube ist leer, unvollständig und gewissenlos, ist wie Autismus bemerkt, und wird leicht arrogant. Glaube ohne Vernunft ist blind, ist Aberglaube und kann leicht in Hysterie und Fundamentalismus ausarten. Albert Einstein sagte dazu: ‚Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind.‘ Liebe Grüße Norbert“

18

96


Glaube

mit Glauben nicht gleich den Inhalt des Katechismus oder kommunistischen Manifests verstehen. Das lateinische Wort „credo“ bedeutet sehr wohl „ich glaube“. Es kommt von „cor dare“: Das Herz geben. Dabei meint Herz nicht die Pumpe, sondern den Kern einer Person. So benutzen wir es auch. „Ich glaube dir“ bedeutet doch „ich vertraue dir“, „ich baue auf dich“. Glaube ist also eine fundamentale menschliche Fähigkeit ohne die Kooperation und Zusammenleben nicht möglich ist. Haben Sie im Team jemanden, der sich nicht auf andere verlassen kann und alles noch einmal überprüft, dem einfach das Grundvertrauen in die Anderen fehlt, dann wird es schwierig und letztendlich die Kündigung oder Scheidung eingereicht.

Auch der Schüler in der Grundschule muss dem Lehrer glauben, dass ein A ein A ist und die 1 von der 0 unterschieden ist, sonst lernt er nichts. Später kann und muss der Schüler freilich die Lerninhalte skeptisch anschauen. Aber das ist der zweite (und nicht der erste) Schritt. Glaube verstanden als Grundvertrauen kann man nicht einfach machen, er ist eine innere, persönliche Haltung und diese wird uns geschenkt. Manch einem Menschen ist ja der Aufbau dieser Haltung durch hässliche Dinge in der Kindheit erschwert worden, und manch eine verlor den Glauben an die Welt durch böse Ereignisse. Am besten halte ich die Formulierung

„Feststehen in dem, was man erhofft, und überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht.“ 19

Worauf wir unser Leben bauen und woran wir unser Herz hängen, können wir eben nicht sehen, obwohl es doch eine Wirklichkeit ist. Und in dieser Hinsicht kenne ich keinen „ungläubigen“ Menschen. Die interessanten Fragen dabei sind, woran wir glauben, worin wir unser Leben gründen und, wie Kant das prägnant formulierte „Was darf ich hoffen?“ 19

Hebräer 11, 1.

97


Glaube

„Wenn der Glaube das Haus zur Tür verlässt, dann springt der Aberglaube zum Fenster herein“, lautet eine Beobachtung. Ein ausformuliertes Credo kann man reflektieren, darüber streiten oder gar ablehnen. Der Aberglaube geistert einfach rum und ist nicht zu packen bzw. zu bändigen.

98


Glück Ganze Bibliotheken an wissenschaftlichen Büchern und leicht verdaulichen Ratgebern füllt die Frage nach dem Glück, und neuerdings gibt es sogar in der Wirtschaftspsychologie die Disziplin Glücksforschung. Das liegt wohl daran, dass jeder Mensch mit den Fragen „Was ist Glück? Was ist mein Glück? Wie erreiche ich es?“ lebt, denn jeder Mensch will glücklich sein. Wenn wir Durst haben, suchen wir etwas zu trinken, und wenn wir Hunger haben, suchen wir etwas zu essen; genauso suchen wir mit Leib und Seele, Herz und Verstand das Glück, weil wir schlicht und einfach Menschen sind.

Die Alten nennen das „appetitus naturalis“ – ein naturgegebenes Verlangen, also etwas ganz Natürliches und Menschliches. Wir können gar nicht anders, als unser Glück suchen. Wenn wir also nach dem Glück fragen, reden wir über ein menschliches Glück, etwas, wo der ganze Mensch mit seinen Leidenschaften, mit seinem Herzen und seiner Vernunft, mit seinen Beziehungen, Handlungen und Charakterzügen auftaucht – und das als Mensch unter Menschen. Die meisten Menschen richten ihre Aufmerksamkeit auf „Glück haben“ und suchen dann das Glück in den äußeren und leiblichen Gütern. Was ist damit gemeint? Mit äußeren Gütern meine ich zum Beispiel Anerkennung, Geld, Erfolg, Frieden und einen gerechten Staat. Unter den leiblichen Gütern verstehen wir vor allem Gesundheit, „die ja das Wichtigste ist“, wie ich es bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit höre. Sicherlich erleichtern günstige Umstände und körperliche Fitness ein glückliches Leben, doch was machen wir, wenn jemand arm wird und geliebte Menschen sterben? Was machen wir, wenn jemand krank daniederliegt und seine Lebensqualität schwindet? Ist dieser Mensch dann zum Unglück verdammt und hat keine Chancen mehr auf ein gutes Leben? Dann wäre ja alles sinnlos. Wenn wir ein menschliches Glück suchen, dann müssen das Beste im Menschen und der ganze Mensch – mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele – darin vorkommen. Das Beste im Menschen ist die vernunftbe99


Glück

gabte Seele, denn die Vernunft kann das Gute und Wahre sehen, sie kann die Leidenschaften und Gewohnheiten gut navigieren, und mit Vernunft können wir Mensch unter Menschen sein. Trotzdem liegt das Glück nicht allein in der Vernunft, denn wir Menschen sind in einem Leib zu Hause und suchen Lebenslust. Das merken wir, wenn wir uns freuen, denn dann fühlen wir uns glücklich und dann wachsen uns sozusagen Flügel. In der Freude taucht übrigens die Vernunft recht intensiv auf, denn der Dummkopf kann sich nur über die „Ergötzungen des Tastsinns“ freuen. Der Kluge freut sich auch noch über etwas, was gut und schön ist und was nicht einfach durch Reize stimuliert wird. Zum Beispiel freut er sich über etwas, was er getan hat. In dieser Hinsicht liegt menschliches Glück im Handeln, und mit Handeln meine ich eine in sich sinnvolle Praxis. Das größte Praxisprojekt, das wir haben, ist unser Leben.

Freilich fühlen wir uns nicht jeden Tag glücklich, wenn wir unser Leben gut führen, doch bisweilen blitzt dieses Glück ganz plötzlich im Gefühl auf, wenn wir uns über etwas freuen. Worüber? Das kann zum Beispiel ein gutes Gespräch oder ein vorbeiziehender Vogelschwarm sein. Freude kommt auf, wenn wir still geworden sind, wenn wir mal nichts wollen und ganz aufmerksam sind. Dann können wir wahrnehmen, wirklich hören und schauen, dann nehmen wir auf und hören aufmerksam einem anderen zu oder genießen die Schönheit des vorbeiziehenden Vogelschwarms. Auf diesem schauenden Aspekt kaue ich etwas herum, weil unsere Arbeitswut und der dominierende, mußelose Aktionismus dieses Schauen – mit den Augen des Herzens – beargwöhnt und höchstens im Urlaub (als Reproduktion der Arbeitskraft) gestattet.

In der Summe unterbreite ich ein Angebot: Der Glückliche ist mit anderen, mit sich selbst und mit Gott befreundet. Der Glückliche freut sich über wirklich Anspruchsvolles und realisiert seine Talente und Charismen; und das ist auch einem kranken Menschen oder einem Häftling möglich.

100


Glücksökonomie Was ist ein glückliches Leben? Diese Frage bewegte Menschen, bewegt uns heute und wird auch künftige Generationen herumtreiben. Bislang beschäftigten sich damit Philosophen, Theologen und Psychologen. Darum erstaunt es, dass Volkswirte sich mit dem Glück beschäftigen, zumindest diejenigen, welche das Wohlstandswachstum nicht als Sinn und Zweck wirtschaftlichen Handelns markieren. Die „New Economics Foundation“ erstellte zusammen mit anderen Organisationen den „Happy Planet Index”. Richard David Precht macht auf diese Glücksökonomie aufmerksam.

„Die erste Lehre ist einfach, klar und von den Auftraggebern der Studie durchaus beabsichtigt: Geld, Konsum, Macht und die Aussicht auf ein hohes Lebensalter machen nicht glücklich. … Die detaillierte Berechnung einer anderen Studie kommt zu dem Schluss, dass von einem Pro-Kopf-Jahreseinkommen von etwa 20.000 $ an das Glück nicht mehr proportional zum Einkommen ansteigt, … dass Erwerben zwar kurzfristig glücklich machen kann, nicht aber Besitzen. Sind bestimmte Ansprüche erfüllt, wachsen schnell neue Ansprüche nach, während man sich an das, was man hat, schnell als selbstverständlich gewöhnt. … Der Traum von der finanziellen Unabhängigkeit ist heute noch immer der am weitesten verbreitete Lebenstraum in den Industriestaaten. Genau dafür rackern wir uns ab und investieren die größte Zeit unseres Lebens, obwohl die meisten von uns nie wirklich so weit kommen, tatsächlich ‚frei‘ zu sein. Geld und Prestige stehen auf der höchsten Stufe unseres persönlichen Wertesystems noch vor Familie und Freunden. Dies ist umso erstaunlicher, als dass die Werteskala der Glückökonomen genau andersherum ausfällt. Danach gibt es nichts, was mehr Glück stiftet als die Beziehungen zu anderen Menschen, also zur Familie, zum Partner, zu Kindern und Freunden. An zweiter Stelle steht das Gefühl, etwas Nützliches zu tun, und je nach Umständen Gesundheit und Freiheit. Vertraut man dieser Skala, so leben die meisten Menschen im reichen Westen mit ihren Geldwerten falsch: 101


Glücksökonomie

Sie treffen systematisch Fehlentscheidungen. Sie streben nach Sicherheit, die sie wahrschein nie wirklich erlagen. Sie opfern ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung für ein höheres Einkommen. Und sie kaufen Dinge, die sie nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die sie nicht mögen, mit Geld, das sie nicht haben.“ 20 Warum erwähne ich das? Seit zweieinhalbtausend Jahren lehrt die klassische europäische Ethik die bei Precht dargelegte Rangordnung der Güter: An erster Stelle stehen die seelischen Güter wie Freundschaft und Liebe; an zweiter Stelle stehen die leiblichen Güter wie Gesundheit; und an dritter Stelle stehen die äußeren Güter wie öffentliche Reputation und Besitz. Diese „Güterskala“, wie sie Precht nennt, scheint zeitlos, interkulturell und objektiv mit der Natur des Menschen verbunden zu sein. Sie scheint es nicht nur, sie ist es auch. Damit haben wir sehr klare und handhabbare Kriterien für Entscheidungen, was wir tun und was wir lassen. Wir müssen also nicht immer herumeiern.

Richard David Precht, Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? München 2011, S. 349f. 20

102


Gott – ein Gattungsbegriff In Gesprächen der jüngsten Vergangenheit fiel mir auf, dass man schön aneinander vorbeireden kann, wenn man sich über Gott unterhält. Damit das nicht passiert, scheint es mir hilfreich zu sein, die Gesprächspartner erst einmal zu fragen.

Was versteht du unter Gott?

Was bezeichnest du mit dem Wort „Gott“?

Warum? Bis vor einigen Jahren war es klar, dass man mit „Gott“ den Gott des christlichen Glaubensbekenntnisses meint, der in den evangelischen und katholischen Kirchen verehrt wird. Allerdings ist dieser Gott selbst unter Christen nicht selbstverständlich. Die einen meinen einen gütigen Vater, die anderen einen strafenden Richter usw.

Wenn ich jenseits der Kirchen die Literatur und öffentlichen Diskussionen beobachte, gibt es noch mehr Konnotationen: Gott als Urheber der Natur, kosmisches Prinzip, höchstes Wesen, höchste Macht, die Vorsehung, ein weiser Schöpfer, die Schönheit und Barmherzigkeit, der Sinn und so weiter. Selbst in atheistischen Modellen haben die Evolution, der Urknall, die Emergenz, die Energie, die Materie und etc. göttliche Attribute und Machtvollkommenheit.

Daneben bieten dualistische Modelle zwei Götter an – nämlichen einen guten und einen bösen Gott: Yin und Yang, Körper versus Geist, Schöpfergott versus Erlösergott. Auch in Redewendung kommt Gott vor, so sagen wir „Gott sei Dank“. (Als ich zur Schule ging, wurden wir von der Lehrerin angehalten, nicht Gott-sei-Dank zu sagen, sondern „Marx sei Dank“. Das setzte sich allerdings nicht durch.) Selbst in amerikanischen Filmen und Einkaufshows höre ich häufig „O my god!“

Meine Empfehlung: Gott ist erst einmal ein Gattungsbegriff wie Pferd, Tisch usw. Die allgemeinste Definition dieses Begriffs finde ich bei Anselm von Canterbury 103


Gott – ein Gattungsbegriff „Gott ist das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann.“ Das muss man nicht nur theoretisch verstehen, man kann es auch praktisch nehmen. „Sag mir, woran dein Herz hängt, und ich sage dir, wer dein Gott ist“, kann man jemanden auffordern. Jeder und auch jede hat etwas im Leben, dem die Zeit geopfert wird, das ersehnt wird und die Sonne ist, welche allem anderen im Leben Bedeutung und Würde verleiht. Zum Beispiel: Wenn an der Leuphana Universität Lüneburg die Masterzeugnisse feierlich ausgehändigt werden und der Präsident das Wort „Karriere“ in den Mund nimmt, betritt ein Gott den Saal, und die Anwesenden nehmen würdevoll an diesem Gottesdienst teil. Andere opfern ihrem Gott Gesundheit die ganze Aufmerksamkeit – beim Essen, bei der Tagesplanung, im Umgang mit anderen Menschen und in Geburtstagswünschen „Hauptsache gesund“. Diese Beobachtung mutet nicht nur lästerlich an, ist auch so gemeint. Jedermann und Jedefrau hat so ein „Wesen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“. Man kann sich ja auch selbst im Kult des Selbst „Ich.Alles.Jetzt“ vergöttlichen.

In diesen – theoretischen und lebenspraktischen – Hinsichten kann man Anselm nicht widersprechen und muss feststellen: „Gott ist das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann.“ Spannend wird es allerdings, wenn dieser Begriff „Gott“ Inhalt bekommt.

104


Wer ist Gott? Vor einem Jahr fragte ich, ob es Gott gibt, und vertrat dabei die These, dass es Gott gibt, bekommt die Vernunft heraus. Unumstritten ist diese These und vor allem der Weg der Vernunft nicht, wie einige Antworten auf diesen Gedanken belegen. Wie dem auch sei, ich gönne mir einfach den Luxus zu behaupten, dass wir Menschen den Gedanken an Gott nicht loswerden.

Nun stellt sich die Frage, wer Gott ist, denn das Wort „Gott“ besagt als Gattungsbegriff nicht viel mehr als das Wort „Pferd“. Um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist es schon interessant, welches Pferd ich meine. Auch bei Gott ist das so, weil es ja viele Götter gibt. Freilich fallen einige schon raus, weil sie zwar wie ein Gott machtvoll auftreten und Anerkennung, Anbetung erheischen – wie zum Beispiel der Mammon, die Karriere und die Zufriedenheit. Dass sie letztlich ohnmächtig sind und auf tönernen Füßen stehen, entdeckt schon die Vernunft, wenn wir mal gründlich darüber nachdenken. Positiv kann die Vernunft allerdings wenig beitragen. Trotzdem behaupte ich, und das ist meine These Nummer zwei, dass jeder einen (seinen) Gott hat und sich ihm unterwirft. Die Beobachtung, das Zuhören und die Gespräche servieren mir diese Einsicht. Die Frage, wer Gott (für mich) ist, ist ein Thema des Herzens und folgt der „logique du coeur“:

Sag mir woran Dein Herz hängt, und ich sage Dir, wer Dein Gott ist. Sag mir worin Du Dein Glück suchst, und ich sage Dir, wer Dein Gott ist.

In dieser Hinsicht ist mir noch kein Atheist über den Weg gelaufen, weil wir werten und Entscheidungen fällen müssen, wenn wir handeln wollen. Dann liefert „mein Gott“ den Orientierungspunkt, dann entdecken wir, wer tatsächlich auf dem Thron im Herzen sitzt. Wie gesagt, 105


Wer ist Gott?

geht es bei dieser Thronbesteigung nicht immer (oder fast nie) rational zu, weil das Herz einer anderen Logik folgt als die Vernunft. Dann kann es schon passieren, dass zwar der Mammon oder die Karriere rational als Gott verneint werden, doch faktisch das Herz eines Menschen erobert haben und total ausfüllt. Man erkennt das schlicht und einfach daran, wie viel Lebenszeit der Karriere, um bei diesem banalen Beispiel zu bleiben, geopfert wird. Es soll ja vorkommen, dass manchen ihre ganze Selbstachtung und geliebte Menschen diesem Gott vor die Füße legen.

Verwirrungen sind bei diesem Thema nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich. Angesichts der Kürze des Lebens und des Schadens, der in der Regel auf Irrtümer folgt, schlage ich eine konservative Strategie ein und lasse mich von der Weisheit der Menschheit leiten: Wer Gott ist, muss ich mir sagen lassen. Wer Gott ist, lass ich mir von der Offenbarung und Tradition sagen. Dann schlage ich die Bibel auf, weil ich ihr vertraue, und folge einer zweitausendjährigen Christenheit, die seit vielen Generationen um die Frage ringt, wer nun ihr Gott ist. Unvernünftiges wird mir im christlichen Glaubensbekenntnis nicht zugemutet, auch wenn nicht alles auf den ersten Blick plausibel einherkommt. Das ist meine These Nummer drei, die freilich nicht rational zwingend ist: Wer Gott ist, muss ich mir sagen lassen, und höre, der Gott Abrahams und der Vater Jesu Christi ist es; noch präziser: der eine Gott in drei Personen.

106


Gott – warum bist Du so schweigsam? „Welche Frage hast Du an Gott?“ lautet die Aufgabe. Darum stelle ich meine Frage an Gott, und darf jetzt „ich“ sagen. Unwissenschaftlich, nicht objektiv, sondern ganz persönlich spreche ich und sitze dabei im Heimkino.

Den kleinen Andreas faszinierte schon als Kind, wie Gott mit Adam im Paradies sprach – ganz umgänglich und persönlich. Auch mit Noa, Abraham, den er sogar besuchte, mit Moses, dem er seinen Namen verriet, und auch mit dem Propheten Jona redete Gott. Ja, mit den Vätern sprach Gott, bei den Propheten war er schon sparsamer und wurde immer weniger mitteilsamer. Im Evangelium redete er kaum noch, und schwieg sogar, als Jesus im Garten von Gethsemane Blut und Wasser schwitzte. Warum? Waren früher die Wiesen grüner und Gott redseliger?

Theresa von Avila verzweifelte fast, denn Gott schwieg über zehn Jahre, und sie empfand das als dunkle Nacht, als Atheismus. Gott muss doch wissen, dass wir Menschen Personen sind, das Gespräch brauchen und bisweilen auch Zuspruch. Hat er ein Herz aus Stein?

Damit klar ist: Es gibt Gott. Damit habe ich kein Problem. Für mich ist er ganz logisch und plausibel. Warum gibt es überhaupt etwas, warum ist nicht Nichts? Warum verstehe ich etwas? Diese Frage kann ich nur mit Gott erklären. Allerdings ist das der Gott der Philosophen – der unbewegte Erstbeweger des Aristoteles oder die Idee des Guten Platons. Von Pascal lerne ich jedoch, dass es um den Gott Abrahams, Isaaks und Jesu Christi geht – und nicht um den Gott der Philosophen. Als Christ habe ich also ein Problem, weil ich an Gott als eine Person glaube. Als Philosoph habe ich dieses Problem nicht. Christen haben es also nicht immer leichter.

Gestern machte ich beim Wandern eine Beobachtung. Kann ich überhaupt hören, zuhören? Ist es nicht viel zu laut in mir? Bin ich etwa taub? Bin ich aufmerksam? Vor einigen Tagen sagte mir meine vierundzwanzigjährige Tochter Maria, dass sie vor zehn Jahren mit mir 107


Gott – warum bist Du so schweigsam?

und meiner Frau reden wollte, wir aber nicht zuhörten, und darum auch nicht mitbekamen, wie sie mit uns über ihre Not sprechen wollte. Ist es auch so mit Gott? Er spricht zu mir, nur höre ich nicht? Ganz so einfach ist es nicht.

Wer bist Du, Gott? Bei den Muslimen fasziniert mich die Kette mit den neunundneunzig Perlen zu den hundert Namen Gottes. Die hundertste Perle gibt es nicht, doch den hundertsten Namen Gottes, den keiner kennt. Eine Tradition sagt, er werde ausgesprochen, wenn ein neugeborener Mensch den ersten Laut von sich gibt. Also eine faustdicke Überraschung ist das. „Wahrlich, Du bist ein verborgener Gott (deus absconditus).“ 21

Absonderlich – das Kind in der Krippe, der Gekreuzigte und der Auferstandene. Christen sagen, dass dieser Jesus von Nazareth das Wort Gottes ist, das fleischgewordene Wort. O.k., aber ich höre immer noch nichts.

Ergo: Sollte ich mich in aller Demut zurücknehmen und zuhören? Sollte ich meine Hoffnung noch nicht aufgeben, und ein Wort erwarten? Sollte ich mehr schweigen und stille werden? Trotzdem lasse ich nicht von meiner Frage: Gott – warum bist Du so schweigsam? Als ich diesen Gedanken meiner studentischen Hilfskraft vortrug, sagte sie: Mir geht es ganz anders. Gott ist der einzige, der zuhört und mit dem ich immer reden kann; und Gott spricht zu mir.

21

Jesaja 45, 13.

108


Gott – wir brauchen ihn. Ob wir es wollen oder nicht, wir benehmen uns daneben, begehen moralische Fehler und laden Schuld auf uns. Das bleibt nicht ein singuläres Ereignis, sondern wiederholt sich leider, hinterlässt auch noch Spuren in unserer Seele und bildet sogar dumme Gewohnheiten aus. Laster legen wir uns zu, das heißt wir fallen uns selbst zur Last und mittelfristig werden wir uns selbst zum Schicksal, das heißt eine Fehlhaltung gräbt sich so fest in uns ein, dass wir aus eigener Kraft uns und unser selbst gestricktes Schicksal nicht ändern können. Ein Neuanfang braucht nicht nur Unterstützung von anderen, sondern ein Eingreifen von außen: Gott vergibt Schuld, nimmt die Last von uns und löst von deren Fluch. Solch eine Reinigung – katharsis – bekommen wir allein nicht hin, so wenig wie sich Münchhausen selbst aus dem Sumpf ziehen kann. Gott kann das negative Skript löschen.

Dem Laster zu entfliehen und Tugend zu leben, zeigen die alten Philosophen und insbesondere Aristoteles auf. Doch der philosophische Streit zwischen den Schulen macht auf eine unbeantwortete Frage aufmerksam: Woher nehmen wir die Energie, nicht nur mit der Vernunft die goldene Mitte zu finden, sondern auch tatsächlich Tugend zu leben? Schaffen wir das allein durch gute Erziehung und günstige Umstände, durch gute Freunde und Training? Angenommen, diese sind optimal, dann stellt sich trotzdem eine gewisse Skepsis ein, ob wir das allein schaffen, oder kennen Sie jemand, der es wirklich geschafft hat? Da reden wir noch nicht darüber, ob es überhaupt diese optimalen Umstände gibt oder geben wird. Energie und Kraft, das Gute zu tun, und das Böse zu meiden, schenkt Gott – er bläst den Wind in unsere Segel, weil wir allein durch Rudern nicht den Hafen erreichen können. Im Grunde genommen drehen sich beide Gedanken um die Fehlerkultur. Faktisch haben wir alle Fehler, fehlen zwar manchmal nur in kleinen Dingen, manchmal allerdings auch in kapitalen Angelegenheiten. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, die Mängel lassen sich nicht beseitigen. Juristisch wissen wir darum und stehen auch dazu, denn 109


Gott – wir brauchen ihn.

wir leisten uns eine Polizei und betreiben sogar Gefängnisse, um den gemeinschaftsschädigenden Fehlern auf den Leib zu rücken.

Aber sühnt eine Strafe schon die Schuld? Nimmt die Strafe auch die Last von der Seele? Können wir unsere Gesellschaft, Pädagogik, Reproduktionsmedizin … so organisieren, dass keine Fehler mehr vorkommen und nichts Mangelhaftes in den Output geht? Wenn wir also anerkennen, dass wir nicht perfekt, sondern fehlbar sind, dann brauchen wir nicht nur eine gute Fehlerkultur, sondern jemanden, der uns wirklich entlastet. Diesen nenne ich den Gott Abrahams und Vater Jesu Christi, denn dieser kann wirklich entlasten, die Verstrickung lösen und die Angst um uns selbst nehmen. Feuer. Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs (2. Mose 3,6), nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden, Freude, Frieden. Der Gott Jesu Christi.22

22

Blaise Pascal, Mémorial.

110


„gut“ Im Zeitalter der Toleranz halten wir uns mit Wertungen zurück. Trotzdem benutzen wir das Wörtchen „gut“ sehr häufig – ungefähr vier Mal in der Stunde. Die Urteile „gut“ und „böse“ benötigen wir, um uns im Leben zu navigieren. Übrigens können wir uns sogar über „gut“ und „böse“ streiten. Da muss doch etwas sein, worüber wir uns streiten.

Zuallererst benutzen wir „gut“ ohne moralische Hintergedanken. Gute Schuhe wollen wir kaufen und meinen damit Schuhe, die passen, schön aussehen und dem Fuß wohltun. Ein gutes Messer muss scharf sein, also dazu taugen und fähig sein, wozu es gedacht ist: richtig und sauber schneiden. Wenn wir mit solchen Dingen umgehen, dann wissen wir ganz genau, was dieses kleine und schrecklich abstrakte Wort „gut“ bezeichnet: stimmig, passend, schön, wohltuend, tüchtig, richtig, in Ordnung, wahrlich – und manchmal auch reichlich, wenn jemand „gut eingeschenkt“ hat. Die Umgangssprache zeigt ganz deutlich, dass und wie wir Urteile fällen, denn das Leben fordert Entscheidung und wir müssen wählen – und hoffentlich das Gute. Die moralische Ebene löst sich nicht von der sachlichen Ebene. Darum können und müssen wir bei den alltäglichen Urteilen anknüpfen. Die Wertung „gut“ verdient eine Sache oder Handlung, wenn sie der Wirklichkeit, ihrem Wesen oder ihrer Natur entspricht, in Ordnung ist und angemessen geschieht. Sie ist, wie sie sein kann und soll; die Wesensform ist erfüllt. Das nennen wir dann auch „schön und gut“ oder „sinnvoll“. Weitere Kriterien und Maßstäbe bleiben zu diskutieren. Wichtig ist allerdings auch, wie wir handeln und welche Haltung wir einnehmen. Mit der Haltung kommt die Moralität ins Spiel, denn die Güte einer Handlung zeigt sich u.a. im Respekt, in der Aufmerksamkeit, in der Wahrhaftigkeit und auch in der Demut des Handelnden. Dem Guten wird sein Handeln – mit großer Wahrscheinlichkeit – gelingen.

Nun sehen und wertschätzen unterschiedliche Menschen Gutes bisweilen unterschiedlich. Darum sind Differenzierungen auf der Ebene des Guten sinnvoll. 111


„gut“

Was ist „gut“ für mich? Einer überarbeiteten und gestressten Frau wird ein Wochenende im Bett guttun, für einen trägen, antrieblosen jungen Mann ist das gerade nicht gut.

1. Was ist „gut“ für uns? Hier haben wir schon viel größere gemeinsame Schnittmengen, weil es um Gemeinschaft geht. Einer Familie, die mit einem festen zinsgebundenen Darlehen ein Haus gekauft hat, wird steigende Inflation eher Freude bereiten als einer Familie, die ihr Vermögen angelegt hat. 2. Was ist „gut“ an sich? Auch der hartnäckigste Relativist (dem alles gleich gültig – also gleichgültig – ist) wird Gesundheit als ein Gut an sich (unter anderen Gütern) ansehen; das sagt der gesunde Menschenverstand. Ob es allerdings das Gute schlechthin, das höchste Gut, gibt und welches es ist, bleibt offen.

Meine Empfehlung: „gut“ ist das, was Leben lässt, was Leben fördert und ermöglicht. Auch wenn das abstrakt ist, haben Sie ein Kriterium.

112


Habitus Das geläufige Deutsch verfügt über kein eindeutiges Wort dafür, was im Lateinischen mit „habitus“ bezeichnet wird. Das lateinische Wort „habitus“ kommt vom Verb „habere“ – haben, besitzen. Allerdings geht es in diesem „Haben“ nicht um den Besitz einer Sache, also „etwas haben“, sondern den Selbst-Besitz – „sich selber haben“. Was Habitus meint, benennen wir gegenwärtig mit „innerer, persönlicher Haltung“. Was ist gemeint? Menschen verfügen über viele Möglichkeiten unterschiedlichster Art. Doch ob eine Möglichkeit zum Tragen kommt und in eine Handlung führt, hängt vom Impulsgeber, von der Einstellung und den Neigungen der jeweiligen Person ab. Zum Beispiel können fast alle Menschen singen. Ob sie tatsächlich Sängerinnen und Sänger sind, hängt davon ab, ob sie aus dieser Möglichkeit etwas gemacht haben und wirklich singen können. Der Sängerin wurde das Singen zur zweiten Natur und festen, nur schwer verlierbaren Eigenschaft; das Singen wurde zum Bestandteil ihres Lebens und Quelle der Freude. „Habitus besagt so viel wie: potentia in der Geneigtheit zum actus hin, Seinkönnen ‚auf dem Sprunge‘ zur Verwirklichung.“ Josef Pieper.

Habitus steht zwischen der reinen Möglichkeit einerseits und der tatsächlichen Praxis andererseits. Soll ein Können in Handlung umgesetzt werden, bedarf es einer Disposition – also einer Verfassung, einer Neigung und eines Impulses – aus dem Inneren des Menschen, denn die Möglichkeit reicht allein nicht aus. Diese innere Ausrichtung (dispositio, inclinatio, impetus) auf die Handlung nennen wir „habitus“. Wie jemand ist, so handelt und lebt er auch.

113


Habitus

Woran kann man den „habitus“ erkennen? Die Tätigkeiten, die einem Menschen lieb sind und über die er sich freut, zu denen neigt er. Sie kennzeichnen ihn, wie er ist. Habitus als innere, persönliche Haltung verweilt nicht nur im Inneren. Die Verfassung eines Menschen drückt sich sowohl in Handlungen als auch in der äußeren, körperlichen Haltung und seinem Erscheinungsbild aus. Die äußere, körperliche Haltung spiegelt in der Regel die innere Haltung wider; und die äußere wird aus der inneren Energie gespeist. Mit dem Vorbehalt der Täuschung kann man sagen: Wie innen so außen, wie außen so innen. Was soll dieser Gedankengang über einen mittelalterlichen Begriff? Wenn bis vor kurzem über Werte gesprochen wurde, liegt gegenwärtig in der ethischen Diskussion der Akzent auf den „inkorporierten Werthaltungen“23.

Aus diesem Grund haben Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und Praktiker zwei Jahre lang einen Diskurs geführt, dessen Ertrag Sie nachlesen können: Habituelle Unternehmensethik – Von der Ethik Habituelle Unternehmensethik – Von der Ethik zum Ethos, Herausgegeben von Ulrich Hemel, Andreas Fritzsche und Jürgen Manemann, Baden-Baden 2012. 23

114


Wasserscheide: hedone – eudaimonia Die meisten Unterschiede in der Ethik sind nicht wirklich tiefgreifend, doch in der Frage nach dem Glück gibt es meines Erachtens eine fundamentale Differenz. Macht man die Bewertung allein von der „hedone“ – Lust, Wohlbefinden, Lebensqualität, Zufriedenheit – abhängig, kommt man zu einer anderen Beurteilung, als wenn man als Bewertungskriterium die eudaimonia – Glück, Gelingen des ganzen Lebens – nimmt. Warum?

Menschen sind Lebewesen und darum kommen sie mit einer Luststeuerung auf die Welt, denn die Biologie belohnt ein Lebewesen mit Lust, wenn es die Aufgaben der Selbst- und Arterhaltung erledigt. Haben Menschen Hunger, können sie diesen lustvoll stillen; dürsten sie, dann kann selbst ein Glas Wasser zum Genuss werden, und der Akt der Arterhaltung wird mit der lustvollsten aller Lüste belohnt und gepriesen. Darum meiden Menschen alles, was Schmerzen bereitet, und wählen das, was ein Genuss ist: Menschen wollen sich wohl fühlen. Diese „hedonistische Navigation“, die sich im Gefühl meldet, haben Menschen mit allen Lebewesen gemeinsam und sie ist ihnen sozusagen in die Wiege gelegt. In dieser Wiege liegt auch eine ganz natürliche „animalische Egozentriertheit“: Ich stehe immer im Mittelpunkt meiner Welt und nehme alles andere nur als „Umwelt“ wahr. Die Welt sehe ich immer nur aus meinen Augen, schmecke nur mit meiner Zunge, … und fühle nur mit meinen Emotionen. „Ich bin der Mittelpunkt der Welt“ – zumindest meiner Welt – und keiner kann anders. Darum gehört mein Gefühl auch nur mir, mein Schmerz bleibt immer nur der meine und mein Genuss auch. Keiner von uns kommt da aus seiner Haut heraus, und da hilft auch keine wohlmeinende Empathie. Bei der „eudaimonia“ kommen neben dem Glücksgefühl noch andere Elemente zum Tragen, denn es soll ja ein menschliches Glück sein: Zielerreichung, wirkliches und nicht illusionäres oder stimuliertes Glück, anspruchsvoll, weitreichend und nachhaltig, mit voller Aufmerksamkeit, ganz und gar menschlich, das heißt mit Vernunft, zumindest nicht 115


Wasserscheide: hedone – eudaimonia

ohne Vernunft. Das Bewertungskriterium „eudaimonia“ bildet neben der biologischen Natur auch die soziale, dynamische und rationale Natur des Menschlichen ab. Anders gesagt: Die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ lässt sich nicht nur mit der einen Dimension des Wohlbefindens beantworten, sondern zieht weitere Kreise. Dieser Gedanke will provozieren, denn unsere Ökonomie, die Gesundheitsreligion und auch die Vergötterung der Karriere leben vom exklusiven Bewertungsargument der Lebensqualität, Wohlbefinden, „pleasure“ – also von „hedone“. Für eine Horizonterweiterung plädiere ich, mehr nicht, aber auch nicht weniger.

116


Heimkino Folgende Situation kommt in Gesprächen häufig vor: Wir reden über ein Thema und ein Gesprächsteilnehmer fängt bei einem Stickwort an, Ich-Geschichten zu erzählen. „Ja, da war ich auch schon einmal“, und wir hören, ob wir es wollen oder nicht, Urlaubsgeschichten im Detail. Bei einigen Zeitgenossen geht das so weit, dass sie über die Grenze ihrer eigenen Zahnschmerzen, Erlebnisse und Beziehungen nicht hinauskommen. Selbst die Frage „Wie geht es Dir?“ landet nach drei Sätzen in einer Ich-Geschichte des Fragenden, und er erzählt von seinem Stress, seinen Befindlichkeiten usw. Ob das jemand hören will, spielt dabei keine Rolle. Bei ganz Hartnäckigen hören wir die Storys immer wieder. Dieses Phänomen nenne ich „Heimkino“. Ein Gespräch kommt nicht zustande, denn die Anderen dienen nur als Projektionsfläche, auf der die Welt des Redenden aufgetragen wird.

Wie rutschen wir ins Heimkino? Woher kommt das? Ich stehe immer im Mittelpunkt meiner Welt. Meine Zahnschmerzen empfinde nur ich. Die der Anderen kann ich nicht fühlen und empfinde sie bestenfalls in Analogie zu meinen eigenen. Die Grenze meiner Haut ist der Horizont, innerhalb dessen ich lebe. Ich stehe immer im Mittelpunkt meiner Welt.

Diese Situation kann man die „natürliche Egozentriertheit des Menschen“ nennen. Mit einem Bild gesprochen: Stellen wir uns einen Menschen vor, der mit dem Schiff über den Ozean fährt. An der Reling steht er und schaut auf das Meer hinaus. Hier bemerkt er augenfällig, dass er im Mittelpunkt seiner Welt steht. Er sieht das Wasser bis zum Horizont, er riecht die salzige Luft, hört die Wellen und er denkt über seine Reise nach. Ganz bei sich bleibt er mit all den Bildern, Gerüchen und Gedanken. Auf einmal taucht am Horizont etwas auf und nach einer Weile sieht unser Mensch ein Schiff. Das herannahende Schiff schaut er interessiert an. Nun kann er sich vorstellen, dass auf dem anderen Schiff auch einer – so wie er – steht und sein Schiff anschaut. Perspektivwechsel nennt man das. Dazu braucht es aber so etwas wie Vernunft, weil die sinnliche Wahrnehmung uns immer nur die eigenen 117


Heimkino

Empfindungen präsentiert. Die Vernunft schafft es, die Welt mit anderen Augen zu sehen und fremde Gedanken zu denken. Dazu bedarf es allerdings der Aufmerksamkeit, des Zuhörens und vor allem der Gelassenheit – nämlich seinen eigenen Willen und seine Interessen seinlassen-zu-können. Man kann die Vernunft auch „Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit“ nennen. So können wir Welt gewinnen und nicht nur Umwelt haben. Allerdings schmeißen wir ganz selten unsere Vernunft an und sind für anderes aufmerksam. Darum richten wir es uns im Heimkino so gemütlich und vertraut ein. Vielleicht ist es schon ein Gewinn, wenn ich darum weiß, dass ich in der Regel in meinem Heimkino sitze und die Anderen in ihrem.

118


Herrschaft Was rechtfertigt die Herrschaft von Menschen über Menschen?

Freie Menschen tun das, was sie wollen und müssen nicht die Anweisungen anderer ausführen. Diese Freiheit gestehen Menschen einander zu, weil sie andere respektieren und von anderen auch als solche respektiert werden wollen. Wie kommt es also, dass einige Menschen besondere Privilegien und Herrschaftsrechte bzw. Machtbefugnisse haben? Warum erhalten einige Menschen das Recht, anderen Pflichten und Lasten aufzuerlegen, wieder anderen Güter und besondere Fürsorge zu erteilen? Warum darf ein Richter jemanden mit dem Gefängnis bestrafen und einen anderen freisprechen? Warum darf ein Chef einen Mitarbeiter abmahnen oder gar kündigen? Wir sind doch alle gleich. Was rechtfertigt die Herrschaft von Menschen über freie Menschen?

Ganz allein können Menschen nicht leben, denn zum Leben brauchen sie immer andere. Von einer Mutter sind alle geboren und wurden von ihr gestillt, lernen die Muttersprache und treten durch sie in ein persönliches, privates Leben ein. Menschen sind eben „Lebewesen der Gemeinschaft“ 24 und bei aller Gleichheit in der menschlichen Natur sind sie – Gott sei Dank – unterschiedlich. Der eine ist Zahnarzt, die andere Lehrerin; die eine ist Verkäuferin und der andere Autoschlosser. Anders gesagt, wären alle Zahnärzte, würde die Menschen verhungern und frieren. Heterogenität (Unterschiedlichkeiten) und Asymmetrien (Ungleichheiten) machen gesellschaftliches und privates Leben überhaupt erst möglich. Ohne diese würde menschliches Leben nicht gelingen und keiner könnte ein „gutes Leben“ führen, auch wenn jeder noch so intensiv seine privaten Interessen verfolgt.

Doch wer organisiert oder synchronisiert die vielen einzelnen Interessen zu einem sinnvollen Ganzen? Wer hat das Ganze im Blick? Wem 24

Aristoteles, Politik 1261: „zoon politikon“ 119


Herrschaft

obliegt die Verantwortung für das „gute Leben“ der Gemeinschaft? Auf jeden Fall muss jemand da sein, der zum Beispiel für das Unternehmenswohl zuständig ist und geradesteht. Alle können das – beim besten Willen – nicht. Hierin liegt die Antwort auf die Frage „Was rechtfertigt die Herrschaft von Menschen über freie Menschen?“: Nur die Sorge um das „gute Leben“ der Gemeinschaft, um das „bonum commune“, das heißt, um das Gemeinwohl, legitimiert Herrschaft und Machtausübung.

Wie die konkrete Art und Weise der Machtausübung aussieht, bestimmt der historische Kontext, die Moral einer Gesellschaft oder der Zweck einer Gemeinschaft; und ob die Herrschaft kollegial, patriarchalisch, demokratisch … verfasst ist, wird erst auf einer zweiten Ebene interessant.

Der Dreh- und Angelpunkt einer guten und gerechtfertigten Herrschaft besteht in der Antwort auf die Frage: Was haben die Machtbesitzer im Blick – das Gemeinwohl oder ihren Eigennutz; das „bonum commune“ oder ihr „bonum privatum“? Wollen sie wirklich der Gesellschaft dienen oder wollen sie ihr Schäfchen ins Trockene bringen? Wollen sie den Erfolg des Unternehmens oder Karriere machen?

Auch in unserer unübersichtlichen Gesellschaft hat faktisch immer jemand die Macht und herrscht. Darum ist die Frage danach, was die Machtbesitzer im Blick haben, umso dringlicher, weil es eben in „flachen Hierarchien“ sehr unübersichtlich zugeht. In der Summe soll festgehalten werden: Nur die Sorge und der Dienst am Gemeinwohl rechtfertigt die Herrschaft von Menschen über freie Menschen – in der Familie, in der Schule, im Unternehmen, im Staat …

120


Herz Im Deutschen ist es mit dem Herz schwer, weil sich das Wort Herz auf Schmerz reimt, und so sitzt man gleich in der Wernesgrüner Musikantenschenke. Was ist mit Herz gemeint? Auf jeden Fall meine ich jetzt nicht die Pumpe, die das Blut in den Adern zirkulieren lässt. Der junge König Salomon, so erzählt die Bibel, bittet Gott um

„ein hörendes Herz, damit dein Knecht dein Volk regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden vermag“, und der Herr schenkt ihm, weil er nicht um Reichtum, Ruhm und Macht gebeten hat, „ein so weises und verständiges Herz, dass keiner vor dir war und keiner nach dir kommen wird, der dir gleicht.“ 25

Daniel Goleman (Emotionale Intelligenz, München 1997ff) beschreibt Herz recht gut, so dass ich seinen Gedankengang wiedergeben möchte: Herz ist die „emotionale Seele“. Die emotionale Seele ist sehr viel schneller als die rationale Seele (Vernunft). Das Herz handelt augenblicklich, ohne auch nur eine Sekunde lang abzuwägen, was es tut. Die Promptheit der emotionalen Seele schließt die bedächtige, analytische Reflexion aus, die das Kennzeichen der denkenden Seele ist.

Das Herz nimmt Situationen und die in ihr enthaltenen Menschen unmittelbar wahr. Dieser Wahrnehmung folgen eine prompte Bewertung und Einschätzung des Handlungsbedarfs. Allerdings verzichtet die rasche Wahrnehmung auf Genauigkeit, sie verlässt sich auf die ersten Eindrücke und reagiert auf den Gesamteindruck oder auf die auffälligsten Aspekte. Sie nimmt die Dinge auf einmal und ganzheitlich auf und reagiert, ohne sich die Zeit für eine bedächtige Analyse zu nehmen. Dabei kann es passieren, dass hervorstechende Elemente den Eindruck bestimmen und sich gegen eine sorgfältige Bewertung des Details durchsetzen.

25

1 Könige 3, 5-12.

121


Herz

Der große Vorteil ist, dass die emotionale Seele eine moralische Realität – er ist mir böse; sie lügt; dies macht ihn traurig – auf der Stelle erfassen kann und Wertungen trifft, vor wem wir uns in Acht nehmen müssen, wem wir vertrauen können oder wer Kummer hat.

Das Herz ist auch unser Radar für Gefahren. Würden wir warten, bis die Vernunft eine Beurteilung trifft, dann würden wir uns möglicherweise nicht nur irren, wir würden wahrscheinlich schon tot sein. Der Nachteil ist, dass diese Wahrnehmungen, Wertschätzungen und Urteile des Herzens, weil sie im Handumdrehen gewonnen bzw. getroffen werden, falsch oder irreführend sein können. Soweit Daniel Goleman. „Auch das, was du nicht erbeten hast, will ich dir geben: Reichtum und Ehre, so dass zu deinen Lebzeiten keiner unter den Königen dir gleicht“ 26, endet der Herr. Wenn die Basis für ökonomischen Erfolg und Karriere in einem „hörenden und verständigen Herzen“ liegen, dann gehört das Thema Herz eher in die Führungsetagen als in die Wernesgrüner Musikantenschenke. Anders gesagt: Wer die Lufthoheit über die Herzen anderer Menschen hat, der verfügt in der Tat über Macht.

26

1 Könige 3, 13.

122


Homo ludens Seit einigen Jahren erlebt eine mittelalterliche Vorstellung vom Menschen eine Renaissance, die nahezu schon Mode geworden ist: der spielende Mensch „homo ludens“. Thomas von Aquin erzählt eine kleine Geschichte.

„So vernimmt man in den Väterlesungen, dass der Evangelist Johannes, als sich einige daran stießen, dass er mit seinen Schülern spielte, einem unter ihnen, der einen Bogen trug, befohlen habe, einen Pfeil abzuschießen. Als er das mehrere Male getan hatte, fragte er ihn, ob er ohne Unterbrechung damit weiterfahren könne. Er erhielt dann als Antwort: Wenn er das ohne Unterbrechung tue, zerbreche der Bogen. Johannes erwiderte darauf, in gleicher Weise zerbräche die Seele des Menschen, wenn er nie von seiner Anspannung abließe.“ 27

Um auf die Mode zurückzukommen, hört man an vielen Ecken, dass Kinder spielend lernen sollten, dass in Unternehmen kreative Lösungen spielend gefunden werden und dass Entscheidungen in Spielsituationen generiert werden. Wie kommt es, dass der Mensch als „homo ludens“ wiederentdeckt wird? Der griechische Mythos kennt Zeus als spielendes Kind, welches mit den Weltzeitaltern und Elementen würfelt. So konnte man Naturkatastrophen und Kriege deuten. Aber ist das nicht seit der rationalen und wissenschaftlichen Aufklärung Vergangenheit, sozusagen die Kinderstube der Menschheit? In Juli Zehs Roman „Spieltrieb“ verleiht nur das Spiel der Wirklichkeit Sinn und rechtfertigt das Leben – zumindest am Ernst-Bloch-Gymnasium in Bonn.

Bei einem guten Spiel, wie zum Beispiel beim Skat, werden die Karten ausgeteilt und welche Karten man auf die Hand bekommt, unterliegt dem Zufall. Diese Zufälligkeit der Chancen akzeptieren der Spieler und auch seine Mitspieler. Darüber hinaus hat das Spiel feste Regeln, an die sich jeder Spieler bindet, die er also akzeptiert. Im Spiel gilt es nun, das 27

Thomas von Aquin, Summa theologica II-II 114, 2 zu 1. 123


Homo ludens

Beste aus seinen Karten zu machen, das heißt konzentriert, kooperativ und mit einer gewissen Logik – auf Sächsisch „mit Spielwitz“ – die Karten zu spielen. Sieg oder Gewinn sind nicht unbedingt der Lohn des Spiels, sondern die Freude am Spielen; das heißt, Sinn und Zweck des Spielens liegen im Spiel selbst.

Nimmt man nun so ein Spiel als Metapher für das Leben eines Menschen, dann lassen sich einige Parallelen erkennen. Wir Menschen werden geboren und können uns weder die Eltern, den Geburtsort oder den Zeitpunkt der Geburt und vieles andere aussuchen. Mit diesen Fakten und Chancen müssen wir spielen und aus ihnen etwas Sinnvolles machen. Ob wir gewinnen oder verlieren, ob wir auf dem Treppchen stehen oder das Nachsehen haben, steht auf einem anderen Blatt geschrieben, und es ist müßig, sich über schlechte Karten und das Glück der Anderen zu beschweren. Einerseits spielen die Umstände, Chancen und ungleich verteilten Talente eine Rolle, andererseits aber auch die persönliche Lebensführung, die aus einer scheinbaren Benachteiligung eine Stärke machen kann. Das Spiel geht kaputt oder wird zur Spielsucht, wie das Dostojewskij sehr anschaulich im Roman „Der Spieler“ schildert, wenn man immer gewinnen will und nur den Sieg im Sinn hat. Diese Begierde saugt alle Lebensenergie aus dem Spieler und hinterlässt ihn leer wie eine Hülse. Derjenige, der immer im Spiel gewinnen will, sucht Erfüllung, findet aber nur Erschöpfung. Langfristig wird er auch verlieren. Das Glück liegt nicht im Gewinn, sondern im Spielen.

Kann man diese Einsicht auch auf unser Leben übertragen? Was macht das Leben lebenswert? Worin liegt der Sinn des Lebens? Einige Angebote kann man ja mal durchgehen und mit der Skat-Logik prüfen: den Fensterplatz im Himmel, die zahlreiche Nachkommenschaft, etwas geschafft zu haben. Während der Finanzkrise 2008 gab es an der Leuphana Universität Lüneburg eine Ringvorlesung unter dem Titel „Geld“. In einer Aussprache wurde der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Kahle gefragt, wie die Finanzkrise durch die Marktwirtschaft zu erklären sei. Darauf ant124


Homo ludens

wortete Herr Kahle. „Das hat nichts mit Marktwirtschaft zu tun, die Jungs haben gezockt.“ Im Anschluss an diesen Satz liegen natürlich Fragen in der Luft: Handelt der Homo oeconomicus immer so rational, wie er von sich behauptet? Liegen die Irrationalitäten nur in einer Fehlhaltung, in der Avaritia (Geldgier und Habsucht), begründet? Gibt es an der Börse und in Finanzgeschäften eine Spielsucht? Ist der Homo oeconomicus letztlich doch ein Homo ludens, ein Spieler? Wird Monopoly gespielt? Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewskij diktierte 1866 innerhalb von 26 Tagen den kurzen, mitreißenden Roman „Der Spieler“. Dostojewskij weiß sehr genau, worüber er schreibt, denn er selbst war jahrelang ein besessener Spieler am Roulettetisch in Wiesbaden, und spielte auch nach der Niederschrift des Romans weiter. Eine Phänomenologie der spielenden Psyche liefert Dostojewskij. Der Spieler kommt während des Spiels in seelische und körperliche Erregungszustände. Sein ganzes Glück sucht er im Gewinn, doch wird diese Begierde nie gesättigt. Selbst wenn er viel Geld gewinnt, will er noch mehr haben, setzt seinen Gewinn wieder ein und verliert schließlich alles. Nicht nur seine Sinne, sondern sein emotionaler Haushalt und auch seine Intelligenz werden gereizt, verlangen nach immer mehr und enden in totaler Erschöpfung. Diesem Ausnahmezustand folgen ein plötzliches Erwachen und Sorge um das Geld belastet. Der Spieler zählt sein Geld oder sorgt sich darum, wie er zu Geld kommt, damit er wieder an den Spieltisch treten kann. Alles Denken und Fühlen kreist um das Glückspiel. Dabei vergisst er nicht nur liebgewonnene Menschen, sondern auch Ereignisse. Das Glückspiel saugt alle Energie und Aufmerksamkeit auf. „Vielleicht wird die Seele, wenn sie durch so viele Empfindungen hindurchgeht, nicht gesättigt davon, sondern nur gereizt und verlangt nach weiteren, immer stärkeren Empfindungen, bis zur endgültigen Erschöpfung. Ich lüge wirklich nicht, wenn ich sage: Wäre

125


Homo ludens

nach den Spielregeln ein Einsatz von fünfzigtausend Gulden zulässig gewesen, ich hätte sie unbedingt gesetzt.“ 28 Vielleicht lassen sich diese Phänomene mit „mania“ erklären: süchtig – fokussiert auf die augenblickliche Erwartung – und mechanisch – ohne Erinnerung und Wahrnehmung – jagt er dem Glückspiel nach. Vernunft wird bestenfalls auf eine gewinnorientierte Intelligenz reduziert. Wie im Fieber mit schweißnassen Händen, rotem Kopf und Augen und total erregt, vielleicht auch nur überdreht, kommt er nach Hause. Erschöpft ist er und nicht erfüllt. Ihn reitet etwas, ein Suchen nach Erfüllung wird zur Sucht. „Sein Frau Anna Grgorijewna fürchtete seine leichte Erregbarkeit, wie wir in ihren Erinnerungen nachlesen können: ‚Er kehrte vom Spieltisch zurück …, es war schrecklich, ihn anzuschauen: sein Gesicht war hochrot, seine Augen rot unterlaufen, als ob er betrunken wäre.“29

Welche Faszination hat Geld? Der Kick des Gewinnens evoziert starke Glücksgefühle, weil neben dem sehr hohen Risiko auch die Chance des Erfolgs steht. Aus nahezu Nichts kann man ganz schnell Gewinn machen und dabei die Bewunderung anderer ernten. Wie verändert Geld einen Menschen? Ist jemand ganz und gar auf Geld fixiert, verliert er nicht nur jede Scham, er kann nichts anderes mehr denken und über anderes reden. Je schneller Geld erworben wird, desto stärker gewinnt der fatale Eindruck an Macht über einen Menschen, Geld sei sein Glück. Das heißt hier Sucht? Rationales Handeln und vernünftige Selbststeuerung gelingen nicht mehr. Leib und Seele werden vom erwarteten Gewinn angegriffen. Fjodor M. Dostojewskij, Der Spieler, München 2010, S. 124. 29 Rudolf Neuhäuser, Nachwort; in: Fjodor M. Dostojewskij, Der Spieler, München 2010, S. 164. 28

126


Homo ludens

Der Spielsüchtige sucht im Grunde genommen etwas anderes: Liebe und Anerkennung. Im Glückspiel jagt er einer Ersatzbefriedigung nach.

Ist das Leben nur ein Spiel? Wird an der Börse gezockt?

127


Homo oeconomicus Die klassische Nationalökonomie entwickelte im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts ein Menschenbild, welches der relativen Eigengesetzlichkeit der Ökonomie entspricht und Grundlage einer Theorie rationaler Entscheidungen sein will. Der Utilitarismus des Engländers John Stuart Mill lieferte Vorarbeiten und der Italiener Vilfredo Pareto formulierte 1906 in seiner Volkswirtschaftslehre (Manuale di economia politica) den „homo oeconomicus“.

Der „homo oeconomicus“ ist ein fiktiver Akteur im Kontext des Marktgeschehens, der über vollständige Informationen verfügt und völlig rational sein Interesse bzw. Ziel verfolgt. Durch diese zwei Grundvoraussetzungen der Rationalitätsannahme und des Utilitarismus entsteht ein vollständig berechenbarer und konstanter Mensch. Seine Präferenzen verfolgt er wertneutral und auf dem kürzesten Weg, in dem er auf Umwelteinflüsse wie zum Beispiel Marktpreise, Steuergesetze sowie knappe Ressourcen reagiert und in der Verfolgung seiner Ziele agiert. Mit minimalem Aufwand sucht er ein maximales Ergebnis zu erreichen. In Dilemmatasituationen betreibt er eine rationale Güterabwägung. Vorteile dieses Menschenbildes sind, dass auf dessen Basis zum Beispiel Warenkörbe und Harz IV Sätze festgelegt sowie Marktverhalten abgeschätzt können, und dass die Lohnausgabe für eine Arbeitskraft mit ihrer Wertschöpfung monetär verglichen werden kann. Im Grunde genommen basiert unsere soziale Marktwirtschaft auf diesem Menschenbild, das Modellcharakter hat und nicht den Anspruch erhebt, ein vollständiges Menschenbild zu sein.

Intuitiv möchten die meisten Zeitgenossen diesem „homo oeconomicus“ widersprechen und werden sicherlich triftige Argumente dazu finden. Bei aller Mangelhaftigkeit hilft dieses Menschenbild meines Erachtens hervorragend, unsere fast vollständig ökonomisierte Lebenswelt und auch ganz konkrete Personen zu verstehen – zumindest deren Argumente. 128


Hypothese Das griechische Wort „hypothesis“ wörtlich übersetzt heißt das "Unterlegte" oder die „Unterstellung“. Darum verwenden wir das Wort Hypothese im Sinn einer theoretischen Annahme. In der Erkenntnistheorie bedeutet es die Voraussetzung, die Annahme von Gründen, Ursachen, Kräften und Gesetzen. So wird häufig von einer Arbeitshypothese gesprochen, welche einer Verifizierung unterzogen wird und gegebenenfalls falsifiziert wird, das heißt sie wird bewahrheitet oder als falsch verworfen. Wir bilden Hypothesen, weil wir einen Sachverhalt verstehen wollen. Ein schönes Beispiel gibt Aristoteles. „Freiheit ist eine Hypothese der Demokratie.“ 30

Wenn Axiome fest angenommene und geglaubte Grundannahmen sind, die nichtbeweisbar sind und auch keines Beweises bedürfen, dann sind Hypothesen flexibler, denn sie werden geprüft und können auch widerlegt werden, ohne dass ein Weltbild zusammenbricht. Ändern sich Axiome, dann sprechen wir vom Paradigmenwechsel, weil ein Orientierungssystem obsolet wurde. Wenn sich Hypothesen als unhaltbar erweisen, bricht deswegen die Welt noch nicht zusammen. Dann gehen wir eben von einer anderen Annahme aus – wohl wissend, dass eine Gewissheit vorerst aussteht.

30

Aristoteles, Politik 1317a.

129


Idealismus und Realismus Bis ins 13. Jahrhundert war das christliche Weltbild durch Augustinus, den „Theologen“, platonisch, idealistisch geprägt: Die wahre Wirklichkeit sei die geistige, ewige und unveränderliche Welt, die himmlische Welt Gottes. Unsere irdische Welt hier unten verstand man nur als materielles, zufälliges und temporäres Abbild jener wahren, idealen Wirklichkeit. Darum ging der Blick nach innen – in die mystische Versenkung. Der Blick nach draußen war gefährlich, weil er vom Eigentlichen der göttlichen Wirklichkeit ablenke und womöglich das Glück in irdischen, leiblichen Lüsten suche. Eine romanische Kirche zeigt das sehr schön: Dicke Mauern schützen vor der Welt da draußen und alle Bögen sowie Formen wollen den Menschen auf seine Seele, auf die Begegnung mit ihrem Erlöser, konzentrieren.

Um 1200 kam über Spanien und Sizilien vermittelt durch islamische und jüdische Philosophen Aristoteles nach Westeuropa. Aristoteles richtete – anders als sein Lehrer Platon – den Blick auf das konkrete Ding und damit nach draußen: „Was ist das da?“ Wie ein kleines Kind, das mit dem Finger auf eine Schnecke zeigt und beharrlich fragt „Was ist das da?“, fing Aristoteles beim konkret Seienden an: Die Wahrheit liege beim konkreten Ding, bei der „res“ – und darum heißt diese Position „Realismus“. Nun kam dieser antike, heidnische Realismus in das christliche Abendland und verdrehte den Gelehrten gründlich den Kopf – und zwar nach draußen.

Christlich interpretiert lautet diese Sicht der Dinge „Schöpfung“: Wenn du Gott suchst und kennenlernen willst, dann fange beim konkreten Ding, nämlich bei seinem Geschöpf, an. „Alle unsere Erkenntnis geht von den Sinnen aus“, lautet der aristotelische Kernsatz. „Der Menschen wird durch die Sinnendinge zu den geistigen geführt“, sagte Thomas von Aquin. Damit wurde die irdische – die dingliche, zufällige und temporäre – Welt neu entdeckt und als Schöpfung Gottes interessant; das ist der christliche Realismus. 130


Idealismus und Realismus

Die gotische Kathedrale – wie der Kölner Dom – zeigt das sehr schön: Die Mauern werden in Fenstern aufgelöst, sodass Licht einströmen kann. Das ist Aufklärung. Weinblätter werden auf Kapitellen dargestellt, und die Säulen ahmen einen Wald nach. Maß und Ornamentik werden vom Geschöpf genommen und dann künstlerisch, technisch dargestellt. Fragt man einen Idealisten, was Wahrheit sei, dann würde er antworten: „Die wirkliche Wirklichkeit kann man nur in der idealen, vollkommenen Welt finden und das ist die geistige Welt. Schau, du kannst keinen vollkommenen Kreis zeichnen! Ein vollkommener Kreis kann nur ein gedachter Kreis sein und der gezeichnete ist dessen unvollkommenes Abbild. Die Wahrheit findest du nur in der Idee.“ So kann der Idealist Menschen begeistern, intellektuell entflammen und wirkt geistreich. Fragt man nun den Realisten, was Wahrheit sei, dann würde dieser antworten: „Zuallererst begegnen uns ganz konkrete Dinge, die wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen. Dann wollen wir wissen, was das da ist. Es gibt nur eine Wirklichkeit, die wir sinnlich wahrnehmen und gedanklich aufnehmen. Die Wahrheit findest du in den konkreten Dingen, dort entdeckst du sie.“ Der Realist kommt eher hausbacken, schlicht und bodenständig einher – wie zum Beispiel Albert der Große.

Albert wurde wohl 1206 in Lauingen/Schwaben geboren. Ab 1223 studierte er die sieben freien Künste und vielleicht auch Medizin in Padua. Bereits in dieser Zeit kam er in Kontakt mit den Schriften des Aristoteles und mit den Dominikanern. Noch 1223 trat Albertus in diesen Orden ein. Sein Noviziat absolvierte er in Köln, wo er auch das Studium der Theologie aufnahm und zum Priester geweiht wurde. Anschließend studierte er in Hildesheim, Freiburg im Breisgau, Regensburg und Straßburg. 1243 ging Albertus für fünf Jahre an die Sorbonne nach Paris, erwarb dort 1245 den Magister der Theologie, lehrte drei Jahre lang und befasste sich dabei intensiv mit Aristoteles und der jüdisch sowie islamischen Philosophie. Thomas von Aquin schloss sich ihm in dieser Zeit als Schüler an. 1248 kam er erneut nach Köln, um dort das gerade ins Leben gerufene Studium Generale seines Ordens zu 131


Idealismus und Realismus

leiten. Unter ihm entwickelte die Kölner Ordensschule der Dominikaner einen hervorragenden Ruf und zog Studierende aus ganz Europa an. 1264 nahm Albert die Lehrtätigkeiten – in Würzburg und Straßburg – wieder auf. Um 1269 kehrte er endgültig zurück in das Kölner Dominikanerkloster. Eine Berufung an die Universität Paris lehnte er aus Altersgründen ab. Am 15. November 1280 starb Albertus in Köln. Sein – sehr schön gestaltetes – Grab können Sie in Köln, in St. Andreas unweit des Kölner Domes, sehen.

Was hat das mit Realismus zu tun?

Albert verkündete die neue Sicht der Dinge an den Universitäten und Schulen im christlichen Abendland; und noch mehr: Albert betrieb selbst empirische Wissenschaften.

So kam er 1240 nach Goslar, denn er hörte von den Erzen im Rammelsberg: Silber, Gold, Kupfer, Zinn, Zink usw. Das interessierte ihn als Metallurgen. Welche Metalle sind im Erz des Rammelsberg und zu welchen Anteilen? Wie kann man die Erze entdecken? Wie kann man aus dem Erz das Metall gewinnen? Um diese Fragen zu beantworten, nahm er sich die Erzbrocken vor und analysierte diese mit chemischen Methoden empirisch. Albert wollte „die Dinge sichtbar machen, so wie sie wirklich sind.“ Darüber hinaus sprach er mit den Bergleuten und Hüttenarbeitern. Aus diesen Studien entstand 1248 sein Mineralienbuch, das er 1262 beendete 31. Eine Jahreszahl empfehle ich ihnen zu merken: 1248. Albertus Magnus und Thomas von Aquin gründeten 1248 in Köln die Dominikanerschule, aus der die Kölner Universität entstand. 1248 wurde der Grundstein des Kölner Domes gelegt. Beide gehören zusammen, denn in der Gotik verstand man eine Kathedrale als ästhetisch wahrnehmbare Abbildung der Wissenschaften.

31

Vgl. Dorothy Wyckhoff, Albertus Magnus. Book of Minerals, Oxford 1967. 132


Idealismus und Realismus

Darum ist der schwäbische DominikanermÜnch Albertus Magnus Schutzpatron der Wissenschaftler und insbesondere der Naturwissenschaftler.

133


Idee Mit Idee bezeichnen wir heute einen Einfall und sagen dann: „Ich habe eine Idee“, oder „Ich habe keine Ideen mehr.“ Manchmal sprechen wir auch von einer Geschäftsidee und meinen damit das ökonomische Prinzip eines Unternehmens. „Dieser Suppe fehlt noch eine Idee Salz“, kann man auch hören; da ist die Idee eine kleine Maßeinheit.

Platon brachte die Idee ins Spiel. Was meinte er damit? Mit Idee wollte Platon die wirkliche Wirklichkeit, das „wahrhaft Seiende“ wie er es nannte, bezeichnen. Das Wort „Idee“ kommt vom Verb „sehen“, und bedeutet so viel wie „das Gesehene“. Platon verstand das so: Vor unserer Geburt gewann unsere vernünftige Seele einen Einblick in das Reich der Ideen, in die wahre Wirklichkeit, und wir sahen intellektuell das wirklich Seiende – das Gute an sich, die Schönheit selbst, das Urbild. Für ihn waren die Ideen etwas ewig Zeitloses, Vollkommenes, Unveränderliches, Transzendentes und nur der intellektuellen Schau Zugängliches.

Dem steht die sinnlich wahrnehmbare Welt gegenüber, das heißt alles Körperliche, Veränderliche und Zeitliche als unvollkommenes, mangelhaftes Abbild der Idee. Beide Welten verband Platon durch die Relationen Bild, Teilhabe (methexis) und Nachahmung (mimesis), das heißt, diese sinnlich wahrnehmbare Welt ist nicht nur das Abbild der Welt der Ideen, sie ahmt sie nach und hat auch teil an ihr – freilich unvollkommen.

Ein Beispiel brachte Platon: Einem Weber zerbricht sein Webeschiffchen. Ein neues Webeschiffchen will er anfertigen. Wie gelingt ihm das? Er muss wissen, was ein Webeschiffchen ist, wie es aussieht und funktioniert. Weiß er also, was ein Weberschiffchen ist, kann er sich an die Drechselbank stellen, ein Stück Holz einspannen und ein neues nachbauen. Er sieht vor seinem inneren Auge, was ist, und ahmt das Vorbild (paradeigma) nach. Gelingt dem Weber die Erinnerung (anamnesis) an das Urbild, also an die Idee, und weiß er, was ein Webeschiffchen ist, dann kann er etwas bauen, was an der Idee teilhat (methexis), 134


Idee

und ein neues Abbild fertigen. Die Idee des Weberschiffchens ist also Ursache und Grund des Weberschiffchens.

Vielleicht klingt die Ideenlehre Platons abgedreht. Doch in Mathematik und Geometrie funktioniert sie. Sie können keinen Kreis zeichnen, weil ein geometrischer Punkt keine Ausdehnung hat. Ein gezeichneter Kreis bildet immer unvollkommen den Kreis ab, den wir nur denken und mit Worten in der Definition ausdrücken können. Der gezeichnete Kreis ist Abbild des wirklichen Kreises, der Idee des Kreises, des denkbaren, geometrisch definierten Kreises.

Verlegen wir mal das Reich der Ideen aus der göttlichen Sphäre in die menschliche Intelligenz, wenden uns als von Platon ab, dann werden wir entdecken, dass unsere moderne technische Welt nach der Ideenlehre gestrickt ist. Der Maschinenbauer entwickelt seine Maschine gedanklich, setzt sie dann im CAD um und bringt die Konstruktion in die Produktion. Genauso macht es der Unternehmer mit seiner Geschäftsidee. Vielleicht sagen wir heute nicht mehr Idee, sondern Konzept. Der Sachverhalt ist jedoch der gleiche. Übrigens hören wir sowohl vom Maschinenbauer als auch vom Unternehmer Klagen darüber, dass die schnöde Wirklichkeit – schlechte Marktlage, unfähige Mitarbeiter, schlechtes Material und so weiter – das Konzept zum Scheitern gebracht und die Geschäftsidee verwässert hat. Nicht nur im Film „Matrix“, sondern in unserer technischen Zivilisation ist Platons Idee die „wirkliche Wirklichkeit“.

135


Ikone Weiter vorn schrieb ich vom Bild. Das Bild ist etwas anderes als das Abgebildete, hat mit diesem – bei aller Andersartigkeit – das Schema gemeinsam. Sehen wir ein Bild, dann erinnern wir uns an das Abgebildete und benutzen es als Medium. Allerdings gibt es wahre Bilder wie das Schweißtuch der Veronika (vera ikona) und falsche Lügenbilder, die wir Idole nennen. Soweit damals, und daran knüpfe ich heute an. Die morgenländische Christenheit greift aus der Philosophie Platons das Paradigma Bild (eikon) auf, weil es auch in der Bibel vorkommt „Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich!“ 32

„Er (Jesus Christus) ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes.“ 33 Menschen geben das Bild ihres Schöpfers zwar wieder, aber doch nur unvollkommen, schemenhaft, wogegen Christus das vollkommene Bild des Vaters ist, so die Bibel.

Besuchen wir eine orthodoxe Kirche, werden wir eine Fülle von Ikonen sehen – gleich beim Eingang die Festtagsikone, die Ikonostase und auch die Fresken – sowohl innen als auch außen. Warum diese Fülle? Auf jeden Fall greifen wir mit unserer gängigen abendländischen Erklärung, diese Bilder seien eine Bibel für die armen Ungebildeten, zu kurz. Dazu bräuchte man nicht so viele Bilder und könnte auch auf die Kerzen und den Weihrauch vor den Ikonen verzichten. Die Ikone – das wahre Bild – sei ein Medium der Gotteserkenntnis, so sieht es die morgenländische Theologie.

Die Ikone ist ein Fenster zur Ewigkeit, denn das Abgebildete wird im Bild gegenwärtig. Überhaupt ist die Wirklichkeit, in der wir uns bewegen und leben, ein Abbild der himmlischen, ewigen Wirklichkeit. Die Ikone als Repräsentant des Himmlischen durchbricht die Totalität des Genesis 1,26. 33 Kolosser 1,15. 32

136


Ikone

Irdischen, öffnet sozusagen ein Fenster und lässt uns einen Blick auf das werfen, was zwar unsichtbar, aber dennoch gegenwärtig und der Grund unserer Existenz ist.

Die Ikone wird in der „umgekehrten Perspektive“ gemalt, das heißt der Fluchtpunkt liegt nicht im Bildraum, wie wir es von der Zentralperspektive her kennen; der Fluchtpunkt liegt im Auge des Betrachters. Der Betrachter wird vom Abgebildeten aus der Ikone heraus angeschaut und aufgefordert, Kontakt aufzunehmen und seine Aufmerksamkeit auf das Urbild zu richten. Gelingt dies, so erhält der Betrachter Kunde aus den Tiefen des Seins und eine Erinnerung an seine geistige Heimat. Energie strömt, das Urbild wirkt im Betrachter und wird in ihm gegenwärtig. Die Schönheit, die den Betrachter erreicht oder trifft, versteht die orthodoxe Christenheit als Strahl vom Quell aller Bilder, die in ihm „eine freudige Kunde aus vertrauten Tiefen des Seins, eine vergessene, aber insgeheim gehegte Erinnerung an die geistige Heimat“ bringt. Die Schönheit der Ikone führt zur geistigen, ewigen Schönheit hinauf.

„Die Ikone ist die Erinnerung an ein höheres Urbild. Aus diesem Grund kleidet sich ein oberflächliches und auf krummen Wegen erreichtes Eindringen in die geistige Welt in ungewöhnliche, rätselhaft komponierte Formen, eine Art Rebus [Bilderrätsel] der geistigen Welt; die darstellende Kunst steht an der Grenze zur verbalen Erzählung, aber ohne die verbale Klarheit.“ 34

34

Pavel Florenskij, Die Ikonostase, Stuttgart 1988, Seiten 57.58 und 94. 137


indifferent Das Buch von Klaus Berger und Andreas Fritzsche „Gut oder böse?“35 kann schnell den Eindruck entstehen lassen, als gäbe es nur dieses Entweder-Oder – eben gut oder böse. Das entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit, und darum möchte ich ein Drittes vorstellen: das Gleichgültige oder das Indifferente. Die meisten Handlungen sind moralisch indifferent: Ob ich ein Blatt mit der linken oder rechten Hand aufhebe ist moralisch neutral; ob ich meinen Nachbarn mit „Guten Morgen“ oder „Moin, moin“ grüße, hat keine ethische Bewandtnis; und ob ich mit der linken oder rechten Hand schreibe, hat keine moralische Bedeutung – im Allgemeinen. Wir können die Beispiele endlos fortsetzen und kämen zur Einsicht, dass fast alle Handlungen moralisch „gleich gültig“ sind.

Diese Tatsache, dass fast alle Handlungen ethisch indifferent sind, ermöglicht sogar erst sittliches Handeln, denn wenn alles moralisch relevant wäre, wäre nichts mehr moralisch relevant. (Wenn alles politisch ist, ist nichts mehr politisch.) Intuitiv merken wir das auch und bezeichnen Menschen, die alles nach gut oder böse bewerten, einfach als überzogen oder als „Gutmenschen“. Ob jemand eine Vorliebe für Schlips oder Fliege hat, ist einfach eine Geschmackssache, und wenn bezüglich solcher Fälle jemand anfängt, moralisch zu werden, seinen Geschmack auch anderen aufzudrücken, zeigt er sich entweder als dummer, infantiler Mensch oder als Gesinnungsterrorist. Selbst wenn wir fachlich gewisse Urteile fällen (zum Beispiel im Bereich der Betriebswirtschaft), dann urteilen wir zuerst sachgerecht nach „richtig“ oder „falsch“, lassen also Sachverstand walten. Moralisieren wäre völlig unangebracht. Allgemein gesehen, sind fast alle Handlungen moralisch neutral.

Andreas Fritzsche, Klaus Berger, Gut oder böse? Tugenden. Maßstäbe für richtiges Handeln, Asslar 2010. 35

138


indifferent

Im Konkreten kann eine an sich indifferente Handlung sehr wohl moralisch relevant sein. Wenn zwei Männer – zum Beispiel – beim Pokern sich über gewisse Zeichen verständigen und einer sich hinter einen anderen Mitspieler stellt, ihm in die Karten schaut und sich dann mit der linken Hand ans rechte Ohrläppchen greift, dann steckt in dieser scheinbar moralisch indifferenten Handlung eine Botschaft an seinen Kumpanen. Er spioniert, verzerrt die Informationsgleichheit und verletzt damit die Gerechtigkeit – eine moralisch verwerfliche Handlung; zumindest mogeln beide. Das mag nun ein banales Beispiel sein, aber der Sachverhalt wird deutlich. Wenn nicht, dann schiebe ich ein anderes nach: Rot oder Schwarz sind erst einmal Farben und manch einer hat eine Vorliebe für Rot, ein anderer für Schwarz – also indifferent oder gleich gültig. Wenn nun – zum Beispiel in der DDR – am 1. Mai Fahnen gehisst wurden, macht es einen gewaltigen Unterschied, ob jemand die rote oder eine schwarze Fahne hisste. Der eine wurde gelobt, der andere hatte unangenehme Gespräche am Ohr und wurde bestraft. Was soll damit gesagt sein? An sich moralisch indifferente Handlungen können im Konkreten Bekenntnishandlungen oder Botschaften sein und so ihre Unschuld der Gleichgültigkeit verlieren. Der Ertappte wird zwar sagen, dass er sich schließlich mal am Ohr kratzen dürfe, was aber nur eine Ausrede ist. Die Wahrheit liegt also im Konkreten oder: Im Detail steckt der Teufel. Dieser Gedankengang über das Indifferente will Sie erstens entlasten und moralischen Stress abbauen: Im Allgemeinen sind die wenigsten Handlungen moralisch irrelevant. Zweitens gilt die Aufmerksamkeit dem Konkreten, denn der Ton macht die Musik. Nicht nur der Teufel steckt im Detail, sondern auch die Liebe.

139


Indikativ und dann erst der Imperativ Viele meinen, das Christentum sei eine moralische Veranstaltung. Den Fensterplatz im Himmel müsse man sich durch eine gute Lebensführung und Frömmigkeit verdienen. Diese Meinung ist ja auch kein Wunder, denn in der Öffentlichkeit treten die Kirchen mit erhobenem moralischem Zeigefinger auf. Allerdings ist diese Meinung abgrundtief falsch, denn die Religion der Christen ist eine Erlösungsreligion mit ihrer eigenen Grammatik. 1. Indikativ. Als erstes sagt Jesus Christus den Menschen: Gott liebt euch, und in dieser bedingungslosen Liebe seid ihr erlöst. Die Angst um euch selbst muss euch nicht mehr beherrschen, ihre Fesseln sind schon gelöst. Ihr seid erlöst und frei. 2. Imperativ. Lebt als freie Menschen! Gewährt die Liebe, die euch trägt und eure Souveränität ermöglicht, auch anderen Menschen! Bei den philosophischen Konzepten – vor allem bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik – steht zuerst der Imperativ und als zweites der Indikativ: Wenn Du tugendhaft lebst und Vernunft in deiner Praxis walten lässt, dann wirst du Glück (eudaimonia) erwerben. Diese aristokratische Ethik fasziniert, provoziert und fordert heraus, ist aber trotzdem ein Konzept der Selbsterlösung. Anders betrachtet steigert sie die angstvolle Sorge (epimeleia) um den eigenen Seelenfrieden. Sie produziert Stress, und man fragt sich, ob so eine ethische Optimierung einem Menschen überhaupt möglich ist.

Freilich ist das christliche Konzept eine Zumutung oder gar Beleidung, denn es widerspricht dem gegenwärtigen „Kult des Selbst“, unserem gepflegten Individualismus. Der Indikativ des Evangeliums „Du bist schon geliebt und erlöst“ nimmt das individuelle Selbst zurück: Du hast dich nicht selbst gemacht. Du gehörst dir nicht selbst. Du verdankst deine Existenz der nichtkonditionierten Liebe Gottes. Diese „gute Botschaft“ kann dem gekränkten Ego wie eine Drohbotschaft anmuten, 140


Indikativ und dann erst der Imperativ

weil der aufgeklärte und abklärte Zeitgenosse nicht gern seine Bedingtheit akzeptieren möchte. Trotzdem sprechen die lebensweltlichen Fakten dafür, dass wir uns nicht selbst erschaffen haben, dass die Weltgeschichte nicht auf uns gewartet hat und dass sich die Erde auch nach unserem Ableben weiterdrehen wird. Nur ein Pubertierender wird die Tatsache nicht akzeptieren wollen. Aus dieser Demütigung führen zwei völlig unterschiedliche Strategien heraus. a. Ignoranz dieser Tatsache und (hart) arbeiten an der Oberfläche des Alltäglichen. b. Hören des Evangeliums und Annahme des Satzes „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“.

Sphäre des Indikativs: Woher komme ich? Wie bin ich? Was wird mit mir geschehen?

Sphäre des Imperativs: Gewähre diesen Luxus des Geliebtseins auch jenen Menschen, welche dir über den Weg laufen und mit denen du dein Leben teilst! Nichts musst du ihnen beweisen!36

Vor Jahren habe ich mir mal die Notiz gemacht: Gott liebt Dich, Andreas, und darum bist Du. Die Reaktionen der Angst kannst Du Dir also sparen und bist auch von der Zuneigung anderer unabhängig. Du kannst verlieren, vergeben und alles lassen, wie es ist. Du bist souverän. Lebe einfach aus der Liebe Gottes heraus! 36

141


Intuition Die meisten Entscheidungen treffen wir nicht bewusst mit der Vernunft, die meisten Entscheidungen fällen wir mit dem Bauch. Was verbirgt sich hinter der Rede vom Bauch? Der Bauch denkt ja nicht, sondern verdaut aufgenommene Nahrung und verwandelt sie in Energie. Was soll also die Rede vom Bauch? Gemeint ist wohl das Gefühl, das sich bisweilen in der Magengegend meldet. Manchmal äußert es sich unangenehm, so dass es uns richtig übel wird, obwohl wir nichts Verderbliches gegessen haben; es wird uns flau im Magen. Ein anderes Mal meldet der Bauch Zustimmung und wir haben ein gutes Gefühl. Auf dieser emotionalen Ebene – und dafür steht wohl das Wort Bauch – nehmen wir Situationen unmittelbar wahr, wissen sofort, was los ist, und treffen ohne nachzudenken eine Entscheidung. Wir sehen unmittelbar „ja, so ist es“ und folgen einem Handlungsimpuls im Schlepptau dieser Wahrnehmung.

Die Philosophie spricht nicht vom Bauchgefühl, sie bezeichnet dieses Phänomen der unmittelbaren Wahrnehmung und Wertung mit dem Wort Intuition. Hinter dem Wort Intuition stehen die lateinischen Wörter „intus“ (inwendig) und „intuor“ (hineinschauen und betrachten). Intuition bezeichnet eine Erkenntnis des Geistes. In einem Augenblick nimmt man eine Situation oder einen Gegenstand wahr und überblickt alle Elemente. Im Gegensatz zum diskursiven Erkennen, logischen Beweis oder einer Argumentation schaut man in der Intuition unmittelbar alles in einem und weiß, was los ist. Nun steht die Frage im Raum, ob Gefühle bzw. Emotionen wie Ekel, Freude, Begeisterung und Scham die Intuition leiten oder ob sie eine unmittelbare Erkenntnis des Geistes, also eine Erleuchtung ist. Diese Frage möchte ich vorerst offenlassen, weil ich vermute, dass sowohl unsere Emotionalität als auch unsere Geistigkeit beteiligt sind.

Auf jeden Fall nehmen Menschen die gleiche Situation bisweilen unterschiedlich wahr. Einer ist hell wach, eine Andere langweilt sich, jemand nimmt ganz feinfühlig wahr, ein anderer lässt apathisch die Situation 142


Intuition

verstreichen und merkt nichts. Menschen reagieren unterschiedlich in Situationen. Woher kommen diese Unterschiede? Warum weiß die Eine intuitiv sofort, was los ist, und ein anderer ist völlig verwirrt?

Wir sehen die Welt, wie wir sind und was wir sind. Was sehe ich sofort? Worauf springe ich an? In unseren unmittelbaren Einsichten – in unseren Intuitionen – tritt unser inneres Leben, unsere zweite Haut, zutage und zeigt sich. Wie wir sind, so nehmen wir die Welt, besondere Situationen und einzelne Gegenstände wahr, gewinnen Gewissheit und fällen Entscheidungen. Die Intuition offenbart das innere Sein eines Menschen und bringt eine Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ Ist das innere Sein eines Menschen gut gestaltet, dann lebt dieser Mensch diese gute Gestaltung mit Leib und Seele, mit Kopf und Bauch, und dann kann er sich auf seine Intuitionen verlassen und ihnen trauen. Allerdings können uns Intuitionen auch täuschen, so dass wir einer falschen Spur folgen und eine schlechte Entscheidung fällen. Wie kommt das?

143


Irrtum Wenn man über Wahrheit und Erkenntnis spricht, muss man auch über dessen Gegenteil sprechen. „Falschheit“ steht der Wahrheit gegenüber, aber so sprechen wir nicht. Über den Irrtum reden wir schon, und der Irrtum ist noch einmal von der Lüge zu unterscheiden. Das griechische Wort für Irrtum heißt „pseudos“ und das lateinische „error“. Wer mit dem Computer arbeitet, liebt ganz besonders die Angabe „error“. Ein Irrtum liegt vor, wenn etwas für wahr gehalten wird, was nicht wahr ist; anders gesagt, eine Aussage oder Überzeugung weicht vom Sachverhalt ab. Wenn man das Lateinische nimmt, wird der Sachverhalt prägnant deutlich. Wahrheit ist die Angleichung eines Dinges und Intellekts (Veritas est adaequatio rei et intellectus). Das Gegenteil liegt in der „inadaequatio“; in der Ungleichung besteht der Irrtum. Wenn Wahrheit in der Angleichung (adaequatio) des Dinges und des Intellekts besteht, dann liegt der Irrtum in der Ungleichheit (inaequalitatis) zwischen Ding und Intellekt. Das Urteil des Intellekts trifft nicht zu, weil Subjekt (intellectus) und Objekt (res) nicht zusammenpassen. Ein Defekt vorliegt, etwas im Urteil fehlt, oder weil der Intellekt über äußere Zeichen oder Sinnesdaten unangemessen urteilt.

Die Gefahr des Irrtums, das heißt des inadäquaten Urteils, ist bei großer Ähnlichkeit besonders groß. Anders gesagt: Je größer die Ähnlichkeit, desto größer das Irrtumspotential. Die Falschheit, der Irrtum, lebt von der Ähnlichkeit mit der Wahrheit.

Irrtümer oder Fehleinschätzungen sind schlicht und einfach Denkfehler, und diese unterlaufen uns, wenn wir stillschweigende Identifizierung vornehmen, gewohnheitsmäßige Analogien anwenden, unvollständige Aussagen treffen und die ontologischen Ebenen vertauschen. Letzteres höre ich sehr häufig, zum Bespiel: „Der Computer denkt“. Nun können Maschinen zwar rechnen und Informationen verarbeiten, aber nur vernunftbegabte Lebewesen können darüber hinaus auch noch denken. Lebewesen und Maschinen sind zwar Dinge, aber auf un144


Irrtum

terschiedlichen ontologischen Ebenen, wie die Philosophen das nennen. Irrtümer schleichen sich auch ein, wenn wir aus Teilerkenntnissen sogenannte All-Aussagen machen, zum Beispiel: Wir sehen einen Russen Wodka trinken und meinen dann, dass alle Russen Wodka trinken und reden dann von der russischen Seele. Manche meinen, dass es Irrtümer aufgrund von Sinnestäuschung gibt – wie zum Beispiel den gebrochenen Handlauf im Schwimmbad. Das stimmt leider nicht, denn das Auge teilt dem Verstand das mit, was es sieht bzw. wahrnimmt. Wenn der Verstand urteilt, dass der Handlauf gebrochen ist, dann irrt er sich und unterliegt einem Fehlurteil.

Irrtümer bemerken wir leider erst im Nachhinein. Dann will ich aus dem Schwimmbecken heraussteigen, mich am Handlauf der Treppe festhalten und greife daneben. Lernen können wir allerdings, und irgendwann erwische ich den Handlauf doch.

Die Lüge liegt auf einer anderen Ebene, denn der Lügner hat die Intention der Täuschung und dreht an der adäquaten Darstellung ein wenig, so dass der Belogene zu einer Fehleinschätzung verleitet wird und zu einem inadäquaten Bild der Wirklichkeit kommt. Das funktioniert am besten, wenn die Ähnlichkeit mit der Wahrheit sehr groß ist. Einer brutalen Lüge geht kaum einer auf den Leim, schon eher der raffinierten, feinen und womöglich noch charmanten. Die schlimmste Lüge ist die Schmeichelei, denn die hören wir gern und wehren uns nicht dagegen.

145


Kampf der Kulturen Mohamed Mesbahi, ein Philosoph aus Rabat in Marokko, publizierte 2007 eine Antwort auf Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ und orientierte sich ausdrücklich an Ibn Ruschd, dem islamischen Philosophen des 12. Jahrhunderts aus Córdoba. Seinen Gedankengang lege ich dar:

Die Gemeinsamkeit aller Kulturen sticht nicht ins Auge, wogegen die Differenzen sofort wahrnehmbar sind. Die Einheit der Kulturen liegt in der Überlieferung, denn eine Kultur baut immer auf einer anderen auf, übernimmt Ergebnisse ihrer Vorgängerin und fragt dabei nicht, ob – zum Beispiel – die „0“ der Mathematik von einem Muslim, Inder oder einem antiken Griechen kommt. Diese Tradition des Wissens wird ganz selbstverständlich vorausgesetzt und fortgeführt. Der Anteil der persischen, griechischen, jüdischen, indischen und römischen Kultur in der islamischen Welt kann nicht weggedacht werden, denn es gibt keine Zivilisation, die frei vom Einfluss anderer Kulturen existiert. Es gibt keine „rein“ islamische Kultur, genau so wenig wie es eine „rein“ westliche Kultur gibt. In dieser Hinsicht muss man von einer substantiellen Einheit der Kulturen sprechen:  Historisch bauen alle Kulturen aufeinander auf, weil sie in einem Traditionszusammenhang stehen.  Interkulturell sehnen sich überall Menschen nach Glück, Gerechtigkeit und Wahrheit, weil sie einfach Menschen sind und nicht anders können.

Die Einheit der Kulturen ist die Substanz, das heißt ihr Wesen, die allerdings nicht sofort auffällt und sinnlich wahrnehmbar ist. Vielheit und Differenzen sind zwar akzidentiell, das heißt beiläufig und mehr oder weniger zufällig, werden aber sofort bemerkt, weil sie ästhetisch wahrnehmbar sind. Darum werden die Differenzen überbetont, denn sie identifizieren eine Kultur konkret.

146


Kampf der Kulturen

„Unsere Denker sind daran gewöhnt, bei ihrer Forderung nach dem kulturellen Dialog mit dem Westen vom Postulat des radikalen Andersseins unserer Werte von denen des Westens auszugehen. Dieser Weg führt meines Erachtens in eine Sackgasse. Es wäre angebrachter nach dem zu suchen, was uns verbindet. Die Einheit, zu der wir aufrufen, leugnet weder die Vielfalt noch die Differenz, weil die beiden auf zwei unterschiedlichen Ebenen behandelt werden. Die Einheit besteht auf der Ebene der Substanz, die Differenz aber auf der Ebene der Akzidenzien.“37 Die Einheit der europäisch-amerikanischen und islamischen Zivilisation sieht Mohamed Masbahi 1. im Monotheismus der abrahamitischen Religionen, 2. im griechisch-römischen Erbe und 3. in der Vernunft.

„Der Dialog der Kulturen zwischen uns und dem Westen bedeutet, die Vernunft als Medium zwischen uns einzusetzen. Dabei geht es jedoch nicht um die Art von Vernunft, die zum Kulturzentrismus führt und den Kampf zwischen den unterschiedlichen Kulturen entfacht, sondern um die flexible Vernunft, die durch Herz und Vorstellungskraft genährt wird, welche die Grenzen nicht in Schützengräben verwandelt, sondern in blühende Landschaften, in denen die offenen, dynamischen und wechselseitigen Identitäten der Gesprächspartner gedeihen können. In der Wirklichkeit leben wir alle auf einer Grenze, auch wenn wir uns im Zentrum befinden, denn derjenige, der nicht auf einer Grenze lebt, interessiert sich nicht für den Anderen, um mit ihm den Lebensweg und die Existenz zu teilen.“

Mohamed Mesbahi, In welchem Sinne könnte Ibn Ruschd einen Zugang zum Dialog der Kulturen bieten? in: Concordia 59 [2011] S. 57-69.

37

147


Katharsis In der Poetik des Aristoteles‘ findet man einen interessanten Gedankengang. Dem Zuschauer einer Tragödie, hier von „König Ödipus“ des Sophokles‘, widerfährt eine „Katharsis“, wenn er die Handlung durchlebt.38 Was kann das heißen? Das Wort „Katharsis“ kommt aus der Medizin und bezeichnet das Abführen von Überflüssigem und die damit verbundene Erleichterung. Das kennt jeder und muss nicht an einem Beispiel exerziert werden. Eine Last wird man los und erlebt das als Erleichterung.

Das Wort „Katharsis“ wird ins Lateinische mit „purgatio“ und ins Deutsche mit Reinigung und Erleichterung übersetzt. Bei „purgatio“ denkt man unwillkürlich, wenn man Dante kennt, an den zweiten Teil der Göttlichen Komödie – nämlich an das Purgatorium, an das Fegefeuer. Hier leben die Menschen, die noch eine Chance haben, glücklich zu werden, aber zuvor durch Feuer gereinigt werden müssen.

Kehren wir aber zu Aristoteles zurück. Dieses medizinische Wort nutzt er, um ein Ereignis zu beschreiben, wenn uns eine Last vom Herzen fällt, wenn wir wieder mit uns selbst und der Welt im Reinen sind. Beim Hören von Musik, beim Feiern im Kult und vor allem beim Zuschauen (griechisch: thean) im Theater können uns Steine vom Herzen fallen. Insbesondere die Tragödie, also nicht die Komödie, sei dafür besonders geeignet, denn Mitleid und Erbarmen, Furcht und Zittern können uns seelisch so erregen, dass wir Lasten loswerden und mit uns selbst wieder ins Reine kommen. Auf Sächsisch: Im Mitbibbern stellt sich die Seele unter die Dusche und wird wieder sauber. Allerdings kann man die Katharsis nicht machen. Sie stellt sich als „göttlicher Wahnsinn“ (theia mania), wie Platon das Phänomen im Phaidros beschreibt, ein. Ein göttliches Geschenk, so Platon, ist sie. Katharsis versetzt in einen ekstatischen Zustand. Angestaute Affekte werden emotional abreagiert und entladen sich lustvoll. 38

Siehe: Aristoteles, Poetik 1449 b.

148


Katharsis

„Nach dem aus der Medizin stammenden Begriff der Katharsis sollen die Affekte, sowohl das Mit-Leiden mit einem nur in Grenzen verdienten Leid als auch die Furcht vor einem Scheitern trotz bester Absichten, derart gesteigert werden, dass sich die Haare sträuben und das Herz bebt und Tränen in die Augen treten. Indem die Erregung wie eine physische Krankheit erst zum Ausbruch und dann zum Abklingen kommt, wird das schließlich wiedergewonnene innere Gleichgewicht als Erleichterung wahrgenommen; und genau darin besteht die tragische Lust.“ 39 Meines Erachtens gewinnen wir mit der Katharsis ein Kriterium, wie wir Schönheit von Kitsch unterscheiden können. Leiden hat einen heuristischen Effekt und kann zu einer Erkenntnis führen. Schmerzen sind nicht zu vermeiden, zumindest wenn man mit Wirklichkeit und Schönheit in Kontakt treten möchte. Schönheit bleibt nahe an der Wirklichkeit und geht gerade nicht im wohltuenden Gefühl auf. Kitsch betreibt Effekthascherei, will gefällig sein und erzeugt letztlich doch nur Überdruss – eben Kitsch. Schönheit kann dagegen schmerzlich irritieren und einen mächtig erschüttern, weil sie nicht Wohlbefinden, Gefallen, Lust – oder wie man das nennen will – intendiert. Schließlich befähigt eine Katharsis uns, Schönheit und Wirklichkeit wahrzunehmen. Allerdings ist so eine Erleichterung nicht zum Null-Tarif zu haben.

39

Otfried Höffe, Aristoteles, München 1996, S. 70. 149


Klugheit Die Klugheit ist in Verruf gekommen. Für viele klingt sie wie Schlitzohrigkeit – zu Unrecht, denn erfolgreiches Handeln ist ohne angemessene Erkenntnis der Situation und ohne gedankliche Vorwegnahme der Handlung nicht möglich. Darum formuliere ich in Anlehnung an Aristoteles einen Merksatz: Wir denken, um handeln zu können, und das Denken muss zu einem Ende kommen, denn die Handlung will beginnen.

In der Klugheit nehmen wir Wirklichkeit wahr und bereiten Handlungen, eben Praxis, vor. Dieses Denken nimmt Unabwägbarkeiten in den Blick, denn Handlungssituationen verändern sich, und kluges Denken muss mit der knappen Ressource Zeit auskommen. Skrupel, übertriebenes Risikomanagement und Perfektionismus verhindern jede sinnvolle Handlung und sind einfach unklug, dumm. Das praxisorientierte Denken will geübt sein, und wir eignen uns Klugheit durch Training und Wiederholung an. Darum ist Klugheit auch eine Tugend, und zwar die Tugend des praktischen Verstandes. Thomas von Aquin benennt drei Schritte der klugen Handlungsvorbereitung:

1. consultare – beraten: Hier liegt die Tugend im Ratschlägeannehmen-können – und nicht im Ratschläge-geben. 2. iudicare – entscheiden: Urteilsfähigkeit. 3. appellare – verkünden, kundtun: Die Entscheidung muss bekannt gegeben werden, die Kommunikationsstrategie will überlegt sein.

Die Tugend der Klugheit „informiert“ den Willen, setzt ihn sozusagen „in Form“, dass der Wille gut wollen kann. Darum kann nur der Kluge gerecht, tapfer und maßvoll sein. Klugheit ist das Maß des Wollens und Wirkens; aber das Maß der Klugheit ist die Wirklichkeit selbst. Der Kluge will Wahrheit und Wirklichkeit; Klugheit richtet das Wollen und Wirken an der Wahrheit aus. 150


Klugheit

Zur Klugheit, das heißt zur sachlichen Abschätzung der konkreten Situation der Praxis, gehört die Fähigkeit, diese Wirklichkeitserkenntnis in die konkrete Entscheidung umzuformen. Damit ist die Klugheit als erste Kardinaltugend nicht nur Inbegriff der moralischen Mündigkeit, sondern auch der Inbegriff der moralischen Freiheit. Der gute Mensch ist gut, kraft seiner Klugheit.

151


Kosmos Inspiriert wird dieser Gedanke durch eine Reise nach Apulien und Kalabrien mit Platons Timaios als Lektüre und Gesprächsstoff.

Wahrscheinlich sind wir moderne Menschen gar nicht so aufgeklärt, sondern eher naiv, weil wir davon ausgehen, dass die Wirklichkeit einfach nur vorhanden ist, dass wir sie verstehen können und dass es so etwas wie Naturgesetze, Energie und Bewegung gibt. Aber warum ist das so? Die alten Griechen brachten das Wort Kosmos ins Spiel. Damit meinten sie nicht einfach das Universum, sondern eine schöne Ordnung. Das griechische Wort „kosmos“ heißt Schmuck, in einem Bild gesprochen, wo jeder Stein seinen Platz einnimmt und die Anordnung der vielen Steine sowie Metallbänder einen schönen Schuck, ein schönes Ganzes bilden. Der Blick in die Sterne wird das bestätigen.

Fasziniert von dieser Schönheit kann man ja ganz unschuldig fragen, warum wir den Kosmos als schön empfinden. Der genauere Blick stellt Harmonie und Rhythmus fest, welche sich in Zahlen und geometrischen Flächen bzw. Körpern darstellen lassen. An dieser Stelle springt die Mathematik an und sucht nach Zahlenverhältnissen, Proportionen und vielleicht sogar nach Formeln. Das war sozusagen die Sternstunde der Mathematik.

Warum kann der Intellekt diese Verhältnisse formulieren? Das Universum ist ein Makrokosmos und wir Menschen sind ein Mikrokosmos. Universum und menschlicher Verstand kommunizieren mit einem Betriebssystem, das Geist oder Vernunft heißt und obendrein noch „schön und gut“ ist. Die Musik, so Timaios, zeigt es: „Was Stimme und Gehör angeht, so gilt wiederum dieselbe Erklärung, dass sie uns dazu mit derselben Absicht von den Göttern geschenkt wurden. Die Sprache ist nämlich genau zu demselben Zweck geschaffen und trägt den größten Anteil dazu bei und ebenso alles, was uns durch den Klang der Musik für das Gehör nützlich um der Harmonie willen gegeben wurde. Die Harmonie aber mit 152


Kosmos

ihren Bahnen, die den Umläufen der Seele in uns verwandt sind, ist für den, der im Einklang mit der Vernunft mit den Musen Umgang pflegt, nicht zu einer unvernünftigen Lust nützlich, wie sie heute allgemein betrachtet wird, sondern wurde uns von den Musen als Verbündete gegeben, um den in uns befindlichen unharmonischen Umlauf der Seele in Ordnung und in Zusammenklang mit sich selbst zu bringen. Und ebenso wurde uns der Rhythmus als Helfer zu demselben Zweck von denselben gegeben wegen der Neigung in uns, Maß und Anmut zu verfehlen.“41 Kosmos – sowohl den kleinen wie auch den großen – verstanden die Alten als „Abbild eines Seienden“. Darum ist der Kosmos schön und gut, vernünftig – darum auch für uns verstehbar – und ein wahrnehmbarer Leib; eine Resonanz kann entstehen, um bei der Musik zu bleiben. Hier korrespondiert etwas in uns: Der Intellekt kann verstehen und Wirklichkeit gedanklich aufnehmen, der Wille strebt nach etwas, was ihm guttut, und vor allem die fünf Sinne können die Schönheit des Kosmos lustvoll genießen. Hier springt etwas in uns Menschen an und macht uns innerlich schön. Der große Kosmos bringt uns in eine schöne Ordnung.

41

Platon. Timaios 47a-e.

153


Kultur Das Wort „Kultur“ kommt vom Lateinischen „cultura“ – Bebauung, Landwirtschaft, Anbau, Pflege, Verehrung; aber auch „cultus“ – Lebensweise, Kleidung, Übung, Bildung und Verehrung – klingt an. Damit wird etwas bezeichnet, das durch menschliche Tätigkeit so ist, wie es ist. Erst mal liegt der natürliche Boden vor dem Menschen und wird dann durch Arbeit zum Acker, welcher die Früchte bringt, die der Bauer haben möchte. In der Kultur drängt der Mensch – abstrakt gesprochen – der Natur seinen Willen auf und ringt ihr das ab, was er haben möchte. Selbst wenn er nur Früchte sammelt, greift er ein und verändert. Positiv formuliert, „kultiviert“ so der Mensch die „rohe“ Natur.

Wie machen Menschen das? Zunächst brauchen Menschen immer eine Vorlage, immer einen Stoff, aus dem sie etwas machen können. Das geläufige Bild dafür ist der Töpfer. Er nimmt Ton aus der Erde und formt ihn zum Beispiel zu einem Dachziegel. Darum nennt man den Menschen auch „homo faber“, Handwerker, weil er etwas Natürliches nimmt und diesem seine Form gibt. So entsteht etwas Neues: ein Kulturgegenstand oder ein künstliches Ding.

Im Laufe der Zeit erwarben Menschen Fertigkeiten im Umgang mit den natürlichen Dingen. Diese Fertigkeiten nennt man griechisch „techne“ oder lateinisch „ars“ – Technik oder Kunst. So übt der Bauer seine Kunst des Ackerbaus und der Töpfer seine Kunst des Töpferns aus; und wenn der Arzt einen „Kunstfehler“ macht, rügen wir ihn wegen einer Schlamperei in der Ausübung seiner Kunst. Menschen können auch der natürlichen Vorlage ein Gesetz aufprägen, den Ton normgerecht nach DIN (Deutsche Industrienorm) formen und fast identische Dachziegel herstellen.

Nun sind Menschen als biologische Geschöpfe auch Natur, das heißt Menschen werden geboren (und machen sich nicht selbst). Im Weiteren macht sich das Menschsein nicht von allein – sozusagen ohne Kunst, ohne menschliches Handeln. Damit haben wir die Ebene der Kultur. Wir selber sind sowohl Natur als auch Kultur. Die Natur legt 154


Kultur

uns Möglichkeiten, Anlagen, Kräfte und Fähigkeiten in die Wiege, aus denen etwas werden kann, aber nicht von allein wird. Menschen sind Menschen und werden Menschen. Sie wachsen nicht nur, sondern entwickeln ihr humanes Potential durch Erziehung, Ausbildung und Leben dieser Fähigkeiten. Das ist ein dynamischer Prozess von der Möglichkeit in die Wirklichkeit – menschliches Leben.

Darum bezeichnet insbesondere unser deutscher Sprachgebrauch des Wortes Kultur die immaterielle Gestalt einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft und einer Person, die allerdings an ganz konkreten Dingen – wie Kleidung, Musik, Gesten – augenfällig und wahrnehmbar wird. Kultur offenbart abstrakte Einstellungen, Gesinnungen, Haltungen und Ziele konkret und ganz lebendig. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Kulturen voreinander, wobei allerdings das Unterscheidende stärker unsere Aufmerksamkeit affiziert, als das Gemeinsame und Verbindende. Summe: Menschen gestalten ihre natürliche Welt menschlich nach ihrem Maß. Aus Bäumen können wir ein Schiff bauen, damit auf dem Wasser schwimmen und uns sogar daran erfreuen. So gehen wir auch mit uns selbst um, gestalten Kehlkopflaute und singen. Das ist eine Kunst, das ist Kultur.

155


Kündigung Trennung und Kündigung kommen im Leben einfach vor, und darum ist es mühselig, über Sinn und Unsinn von Kündigungen zu diskutieren. Die Aufgabe besteht darin, Kündigungen so zu handhaben, dass das Leben gut weitergeführt werden kann. „Gib jedem jederzeit die Chance, unter Wahrung seines Gesichts den Raum verlassen zu können“, sagte mir als Kind mein Vater.

Das ist leicht gesagt, denn die Trennung ist ein tiefer Einschnitt ins Leben und geht an die Existenz eines Menschen. Darum antworten die meisten auf die Trennungsbotschaft mit Existenzangst und lassen sich vom Selbsterhaltungstrieb navigieren, also von Emotionen und nicht von der Vernunft. Kündigung, was ist damit gemeint? Einmal kann der Arbeitgeber kündigen – entweder verhaltensbedingt oder betriebsbedingt. Dann kann aber auch der Arbeitnehmer kündigen – ganz offen mit einem Brief oder still und heimlich mit der „inneren“ Kündigung. Es gilt also, die Situation zu erkennen und dann den entsprechenden Weg einzuschlagen. Auf jeden Fall muss mit aller Sorgfalt und Diskretion die Kündigung vorbereitet werden: wahrnehmen, beraten, entscheiden und dann kommunizieren. Dem geltenden Recht, und das sind in Deutschland viele Gesetze und in der Regel auch ein Tarifvertrag, will zur Geltung verholfen werden, die Kosten wollen kalkuliert sein und die Gründe dargelegt werden.

Dann erst geht es in das Trennungsgespräch. Die Botschaft muss deutlich und couragiert im Indikativ aktiv gesagt werden, denn wir Menschen vertragen fast alles, wenn es uns nur klar und persönlich mitgeteilt wird. Bei diesem Gespräch ist es sinnvoll, gedanklich die Seite zu wechseln.

Wie geht es dem jetzt?

Wo sind jetzt seine Gedanken und Gefühle? 156


Kündigung

Auf jeden Fall agiert nun im Gekündigten die erste biologische Aufgabe „Selbsterhaltung“ und Emotionen dominieren. Diesen Reaktionen – Weinen, Wut, Starre, Brüllen … – kann man Raum und viel Zeit geben, denn so eine Botschaft will verdaut werden. Manch einer ist danach in der Lage, die Kündigungsgründe aufzunehmen, wovon man nicht ausgehen sollte, denn in emotionalen Turbolenzen nehmen Menschen nichts wahr und schon gar nicht mit Vernunft. Im zweiten Schritt der Trennung folgt die Neuorientierung. Dafür gibt es viele Methoden. Wichtig dabei ist das Ziel, dem gekündigten Menschen Zukunft und ein „gutes Leben“ zu ermöglichen; und das ist nicht nur ein Gedanke, sondern eine Gerechtigkeitspflicht. Die Kündigung ist einer der tiefsten Einschnitte in das Leben eines Menschen, das eben nicht zerstört werden darf. Vielleicht zeigt sich sogar in der Trennung eine Chance, sein Leben gelingen zu lassen, und darum können diese Chancen gesucht und realisiert werden.

Wenn die Kündigung schlecht und einfach feige stattfindet, sind die Schäden gigantisch. Der Gekündigte nimmt Wissen und Kunden mit, kann in Sabotageakten Rache üben oder Kündigungsschutzklage einreichen. Dabei eskalieren nicht nur die Kosten, auch das Image des Unternehmens nimmt Schaden und die Unternehmenskultur geht den Bach runter. Die Verbliebenen fahren Dienst nach Vorschrift, wollen auf jeden Fall nicht auffallen und reduzieren ihre Aktivität nach dem Motto „Bloß keine Fehler machen.“ Die Selbstbewussten sagen sich: „Das lass ich mit mir nicht machen“, kündigen selbst und suchen sich einen neuen Arbeitgeber, das heißt, die Leistungsträger hauen ab, denn sie wissen, was sie wert sind. Dann hat das Unternehmen ein richtiges Problem: die Leistungsträger sind geflohen und die anderen machen ängstlich Dienst nach Vorschrift. Es lohnt sich also, die Trennung nicht nur juristisch wasserdicht, sondern moralisch gut zu machen.

157


Seven: Laster – Todsünde Am Anfang des Buches sprach ich über „böse“, über böse Handlungen, einen bösen Willen und die Konsequenzen. Der „böse Wille“ schädigt nicht nur die Welt, in der er sich bewegt, sondern korrumpiert und verletzt sich selbst. Einstellungen und Haltungen werden deformiert. Insbesondere die Einseitigkeit verformt den Charakter, die Einseitigkeit wird zur Last und auf lange Sicht zum Laster, zu einer moralischen Fehlhaltung.

Handlungen – gute wie schlechte – hinterlassen Spuren in der Seele. Gewohnheiten entstehen, Einstellungen und Sichtweisen werden gebildet. Bisweilen bleiben auch Narben und Verletzungen. Wiederholen wir Handlungen, gestalten wir unseren Charakter. Eine Lüge macht noch keinen Lügner, doch die wiederholte Lüge macht den Lügner. Nicht nur weil das Lügen leichter fällt, weil sozusagen eine Lügenkompetenz erworben wurde, sondern weil das Lügen in Fleisch und Blut übergegangen ist, zur zweiten Natur wurde. Irgendwann wird sogar die Welt zur Lüge und nichts bietet mehr Halt. Nachhaltig kommt die moralische Qualität eines Menschen nicht nur aus dem Lot, sie wird im Kern gefährdet. Das, was ein Mensch sein kann, wird für diese Person kaum erreichbar, verkommt und verkümmert: Die Güte eines Menschen steht auf der Kippe.

158


Seven: Laster – Todsünde

Auf lange Sicht gesehen verunstaltet die Einseitigkeit. Die Unaufmerksamkeit, dann dieses „Nicht-sehen-wollen“, die Verschlagenheit, die Raffinesse, das „die Anderen für dümmer halten als man selbst ist“ sowie jenes „permanente Kreisen um sich selbst“ verfestigen sich zu einem hässlichen Charakterzug, zum Laster. Diese sieben Todsünden oder Laster seien aufgelistet

1. Hochmut – superbia – verstellt die richtigen Proportionen der Wirklichkeit: Im Mittelpunkt der Welt steht das Ego und es verleiht allen Dingen Würde und Bedeutung, Licht und Leben. 2. Geiz und Habsucht – avaritia – hat die Dollarzeichen im Auge und stutzt Welt auf diesen Wert: Menschen werden zu Personalkosten, Dinge werden auf ihren Marktwert reduziert. Gelebt wird nach dem Motto: Jeder wolle ja nur Geld, und für Geld sei auch jeder zu bekommen. 3. Vergnügungssucht – luxuria – reduziert die Welt auf ein Warenlager der Lust: Die Welt findet ihre Existenzberechtigung im Unterhaltungswert, den sie bieten kann. Solange wir Spaß haben, darf sie sein. 4. Zorn – ira – führt nur Feinde vor die blutunterlaufenen Augen: Die Menschen verlieren ihre Würde, weil in jedem Böses vermutet wird. So bleiben nur Feinde übrig, die es zu vernichten gilt. 5. Völlerei – gula – verzehrt die Welt und reduziert sie auf Verwertbarkeit: Nicht nur plumpes Hinunterschlingen, sondern auch das kultivierte Genießen der erlesensten Leckereien – alles, was die Welt zu bieten hat – verzehrt die Welt. 6. Neid – invidia – verzerrt die angemessene Wahrnehmung des Anderen: Das Wohlergehen anderer Menschen stellt sich als Bedrohung dar und muss entsprechend geahndet werden. Freude kommt nur noch als Schadensfreude vor. 7. Trägheit – acedia – entzieht der Welt die Farben und treibt ihr die Güte aus: Dem Hochmut folgt der Zynismus, der alles als sinnlos geißelt und in einer abgrundtiefen Leere des Herzens mündet.

Die Laster – seven – behindern Leben, lassen es gar nicht mehr aufkommen. Lassen Sie es nicht so weit kommen. 159


Wofür lohnt es sich zu leben? Wenn Sie die Frage stellen, werden Sie wahrscheinlich für verrückt gehalten, und verrückt muss man schon sein, diese Frage zu stellen. Woraus „verrückt“? Wenn wir Zimmer streichen, verrücken wir Schränke, um an die Wände zu kommen. Was verrücken wir also, wenn wir uns die Frage, wofür lohnt es sich zu leben, stellen? Den alltäglichen Blick in eine Wirklichkeit, die durch Aufgaben, knappe Ressourcen usw. bestimmt wird, verrücken wir und werfen einen schrägen Blick. Gestatten Sie sich bitte diesen nichtalltäglichen Blick. „Das Schöne selbst zu schauen, macht das Leben lebenswert.“ 42

Vielleicht kommt diese Antwort zu schnell und wirft mehr Fragen auf, als sie beantworten kann.

Wichtig ist, mit welcher inneren Haltung wir fragen. Es kommt alles auf ein schweigendes Hören an, dass wir uns öffnen und unsere Interessen, Wünsche, Vorstellungen loslassen. Ist Seele aufmerksam und schweigt sie, können wir wirklich hören, hinschauen und überhaupt etwas anderes vernehmen. Das schweigende Hinhören und Schauen nennen die Alten Kontemplation, das heißt Schauen, was allerdings nur gelingt, wenn wir innerlich still geworden sind und nichts wollen, wenn die Intentionen und Wünsche mal schweigen.

Was Schauen meint, kennen wir alle: Wir schauen einem Kind beim Spielen zu, wir sehen einen Vogel über die Weide kreisen oder wir schauen über eine Landschaft und denken nichts dabei. Im Inneren empfinden wir Freude, Frieden und Ruhe, verlassen sozusagen Raum und Zeit für eine Weile und vergessen uns, weil wir ganz bei dem Kind, bei dem Vogel oder in der Landschaft sind, ohne einen verwertenden Gedanken zu hegen. Das meinten die Alten mit Kontemplation: sich versenken, schauen und staunen; und sie vermuteten, dass in diesem Blick sich ihnen die Wirklichkeit zeigt, sich enthüllt und vor ihren Augen ganz gegenwärtig wird, wie sie ist. 42

Platon, Symposion 211d.

160


Wofür lohnt es sich zu leben?

Dieses Anschauen nannten sie ein Glück, für das es sich zu leben lohnt. Auch wenn das ziemlich abgehoben klingt, kennen wir das alle und möchten es nicht missen: das Glück, das wir empfinden, wenn wir einen geliebten Menschen sehen, und dieses Glück können wir nicht einmal beschreiben. Mir scheint, dass Kontemplation nichts anderes ist als der liebende Blick, der uns ganz plötzlich dem Hier und Jetzt entreißt, für einen Augenblick in die Ewigkeit mitnimmt und uns wie ein seltener Vogel zufliegt. Bei meiner voreiligen Antwort möchte ich noch einmal betonen, dass es auf die fragende und suchende Haltung ankommt. Lassen Sie die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, in sich lebendig bleiben und irgendwann werden Sie in Ihre Antwort hineinwachsen, irgendwann wird Ihnen die Antwort plötzlich und mühelos in den Schoß fallen. Dafür lohnt es sich zu leben, und vielleicht leben wir auch so lange, damit wir das erleben dürfen. Also verrücken Sie ruhig einmal Möbel und gönnen sich einen sonntäglichen Blick.

161


Licht Das Sonnenlicht faszinierte Menschen schon zu allen Zeiten. Steht die Sonne am Himmel, dann ist dieses Licht immer da, auch wenn wir es nicht weiter bemerken. Es wärmt und lässt durch Fotosynthese alles wachsen. Jegliche Energie, die uns zur Verfügung steht, rührt letztlich von der Kraft des Sonnenlichtes. Besonders Menschen brauchen Licht, denn wenn es wie in den dunklen Wintermonaten fehlt, werden sie schnell traurig und trübe. Zwar ist das Licht unsichtbar, doch enthält es alle Farben. Das kann man sehen, wenn man Licht durch ein Prisma schickt und es in den wunderschönen Spektralfarben aufgegliedert wird. Unsichtbar ist es, und enthält doch alles in sich. Das Licht bietet sich als Metapher für unsichtbare Phänomene an. Schon im Psalm singt David:

„Bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht schauen wir das Licht.“ 43

Die logische Figur lautet dabei: Vom Bekannten auf das Unbekannte schließen – wohlwissend, dass dieser Schluss nicht zwingend, sondern nur eine Analogie bzw. Metapher (eine Übertragung) ist.

So wie das Sonnenlicht unsichtbar ist und doch alle Farben in sich enthält, so ist Gott zwar nicht sinnlich wahrnehmbar und enthält doch alles, was ist, in sich. So wie die Sonne der Erde jegliche Energie spendet, so macht Gott als erste und notwendige Ursache alles Existierende wirklich. So wie die Sonne alles Lebendige auf der Erde leben lässt, so belebt Gott als Schöpfer den ganzen Kosmos. So wie das Licht der Sonne alles visuell sichtbar macht, so wird in der Wahrheit Gottes alles intellektuell verstehbar. Wie gesagt, ist das nur eine Metapher und kein zwingender (Gottes)Beweis.

Im 12. Jahrhundert stieß Suger von Saint-Denis, Abt der Benediktinerabtei vor den Toren von Paris, auf diese Analogie, weil er die

43

Psalm 36, 19.

162


Licht

Lichtmetaphysik des Dionysios Areopagites 44 las. Sie verdrehte Suger von Saint-Denis völlig den Kopf und er baute nach dieser Entdeckung 1144 die erste gotische Kirche – nämlich die Abteikirche von SaintDenis. Die Wände der Kirche öffnete er mit großen, langen Fenstern, damit Sonnenlicht den Raum durchfluten kann. So wird die Kirche zum Abbild der Schöpfung und verweist sinnlich wahrnehmbar auf ihren Schöpfer. In den Fenstern bricht sich das unsichtbare Sonnenlicht und füllt den Kirchenraum mit Farben. Die sinnlich wahrnehmbaren Farben verweisen nicht nur auf das Licht, sie sollen zur visuell unsichtbaren ersten, grundlegenden Ursache führen. Auf dem Weg von den Wirkungen zur Ursache soll sich ein Mensch von der Ästhetik, also dem sinnlich Wahrnehmbaren, von der Schönheit zu einer sinnlich nicht wahrnehmbaren Wirklichkeit führen lassen. Wie man von den Farben auf das visuelle Licht schließen kann, so könne man von den Geschöpfen auf ihren Schöpfer schließen.

Nun breitete sich eine weitere Metapher aus: das Licht der Vernunft „lumen rationis“. Das Licht der Vernunft steht für das menschliche Erkenntnisvermögen, wie es die Redewendung „Mir ist ein Licht aufgegangen“ belegt. Fromme Menschen sprechen von der „Erleuchtung“, weniger fromme von „Aufklärung“ und selbst Nietzsche bemüht die Lichtmetapher, wenn er von der „Morgenröte“, die endlich die Dunkelheit verscheucht, schwärmt. Wie dem auch sei, auf jeden Fall muss jemand ein „helles Köpfchen“ sein, damit er etwas erkennen kann. So wenig wie man in der Dunkelheit etwas sehen, so wenig kann ein finsteres Gemüt etwas erkennen. Nun kann man sich schon fragen, was das immaterielle, geistige Licht sei, welches Erkennen ermöglicht. In Anlehnung an den Psalm bietet sich eine Antwort an: Das Licht der menschlichen Vernunft, mit der wir die Welt erkennen, ist das Licht der Wahrheit und zwar der einen Wahrheit, die alle Dinge Wirklichkeit werden lässt. So sah es zumindest Suger von Saint-Denis und löste damit das aus, was wir heute Gotik nennen.

Dionysius Areopagita, Über alles Licht erhaben, (übersetzt von Edith Stein) Kevelar 2015.

44

163


Liebe Viel zu häufig las ich Platons Gastmahl (Symposion), in dem sich alle Gespräche und Reden um das eine Thema drehen: Eros, Liebe. Die Studentinnen bekamen die Aufgabe, sich mit der Oma, dem Freund, Mitbewohner … über Liebe zu unterhalten, um für sich selbst zu klären: Was ist Liebe? Ein Student lieferte nach einer Woche handschriftlich Folgendes, dem ich nichts hinzuzufügen habe. „Ich glaube nicht daran, dass Liebe biologisch fundiert ist, auch wenn rationale Erklärungen zur Genüge vorhanden sind. Außerdem wurde Liebe im Verlauf der Menschheitsgeschichte oft missbraucht: Bei vielen Kulturen gibt es schließlich auch heute noch Zwangsheirat und arrangierte Ehen.

Für mich ist Liebe einzigartig, irrational und unerklärlich zugleich. Sie kann mich zu dem glücklichsten, aber auch zu dem traurigsten Menschen auf Erden machen. Liebe habe ich bisher spontan, unberechenbar und grenzenlos, aber vor allem unlogisch erfahren. Sie überrascht einen immer in dem Moment, in dem man es am wenigsten erwartet. Liebe ist verrückt, denn wenn es einen trifft, dann sind viele guten Vorsätze und Ungleichheiten wie ausgelöscht. Man kann sich nicht aussuchen, wen man liebt, aber wenn es geschieht, ist es kraftvoll. Liebe kann Berge versetzen. Aber zwischen verliebt sein und Liebe besteht ein großer Unterschied. Oft kommt nach dem Verliebt-sein schnell Ernüchterung. In die Beziehung kehrt Alltag ein und mit der Routine kommt es auch zu Unstimmigkeiten. Hier wird deutlich, dass Liebe bedeutet, Kompromisse einzugehen und auf gemeinsame Ziele hinzuarbeiten. Manchmal ist Liebe eine Frage der Zeit, Geduld, der Hingabe ohne Aufgabe. Liebe ist dann nach den Höhen und Tiefen des Anfangs Geborgenheit, gibt Halt und Kraft. Zwei Menschen sollten in Harmonie zueinander alt werden, Liebe schenken und bekommen, Zukunft haben, Familie und Kinder.

164


Liebe

Liebe bleibt oft unerwidert, was für viele bedeutet, ohne Lebenspartner zu sein, aber nicht ohne Liebe. Für mich ist die vollkommene Liebe für die Ewigkeit zwischen zwei Menschen ein romantischer Mythos. Aber ich glaube an eine bedingungslose Liebe, die viele Gesichter hat, vor allem an die zwischen Familienmitgliedern (Mutter und Kinder, Geschwister untereinander) und Freunden.“ 45

45

Eike Schmidt [Sitzungsprotokoll].

165


Logik des Herzens Hier möchte ich Sie auf einen Gedanken des Mathematikers, Physikers und Philosophen Blaise Pascal (1623-1662) aufmerksam machen: „Logique di coer“. „Das Herz hat seine Vernunftgründe, welche die Vernunft nicht kennt; man erfährt es an tausend Dingen. Ich sage, dass das Herz von Natur aus das höchste Wesen liebt, und es liebt sich selbst von Natur aus, je nachdem, wie es dem einen oder dem anderen nachgibt, und es verhärtet sich nach eigener Wahl gegen das eine oder das andere. Ihr habt das eine verworfen und das andere bewahrt; liebt Ihr Euch aus Vernunftgründen?“46 „Das Herz hat seine Ordnung, der Geist hat die seine, die aus Grundsätzen und Beweisen besteht. Das Herz hat eine andere. Man beweist nicht, dass man geliebt werden muss, indem man die Ursachen der Liebe geordnet darlegt; das wäre lächerlich.“47 Was ist nun dieses „Herz“, das als die Quelle aller menschlichen Bewegungen bezeichnet werden kann? Das Herz ist der Ort der Wahl und des Schätzens. Das Herz liebt, schätzt wert und wertet und will geliebt, geachtet werden, und in all dem lässt es Welten entstehen und Welten untergehen. Die Form, in der das Herz seine Themen aufgreift, mutet uns „spontan“, „intuitiv“, „unmittelbar“ und „einfach“ an. Unsere Wertungen nehmen wir sehr selten mit der Vernunft vor. In der Regel entscheiden wir mit dem Herzen, denn das Herz navigiert unsere Aufmerksamkeit und Interessen, es zieht einen Wert vor und stellt einen anderen hinten an, es liebt und hasst. Mit der Vernunft laufen wir hinterher und versuchen uns, im Nachhinein zu verantworten. Das Herz ist das, was alles bewegt. Aber warum ist es bewegt und so bewegt, wie es ist? Das Herz symbolisiert unsere Welt der Gefühle, Emotionen, Leidenschaften und Stimmung, also das, was wir emotional Blaise Pascal. Pensées sur la Religion, 423/277. 47 Blaise Pascal. Pensées sur la Religion, 298/283. 46

166


Logik des Herzens

sind. So wie wir sind, wertschätzen wir. Kennen wir unsere Regungen des Herzens? Wissen wir, was uns anzieht oder abstößt? Wollen wir es überhaupt wissen?

Sag mir, woran Dein Herz hängt, ich sage Dir, wer Dein Gott ist.

Dieser Gott wird nicht mit der Vernunft (logique de raison), sondern mit dem Herzen (logique de coer) erkannt. Herz bezeichnet die ganze Person, und da gibt es ein warmes und kaltes Herz, ein Herz aus Stein und aus Fleisch. Gott – so Pascal – wird nicht durch die Vernunft, sondern durch den ganzen Menschen erkannt: „Sag mir, woran dein Herz hängt, und ich sage dir, wer dein Gott ist.“ Erkennen meint in diesem Zusammenhang nicht nur die rationale Tätigkeit. Im Hebräischen heißt „jd‘“ sowohl erkennen als auch lieben. Was wir lieben, erkennen wir. Wenn die ganze Person im Erkennen beteiligt ist, dann handelt es sich um Erkenntnis Gottes, die existentiell ein Leben gründet und den Lebensvollzug gestaltet. „Das Herz und nicht die Vernunft nimmt Gott wahr. Das heißt glauben. Gott ist dem Herzen und nicht der Vernunft wahrnehmbar.“48

48

Blaise Pascal. Pensées sur la Religion, 424/278. 167


Logos Das alte griechische Wort „logos“ taucht auch heute in unserem modernen Leben sehr häufig auf, kann einiges erklären, bringt aber auch allerhand Verwirrspiele. Darum lohnt es sich, dem Logos auf die Spur zu kommen. Eine etymologische Erklärung, also eine Erklärung aus dem Wort heraus, bringt zwar noch nicht den ganzen Sachverhalt, liefert aber einen ersten Zugang. Logos kommt vom Verb „lego“, was erst einmal „ich spreche“ heißt.  Logos bezeichnet in seiner ersten und unmittelbaren Bedeutung „Wort“. Ein Sachverhalt, eine Situation oder ein Ding wird ins „Wort gehoben“ und verbal ausgedrückt. Vielleicht hilft beim Verstehen, worum es dabei geht, eine Abgrenzung. Tiere artikulieren sich auch mit Stimme und Lauten, die sie von sich geben. Damit reichen sie Informationen weiter; sie kommunizieren, jedoch nur mit Lauten und nicht mit Worten.  Das Wort steht in einem Zusammenhang, der wiederum Logos heißt. Damit haben wir die zweite Bedeutung des Logos nämlich „Sprache“ und bezeichnen damit den Zusammenhang der Wörter in einem strukturierten Ganzen mit klaren Regeln, die wir Grammatik oder Syntax nennen. Ohne diese Logik – ohne eine gemeinsame Sprache – können wir nicht kommunizieren und von anderen verstanden werden bzw. andere verstehen, oder wir bleiben isoliert in uns stecken.  Nur das, wofür wir Worte haben, können wir auch denken. Aus diesem Grund wird mit Logos auch das Vermögen bezeichnet, mit dem wir sprechen und denken können. Das ist die dritte Bedeutung von Logos: „Vernunft“ oder „Verstand“. Dieses Vermögen, sprechen und denken zu können, hebt uns Menschen von anderen Lebewesen ab. „Der Mensch ist das Lebewesen, welches Logos hat (zoon logon echon)“, lautet darum eine anthropologische Beschreibung. Wie alle anderen Lebewesen ernähren sich Menschen, wachsen und geben ihr Leben an die Nachkommen weiter. Darin haben wir zum Beispiel mit den Tieren eine sehr 168


Logos

große gemeinsame Schnittmenge. Doch können Menschen noch mehr, denn sie können Sachverhalte, Situationen, Emotionen und Dinge ins „Wort heben“, das heißt sie im Logos gedanklich aufnehmen und über sie nachdenken. Wenn ich zum Beispiel einen Stein anschaue und untersuche, was das für ein Stein ist, dann habe ich nicht den Stein im Kopf, sondern ein Wort – nämlich „Stein“ – und bin trotzdem noch bei dem Stein. Dieses „logosartige“ Vermögen meint das, was wir Vernunft oder Verstand – Logos – nennen.  Nun stellt die Vernunft das einzelne Wort – bzw. das, was das Wort bezeichnet – in einen größeren Zusammenhang. Geschieht das erfolgreich, dann quittieren wir das mit der Bemerkung „Das macht Sinn.“ Darum kann man auch das griechische Wort Logos mit „Sinn“ übersetzen.

Die Philosophen haben natürlich noch weitere Bedeutungen von Logos – wie Argument, Begriff, Bedeutung – zu bieten, die jedoch mit Vorsicht zu genießen sind, weil sie in den Kontext einer ganz speziellen Philosophie gehören, sozusagen intellektuelle Hausmannskost sind.

In der Summe kann man festhalten: Logos kommt von „ich spreche“ und setzt die Möglichkeit, sprechen und denken zu können, voraus. Auf dieser Basis werden die Bedeutungen Wort, Sprache, Vernunft und Sinn verständlich.

169


Lust als Grundlage der Ethik Lust heißt griechisch „hedone“ und ist immerhin so wichtig, dass nach ihr ein Ethiktyp benannt ist, nämlich die hedonistische Ethik. Sie sagt: Gut ist das, was Lust bereitet, und böse ist das, was Schmerzen bringt. Lust ist erst einmal eine Leidenschaft, ein „pathos“, denn sie widerfährt uns und wir verhalten uns mehr oder weniger passiv. Die Leidenschaft heftet uns allerdings an den Augenblick, so auch die Lust. Im Gegensatz zu Schmerz, Zorn oder Traurigkeit ist die Lust ein angenehmes, positives Empfinden. Darum gehen manche so weit, um zu sagen, Glück sei Lust. Als Sokrates dies hörte, meinte er ziemlich frech, dann wären doch die Schweine, denen man gerade Futterschoten in den Trog schmeißt, die Glücklichsten, und derjenige, der Krätze hat, sei der Glücklichste, denn er könne sich permanent lustvoll kratzen. Das sei ja geschmacklos, so Sokrates‘ Gesprächspartner, denn es gäbe ja verschiedene Arten von Lust. In der Tat gibt es Unterschiede zwischen Lust und Lust, denn es gibt ja nicht nur die „Ergötzungen des Tastsinns“, sondern auch Freude.

Beim genauen Hinschauen können wir zwischen Vorfreude, der Lust beim Tun und der Lust danach unterscheiden. Vorfreude sei die schönste Freude, heißt es; und damit ist das lustvolle Begehren, die schmachtende Sehnsucht oder die Freude beim Planen einer Reise gemeint. Die Lust beim Tun stellt sich als Genuss und Taumel der Sinne ein; die Lust danach empfinden wir in der Ruhe und Entspannung danach.

Woher kommt die Lust? Weil Menschen Lebewesen wie Pflanzen und Tiere sind, und weil Menschen wahrnehmen können, empfinden sie Lust (und Schmerz). Menschen sind in einem Leib zu Hause, sie leben mit Haut und Haaren, aber auch mit Kopf und Herz; und als Lebewesen haben sie die Aufgaben der Biologie intus, nämlich (A) Selbsterhaltung und (B) Arterhaltung. Die Alten nannten diese Aufgaben „appetitus naturalis“, also ein urwüchsiges, ganz natürliches Streben. Leben will leben und will auch Leben weitergeben. 170


Lust als Grundlage der Ethik

Ein Biologieprofessor sagte mir einmal, dass mit Lust und Schmerz – mit Zuckerbrot und Peitsche – die Biologie Lebewesen navigiere. Zum Beispiel meldet die Nase bei beißendem Gestank, dass die Luft schlecht und Luftwechsel dringend angesagt ist. Wenn es dagegen duftet, dann ist in der Regel die Luft gut oder eine leckere Speise in der Nähe.

Was macht die Lust verdächtig? Wo liegt das Problem?

Jeder von uns kennt das Phänomen, dass Luststreben uns in heftige Turbulenzen stürzen kann. Wir erleben uns in solchen Situationen als sehr widersprüchlich, zwischen Nachgeben und Widerstand hin- und hergerissen und im Widerstreit mit uns selbst, auf jeden Fall verwirrt. Bisweilen haben wir auch den Eindruck eines Defizits und erleben uns ziellos, maßlos, haltlos und ungestaltet. Etwas fehlt dann, und zwar das Menschliche. „Wie ein Schwein benimmst du dich“ kann ich dann hören, und stelle fest, dass ich auf ein animalisches Niveau, um das vornehm zu formulieren, gefallen bin.

Gibt es eine Lösung?

Unser Streben nach Lust ist zutiefst menschlich und dieses gilt es zu respektieren. Damit die Lust eine menschliche Lust werden kann, bedarf sie der Gestaltung durch ein Maß, einer Orientierung durch ein Ziel und einer Balance durch die richtige Mitte. Lust braucht Ordnung durch die Vernunft, denn die Vernunft ist nicht an den Reiz des Augenblicks gebunden und kann darum weiter sehen. Diese vernünftige Ordnung ist eine Tugend und hat den Namen „Temperantia“49.

Es gibt eine ganz und gar – sozusagen exklusiv – menschliche Lust: Freude heißt sie. Freude ist eine Lust, die mit Vernunft verbunden ist. Darum freuen wir uns, wenn wir ein gutes Buch lesen, jemandem zuhören, ein schönes Gespräch führen oder eine Erkenntnis gewonnen

Vgl. Andreas Fritzsche, Die Tugend des Maßes. Temperantia macht schön, Münster 2016.

49

171


Lust als Grundlage der Ethik

haben. In der Freude sind „pathos“ und „logos“, Leidenschaft und Vernunft zusammen. Was soll dieser Gedankengang über die Lust? Gewähre deinem Leib Respekt und respektiere dein Streben nach Lust. Gib allerdings diesem Luststreben eine menschliche, vernünftige Gestaltung und Orientierung. Übrigens steigert das die Genussfähigkeit deutlich.

172


Macht Im Deutschen hat Macht eine negative Konnotation, weil wir sofort an Willkür, Demütigung und Tyrannei denken. Dagegen ist „power“ im Englischen positiv besetzt. Mit Macht sind Tätigkeiten verbunden: führen, über Menschen bestimmen, Verantwortung tragen oder übertragen, delegieren und andere einspannen, kontrollieren, Gewalt ausüben, ordnen und herrschen. Wer Macht hat, kann machen und verfügt über Handlungsspielraum.

Macht gibt es in verschiedenen Sphären: Naturgewalten und physikalische Gesetze, Geld, Wohlstand, Geschlechter. Macht bewirkt Einflussnahme, Kooperation, Abhängigkeit, Verantwortung und gestaltet den Charakter einer herrschenden Person – Charisma, Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Autorität, aber auch Verlustangst. Der Gedanke, den das griechische Wort „arche“ sowie das lateinische „potentia“ nahelegen, bringt es auf den Punkt: Anfang, Herrschaft, Vermögen im Sinne von Möglichkeit und Macht sind ein Wort. Dahinter steckt doch die Vermutung, wer den Anfang kennt, kenne auch das herrschende „Prinzip“. Wer ist der Erste im Staat? Wer hat die „power“, das Mögliche Wirklichkeit werden zu lassen?

Will jemand die Macht erlangen und geht dabei rhetorisch geschickt vor, wird er bei uns in Deutschland das Wort Macht nicht in den Mund nehmen, sondern betonen, dass er jetzt bereit sei, Verantwortung zu übernehmen und zu tragen. Derweil übt jede Lehrerin in der Klasse Macht aus, weil sie die Richtlinienkompetenz hat und mit Noten bewertet. Will sie allerdings ihre Machtfülle nicht wahrhaben und ignoriert, dass sie als Lehrerin Macht ausübt, dann sind dem Machtmissbrauch Tür und Tor geöffnet, weil sie ihre Machtausübung nicht reflektieren kann. Wahrnehmen, annehmen und sehenden Auges Macht ausüben – das kann der gute Weg sein.

173


Macht

Eine grundlegende Frage der Moral stellt sich aufgrund einer Asymmetrie, eines Gefälles: Der Herrschende führt, ordnet, verfügt, richtet und urteilt über andere Menschen. Dabei genießt er Privilegien sowie Autorität und übt gegebenenfalls auch Gewalt über andere aus.

Was rechtfertigt die Herrschaft von Menschen über freie Menschen?

Sind die Verweise auf Chaosvermeidung, Sicherheitsbedürfnis, Schutz und Ordnung ausreichende Begründungen? Warum benötigen erwachsene Menschen Orientierungen und Grenzziehungen? Sie können sich doch ihres Verstandes bedienen und als autonome Subjekte selbst ein Urteil fällen. Die klassische Position sagt, die Herrschenden tragen Sorge um das Gemeinwohl, um das gute, gemeinsame Leben.

Eine weitere Frage der Moral will das regulierende Prinzip der Machtausübung kennenlernen. Recht und Gerechtigkeit formen die Machtausübung, weil der Herrschende ein Teil der Gemeinschaft ist, wie der Kapitän auch einer der Schiffsleute ist, und weil es sich um eine Gemeinschaft freier Menschen handelt. Dabei ist Gerechtigkeit nicht nur eine soziale Institution, sondern in erster Linie eine Frage des Charakters, der persönlichen Eignung des Herrschers. Nur wer sich selbst beherrschen kann, darf auch über andere herrschen.

Wer hat wirklich Macht?

Stalin soll einmal gesagt haben: „Der Papst, wer ist das? Wie viele Divisionen hat er?“ So denken viele und meinen, wer der (militärisch) Stärkere ist, verfügt über Macht. Dagegen zeigt das Beispiel der Sowjetunion sehr schön, dass sie nicht an mangelnden Panzern untergegangen ist. Spätestens seit der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 glaubte keiner mehr an eine lichte kommunistische Zukunft.

174


Macht

Derjenige hat wirklich Macht, der die Herzen der Menschen erreicht und sie ausfĂźllt. Die Menschen werden ihm freiwillig aus ganzem Herzen folgen und sich beherrschen lassen.

175


Mainstream Dieses Wort hört man immer öfters. „Mainstream“ kommt aus der Unterhaltungsindustrie und wird an Einschaltquoten bzw. Zugriffszahlen gemessen. Im „Hauptstrom“ fließt das, was am meisten gefällt und die höchste Zustimmung erfährt; anders gesagt, was alle hören und sehen. Der Mainstream beherrscht nicht nur die Medien der Unterhaltungsindustrie, er greift gewaltig um sich, so dass Harald Martenstein schreibt:

„Der Mainstream hat gewaltige Kraft – er ist der Geist der Mehrheit. Aber hat er deshalb recht? … Das Gute am Mainstream ist, dass man nicht groß nachdenken muss. Man wirft sich einfach hinein in den Strom und lässt sich gemütlich treiben.“ 50

Vor Jahren hätte man zu diesem Phänomen wahrscheinlich „Zeitgeist“ gesagt.

Das Fatale am Mainstream ist allerdings, dass er allgemein anerkannt und darum nicht begründungspflichtig ist. Was alle denken, angenehm und gut finden, kann ja nicht falsch sein und gilt einfach. Wer dagegen sich einen anderen Geschmack, eine andere Wertschätzungen oder gar Urteile leistet, steht unter Begründungszwang und muss Argumente auf den Tisch legen. Manfred Lütz sagte in einem Vortrag über sein Buch „Lebenslust – wider die Gesundheitsreligion“: „Gegen den Zeitgeist kann man nicht argumentieren. Da hilft nur Humor, Ernst und Humor; also den Zeitgeist lächerlich machen.“

Nun schwappt der Mainstream auch in die Wissenschaft. Nicht nur dass ausschließlich Projekte gefördert werden, die opportun – „gegendert“ (Gender-Mainstreaming-Strategie), nachhaltig, gesund und so weiter – sind, auch Denken, Argumentieren und die Verwendung von Paradigmen schreibt der Mainstream vor. Die Habilitationsschrift einer Psychologin über die seelischen Spätfolgen von Abtreibung wurde von der Uni Würzburg nicht angenommen. Volkswirte, welche nicht an „die 50

DIE ZEIT 46/2011.

176


Mainstream

unsichtbare Hand des Marktes“ glauben, werden nicht zu einem Kongress in Münster eingeladen. …

Die Kirchengeschichte kennt das Phänomen: Auf Konzilen wurde die abweichende Meinung mit dem „Anathema“ (verflucht ist) belegt und derjenige als Häretiker gebrandmarkt, damit die Orthodoxie, die richtige Lehre, bewahrt bleibe. Mit Verlaub: Bei allem Verdikt über das ‚finstere Mittelalter‘ scheint das Schwimmen im Hauptstrom eine anthropologische Grundkonstante wie die 100%e Sterblichkeitsquote zu sein: Menschen wollen dazugehören und damit nichts falsch machen. „Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: Wer anders fühlt, geht freiwillig in's Irrenhaus.“ 51

Ohne Ironie. Mit dem Strom zu schwimmen ist einfach, spart Energie und „man“ kann nichts falsch machen. Und mal ganz ehrlich, wir schwimmen alle doch immer wie Fische im Wasser unserer Zeit, ohne dass wir es merken. Doch genügen wir damit unserem Anspruch, aufgeklärte Menschen zu sein? Den lesenswerten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ begann Immanuel Kant mit dem Hammersatz.

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ 52

Darum meine Empfehlung: In aller Muße sich ab und zu an den Strand setzen und zu schauen, wie der Strohm dahinzieht. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1. Teil: Zarathustra's Vorrede, 5. Der letzte Mensch. 52 Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Darmstadt 1983, S. 53 – 61, A 481 – 494. 51

177


Mainstream-Philosophie In der öffentlichen Diskussion spricht man auch von einer MainstreamÖkonomie, welche an „die unsichtbare Hand des Marktes“ und an den homo oeconomicus glaubt. Auch die politische Diskussion geht von handfesten Glaubenssätzen aus. Versuchen sie einmal Argumente gegen Abtreibung oder die „Ehe für alle“ vorzutragen. Das wäre so, als wenn man im dritten Reich behauptet hätte, dass Juden genauso Menschen wie Arier wären. Was heißt nun Mainstream-Philosophie? Wir wachsen in eine Welt hinein, die wir verstehen wollen und stellen uns darum die Fragen: Was passiert um uns herum und warum? Wie hängt alles zusammen? Was ist das da und warum ist es da? Was ist wichtig, was weniger wichtig? Was darf ich tun und was nicht?

Über all diese Fragen sich ein eigenes Urteil zu bilden, ist sehr schwierig und nahezu unmöglich. Darum halten wir uns daran, was gegenwärtig gilt. Wir denken nicht weiter nach und schließen uns einfach der öffentlichen Meinung an. Der Vorteil dabei ist ja, dass das, was gegenwärtig gilt, nicht begründungspflichtig ist, und wir auf den ersten Blick auch nichts falsch machen. Abweichende Meinungen unterliegen dagegen immer einem Begründungszwang, weil sie nicht im Strohm der des Üblichen mitschwimmen.

Dass der Mainstream sich gelegentlich irrt, sehen wir sofort bei anderen Epochen. Wie konnte man nur glauben, die Erde sei der Mittelpunkt der Welt? Wie konnte man nur kleine Kinder den Göttern opfern? Wie konnte man nur Sklaverei zulassen? Dann haben wir endlich eine Gelegenheit, unseren Empörungsstau abzublasen und uns aufgeklärt zu wähnen. So wie ehedem die Menschen irrten, weil sie annahmen, dass die Erde im Mittelpunkt liegt, so könnten wir uns ja auch in gewissen Annahmen irren.

178


Mainstream-Philosophie

Wo haben wir unsere blinden Flecken?

Jede Zeit hat unbewiesene Grundannahmen und richtet sich mit ihnen die Welt ein. In vergangenen Zeiten formulierte man sie im Credo, im Glaubensbekenntnis, und wies sie damit aus. Nun sind heute Glaubensbekenntnisse nicht gerade angesagt, weil sie dogmatisch anmuten. Trotzdem haben wir unbewiesene Grundannahmen und ein „dogmatisches“ Glaubensbekenntnis, eben nur unausgesprochen und darum nicht gerade reflektiert bzw. durchdacht.

Wenn wir zum Beispiel von Naturgesetzen ausgehen, drängt sich doch die Frage auf: Wer hat die Naturgesetze erlassen? Wo sind sie geschrieben? Welche ontologische Qualität haben sie? Einige meinen sogar, dass solche Fragen sinnlos sind.

Die sogenannte Mainstream-Philosophie – ihre unbewiesenen Grundannahmen und Argumentationsmuster – bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Was selbstverständlich gilt, bedarf keiner Begründung, weil das Selbstverständliche von allen geteilt und kaum bemerkt wird.

179


Maß: Temperantia Die deutschen Wörter für die Tugenden sind nicht einfach, und das betrifft insbesondere die Kardinaltugend „temperantia“. Die Wörter Selbstbeherrschung, Disziplin oder Zucht muten verbissen, ja sogar gewalttätig an. Das lateinische Wort temperantia kann den Sachverhalt am besten beschreiben.

Stellen wir uns ein „wohl temperiertes“ Klavier vor. Es hat viele Saiten, und je mehr Saiten es hat, desto größer ist die Klangfülle. Freilich muss es gut gestimmt sein, sonst kann keiner auf dem Klavier spielen. Hat der Klavierstimmer die Töne aufeinander abgestimmt und in eine schöne Ordnung gebracht, dann ist es „wohl temperiert“. Der Spieler kann musizieren und sein Publikum verzaubern. Je mehr Töne solch ein Instrument hat, desto interessanter ist es für den Spieler, weil es Klangfülle besitzt. Das Bild des wohl temperierten Klaviers lässt sich auf Seele und Pathos (Leidenschaften, Begierden, Triebe, Stimmungen, Süchte und Emotionen) übertragen. Je mehr Pathos ein Mensch hat, desto interessanter und kraftvoller ist er, und desto mehr kann man mit ihm anfangen. Nur eines ist klar, die Leidenschaften müssen gestimmt sein oder dieser Mensch landet in der Selbstzerstörung. Es geht also nicht um die 180


Maß: Temperantia

Stilllegung des Pathos, es geht um eine vernünftige Ordnung der Emotionen, sodass die Leidenschaften „wohl temperiert“ – also gestimmt – sind.

Bitte vergessen Sie die Worte Selbstbeherrschung, Disziplin und Zucht, denn der deutsche Sprachgebrauch benutzt sie einseitig. Sie schmecken nach preußischem Kasernenhof, nach Abrichten und Zurechtstutzen, nach Drill und Funktionieren. Dabei weiß jeder gute Unternehmer: Mit abgerichteten Menschen werde ich keinen Erfolg haben. Leidenschaftliche Mitarbeiter, leibhaftige Menschen aus Fleisch und Blut, werden erfolgreich sein, wenn sie ihre Energie in die gemeinsame Sache fließen lassen.

Worum geht es bei der Tugend des Maßes? Es geht um die Ordnung der Innenwelt – und zwar um die Ordnung der treibenden Leidenschaften. Von Lust, Genuss, Freiheitsdrang, Kreativität und Abenteuer werden wir getrieben und gezogen. Leider präsentiert uns dieser Pathos Wirklichkeit eindimensional, und wenn wir uns ihm überlassen, leben wir einseitig. Die Einseitigkeit eines Gewinnsüchtigen führt zu nichts. Die Freunde am Gewinn ist sauber. Nur wenn die ganze Wirklichkeit auf diese eine Dimension reduziert wird, geht das Leben verloren. Maßlosigkeit macht blind gegenüber der objektiven Rangordnung der Güter bzw. Werte; sie macht befangen und trübt den Blick. Menschen ohne Temperantia leben entsichert. Die kleinste Erregung macht den entsicherten Menschen zum Rasenden. Zornestiraden und Wutausbrüche terrorisieren seine Umgebung und verletzen ihn schließlich selbst. Temperantia sichert uns vor einander und vor uns selbst.

Wovor sichert sie? • • • • • •

Lust-Unlust-Steuerung Wutausbrüchen und Jähzorn Sucht Ungerechtigkeit Wertblindheit Verzweiflung und Zynismus

181


Maß: Temperantia

Maß kultiviert, und der maßvolle Mensch kann Früchte tragen:       

Souveränität – Selbstmächtigkeit Heiterkeit Freies Herz: mit sich im Reinen sein Wahrnehmung mit einem unverstellten Blick Aufmerksamkeit und Konzentration Genuss in Freude an den Dingen Kreativität und Energie

Temperantia53 befreit, reinigt und setzt positive Energie frei.

Vgl. Andreas Fritzsche, Die Tugend des Maßes. Temperantia macht schön, Münster 2016.

53

182


Materie Als ich zur Schule (in der Nähe von Karl-Marx-Stadt) ging, lernte ich die Grundfrage der Philosophie: „Was ist zuerst, Geist oder Materie?“ Die richtige Antwort der wissenschaftlichen Weltanschauung des historisch-dialektischen Materialismus lautete: Materie.

Auf den ersten Blick legt Materie nahe, dass sie etwas ganz Handfestes sei. Auch das Wort legt eine Fährte in diese Richtung. Sowohl das griechische Wort „hyle“ als auch das lateinische „materia“ bedeuten ganz einfach Holz und zwar Bauholz. Der Zimmermann braucht Bauholz, um einen Dachstuhl aufzustellen. Das Material bearbeitet er und macht daraus etwas – zum Beispiel einen Dachstuhl. In der Physik sagt Aristoteles, Materie ist „das, woraus etwas entsteht" Aristoteles, Physik I, 9 192a.

und das, was bewegt wird. Irgendwie leuchtet das auch unmittelbar ein.

Beobachtet man allerdings einen Zimmermann, wie er einen Dachstuhl baut, stellt man fest, dass er nicht irgendein Material verwendet, sondern ein ganz bestimmtes Holz, von ganz bestimmter Qualität. Buchenholz nimmt er nicht, weil dieses keine Belastung aushält und bricht. Es muss schon Fichte oder Tanne sein, am besten gut abgelagerte Eiche. Das Bauholz (lateinisch „materia“) ist also gar nicht so qualitätslos.

Meine Lehrerin in der EOS Ernst Thälmann konnte ich mit einer Bitte zur Verzweiflung bringen: Sie möge mir doch bitte Materie zeigen. Das gelang ihr nicht. Legen wir irgendetwas unter das Mikroskop, dann sehen wir, dass die scheinbar qualitätslose Masse Strukturen aufweist und nicht einfach nur gestaltlose „Pampe“ ist. Verwenden wir die modernsten mikroskopischen Apparate und darstellenden Methoden, werden wir Energiefelder beobachten können. Heisenberg konnte 1927 im Doppelspaltexperiment nicht mehr feststellen, ob ein etwas – er nannte es Quantum – Welle oder Materie ist, und dieses Phänomen nennen die Physiker Heisenberg‘sche Unschärferelation. 183


Materie

Im Alltag funktioniert die Vorstellung, dass wir zuerst eine gestaltlose Materie haben, ihr dann eine Form geben und so aus ihr etwas Bestimmtes machen. So verstanden ist Materie eine noch unbestimmte Möglichkeit, die zwar einfach nur da ist, jedoch verändert und gestaltet werden kann. Aus Materie – als etwas Zugrundeliegendes (lateinisch: substantia) – kann man etwas machen, wenn Form, Bewegung und ein Zweck dazukommen. Allerdings habe ich da wieder meine Zweifel. Empirisch, also in der Erfahrungswelt, begegnet uns keine „reine Materie“, sondern immer nur so und so gestaltetes Material. Darum komme ich zu dem Schluss: Materie – materia prima, materia pura, Urstoff – ist eine Abstraktion menschlichen Denkens, das heißt: Der Begriff Materie ist eine Bestimmung der Vernunft (distinctio rationis) und keine Bestimmung in der Wirklichkeit (distinctio realis). Alles, was ist, jedes Seiende hat eine Struktur, Form oder wie man das nennen will, oder es existiert nicht.

184


Metaphysik Die Metaphysik steht im schlechten Ruf, als ginge es ihr um alles Mysteriöse, Esoterische, Unwissenschaftliche und Religiöse im Gegensatz zu den naturwissenschaftlich erhärteten Fakten und bewiesenen Theorien.

Zum ersten Mal taucht die Metaphysik als Buchtitel des Aristoteles auf, was allerdings doch nicht ganz richtig ist. Die Metaphysik ist kein Buch, denn damals gab es noch keine Bücher, und Aristoteles hat ihr nicht einmal diesen Namen verpasst. Unterschiedliche Schriften, Vorlesungen und sogar ein kleines Lexikon – also vierzehn Schriftrollen – wurden unter diesem Titel zusammengefasst. Irgendein Bibliothekar legte vermutlich dieses Bündel Schriftrollen hinter die „Physik“ des Aristoteles und so kam das Bündel zu seinem Namen: „Die hinter der Physik“ (ta meta ta physika) heißt nämlich Metaphysik. Aristoteles selbst spricht immer von der „ersten Philosophie“. Ihm geht also um Wissenschaftstheorie, um das Thema modern zu formulieren. Was ist belastbares Wissen? Was suchen die Wissenschaften und wie gehen sie vor? Wie ist Wirklichkeit strukturiert? Gibt es in der Wirklichkeit grundlegende Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten?

Die Reihe an Fragen kann man fortsetzen. Letztlich geht es in der „ersten Philosophie“ um eine Verwunderung: Einerseits gehen wir mit der Welt ganz selbstverständlich um und wissen sogar, was wir wahrnehmen, erkennen und machen. Ein Stück Holz sehen wir und sägen es zurecht, so dass es auch in den Ofen passt. Als Patient gehen wir guter Dinge zum Zahnarzt in der Annahme, dass er uns helfen kann und den entzündeten Nerv schmerzstillend behandelt. Auch die Bäckerin versteht uns, wenn wir bei ihr ein Brot bestellen und es tatsächlich bekommen. Unser Zugang zur Welt, die Erkenntnis der Sachverhalte und die daraus folgenden Handlungen treffen ins Schwarze und funktionieren.

185


Metaphysik

Diesem Einerseits folgt aber auch das Andererseits, das uns irritiert. Die Irritation tritt nicht nur bei Irrtümern auf, wenn Frau Müller mit Frau Mayer verwechselt wird. Die Irritation tritt auch als Verlegenheit auf, wenn wir uns die großen Fragen stellen: Wohin führt die Evolution? Wie kommt es, dass wir überhaupt etwas von der Welt verstehen? Freilich können wir solche Fragen oder Verlegenheit als sinnlos beiseiteschieben und als Unsinn abtun, wir können uns ihnen auch stellen. Unternimmt das jemand ganz redlich und für andere nachvollziehbar, betreibt er, ganz gleich wie sein Ergebnis aussehen mag, Metaphysik.

Auch wenn die Themen der „ersten Philosophie“ nicht alltäglich und unmittelbar lebensrelevant sind, stellen sie sich einem nachdenklichen Menschen, der nicht nur nachplappert und Meinungen teilt. Und so wird jede Zeit und Generation die Themen wie zum Beispiel Bewegung, Materie, Form, Zeit, Wirklichkeit, Universum, Ordnung, Zufall, Wahrheit, Irrtum und Gott beackern. Selbst wenn ich Wahrheit ablehnte, müsste ich doch demjenigen, der dummerweise noch an Wahrheit glaubt, seinen Irrtum aufzeigen, so dass er sich bessern und seinen Fehler einsehen kann. Das kann ja nur mittels wahrheitsfähiger Sätze geschehen. Regelmäßig kann man hören, dass heutzutage die Metaphysik überflüssig geworden und durch den naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt überholt sei. Doch wer sagt etwas zu den fundamentalen Annahmen der Wissenschaften wie zum Beispiel Ordnung, Mathematik, Quantität, Qualität, Beweis? Die Metaphysik, verstanden als erste Philosophie, scheint mir unerlässlich. Anderenfalls gehen wir ungeprüft von Axiomen aus, nur weil sie als grundlegende Annahmen allgemein anerkannt sind, und glauben sie einfach.

186


Motivator No. 1: Freude „Wie der Mensch ohne Wahrheit nicht in Gemeinschaft leben kann, so gleichfalls nicht ohne Freude.“ 54 Vielleicht fragen Sie sich jetzt, was Motivation mit Freude und einem mittelalterlichen Bettelmönch zu tun hat, wo „man“ doch der Meinung ist, dass Geld der Sprit unserer Ökonomie ist. Die neuere Forschung über Motivation 55 sagt erstens, dass Menschen grundsätzlich motiviert sind, und zweitens, dass Demotivatoren zu beseitigen sind. Diese Ansicht möchte ich mit dem Kirchenvater Augustinus erweitern: „Nur wer Feuer hat, kann auch andere entflammen.“ Wie kommen wir nun zu „Feuer und Flamme“? Ganz einfach: durch Freude, und das wissen schon Kinder. Vor einigen Jahren fragte ich meine Tochter, die damals vielleicht sechs Jahre alt war: „Wozu sind wir auf Erden?“ Wie aus der Pistole geschossen, antwortete die kleine Luise: „Damit jemand da ist, der sich freuen kann.“ Freude? Darauf sind wir aus. Zumindest muss Freude mit dabei sein dürfen.

Freude – was ist das?

Freude ist zunächst eine Emotion, ein Gefühl und ein leib-seelisches Großereignis. Mit voller Aufmerksamkeit ist der Geist anwesend und feiert das, worüber er sich freut. Leib, Seele und Geist tanzen miteinander und es scheint, als ob uns Flügel wachsen. Ein Kontakt mit der Wirklichkeit – eben das, worüber wir uns freuen – lässt uns erahnen, was Glück sein kann. Die ganze Welt könnten wir dann umarmen und Berge versetzen. Freude ist Lust. Aber sie ist eine ganz und gar menschliche Lust, in der das, was ein Mensch sein kann – Sinnlichkeit, Vernünftigkeit, Herzlichkeit –, Realität und Praxis wird. Freude ist die höchste Art der Lust, und Thomas von Aquin, Summa theologica II-II 114,2 zu 1. 55 Siehe: Reinhard K. Sprenger, Mythos Motivation, Frankfurt am Main 2014. 54

187


Motivator No. 1: Freude

sie unterscheidet sich von der animalischen Lust in ein paar Facetten grundlegend.

„Trotz körperlicher Lustzustände können wir gleichzeitig in einer depressiven Grundstimmung sein, und umgekehrt können wir in einer intensiven Freude bei gleichzeitigem physischen Schmerz leben, vorausgesetzt, dass der Schmerz nicht so intensiv ist, dass er unsere ganze Aufmerksamkeit absorbiert. Auch ist niemand im Zweifel, welche Art von Wohlbefinden ihm im Zweifelsfall wichtiger ist; denn der Depressive hat ja nichts vom Lustgewinn; aber wer sich freut, freut sich.“56

Animalische Lust wird durch irgendwelche Installationen stimuliert. Freude stellt sich dagegen beiläufig ein, wenn wir etwas erledigen, wenn wir handeln und uns eben nicht gerade behandeln lassen. Das hat schon jeder erlebt und an sich beobachtet.

Freude stellt sich beiläufig ein, wenn wir woanders sind als bei der Sorge um unser Wohlbefinden, wenn wir mit der Praxis beschäftigt sind und Dinge erledigen. Beim Gelingen freuen wir uns dann; wir freuen uns – schlicht und einfach. „Hier hat es keinen Sinn zu fragen, ‚was er von der Freude hat’. Von der Freude hat man nämlich nichts, sondern etwas von etwas haben, das heißt eben: sich darüber freuen. Mehr als Freude kann man nicht von etwas haben.“ 57

Freude und Staunen stellen den Kontakt zum Sinn des Lebens her. Mit Haut und Haaren, mit jeder Faser unseres Leibes spüren wir, was Leben heißt. Kein Wunder also, dass Freude Energie freisetzt und der Motivator No. 1 ist. Wem sind da noch nicht Flügel gewachsen? Die Warum-Frage ist geklärt, wir erleben uns selbst als wertvoll und die Dinge stimmen einfach. Robert Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 1984, S. 24. 57 Robert Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 1984, S. 24. 56

188


Meine Empfehlung

Motivator No. 1: Freude

 Handle so, dass Freude aufkommen kann und darf.  Mach die Dinge gut.  Genieße die Freude.

189


Muße „Wir arbeiten, um Muße haben zu können.“ 58 Gegenwärtig erleben wir einen Ausschließlichkeitsanspruch der Arbeit. Wir trauern nicht mehr, sondern leisten Trauerarbeit, wir lieben nicht, sondern leisten Beziehungsarbeit, wir erziehen nicht unsere Kinder, sondern leisten pädagogische Arbeit. Dieser sprachliche Blödsinn gibt die Mußelosigkeit unserer Zivilisation wieder. Am Ende steht der Workaholic, der sich nicht mehr beruhigen und von der Arbeit abschalten kann, der sich nicht mehr unterhalten kann und sich schließlich das Leben nimmt. Arbeitssucht führt zur Verzweiflung – zur Trägheit des Herzens. Vielleicht können wir von der Antike lernen: Muße heißt griechisch „schole“ und zu ihr gehören Erziehung, Sport, Gottesdienst, Essen, Gespräche, Schauspiel. Muße meint Raum und Zeit für Aktivitäten ohne Zwecksetzung, für Aktivitäten um ihrer selbst willen. Josef Pieper skizziert sie sehr schön: „Muße ist eine Gestalt jenes Schweigens, das eine Voraussetzung ist für das Vernehmen von Wirklichkeit: nur der Schweigende hört; und wer nicht schweigt, hört nicht. … Muße ist die Haltung des empfangenden Vernehmens, der anschauenden, kontemplativen Versenkung in das Seiende. … Die Muße ist nicht die Haltung dessen, der eingreift, sondern dessen, der sich öffnet; nicht dessen, der zupackt, sondern dessen, der loslässt, der sich loslässt und überlässt – so auch werden dem Menschen die großen, die glücklichen, die niemals erjagbaren Einsichten und Einfälle vor allem in der Muße zuteil.

58

Aristoteles, Nikomachische Ethik 1177b.

190


Muße

Gegen die Ausschließlichkeit des Richtbildes der Arbeit als Mühe steht die Muße als feiernde Haltung. Die innere Festlichkeit des Feiernden gehört, wie auch das unvergleichliche deutsche Wort ‚Feierabend’ zu bedenken gibt, zum Kern dessen, was wir mit Muße meinen. … Muße lebt aus der Bejahung. Muße ist nicht einfach dasselbe wie Nicht-Aktivität; sie ist nicht das gleiche wie Stille, auch nicht dasselbe wie innere Stille. Sie ist wie die Stille im Gespräch der Liebenden, das aus der Übereinstimmung sich nährt. … Die höchste Form der Bejahung aber ist das Fest: die Bejahung des Sinngrundes der Welt und die Übereinstimmung mit ihm. … Die Muße steht gegen die Ausschließlichkeit des Richtbildes der Arbeit als sozialer Funktion. Die bloße Arbeitspause, mag sie nun eine Stunde dauern oder eine Woche oder noch länger, ist durchaus dem Bereich des werktäglichen Arbeitslebens zugehörig. Sie ist eingekettet in den zeitlichen Ablauf des Arbeitstages; sie ist ein Stück von ihm. Die Pause ist um der Arbeit willen da. Sie soll ‚neue Kraft zu neuer Arbeit’ geben, wie auch der Begriff der Erholung besagt, dass man sich erhole sowohl von der Arbeit wie für die Arbeit.“ 59 Zur Kompetenz einer Führungskraft gehört, dass sie sich zwischen Arbeit und Muße ausbalanciert, denn dank der digitalen Kommunikationstechnologie kann sie an jedem Ort und zu jeder Stunde arbeiten; und das wird vielleicht auch von ihr erwartet. Darum gewinnt Worklife-balance an Bedeutung: ein kultivierter Lebensstil.

Josef Pieper, Kulturphilosophische Schriften, Werke Bd. 6, hrsg. v. Berthold Wald, Hamburg 1999, S. 16ff. 59

191


Mythos Menschen warteten nicht auf Wissenschaft, um ihre Lebenswelt zu verstehen und zu deuten. Die ersten Weltdeutungen traten in erzählerischer, narrativer Gestalt – im Mythos – auf. Da dieses Wort gegenwärtig sehr zwiespältig – einerseits verächtlich, andererseits bewundernd – verwendet wird, sei auf die Herkunft des Wortes Mythos eingegangen. In ihm steckt das griechische Tätigkeitswort „mytheomai“, welches mit „ich erzähle, ich sage, ich beschreibe“ übersetzt werden kann, das heißt: Mythos ist eine Erzählung, eine Geschichte und auch der Gegenstand der Erzählung.

Nun gibt es verschiedene Arten von Mythen, nämlich künstliche und authentische. Die künstlichen Mythen sind von einem namentlich bekannten Autor gemacht und haben eine Intention. Zum Beispiel erzählt Platon den Mythos von Atlantis60. Die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit der großen, mächtigen und nahezu perfekten Polis Atlantis stellt er anschaulich dar, und will seinen Zeitgenossen vor Augen führen, dass Ungerechtigkeit letztendlich in den Untergang führen wird. Mit einer ganz bestimmten Absicht erzählt er die Geschichte des sagenhaften Atlantis. Wie gesagt hat der künstliche Mythos eine Intention und der Autor ist bekannt. Der authentische Mythos kennt dagegen keinen Autor. „Von alters her“ sei diese Geschichte auf uns gekommen, heißt es zum Beispiel, und der Autor entschwindet in den Tiefen der Vergangenheit. Auf jeden Fall erreicht die tradierte Erzählung die Hörer als heilige Überlieferung. Ob so ein Mythos Wahrheit beinhaltet oder nur eine Fabel ist, liegt am Hörer. Vertraut der Hörer dem Mythos, glaubt er der Überlieferung, dann ist sie ihm wahr und „heilig“. Die Themen der Mythen werden sich vielleicht geringfügig ändern, aber im Großem und Ganzem die gleichen bleiben: Anfang und Ende, 60

Platon, Timaios 20 d – 26 e und Kritias 113 c – 121c. 192


Mythos

Leben, Schuld und Schicksal, Götter und Menschen sowie Kosmos und Chaos.

Auch moderne Wissenschaft kommt ohne Mythos nicht aus. Da bemüht zum Beispiel Freud den Ödipus, um einen Komplex zu benennen. Auch wird eine Geschichte von Isaac Newton erzählt, wie ein Apfel vom Baum fällt und der junge Mann auf die Idee der Gravitation kam. Daran wird sehr schön deutlich, dass der Mythos einiges gut erklären kann, weil er anschaulich ist und Identität schafft.

Nicht nur die Wissenschaft bemüht den Mythos, um Phänomene zu benennen, was ja nur eine Frage der Namensgebung ist. Auch unsere moderne Lebenswelt benötigt Deutungsmuster, welche selbst nicht rational begründet werden, sondern (quasi als Gott gegeben) angenommen werden. Adam Smith bietet einen modernen, ökonomischen Mythos – nämlich die „unsichtbare Hand des Marktes“ und deren narrative Illustrierung mit dem Schlachter, der nicht aus Menschenliebe, sondern aus Eigeninteresse Fleisch auf dem Markt anbietet. Doch die wunderbare „unsichtbare Hand des Marktes“ verwandelt Egoismus in Gemeinwohl. Das ist ein fundamentaler Mythos der Marktwirtschaft und unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Über die Mythen vergangener Epochen kann man lächeln. Interessant wäre die Fragestellung: Kann eine Epoche überhaupt ohne Mythen leben? Welche Mythen fundieren unsere Weltanschauung und den Mainstream?

193


Nachhaltigkeit In keiner Rede darf dieses Wort fehlen. Was bezeichnet Nachhaltigkeit? Woher kommt es? Die Wiege des Gedankens steht in Sachsen und zwar in Freiberg. Der Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (16451714) schaffte dem Holzmangel, der durch den Silberbergbau verursacht wurde, Abhilfe. Kontinuierlich forstete er die Wälder wieder auf und entnahm dem Wald nur so viel, wie nachwachsen konnte. 1713 schrieb er in seinem Buch „Sylvicultura oeconomica“: „Wird derhalben eine gröste Kunst, Wissenschaft, Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen, wie eine sothane Conservation und Anbau des Holzes anzustellen (sei), dass es eine continuierliche, beständige und nachhaltende Nutzung gebe weiln es eine unentbehrliche Sache ist, ohne welche das Land in seinem Esse [Dasein] nicht bleiben mag.“

Ein Forstwirt wird nur so viel Bäume fällen, wie er neu angepflanzt hat. Heute kann er Holz schlagen, denn seine Vorgänger haben Bäume gepflanzt, von denen sie selbst keinen Nutzen hatten. Wird dieses Prinzip missachtet, betreibt der Forstwirt Raubbau und betrügt nicht nur seine Nachfolger, sondern auch das Gemeinwesen. Das Prinzip „Nachhaltigkeit“ macht auf das Volumen, die Tradition und zeitliche Reichweite aufmerksam:  Zu holen ist nur das, was auch nachwachsen kann.  Heute können wir leben und Güter nutzen, weil gestern Menschen uns zeugten und für sich selbst nutzlose Güter erarbeiteten.  Entscheidungen fallen ziemlich anders aus, wenn man die Folgen und die Reichweite kurzfristig, mittelfristig oder langfristig bewertet.

Wertungen und Beurteilungen fallen anders aus, wenn sich die angelegte Zeitschiene verkürzt oder verlängert. Nimmt man ein sehr großes Intervall an, fällt die Beurteilung einer Handlung anders aus als bis zum minimalsten Zeitlimit, wenn nur der Reiz des Augenblicks zählt. 194


Nachhaltigkeit

Darum entschleunigen wir bisweilen Entscheidungen und schlafen drei Nächte, ehe wir zum Beispiel Klage einreichen. Manchmal holen wir ganz tief Luft und zählen bis zehn, wenn wir spüren, dass der Zorn noch kocht. Geschwindigkeit soll herausgenommen werden, damit das Mütchen temperiert werden kann. Auf lange Sicht erscheint auch manch kurzfristiger Erfolg oder Gewinn als pure Dummheit; dann beurteilen wir den Steuerbetrug anders, empfinden ihn nur noch als peinlich und würden manches dafür geben, um diesen Fauxpas aus der Welt zu schaffen.

Ganz deutlich wird das Bewertungskriterium der Zeitschiene, wenn es um die Beurteilung von Unternehmen geht. Ein Manager, der für den kurzen Zeitraum von zwei Jahren einen Vertrag erhält, kann in dieser Zeit das Unternehmen richtig lukrativ, gewinnbringend machen und den Kapitaleignern optimale Rendite erwirtschaften. Trotzdem ist es gut möglich und sehr wahrscheinlich, dass das Unternehmen fünf Jahre später Insolvenz anmelden muss, weil die Substanz des Unternehmens verfüttert, weil Raubbau betrieben wurde. Diesen beschleunigten Gewinnerwartungen will das Prinzip „Nachhaltigkeit“ entgegenwirken.

195


Der Name Der Name eines Menschen steht für dessen Identität. Das zeigt sich schon daran, dass wir als erstes unseren Namen nennen, wenn wir uns vorstellen: „Mein Name ist Andreas Fritzsche…“ Falls wir mal nicht mit dem Namen anfangen wollen, müssen wir schon einige intellektuelle Klimmzüge machen, um einen anderen Anfang zu finden.

Interessanterweise haben wir uns den Namen, der ja immerhin unsere Identität bezeichnet, nicht selbst gegeben. Der Name wurde uns nicht nur gegeben, wir mussten uns diesen sogar sagen lassen. Das, was uns kennzeichnet, wurde uns gegeben. Das ist schon ein starkes Stück und kränkt doch ziemlich die Selbstverliebtheit, denn die Namensgebung ist ein Herrschaftsakt.

„Nomen est omen.“

Zumindest in der griechischen Mythologie deutet der Name das Schicksal der ihn tragenden Person an. „Odysseus“ heißt „der Gehasste“, was dieser König von Ithaka auch auf seiner Odyssee leidvoll erfahren muss: Poseidon und Helios hassen ihn aus tiefstem Herzen. Übrigens gab Odysseus‘ Opa Autolykos ihm mehr oder weniger aus Spaß diesen Namen.

Ein weiteres Beispiel: „Ödipus“ heißt „Schwellfuß“. Seine Eltern Laios und Iokaste durchstachen ihm als Baby die Fersen und banden beide Beine zusammen, damit er nicht fortlaufen konnte. Kaum einer der mythischen Heroen war so an sein Schicksal gebunden wie Ödipus.

Wurde jemand in den dreißiger oder vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren und heißt beispielsweise Siegfried oder Brunhilde, so kann man daran erkennen, dass die Eltern braun waren. Übrigens gibt es ab 1945 keine Kinder mehr, die Adolf heißen; bis 1945 jede Menge.

196


„ha schem“

Der Name

Frommen Juden scheuen sich, den Namen ihres Gottes auszusprechen, obwohl sie diesen, seitdem Moses ihn am brennenden Dornbusch zu hören bekam (Exodus 3, 14), kannten. Sie umschiffen diese Schwierigkeit mit Bezeichnungen wie „ha schem“ – der Name – oder „adonai“ – Herr. Woher diese Scheu? Wer den Namen eines Gottes kannte und ihn aussprach, hatte Zugriff auf diesen Gott und konnte ihn durch Beschwörungen gefügig machen. Auch in dem Grimm’schen Märchen von Rumpelstilzchen funktioniert das so. Mit dem Aussprechen des Namens verlor Rumpelstilzchen all seine Macht.

Herrschaft

Als Gott die Tiere und den Menschen – Adam heißt der „Erdling“ – geschaffen hatte, führte Gott die Tiere Adam vor und dieser durfte ihnen Namen geben.61 Damit sagt die Bibel, dass der Mensch über die Tiere herrschen darf, weil sie nun menschliche Namen tragen. Die Namensgebung ist ein Herrschaftsakt.

Ergo: Überlegen sie bitte genau, wie sie Ihr Kind oder Ihre Firma benennen wollen. Manch einer weiß nicht, was ein Aaron oder Dennis ist, und bekommt solch einen Namen verpasst, weil er einfach nur Mode war. Nur sind Moden recht flüchtig, doch der Name bleibt – als Segen oder als Fluch?

61

Siehe: Genesis 2, 19f.

197


Natur In der Oration der Weihnachtsmesse wird gebetet:

„Natus hodie Salvator mundi.“ „Heute wurde der Erlöser der Welt geboren.“

Dabei stolpert man über das Wort „natus“ (wurde geboren), das mit dem Wort Natur verwandt ist, weil es von „natare“ (geboren werden) herrührt. Vielleicht erschließt uns modernen Menschen dieses lateinische Wort ein gutes Verständnis des viel bemühten Wortes Natur. Im Lateinischen heißt „natura“ 1. Geburt 2. das Geborene, das Geschaffene 3. die schaffende Kraft

Das mittelalterliche Latein kennt noch die „natura naturans“ und bezeichnet damit die hervorbringende Natur.

Auch das griechische Wort für Natur „physis“ geht in die gleiche Richtung und betont die Lebendigkeit der Natur noch stärker: Dem Wort „physis“ liegt das Verb „phyo“ zugrunde: entstehen, wachsen, hervorkommen, abstammen und blühen; im Passiv „phyesthai“: geboren werden. Das Substantiv „physis“ bedeutet folgerichtig: Werden, Wachstum, Wuchs, Geburt und Herkunft, Geschöpf, Anlage, Ordnung und auch Schöpferkraft. Was wir mit Natur bezeichnen, wurde geboren und entstand nicht aus menschlicher Hand, selbst wenn wir Menschen bei Züchtungen und genetischen Veränderung die Hand im Spiel haben. Dynamik und Bewegung kommen aus den natürlichen Dingen selbst. Die künstlichen Dinge besitzen diese Kräfte nun einmal nicht.

Wenn ich als Kind meinen Teddybären neben dem meiner Schwester setzte, passierte nichts; wenn wir dagegen zwei Exemplare des natürlichen Vorbilds des Teddybären, also zwei Koalabären, nebeneinander setzen, dann passiert schon etwas mit der ihnen eigenen Dynamik und Bewegung. 198


Natur

 Erstens werden natürliche Dinge geboren, sie werden geschaffen, sind zumindest ohne menschliches Tun entstanden; und  zweitens liegt dieser geschaffenen Natur Dynamik, Bewegung und Kraft inne, die uns bisweilen fasziniert, aber auch zu Tode erschreckt.

Darum erleben wir Natur sehr ambivalent: schön und roh, faszinierend und erschreckend, vollkommen und mangelhaft, erhaben und bestialisch, kraftvoll und begrenzt, lebenspendend und tödlich, liebevoll freundlich und vernichtend. Mit einem dritten Aspekt möchte ich den Gedankengang abschließen: Auch wir Menschen selbst sind Natur, denn wir wurden alle geboren und erleben diese natürliche Dynamik in uns. In gewisser Weise sind wir so, wie wir sind, ohne unser Zutun. Diese Tatsache irritiert und wirft die Fragen auf. Ist unsere menschliche Natur einfach nur Material für unseren Willen bzw. unsere Vernunft? Stellt die menschliche Natur uns nur Grenzen auf oder stellt sie uns ein natürliches Maß, vielleicht sogar eine Ordnung, zur Verfügung? Meine Position zur letzten Frage ist: Die Natur legt uns Menschen eine Neigung bzw. ein Streben, das wir uns nicht ausgesucht oder erwählt haben, in die Wiege. Menschen suchen Glück und wollen Freude empfinden.

199


Nihilismus Nihilismus kommt von dem lateinischen Wort „nihil“ – nichts – und stellt fest, da ist nichts, zumindest nichts Erkennbares oder etwas, was eine Bedeutung oder einen Sinn hat.

Nun unterhalten wir uns und formulieren sinnvolle Sätze wie zum Beispiel: „Da ist nichts“. Wie löst der Nihilismus dieses Problem? Der Zusammenhang zwischen Wirklichkeit und Sprache wird aufgelöst und sinnvolle Aussagen als Illusion entlarvt. Illusion kommt vom lateinischen Wort „ludere“ – spielen – und kann auch mit dem Synonym Täuschung wiedergegeben werden. Die Sprache schaffe, so die Behauptung des Nihilismus, eine illusionäre Welt, weil sie einen Zusammenhang von Wirklichkeit und Wort suggeriert. Doch genau betrachtet liege der Mensch dabei einer Selbsttäuschung auf, denn es gibt keinen Zusammenhang von Sein und Erkennen.

Infolgedessen seien Wahrheit, Moral, Kultur, Wert und Sinn nur Täuschungen. Im Grunde genommen sei „das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel“, so Nietzsche. Da ist nichts – kein Wesen, kein Ding an sich, kein Kosmos, kein Anfang und kein Ziel.

Der menschliche Intellekt nehme sich viel zu wichtig. Genauer betrachtet, komme er nur zu kläglichen Ergebnissen, welche mächtig aufgeblasen und Wahrheit genannt werden. Der Intellekt sei nur ein Werkzeug zur Erhaltung des Individuums und in erster Linie ein Instrument zur Täuschung, wozu vor allem die sogenannte Wahrheit dient. Wahrheiten seien „Illusionen, von denen wir vergessen haben, dass sie Illusionen sind“, insbesondere „die wir liebgewonnen haben“, stellt Nietzsche fest. Doch wir brauchen diese Täuschungen, um uns am Leben zu erhalten und es vor allem miteinander auszuhalten. Das vorzügliche Instrument des menschlichen Intellekts ist die Sprache. Das Wort sei nur die Abbildung eines Nervenreizes und könne

200


Nihilismus

bestenfalls die Benennung einer Sache sein. Hier werde die Verwandlung der Welt in ein menschenartiges, nämlich sprachliches Ding deutlich. Einen Zusammenhang von Wort und Realität könne es nicht geben. Allerdings hat der Nihilismus auch ein grundlegendes Problem, und das darf nicht verschwiegen werden. Wie will der Nihilist jemand anderem seine Einsicht mitteilen? Wenn er Wahrheit ablehnt, müsste er doch demjenigen, der dummerweise noch an Wahrheit glaubt, seinen Irrtum aufzeigen, so dass der naive Wahrheitsgläubige sich bessern und seinen Fehler einsehen kann. Das kann ja nur mit der Hoffnung auf Verstehen und mittels wahrheitsfähiger Sätze geschehen.

Formuliert der Nihilist einen sinnvollen Satz, widerlegt er sich selbst, denn wer spricht oder einen Gedanken in Worte kleidet, vertraut unter der Hand darauf, dass er verstanden werden kann und damit auf die Wahrheitsfähigkeit der Sprache. Der Nihilismus zerreißt den Zusammenhang von Sein und Denken völlig, so dass „nichts“ mehr übrigbleibt. „Das Dasein so wie es ist, ohne Sinn und Ziel“ beschreibt den Zustand der Welt, nämlich Sinnleere und Wertlosigkeit. Sinn und Ziel kann nur der Mensch ins Spiel bringen. Allerdings muss er auch Sinn machen, oder es gibt keinen.

„Es geht doch immer nur darum, dass eine, dass die Geschichte sich selbst erzählen kann. Wir alle sind nichts als leise Stimmen im kakophonen Chor, gelegentlich ein vorwitziges Solo spielend, nie mehr als wenige Sekunden, wenige Zeilen lang. Und damit ist alles gesagt.“ 62

62

Juli Zeh, Spieltrieb, München 2004, [letzte Worte des Romans] S. 566. 201


Odyssee Der erste Roman der Menschheit ist die Odyssee, und manche meinen, auch bis heute der beste. Nicht nur die Story fasziniert, auch der verschachtelte Erzählstil, die vielen kleinen Details und die Sprache bieten einen gewissen Genuss. Das Wort „Odyssee“ steht nicht nur für die vierundzwanzig Gesänge Homers, Odyssee steht auch als Metapher für Irrfahrt und einen verschlungenen Lebensweg. Wer ist nun Odysseus? Den Namen – Odysseus „der Gehasste“ oder „vom Zorn“ – erhielt er von seinem Opa Autolykos63 und Odysseus macht ihm auch alle Ehre. „Nomen est omen“. Name ist Schicksal. Gehasst wird er wahrlich, und handfeste Feinde sorgen dafür, dass er nur unter großem Leid nach Ithaka kommt: Poseidon, Helios, Polyphem und die Kikonen setzen ihm mächtig zu.

Das ist aber nicht alles, denn Odysseus hat einen Mentor, der sogar in der Person Mentors auftritt: Athene. Athene begleitet und unterstützt ihn sehr liebevoll, sie weiß auch mit seinen Schattenseiten umzugehen. Die Prinzessin Nausikaa, die den halbtoten Odysseus findet, hilft ihm auf die Beine und gibt ihm den Rat: Falle zuerst meiner Mutter, der Königin Arete, zu Füßen und umfasse ihre Knie als Bittsteller, dann wird dir mein Vater, der König der Phäaken Alkinoos, Gastfreundschaft gewähren.64

Die Königin der Phäaken heißt Arete. Arete, und das hört ein Grieche mit, „Arete“ heißt „Tugend“. Vor der Tugend ging Odysseus in die Knie und durfte dann Gastfreundschaft genießen. Beim Zyklopen Polyphem gingen er und seine Gefährten anders vor. Dort drangen sie in dessen Höhle ein, aßen sich am Käse satt, schlachteten Schafe und baten dann, von Polyphem überrascht, um Gastfreundschaft, die Polyphem ihnen

Homer, Odyssee XIX, 408. 64 Homer, Odyssee VII, 140ff. 63

202


Odyssee

verwehrte und stattdessen zu jeder Mahlzeit zwei Gefährten verspeiste. Odysseus lernte: Zuerst sich der Tugend unterwerfen, und dann erst die Früchte der guten Sitte genießen.

Alles nur Schicksal?

Gleich am Anfang beschwert sich Zeus, dass die Menschen alle ihre Missgeschicke den Göttern zuschieben und vom Neid der Götter schwafeln.65 Dabei sind sie es selbst gewesen, wenn sie einmal darüber nachdenken, die sich durch Betrug, Raub und Mord ihr Unglück selbst schmiedeten. Warum plündert Odysseus mit seinen Männern die Kikonen? Seine Gier raubt ihm Schiffe und zweiundsiebzig Männer. Warum verspottet er Polyphem? Sein Hochmut beschert ihm die Katastrophe im Sturm des Poseidons. Warum gibt er das Steuerruder nicht aus der Hand und schläft kurz vor Ithaka ein? Selbstverliebtheit provoziert Misstrauen bei seinen Männern, die dann den Sack mit den Winden des Aiolos öffnen.

Freilich unterstützt Athene Odysseus, indem sie Zeus immer wieder seine Irrfahrt vorträgt und die Heimkehr reklamiert. Ihr größter Anteil liegt sicher darin, dass sie Odysseus Mut einflößt und ihm das Herz stärkt. Die Götter schauen nicht nur zu, sie haben – im Guten wie im Schlechten – schon ihren Anteil. Am Ende sorgen Zeus und Athene dafür, dass Frieden in Ithaka einzieht, was nahezu übermenschlich ist.

Aber auch andere, treue Menschen wie Penelope, sein Sohn Telemachos, der Schweinehirte Eumaios und seine Amme Eurikleia unterstützen ihn, so dass die Ankunft im Palast glückt. Die Stärken des Odysseus sollen auch nicht verschwiegen werden. Der „Dulder“ kann schwierige Situationen und Beleidigungen aushalten; der „Listenreiche“ bemüht seinen Verstand und denkt drei Schachzüge weiter; und Odysseus hat seine Emotionen – vor allem seine Rachegelüste – im Griff.

65

Homer, Odyssee I, 1-79.

203


Odyssee Welchen Anteil hat die eigene Leistung und was ist Schicksal? Was widerfährt Odysseus und was hat er sich selbst zuzuschreiben? Diese Frage nach dem Schicksal inszeniert Homer in den vierundzwanzig Gesängen, beschreibt sie als Odyssee – eben als Irrfahrt – und lässt sie offen.

204


Ordnung der Güter In Diskussionen wird bisweilen von Werten gesprochen und zwar vom Wert an sich, vom objektiven Wert. Die Philosophen nennen solch einen Wert „ein Gut“, denn er gilt immer, auch wenn ihn augenblicklich kein Mensch wertschätzt. Zum Beispiel sind sauberes Wasser und Gesundheit Werte an sich. Das merken wir erst, wenn diese Güter abhandengekommen sind.

Die Ethik differenziert Güter in äußere, leibliche und seelische Güter. Was können wir uns darunter vorstellen?

1. Äußere Güter sind zum Beispiel Anerkennung, Besitz oder Geld – etwas, was uns von außen zuteil oder zugeschrieben wird. Können wir Einfluss auf die äußeren Güter nehmen? Ja, aber nicht immer. Durch gezieltes Handeln gestalten wir, was um uns geschieht. Gewisse Umstände entziehen sich jedoch unserem Handlungszugriff wie zum Beispiel die Inflationsrate oder das Urlaubswetter. Trotzdem benötigen wir die äußeren Güter, um leben zu können. 2. Leibliche Güter, wie Gesundheit und Haarwuchs, können wir durch gezieltes Handeln oder kluge Lebensführung intensiver als die äußeren Güter beeinflussen, und trotzdem bleibt auch in ihnen ein Rest unbeeinflussbar. Vor einiger Zeit kam eine Studentin in die Sprechstunde, um sich für ihr Fehlen in den vergangenen Seminarsitzungen zu entschuldigen. Krebs habe man bei ihr diagnostiziert, und das habe sie erst einmal mattgesetzt. 3. Die seelischen Güter, wie Gelassenheit, Freundschaft und Charakterstärke, kann die krebskranke Studentin trotz des Verlusts eines leiblichen Guts auch jetzt noch und wohl immer beeinflussen. Die wirklich wichtigen Güter sind die seelischen und sollten unsere höchste Wertschätzung genießen: Wie verhalte ich mich zu Situationen, die ich nicht ändern kann? Obendrein kommt noch eine Beobachtung, die mir mein Doktorvater aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft nahelegte: Selbst wenn wir nahezu alles verloren haben, dann schleppen wir uns selber immer noch 205


Ordnung der Güter

mit uns herum. In der Seele haben wir immer noch den Handlungsspielraum der Zustimmung, Ablehnung oder Empörung. Darum gebietet sich bei den seelischen Gütern maximale Aufmerksamkeit und wie gesagt die höchste Wertschätzung.

Weil nun Güter objektive Werte oder Werte an sich sind, ist es nicht sinnvoll, ihre Rangfolge in Frage zu stellen. An erster und wirklich wichtigster Stelle der Wertrangordnung steht das Gut der Seele, das unter keinen Umständen gefährdet werden darf. Alles Weitere erweist sich im Ernstfall als nachrangig und kann einer Güterabwägung unterzogen werden. Interessanterweise sind sich hierin die Bibel und nahezu alle Philosophen einig. „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, und Schaden an seiner Seele nimmt? Um welchen Preis kann er seine Seele zurückkaufen?“66

Insbesondere bei Sokrates drehte sich alle Weisheitssuche um die Epimeleia, um die Seelsorge.

„Mein Bester, du bist Athener, ein Bürger der größten und durch Bildung und Macht berühmtesten Stadt, und du schämst dich nicht, dich darum zu kümmern, wie du möglichst viel Geld und wie du zu Ehre und Ansehen kommst, doch um die Vernunft und Wahrheit und darum, dass du eine möglichst gute Seele hast, kümmerst und sorgst du dich nicht?" 67

Matthäus 16,26. 67 Platon, Apologie 29 de. 66

206


Ordnung der Werte Weil Güter objektive Werte, das heißt von uns unabhängig sind, können wir eine Hierarchie aufstellen. An erster Stelle stehen die seelischen Güter, an zweiter die leiblichen und an dritter Stelle die äußeren Güter. Soweit so gut, aber wie verhält es sich mit den individuellen, persönlichen und gemeinsamen, gesellschaftlichen Wertungen? Hier stellen wir doch persönliche und kulturelle Unterschiede, bisweilen sogar Widersprüche fest. Gibt es auch hier eine Rangfolge oder gar eine Hierarchie? Eine Ordnung der Werte kann man nicht so statisch feststellen, wie die Ordnung der Güter, weil Werte mit Personen, Gemeinschaften und Kulturen verbunden sind. Wenn Werte miteinander kollidieren, nehmen wir sie wahr und dann erkennen wir auch ihren unterschiedlichen Rang.

Ein Wert entsteht durch Wertschätzung, er zieht jemanden an. Ein Briefmarkensammler findet diese kleinen Papierstücke attraktiv, wird von ihnen hingerissen und kann nicht wegschauen. Jemand anderes belächelt das vielleicht, aber dieses farbige, gummierte Papierstück erfährt vom Sammler eine sehr hohe Wertschätzung und wird für ihn zu einem sehr wertvollen Stück. Trotzdem wird auch der Briefmarkensammler zuerst seine Kinder aus einem brennenden Haus retten und seine Briefmarkensammlung – zwar schweren Herzens – dem Feuer preisgeben, das heißt, er zieht seine Kinder diesen farbigen, gummierten Papierstücken vor, weil er in dieser kritischen Situation wahrnimmt, dass seine Kinder einen höheren Wert als seine Briefmarken haben.

Damit möchte ich sagen: Im Konfliktfall bzw. in Entscheidungssituationen nehmen wir die unterschiedliche „Werthöhe“ wahr, wir sehen und spüren sie – in der Regel sogar schmerzlich. Kollidieren Werte miteinander, ziehen wir einen Wert vor und setzen einen anderen hinten an. Bei dieser Wertschätzung steuert uns zuerst das Gefühl, denn in Situationen reagieren wir zuerst emotional mit Angst, Freude, Ekel, Scham ... Ob man das heute „Bauchgefühl“ oder „Logik des Herzens“ nennt, sei 207


Ordnung der Werte

dahingestellt, entscheidend dabei ist, dass wir so werten, wie wir sind und unser Leben führen, und das sollte das Beispiel vom Briefmarkensammler zeigen. Weil wir Menschen sind und miteinander sprechen können, entsteht solch eine Wertrangordnung nicht ganz individualistisch, denn von der Mutter erlernten wir die Sprache, die ja auch Wertungen mitteilt, und unterhalten uns mit Freunden und anderen Menschen. Auf die Frage, wie man zu seinen Wertungen, zu seiner Wertrangordnung kommt, sagte einmal Robert Spaemann „Ich könnte sie auch fragen: Wie haben sie sprechen gelernt?“ Auf jeden Fall kommt mit der Sprache und dem gemeinsamen Leben die Kultur bzw. Zivilisation zum Tragen. Von der Kultur werden Menschen in ihrer Wertschätzung geprägt, aber auch umgekehrt: Mit ihren persönlichen Wertungen – das Hintansetzen einiger und Vorziehen anderer Werte – gestalten Personen und Gruppen auch die Kultur – die gesellschaftliche Wertrangordnung. In aller Deutlichkeit möchte ich feststellen: Unwerte gibt es nicht. Was wir als Unwert deklarieren, ist nichts anderes als ein Wert auf einem ihm unangemessen hohen Rang. Ein Beispiel: Geld hat einen Wert. Wenn allerdings Geld bei einer Person oder Gesellschaft auf einem unangemessen hohen Rang platziert wird, dann bezeichnen wir diese Person als einen habgierigen oder geizigen Menschen, weil er Dollarzeichen in den Augen hat und alles auf einen Geldwert reduziert. Trotzdem hat Geld einen Wert, denn wir brauchen es, um unsere knappen Ressourcen zu handhaben und Gerechtigkeit walten zu lassen. Nur darf Geld nicht die Sonne sein, die alles wachsen lässt. Das wäre ein Irrtum und schlecht. Damit will ich sagen, es kommt auf die angemessene Wertschätzung und Platzierung an.

208


Ordo amoris Das Wort Verantwortung suggeriert bisweilen, dass wir für alles verantwortlich seien. Genau das zerstört Moralität und macht gutes Handeln unmöglich. Warum? Es gibt Differenzen zwischen Menschen – und zwar aufgrund der Nähe und Ferne. Wie nahe ist mir jemand am Herzen? Augustinus nennt das „ordo amoris“, Rangordnung der Liebe.

Nur ich kann meinen Kindern Vater sein. Wenn der Nachbar diese Aufgabe übernähme, würde er sich etwas anmaßen. Nur ich kann meiner Frau Ehemann sein; – wenn der Nachbar… Auch wenn das Beispiel derb auftritt, macht es deutlich, dass wir Menschen nicht in jeder Hinsicht gleich sind und dass es Differenzen der Nähe und damit der Zuständigkeit gibt.

Nur ich kann meinen Kindern Vater sein, und darum obliegt mir ihre Erziehung „zuvörderst“, wie es das Grundgesetz im Artikel 6 nennt. Erziehung kostet Aufmerksamkeit, Energie und Lebenszeit, die für andere nicht mehr zur Verfügung stehen können. Wenn wir etwas tun, müssen wir etwas anderes sein lassen. Für diejenigen Menschen, die uns ans Herz gewachsen und am nächsten sind, sind wir intensiver verantwortlich als für Menschen in der zweiten, dritten oder fünften Reihe. Die Nachbarskinder haben schon einen höheren Anspruch an mich als die Kinder eines anderen Stadtteils meiner Stadt, denn die Nachbarskinder Micha, Maria und Niklas sollte ich schon mit ihren Namen kennen und ansprechen. Übrigens merken wir diese Nähe intensiv auf unseren Urlaubsreisen: Im Ausland freuen wir uns, wenn wir ein Auto mit unserem Kennzeichen sehen. Die Bibel formuliert die Frage nach der Verantwortung etwas anders: „Wer ist dein Nächster?“ – und stellt sie in den Mittelpunkt, weil dem Nächsten das Wohlwollen gilt. Deutlich sagt Gott, dass wir für den Nächsten da sind, und nicht für den Fernsten. Die einzig interessante Frage ist „Wer ist dein Nächster?“ Gleich am Anfang der Bibel wird eine Scheinfrage gestellt, welche den Nächsten frech beiseiteschiebt und einen Mord legitimieren will. 209


Ordo amoris

„Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?“68 Kain ist der Hüter seines Bruders. Das weiß er, das ist ihm klar, sonst könnte er nicht einmal diese Frage stellen. Für wen wir verantwortlich sind, sagt uns die „ordo amoris“, denn sie strukturiert, differenziert und präzisiert unsere Pflichten.

68

Genesis 4, 8 – 10.

210


Philosophie „Philosophie sind unverständliche Antworten auf nicht gestellte Fragen“, lautet die amüsanteste Antwort auf die Frage, was Philosophie sei. Ein zweifelhafter Ruf begleitet sie. Einerseits wird sie geschätzt und nahezu erhaben zelebriert. So stellen einige Unternehmen gern ihre Unternehmensphilosophie heraus, oder jemand wird als philosophischer Kopf gewürdigt, wenn er auf andere nachdenklich wirkt. Andererseits werden Erörterungen mit der Bemerkung „Jetzt hör auf, rum zu philosophieren“ abgewürgt. Etwas Spinnertes hängt ihr an.

Das Wort Philosophie ist aus den beiden griechischen Wörtern „philia“ (die Freundschaft) und „sophia“ (die Weisheit) zusammengesetzt und heißt „mit der Weisheit befreundet sein“. Es geht also zuerst um eine Haltung oder einen Zustand: Jemand läuft in aller Freundschaft der Weisheit hinterher. Platon bemerkte dazu 69: Die Götter philosophieren nicht, denn sie sind schon weise. Die Dummen philosophieren auch nicht, denn Weisheit interessiert sie nicht. Der philosophierende Mensch hängt dazwischen. Er weiß, dass ihm etwas – nämlich die Weisheit – fehlt, was ja schon eine Erkenntnis ist, und sucht sie mit Leidenschaft, eben in aller Freundschaft.

Wie kommt nun jemand zu dieser Suche? Ein Stauen oder eine Verwunderung, welche ihn erreicht und irritiert, bricht das normale Gefüge der Welt auf und provoziert die nahezu kindliche Frage: Was ist das da? Ganz zweckfrei taucht diese Frage nach der Wirklichkeit auf und nimmt Besitz von einem Menschen. Diese innere, persönliche Haltung äußert sich im Fragen und Suchen nach Wahrheit, im Wissen-Wollen und Nachdenken. Sie kann eine Person schon mächtig in Anspruch nehmen.

Philosophie ist auf Dialog aus und will sich verständlich machen. Darum geht es in ihr nachvollziehbar, wissenschaftlich und logisch zu. Systematisch geht Philosophie einer Frage nach. Der erste Philosoph

69

Siehe: Platon, Symposion 204a.

211


Philosophie

Thales von Milet fragte, was am Anfang war, das heißt, was die Wirklichkeit im Prinzip sei. Auch wenn seine Antwort „Wasser“ uns heute wunderlich vorkommt, ging er einen Weg, den wir auch heute noch gehen. Thales beobachtete, zog daraus Schlüsse und legte seine Argumente vor. So konnten ihn andere verstehen, ihm widersprechen und andere Argumente vortragen.

An Thales von Milet wird auch deutlich, dass alles logische Fragen nach der Wirklichkeit als Philosophie verstanden wurde. Erst in der Neuzeit emanzipierten sich die wissenschaftlichen Disziplinen wie Physik, Chemie und Biologie aus der theoretischen Philosophie und wurden selbständig. In dieser Hinsicht ist Philosophie die Mutter aller Wissenschaften. Das gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Sozialwissenschaften wie Ökonomie, Soziologie und Politik, die sich aus der praktischen Philosophie, das heißt aus der Ethik, emanzipierten.

Gegenwärtig muss sich die Philosophie um ihre Freiheit mühen, denn heute dominieren die „angewandten“ Wissenschaften. Nachdem die konfessionellen Religionen – zumindest in der westeuropäischamerikanischen Zivilisation – ihre gesellschaftlich dominante Position eingebüßt haben, wird ihr die Aufgabe der Sinnstiftung zugewiesen. Doch Philosophie kann keine Religion ersetzen und Erlösung anbieten. Ohne Muße, das heißt ohne den Raum der Zweckfreiheit, kann sie nicht gelingen, oder sie verkommt zur Handlangerin irgendeiner Ideologie.

212


Philosophieren als Christ Unter Philosophie verstehe ich ein staunendes Hinblicken auf die Wirklichkeit mit der Intention, zu sehen, was ist. Dieses intellektuelle Sehen geschieht frei, nämlich frei von irgendwelchen Zwecksetzungen oder der Verfolgung von Interessen. So verstanden, ist Philosophie die Haltung einer Person: Offenheit, Wirklichkeit verstehen wollen und „mit der Weisheit befreundet“ sein.70 Dabei steht der Philosophie die Vernunft als Erkenntnisquelle zur Verfügung – eine Vernunft, die alle Menschen haben.

Auch ein Christ ist Mensch und verfügt in der Vernunft über eine Erkenntnisquelle. Bei ihm kommen jedoch zwei weitere Quellen hinzu: das Wort Gottes, an dessen Wahrheit er glaubt, und die Tradition der Christenheit, wie zum Beispiel das Glaubensbekenntnis. Darum nötigt das Wort Gottes, die Offenbarung, einen Christen, Wirklichkeit aus einer anderen Perspektive zu sehen und den Horizont sehr weit zu spannen. Er steht immer in der Spannung von Glaube und Vernunft. Deutlich wird das an den Axiomen. Ein Axiom ist eine unbewiesene Grundannahme, die angenommen bzw. geglaubt wird. Zum Beispiel gibt es in der Mathematik das Axiom, dass die 0 von der 1 unterschieden ist. Christen haben um ihre Axiome gestritten, sie aber letztendlich im Glaubensbekenntnis ausformuliert und auf den Tisch gelegt, wodurch sie freilich angreifbar und als dogmatisch verschrien werden können.

„Ich glaube an den einen Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde, aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge. Und an den einen Herrn, Jesus Christus, Gottes einzig geborenen Sohn. … Durch ihn ist alles geschaffen. …“71

Siehe: Andreas Fritzsche, Philosophieren als Christ. Freundschaft mit der Weisheit, Norderstedt 2018. 71 Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchen Lehrentscheidungen, Freiburg Basel Wien 2005, 44 auf Seite 37. 70

213


Philosophieren als Christ

Am Beispiel des Schöpfungsglaubens möchte ich das Philosophieren als Christ skizzieren. Einem Schöpfer, der Wirklichkeit schafft, sie bewegt, mit Vernunft ordnet und ihr so das Maß gibt, wird geglaubt. In ihm gibt es die eine, absolute Wahrheit. Die Schöpfung schafft dieser Kreator, und darum kann die Wirklichkeit als ein Ganzes (Universum) verstanden werden, in der ganz verschiedene Geschöpfe in Symbiose leben. Insbesondere die Lebendigkeit und Schönheit der Schöpfung offenbart ihren Schöpfer. Ein Geschöpf hebt sich von den anderen ab – nämlich wir Menschen. Wir partizipieren an der Vernunft und können so Wirklichkeit verstehen, das heißt, menschliches Denken korrespondiert mit Wirklichkeit. Freilich irren wir auch und kommen nur zu vorläufigen Erkenntnissen und vielen hypothetischen Wahrheiten. Des Weiteren verfügt dieser vernunftbegabte Mensch über Freiheit und Handlungsspielraum. Ein moralisches Subjekt ist er. Diese Schöpfung, dieses Universum, ist zwar gut, aber nicht perfekt. Sie erwartet ihre Vollendung.

Das Axiom, Wirklichkeit als die Kreatur eines Schöpfers zu verstehen, löst zwar einige durchaus philosophische Probleme, handelt sich allerdings auch neue ein und provoziert den Mainstream gehörig. Ein Christ muss im Wort Gottes und im Glaubensbekenntnis einige Dinge zur Kenntnis nehmen, die ihm wahrscheinlich nicht schmecken, ihn irritieren und vielleicht sogar ärgern.

1. Die Welt sei nicht perfekt. Defekte wie Schuld, Sünde, Begehren des Schlechten kennzeichnen die Logik der Welt. Die Welt könne nicht halten, was sie verspricht, und darum dürfe sich ein Christ nicht an sie verlieren. 2. Mein Leben ende nicht mit dem Tod, es gehe viel weiter, als ich sehen kann. 3. Ich gehöre mir nicht selbst, und dürfe mit mir darum nicht machen, was ich will. 4. Glück. Wenn es so etwas wie einen Bliss-Point (Sättigungspunkt) gibt, dann stellen sich die Fragen: Was sättigt mich wirklich? Wo kommt mein Begehren zur Ruhe? Was füllt meine Seele vollständig aus? Einige Philosophen wie Aristoteles sind der Meinung, durch ein gutes, tugendhaftes Leben erwirke ich mir mein Glück 214


Philosophieren als Christ

selbst. Darum haben heute Themen wie Lebensqualität und Lebenskunst Konjunktur. Ein Christ wird mit einer anderen Position konfrontiert: Dein Glück, die Erfüllung deines Lebens, kannst du nicht selbst machen, es wird dir geschenkt. Nur Gott – dein Schöpfer und Erlöser – könne deine Seele so ausfüllen, dass alles Verlangen gesättigt ist.

Diese Liste der Ärgernisse oder Kränkungen unseres Selbstwertgefühls lässt sich bestimmt weiterführen.

Philosophiert ein Christ, gerät er immer in die Spannung von Glaube und Vernunft. Das Wort Gottes, insofern er es als Wahrheit glaubt, nötigt ihn und lässt ihn auflaufen. Allerdings schützt ihn sein Glaube vor Reduktionismus, vor Ausblendungen und billiger Harmonisierung. Bei allem Erkenntnisgewinn und Fortschritt bleibt Wirklichkeit ein Geheimnis. Vor allem aber schützt ihn sein Glaube vor Resignation. „Christliches Philosophieren ist komplizierter, weil es sich verbietet, dadurch zu ‚einleuchtenden‘ Formulierungen kommen zu wollen, dass man von Wirklichkeiten absieht, dass man auswählt, dass man weglässt; es, in fruchtbare Beunruhigung versetzt durch den Hinblick auf die geoffenbarten Wahrheiten, gezwungen wird, großräumiger zu denken, vor allem: sich nicht zufrieden zu geben mit der Flachheit rationalistischer Harmonismen. Es ist dieses Aufschäumen des Geistes beim Aufprall auf den Fels der göttlichen Wahrheit, wodurch christliches Philosophieren sich unterscheidet. Es ist also eine Bereicherung an Weltgehalt, die christliches Philosophieren dadurch empfängt, dass es an den vorausliegenden Kontrapunkt der Christus-Wahrheit gebunden ist.“ 72

Josef Pieper, Werke in acht Bänden, Bd. 3. Schriften zum Philosophiebegriff, hrsg. von Berthold Wald, Hamburg 1995, S. 67.

72

215


Scham Einerseits ist die Bemerkung „Das ist ein schamloser Mensch.“ nicht gerade ein Kompliment, und andererseits hört jemand, der sich gerade schämt, die Bemerkung, dass er verklemmt sei. Was hat es nun mit der Scham auf sich? Ein unangenehmes Gefühl ist sie, und wir suchen nicht gerade Situationen, in denen wir uns schämen, weil dieses Gefühl peinlich und unangenehm ist. Wir empfinden uns ertappt und bloßgestellt. Es bleibt ja nicht einfach bei dem Gefühl, sondern die Schamesröte steigt ins Gesicht, zumindest in die Ohrläppchen. Seele und Leib korrespondieren in der Scham wunderbar miteinander, denn eine leibliche Verletzung löst sie nicht aus, sondern irgendetwas Seelisches. Nun kann man nach dem seelischen Grund fragen und sich streiten, ob eine Grenzüberschreitung oder Angst vor dem Versagen die Scham psychisch auslöst. Im Symposion Platons hält Phaidros als Erster eine Rede (178a – 180b) über den Eros und behauptet völlig überraschend: „Liebe macht, dass wir uns schämen können.“ Phaidros hat mit dem „sich schämen können“ ein Kriterium für gut und böse gefunden: Wenn ich mich schäme, stelle ich emotional fest, dass ich etwas „Schlechtes“ und „Hässliches“ tue. Zumindest teilt mir das Schamgefühl mit, dass das, was ich tue oder getan habe, nicht zu mir passt oder ich nicht wirklich ich bin. Ob das nun eine kulturell bedingte Normverletzung oder eine Dissonanz des Selbstwertgefühls ist, kann man freilich diskutieren.

Phaidros fügt noch eine Beobachtung an: Vor Menschen, die ich liebe, schäme ich mich intensiver, als vor Menschen, die mir gleichgültig sind. Irgendeinen Menschen zu betrügen oder jemandem nicht zu helfen, fällt viel leichter, als einen Freund finanziell über den Tisch zu ziehen oder ihn im Regen stehen zu lassen, denn dann schämen wir uns. Ihren Grund habe die Scham in der Liebe, und darum endet Phaidros knallhart: „Wer nicht liebt, taugt nichts als Mensch.“

216


Scham

Die Scham zeigt als Gefühl eine Grenzverletzung oder -überschreitung an. Umgangssprachlich nennen wir das sogar „Schamgrenze“. Damit haben Menschen einen moralischen Navigator, weil die Scham schlechte Handlungen markiert. Scham liefert ein moralisches Kriterium – freilich ein negatives: Lass das, tu das nicht wieder! Freilich kann man sich das Schamgefühl abtrainieren oder es kommt aufgrund einer bestimmten Lebensweise abhanden. Selbst wenn alle Tabus abhandengekommen sind, lobt die deutsche Umgangssprache das Fehlen der Scham nicht und spricht vom „schamlosen Menschen“ oder „Beim Geldverdienen verliert er jegliche Scham.“ Liebe, und das scheint mir Phaidros richtig zu sehen, steigert die Sensibilität für andere Menschen, allerdings um den Preis der Verletzbarkeit – nämlich der Scham.

217


Schicksal – gibt es das? Dass wir durch unsere Lebensführung selbst zum Schicksal werden, ist nicht so schwer einzusehen. „Mit Fünfzig hat jeder das Gesicht, was er verdient.“ Das ist Selbstverwirklichung pur. Doch mit dem Blick auf Ödipus drängt sich die beunruhigende Frage auf:

Können wir unserem Schicksal entrinnen?

Dass wir leben, haben wir uns nicht ausgesucht – auch nicht den Ort und Zeitpunkt unserer Geburt, die Eltern und die anderen auch nicht. Das sind einfach Fakten, und denen Widerstand zu leisten, führt zu nichts. Johannes Tauler und auch Thomas Müntzer empfehlen hier Gelassenheit, von seinem Willen zu lassen.

„Das Pferd macht den Mist in dem Stall, und obgleich der Mist Unsauberkeit und üblen Geruch an sich hat, so zieht doch dasselbe Pferd denselben Mist mit großer Mühe auf das Feld; und daraus wächst der edle schöne Weizen und der edle süße Wein, der niemals so wüchse, wäre der Mist nicht da. Nun, dein Mist, das sind deine eigenen Mängel, die du nicht beseitigen, nicht überwinden noch ablegen kannst, die trage mit Mühe und Fleiß auf den Acker des liebreichen Willen Gottes in rechter Gelassenheit deiner selbst. Streue deinen Mist auf dieses edle Feld, daraus sprießt ohne allen Zweifel in demütiger Gelassenheit edle, wonnige Frucht auf.“ 73

Gutgesagt. Fatalismus? Ödipus hörte von seinem Orakel und, indem er diesem Schicksal entfliehen wollte, erfüllte er es genau. Diese Frage bleibt offen.

Die Frage nach dem Schicksal bewegt selbst aufgeklärte und naturwissenschaftlich denkende Menschen und muss nicht gleich in die esoterische Ecke gestellt werden. Wir gehen ja davon aus, dass wir in einem Kosmos – also in einer schönen und geordneten Welt – und nicht im Chaos leben. So taucht irgendwann die Frage nach meinem persönli73

Johannes Tauler, Predigten, Freiburg 1961, S. 43f. 218


Schicksal – gibt es das?

chen Leben im Kontext des Universums und der Weltgeschichte auf. Wenn jemand Wissenschaft betreibt, nimmt er unter der Hand an, dass es Naturgesetze und Entwicklungsprozesse gibt, dass es in der Welt mit rechten Dingen zugeht und dass wir einiges erkennen und verstehen können.

Wenn dem so ist, dass wir in einer schönen und geordneten Welt leben, stellen sich doch die Fragen: Was ist mit mir? Wie bin ich in dem Ganzen verwoben? Werde auch ich – wie die Elemente durch Naturgesetze – durch ein Schicksal, oder wie man das nennen mag, geführt? Es macht doch einen Unterschied, ob jemand in Hamburg oder Nairobi geboren wird, ob jemand 2019 oder 1192 das Licht der Welt erblickt, ob eine Person als Mädchen in Indien oder in Italien zur Welt kommt, ob man Geschwister hat oder als Einzelkind aufwächst – und so weiter und so fort. Solche Fragen mit Zufall zu beantworten, befriedigt nicht wirklich. Brisant wird es, wenn sogenannte Schicksalsschläge uns erreichen. Zum Beispiel, wenn lieb gewonnene Menschen sterben, und wir dann verlassen dastehen. Oder: Eine dumme, tödliche Krankheit wird diagnostiziert, obwohl man sich gesund ernährt und sportlich bewegt. Dann schreit uns die Frage nach dem Schicksal an, auch wenn wir sie nicht auf dem Zettel haben. So wenig wie wir die Folgen unserer Handlungen kennen können, so wenig haben wir unsere Zukunft in der Hand. Wie reagieren wir? Stimmen wir unserem Schicksal zu? Nehmen wir es in aller Gelassenheit an? Ergeben wir uns? Wir können uns ja auch empören und gegen das Schicksal ankämpfen.

Meines Erachtens ist Gelassenheit die einzig sinnvolle Haltung gegenüber dem Schicksal, denn was ich nicht ändern kann, geschieht ja sowieso. Ob ich das auch noch so locker sagen kann, wenn ich scheitere oder der Tod auf mich zukommt, weiß ich nicht. Die Philosophen der Stoa, zum Beispiel Seneca, formulieren es so:

"Es kommt nicht darauf an, was man erträgt, sondern wie man es erträgt."

219


Schicksal – gibt es das?

Sie empfehlen also eine ganz bestimmte Haltung. In innerer Freiheit und stoischer Gelassenheit mögen wir unser Schicksal annehmen und es bejahen. Auch wenn diese Auskunft sperrig und nicht gerade zeitgemäß ist, und wenn ich ihr nicht gleich zustimmen will, scheint sie mir plausibel und vernünftig zu sein. Denn wie sollte ich mit mir selbst, mit meinen Mitmenschen und der Welt in Freundschaft leben können, wenn ich nicht in Freundschaft mit meinem Schicksal lebe?

Leichter fällt die gelassene Annahme des Schicksals, wenn ich das Vertrauen aufbringen kann, dass sich alles – und auch mein Leben – zu einem sinnvollen Ganzen fügen wird, obwohl ich das augenblicklich nicht erkennen kann. Kann ich den Lauf der Dinge und auch mein mögliches Scheitern akzeptieren? Kann ich die Welt als sinnvolle Wirklichkeit bejahen? Kann ich mich in aller Gelassenheit in ein bejahendes Verhältnis zur unfertigen Wirklichkeit bringen und diese Haltung auch leben?

220


Die Schönheit Gottes Die altrussische Nestorchronik erzählt, wie um 980 die Kiewer Rus eine Religion annehmen will und nicht weiß welche.

„Der Großfürst Wladimir schiebt also die Entscheidung hinaus und berät sich mit seinen Bojaren und den Ältesten der Städte. Die geben ihm Rat, er solle eine Gesandtschaft herumschicken und den Glauben der einzelnen Völker an Ort und Stelle erkunden lassen. Sie fahren zunächst zu den islamischen Bulgaren an die Wolga; dann zu den Deutschen nach Westeuropa und von dort zu den Griechen nach Konstantinopel. Nach Kiew zurückgekehrt berichten sie von ihren Erfahrungen. Bei den Mohammedanern fühlen sie sich abgestoßen: ‚Es ist keine Freude bei ihnen, sondern Trauer und großer Gestank. Nichts Gutes ist ihr Gesetz.‘ Bei den Deutschen ist es nicht viel besser. ‚Wir sahen sie viele Gottesdienste halten in den Kirchen, aber keinerlei Schönheit haben wir gesehen.‘ Aber über den Gottesdienst der Griechen sagen sie: ‚Wir wissen nicht, ob wir im Himmel waren oder auf der Erde. Denn einen solchen Anblick und eine solche Schönheit gibt es nicht auf Erden. Dort weilt Gott bei den Menschen, und ihr Gottesdienst ist besser als der aller anderen Länder, denn wir können diese Schönheit nicht vergessen.‘“ 74

Was schlug die Botschaften in den Bann? Was affizierte sie? Was ist Schönheit? Ein sokratischer Dialog mit Studierenden zur Frage, wie wir Schönheit erleben und was Schönheit ist, brachte folgende Elemente:

Eine sinnliche Wahrnehmung löst ein Erleben der Schönheit aus. Ganz plötzlich erreicht uns dieses Erlebnis und wir sind dann ganz im Hier und Jetzt. „Die Schönheit kommt zu mir.“ Sprachlos und ohne Worte stehen wir da. Alle Gedanken sind weg und ein Geheimnis tritt in Erscheinung. Welche Haltung nehme ich ein? Ich bin ganz offen und aufmerksam, ich bin ganz Auge, ganz Ohr. Was mache ich dabei? Ich nehme wahr, halte inne, schweige und staune einfach. Welche Wirkungen 74

Ludolf Müller, Die Taufe Russlands, München 1987, S. 98.99. 221


Die Schönheit Gottes

hat dieses Erleben der Schönheit? Freude – und zwar Leichtigkeit, Verbundenheit, Begeisterung bis zum Wahnsinn, eben überschäumende Freude. Tränen treten in die Augen, im Inneren wird etwas berührt und ich verspüre eine Resonanz, eine Bereicherung, Ruhe und Einklang mit mir selbst. Erstaunlicherweise verspürten die Studierenden im Schönheitserlebnis zwei Botschaften „Das ist Leben“ und „Ich bin Teil eines Ganzen“. Ist das die Schönheit Gottes?

Die Orthodoxie – und insbesondere die russische Orthodoxie – legt großen Wert auf Schönheit in der Liturgie und in der Ikone, weil die Schönheit ein Weg der Gotteserkenntnis ist. In der Ikone schaut mich ein Antlitz an und durch diesen Anblick werde ich affiziert; auch ich schaue zurück. Diese Schau ist der Weg der Gotteserkenntnis.

Platon berichtet im Symposion von einer Unterweisung des Sokrates, die er als junger Mann von der Priesterin Diotima erfuhr. Am Ende der Unterweisung fragte Diotima „Wofür lohnt es sich zu leben?“ Sokrates wusste keine Antwort. „Das Schöne selbst zu schauen“, lautet ihre Antwort. Kein Wunder also, wenn Fjodor Dostojewskij im Idioten behauptet „Schönheit wird die Welt erlösen“.

222


Schönheit Bei Thomas von Aquin habe ich einen interessanten Gedanken 75 gefunden. Zur Schönheit gehören vier Aspekte, von denen drei am schönen Gegenstand hängen, und ein Aspekt am Betrachter des schönen Gegenstandes.

1. Der schöne Gegenstand muss stimmig sein, das heißt die einzelnen Teile beziehen sich proportional aufeinander und ergeben ein stimmiges Ganzes (debitas proportio sive consonantia). 2. Der schöne Gegenstand muss Ausstrahlung haben, das heißt ein gewisser Glanz geht von ihm aus (claritas). 3. Der schöne Gegenstand ist so vollkommen bzw. gut wie möglich. Das ganze Potential ist realisiert (perfectio). 4. Der Betrachter muss mit sich und seinen Leidenschaften sowie Interessen im Reinen sein (temperantia), ein „reines Herz“ haben, dann kann er Schönes wahrnehmen.

Die Schönheit rückt unsere Aufmerksamkeit zurecht, weil wir einfach nicht wegsehen können, und wir kommen in Kontakt mit dem Guten. So wie die Sinne, Schönes wahrnehmen wollen, so sucht unser Wollen – im Grunde genommen – Gutes und unser Intellekt Wahrheit.

Ganz sympathisch ist an der Schönheit, dass Schönes uns Freude bereitet und Energie entfacht. Warum sollten wir uns das nicht gefallen lassen? Für Thomas von Aquin ist klar, was Schönheit ist: Jesus Christus.

75

Siehe: Thomas von Aquin, Summa theologica, I 39, 8 respondeo. 223


Seele Seele scheint gegenwärtig wieder ein Thema zu sein, und darum möchte ich die antike und mittelalterliche Lehre präsentieren, denn diese irritiert. Das alte Weltbild differenziert den Kosmos in tote und lebendige Gegenstände. Mit dem Blick auf Lebendiges drängt sich die Frage auf:

Wie kommt es, dass sich dieses Ding selbst bewegt, wogegen ich das andere Dinge erst anstoßen muss, damit es sich bewegt? Was heißt es, ein lebendiges Ding zu sein?

Die Antwort auf die Frage nach dem Leben heißt „Seele“. „Die Seele ist Ursache und ‚Arche‘ des lebendigen Leibes.“ Das Wort Ursache versteht sich von selbst. Mit dem Wort „Arche“ ist es schwieriger, weil es „Anfang“, „das Herrschende“ und „Prinzip“ heißt. Die Seele bringt Bewegung in einen Körper, macht ihn lebendig und dieser Körper kann sich darum ernähren, wachsen und fortpflanzen. Einige Körper können sogar etwas wahrnehmen, Vorstellungen von etwas anderem haben und es erstreben, sie können sich von einem Ort zum anderen bewegen. Schließlich können sich einige Körper Gedanken machen, Urteile fällen und sich Ziele setzen, um diese zu verwirklichen. Die Seele ist das Prinzip der Lebewesen. Sie macht aus einem toten Körper etwas. Konkret gesagt heißt das:

Auch die Pflanzen, so Aristoteles, sind beseelt, denn sie nehmen anorganische Stoffe auf, verwandeln diese mittels der Fotosynthese in organische Stoffe. Sie ernähren sich. Dabei lassen es Pflanzen jedoch nicht bewenden, denn sie setzen alle Energie in ihren Samen, weil sie sich fortpflanzen (das deutsche Wort sagt es schön) wollen und Nachkommen erstreben. Sie wollen nicht nur jetzt, sondern auch künftig lebendig bleiben.

224


Seele

Den Tieren eine Seele zuzugestehen fällt uns schon leichter (auch wenn wir bei einigen wie zum Beispiel bei Spinnen und Mücken Ausnahmen machen). Als Lebewesen haben auch die Tiere jenen nährenden und fortpflanzenden Aspekt. Bei den Tieren kommen aber noch weitere Bewegungen hinzu: Sie nehmen andere Dinge wahr und entwickeln Vorstellungen von ihnen. Zumindest haben Raubtiere ein klares Opferprofil von ihrer Beute. Aber auch die Gazelle nimmt war, ob der Löwe hungrig oder satt ist, ob sie schnell weglaufen soll oder in aller Ruhe weiter Gras fressen kann. Tiere nehmen Wirklichkeit nicht nur materiell als Nahrung auf, die sie in der Verdauung verwandeln und den Rest ausscheiden; Tiere verfügen über Wahrnehmungsorgane, nehmen Wirklichkeit im Tasten, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen auf und entwickeln Vorstellungen. In ihrer Bewegung werden Tiere von Lust und Schmerz navigiert und haben eine Begierde: Sie streben nach Lust. Allerdings erleiden Tiere dieses Streben nach Lust eher passiv.

225


Seele Menschen sind Lebewesen und darum stellten (erstaunlicherweise) die antiken und mittelalterlichen Philosophen den Menschen als „das Lebewesen, welches das Wort hat“ in die biologische Reihe der anderen Lebewesen. In dieser Hinsicht sind Menschen nichts anderes als Pflanzen und Tiere, denn sie ernähren sich, „pflanzen“ sich fort, nehmen mit ihren Sinnen wahr, bewegen sich von einem Ort zum anderen und streben „tierisch“ nach Lust. Was die menschliche Seele zur menschlichen macht ist schlicht und einfach ihre Möglichkeit, sich selbst und anderes in Worte zu fassen. Menschen nehmen Wirklichkeit nicht nur materiell und sinnlich auf, sie können verstehen, erkennen und urteilen – sie können Wirklichkeit geistig aufnehmen und genau dadurch aktiv werden. Die geistbegabte Seele versetzt uns Menschen in die Lage, nicht zwangsläufig von der Selbst- und Arterhaltung navigiert zu werden, sondern uns frei Ziele zu wählen. Menschen können handeln und müssen nicht nur reagieren.

Lebewesen sind prinzipiell beseelt. Ihre Seele gibt ihnen nicht nur Form und Gestalt, sondern gibt ihnen auch ein Ziel, denn alles Lebendige will einfach leben oder am Leben bleiben.

226


Skepsis Mit dem Realismus und Idealismus lernten wir zwei dogmatische Positionen kennen. Dogmatiker legen eine Lehre (doxa) vor, die sie als Wahrheit ausgeben: „Ich kenne die Wahrheit.“ Dem wiederspricht der Agnostiker und sagt: „Ich erkenne keine Wahrheit.“ Dazwischen befindet sich der Skeptiker, der noch sucht und forscht. Er hält sich mit wahrheitsfähigen Aussagen zurück. Das Wort Skepsis kommt vom Verb „skopeo“ – ich suche, ich untersuche, ich prüfe.

Als metaphysische Position differenziert der Skeptiker Wirklichkeit in das Ding an sich (noumenon) und dessen Erscheinung (phainomenon). Das Ding an sich, also „was etwas ist“, kann der Skeptiker nicht erreichen, sondern nur dessen Erscheinung, also „wie es wirkt“. Das klassische Beispiel dafür ist der Honig. Ob der Honig süß ist, kann man nicht sagen, sondern nur, dass er einem gesunden Menschen süß schmeckt; einem Fieberkranken schmeckt der Honig nämlich bitter. Die Phänomene sagen nichts über das Wesen eines Dings aus, sondern nur wie das Ding auf einen Menschen wirkt und es ihm erscheint. Die Süße des Honigs sagt etwas über eine Empfindung, aber nichts über den Hönig aus. Was wir von den Dingen haben, sind unsere Eindrücke – nicht mehr und auch nicht weniger. Der Skeptiker macht noch eine Entdeckung. Das Ringen um Wahrheit versetzt die Seele in Unruhe, Verwirrung und Aufgeregtheit. Wenn man sich jedoch eines Urteils enthält, dann ist der ganze Tumult zu Ende und Seelenruhe stellt sich ein. Warum also die Jagd nach Wahrheit, wenn sie nur beunruhigt und Irrtümer beschert? Also forscht der Skeptiker gewissenhaft und enthält sich einer Aussage. Diese Strategie schenkt Gelassenheit.

Nun setzt der Skeptiker seine intellektuelle Technik an. Er sammelt akribisch Argumente und Gegenargumente, um die Gleichwertigkeit der sich widersprechenden Positionen zu dokumentieren. Für jedes Argument lasse sich auch ein Gegenargument finden, also ist die Enthaltung eines Urteils das einzig Vernünftige 227


Skepsis

Ob man eine weitere Technik des Skeptikers sophistische Rhetorik nennen kann, sei dahingestellt. Er präsentiert Fehler und Täuschungen der sinnlichen Wahrnehmung, wie das auch der moderne Konstruktivismus macht. Drückt man auf den Augapfel, dann sieht man den Baumstamm nicht mehr gerade und Lichtpunkte tauchen auf.

An dieser Stelle verweist der Skeptiker auf die Relativität der menschlichen Vernunft, die eben nicht bei allen Menschen gleich ist, sondern kulturell geprägt und bedingt wird und darum nicht als wissenschaftliches Fundament dienen kann. Was man also einen rationalen Beweis nennt, sei wahrscheinlich nichts anderes als eine intellektuelle Gewohnheit. Die Vernunft ist nur eine individuelle Äußerung, die sogar biografisch im Fluss ist, also sich verändert und auch von Mensch zu Mensch anders ausfällt.

Nun muss auch der Skeptiker gelegentlich handeln und dazu braucht auch er Urteile, oder er wird nie handeln. Welche Kriterien hat er? Die Lebenserfahrung nimmt er pragmatisch zu Hilfe. Sie gewinnt er aus den Naturgesetzen, aus den Bedürfnissen, aus den Konventionen, die in Gesetzen und anerkannten Gewohnheiten zu finden sind, und aus der Unterweisung in Techniken. Anders gesagt: Im Handeln, in der Praxis, hält sich der Skeptiker konservativ an die anderen, schaut nach links und rechts, was sie machen, und das wird wohl schon richtig sein. Der Skeptiker wird zum Konventionalisten oder Konservativen. Sicherlich ist die Skepsis die schärfste Waffe der Philosophie und ein wirksames Medikament gegen die Krankheit Dogmatismus. Doch muss das Medikament nach der Genesung von der Krankheit ausgeschieden werden, oder man erliegt einer Medikamentenvergiftung.

228


Sophistische Rhetorik Im Dialog Gorgias nimmt Platon das Verhältnis von Wortgebraucht und Machtausübung in den Blick. Eine Politik, die Gerechtigkeit bzw. das Gemeinwohl aus den Augen verliert, bringt den sophistischen Wortkünstler hervor und stellt ihn auf die Bühne der Öffentlichkeit. Freilich wird der Sophist seine wahre Intention verbergen und die Phrasendreschmaschine in Gang setzen. Von Verantwortung, Gerechtigkeitslücken usw. wird er sprechen, wenn er an Macht und Geld interessiert ist. Gorgias wird durch Sokrates genötigt, seine wahre Intention preiszugeben. „Freiheit für mich und Macht über andere.“ 76

Die Öffentlichkeit liebt ihn, denn seine schmeichelnde77 Rede tut ihr unheimlich gut, und er führt sie auf seine Pfade. Wie funktioniert die sophistische Rede? Was macht er? Der Sophist

trennt das Wort von der Wirklichkeit, zerstört den Mitteilungscharakter des Wortes und der Rede, macht das Wort zum reinen Machtmittel, baut eine Schein-Wirklichkeit auf und wird dadurch schließlich zum betrogenen Betrüger. o Der Hörer wird um den Gehalt des Wortes gebracht. o Der Hörer wird zum Objekt der Manipulation gemacht. o o o o

Vom Sophisten, so Platon, können wir jedoch lernen: Auch das Gute, will gut gesagt sein.

„Gorgias: Das, was, lieber Sokrates, in Wahrheit das größte Gut ist und zugleich die persönliche Freiheit für die Menschen erwirkt und die Herrschaft über andere jedem in seinem Staate.“ Platon, Gorgias 452d. 77 Die schlimmste Lüge ist die Schmeichelei, denn diese hören wir gern und wehren uns nicht dagegen. 76

229


Spielwitz Seit einigen Jahren erlebt eine mittelalterliche Vorstellung vom Menschen eine Auferstehung, die nahezu schon Mode geworden ist: der spielende Mensch „homo ludens“. An vielen Ecken hört man, dass Kinder spielend lernen sollen, dass in Unternehmen kreative Lösungen spielend gefunden werden und dass Entscheidungen in Spielsituationen generiert werden. Wie kommt es, dass der Mensch als „homo ludens“ wiederentdeckt wird? Darf man überhaupt so unernst an den Menschen herangehen? Als bekennender Spieler unternehme ich es.

Bei einem guten Spiel, wie zum Beispiel beim Skat, werden die Karten ausgeteilt, und welche Karten man auf die Hand bekommt, unterliegt dem Zufall. Diese Zufälligkeit der Chancen akzeptieren die Spieler. Darüber hinaus hat das Spiel feste Regeln, an die sich jeder Spieler bindet, also akzeptiert. Im Spiel gilt es nun, das Beste aus seinen Karten zu machen, das heißt mit Aufmerksamkeit und einer gewissen Logik – auf Sächsisch „mit Spielwitz“ – die Karten zu spielen. Mit der Zeit lernt der Spieler durch Übung und Erfahrung, nicht nur seine Karten im Blick zu haben und seine Logik zu verfolgen, sondern auf das Spiel der anderen einzugehen, sich in ihre Lage zu versetzen und ihre Gedanken zu lesen. Bemerkenswert ist auch, dass selbst ein verlorenes Spiel noch Freude bereiten kann. Wenn dieser und jener Zug gelingt, wenn man sich mit den anderen versteht und nicht „schwarz“ gespielt – also gedemütigt – wurde, kann das Spiel immer noch Freude machen. Sieg oder Gewinn sind nicht unbedingt der Lohn des Spiels, sondern die Freude am Spielen; das heißt, Sinn und Zweck des Spiels liegen im Spielen selbst.

Nimmt man nun so ein Spiel als Metapher für das Leben eines Menschen, dann lassen sich einige Parallelen erkennen. Wir Menschen werden geboren und können uns weder die Eltern noch den Geburtsort oder den Zeitpunkt der Geburt und vieles andere aussuchen. Mit diesen Fakten, Umständen und Chancen können wir leben, sie akzeptieren und aus ihnen etwas Sinnvolles machen. Ob wir gewinnen oder verlieren, ob wir auf dem Treppchen stehen oder das Nachsehen ha230


Spielwitz

ben, steht auf einem anderen Blatt geschrieben, und es ist müßig, sich über schlechte Karten und das Glück der anderen zu beschweren. Einerseits spielen die Umstände, Chancen und ungleich verteilte Talente eine Rolle, andererseits aber auch die persönliche Lebensführung, die sogar aus einer scheinbaren Benachteiligung eine Stärke machen kann. Das Spiel geht kaputt oder wird zur Spielsucht, wie das Dostojewskij sehr anschaulich im Roman „Der Spieler“ schildert, wenn man immer gewinnen will und nur den Sieg im Sinn hat. Diese Begierde saugt alle Lebensenergie aus dem Spieler und hinterlässt ihn leer wie eine Hülse. Derjenige, der immer im Spiel gewinnen will, sucht Erfüllung, findet aber nur Erschöpfung. Langfristig wird er auch verlieren. Das Glück liegt nicht im Gewinn, denn dieser suggeriert nur Glück, sondern im Spielen, in einer Tätigkeit.

Kann man diese Einsicht auch auf unser Leben übertragen? Was macht das Leben lebenswert? Worin liegt der Sinn des Lebens? Einige Angebote kann man ja mal durchgehen und mit Spielwitz prüfen: das Vermächtnis, der Fensterplatz im Himmel, die zahlreiche Nachkommenschaft, das Nicht-Vergessenwerden. Diese Angebote schmecken nach Gewinn, sind also Surrogate und haben Suchtpotential. Was macht das Leben lebenswert? Ich vermute irgendeine Tätigkeit.

231


Sprechen Neben Pflanzen und Tieren sind auch Menschen beseelte Lebewesen. Über die Art von Lebendigkeit der Pflanzen und Tiere hinaus, besitzen Menschen eine besondere Form der Lebendigkeit: Menschen sind „Lebewesen, welche das Wort haben“, wie Aristoteles es formuliert; sie können sprechen, sie können mit anderen Menschen sprechen. Was heißt das? Interessanterweise entdeckten historische Anthropologen, die sich mit der Frage beschäftigen, ab wann sie bei einem archäologischen Fund von einem Menschen (homo sapiens) sprechen können, dass die Entwicklung des Kehlkopfes mit dem Knochenwulst über den Augen korrespondiert. Je größer und differenzierter der Kehlkopf ist, desto mehr geht der Knochenwulst über den Augen zurück. Wie kann man das verstehen bzw. interpretieren?

Der Kehlkopf entwickelte sich differenzierter und opulenter durch den Wortgebrauch, durch Sprechen und vielleicht auch durch Singen. Durch diese Möglichkeit der Kommunikation können Menschen konkrete Dinge, Gefühle und Situationen ins Wort heben und so anderen erklären. Bedrohungen und Angst kommunizieren Menschen verbal und brauchen fortan Konflikte nicht mehr nur mit dem Knüppel zu lösen. Darum konnte vielleicht auch der biologische Schutz des empfindlichen Organs Auge reduziert werden: Der kräftige Knochenwulst geht zurück, die Stirn wird höher und der Kehlkopf bekommt zeitgleich mehr Raum, sodass vielfältige Laute gebildet werden können. Will sagen: Durch das „Wort haben“ der Menschen, können sie handfeste Aggressionen deutlich reduzieren. Ohne Sprache, die uns die biologische Natur als Möglichkeit in die Wiege legt und die wir erst durch Sprechen als menschliche, kulturelle Wirklichkeit realisieren, können wir nicht Mensch sein. Mensch-Sein besteht wesentlich im Wort-Gebrauch, eben im Sprechen.

Kaiser Friedrich II. machte im 13. Jahrhundert ein Experiment, und seitdem ist klar, dass wir Menschen ohne Sprechen, ohne angespro232


Sprechen

chen zu werden, nicht einmal biologisch überleben können. Zwei Säuglinge isolierte er von ihren Müttern und ließ sie von Ammen ohne Ansprache „versorgen“, weil er die Ursprache (die Sprache im Paradies) herausfinden wollte, denn diese vermutete er in den ersten Worten der kleinen Kinder. Doch diese hörte er niemals, denn die Säuglinge starben, gingen ein. Was bedeutet das? Ohne die kulturelle Leistung des Sprechens, können wir Menschen nicht einmal biologisch am Leben bleiben. Menschen können nicht nur sprechen, sie müssen sprechen; und dieses Sprechen ist nicht einfach nur Informationsaustausch. Es ermöglicht Verstehen, Vermitteln und Ordnen.

„Denn nichts, meinen wir, schafft die Natur vergeblich. Über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch. Die Stimme nun bedeutet schon ein Anzeichen von Leid und Freud, daher steht sie auch den anderen Lebewesen zu Gebote; ihre Natur ist nämlich bis dahin gelangt, dass sie über Wahrnehmung von Leid und Freud verfügen und das den anderen auch anzeigen können. Doch die Sprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und in der Folge davon das Gerechte und das Ungerechte. Denn das ist im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, dass nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Worte verfügen. Doch die Gemeinschaft mit diesen Worten schafft Haus und Staat.“78

Schöner und präziser kann man nicht sagen, dass Sprechen den Menschen zum Mensch macht.

78

Aristoteles. Politik 1253a.

233


Staunen Der Morgen hüllt sich nicht in graue Dunkelheit, sondern zeigt sich hell und klar. Übernacht schneite es. Der ganze Dreck ist weg. Die Landschaft glitzert wie verzaubert. Plötzlich sieht alles anders aus, unerwartet und ungewohnt. Da stehe ich mit offenem Mund da und habe völlig vergessen, was ich eigentlich wollte. Herausgerissen aus meinen Vorhaben werde ich überrascht, angezogen und kann erst einmal nur die Helligkeit und Verzauberung des Gartens wahrnehmen. Da stehe ich und staune, obwohl doch alles ganz rational erklärbar ist, denn es ist ja schließlich Dezember und da kommt ein klarer, verschneiter Morgen schon mal vor. Vielleicht gelingt es nach einer Weile, wieder einen klaren Gedanken zu fassen und zu fragen, was denn passiert sei. Unerwartet und plötzlich erreicht mich eine Wirklichkeit, die den gewohnten Rahmen sprengt und einfach nur wunderbar vor mir liegt. Egal, ob diese Wirklichkeit mich erfreut oder belastet, wirkt sie auf mich ein und erreicht nicht nur meine Sinne, sondern auch das Herz und den Verstand. Sie löst Emotionen aus, affiziert die Aufmerksamkeit und provoziert Fragen. Staunen bringt uns in Bewegung, wenn ich mal das konzentrierte Wahrnehmen mit dazu zählen darf.

Selbst wenn uns erwachsene Menschen nicht mehr viel vom Hocker haut, beneiden wir doch Kinder, die über vieles staunen und dabei sogar vor Freude hüpfen. Bisweilen irritiert das naive, kindische Staunen uns kluge Erwachsene. Die Welt haben wir uns in Theorien zurechtgelegt und mit Gewohnheiten mehr oder weniger behaglich eingerichtet.

Warum sollten wir dann die staunenden Kinder beneiden?

Vielleicht rührt das von der Beobachtung her, dass Menschen, die nicht mehr staunen können, erstarrt und verholzt wirken. Mit der Welt seien sie fix und fertig, so erscheinen sie uns, und als Gesprächspartner tau234


Staunen

gen sie auch nicht so recht, weil sie ja sowieso schon alles wissen und ihnen trotzdem etwas fehlt.

Staunen scheint nicht nur eine Tätigkeit zu sein, sondern auch eine innere, persönliche Haltung. Kann ich Impulse aufnehmen? Kann ich mich einmal selbst vergessen? Kann ich Interessen nicht nur haben, sondern auch welche entwickeln? Kann ich Überraschungen, vielleicht auch Erschütterungen zulassen? Dieses Können fällt ja nicht vom Himmel. Im Staunen sind wir ganz bei der Wirklichkeit – ganz, das heißt ganz Mensch mit Sinnen, Herz und Verstand. Warum schreibe ich über das Staunen? Staunen sei der Anfang der Philosophie, so heißt es, und wer nicht staunen könne, könne auch nicht philosophieren.

235


Subsidiarität In politischen Diskussionen, insbesondere wenn es um Zuständigkeiten in der europäischen Union oder um Verteilungsfragen im Sozialstaat geht, taucht gelegentlich das Wort Subsidiarität auf. In der Sache geht es darum, in welcher Zuständigkeit jemandem geholfen werden soll. Weil es 1931 zum ersten Mal von Oswald von Nell-Breuning ausformuliert wurde, lasse ich ihn zu Wort kommen.

„Für dieses Prinzip hat der Volksmund eine zwar scherzhaft klingende, dafür aber sehr anschauliche Wendung: ‚die Kirche nicht aus dem Dorf tragen‘. Was im Dorf, in der Ortsgemeinde geleistet werden kann, das trage man nicht an das große öffentliche Gemeinwesen Staat heran; was im engeren Kreis der Familie erledigt werden kann, damit befasse man nicht die Öffentlichkeit; was man selbst tun kann, damit behellige man nicht andere. Das sind praktische Anwendungsfällte, aus denen unmittelbar abzulesen ist, worum es beim Subsidiaritätsprinzip geht. Man kann die Reihenfolge bilden: Selbsthilfe – Nachbarschaftshilfe – Fernhilfe. Alle Vergesellschaftung soll für den Menschen ‚hilfreich‘ sein, das heißt, zu seinem Einzelwohl beitragen. Nun aber kommt dem Menschen für das, worin wesentlich sein Wohl besteht, nämlich für die Entfaltung seiner Persönlichkeit, nichts anderes so sehr zustatten wie das eigene Tun, die eigene Leistung, die Selbstbewährung. … Darum fordert das Subsidiaritätsprinzip: was der einzelne aus eigener Initiative und eigener Kraft leisten kann, darf die Gesellschaft ihm nicht entziehen und an sich reißen, ebenso wenig darf das, was das kleinere und engere soziale Gebilde zu leisten und zum guten Ende zu führen vermag, ihm entzogen und umfassenderen oder übergeordneten Sozialgebilden vorbehalten werden. Auch dieses Prinzip leitet sich unmittelbar her aus dem Verhältnis von Einzelwohl und Gemeinwohl; das Ganze soll dem Glied, soweit diesem Hilfe überhaupt dienlich sein kann, möglichst gut helfen. Die beste Gemeinschaftshilfe ist die Hilfe zur Selbsthilfe; wo immer Gemeinschafts236


Subsidiarität

hilfe zur Selbsthilfe möglich ist, soll daher die Selbsthilfe unterstützt, Fremdhilfe dagegen nur dann und insoweit eingesetzt werden, wie Gemeinschaftshilfe zur Selbsthilfe nicht möglich ist oder nicht ausreichen würde. … Recht verstanden hält das Subsidiaritätsprinzip genau die goldene Mitte: positiv gewendet wehrt es der individualistischen, negativ gewendet der kollektivistischen Einseitigkeit.“ 79 Die Solidarität stellt den Anspruch fest, und die Subsidiarität regelt die Art und Weise der Hilfe. Wie wird geholfen? Wer hilft? Der Akzent liegt auf der Hilfe zur Selbsthilfe.

1. Eigenverantwortung. Jeder Mensch ist der Akteur seines Lebens und hat damit auch die Pflicht, sein Leben zu führen. 2. Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn jemand nicht in der Lage ist, sein Leben selbständig zu führen, muss ihm geholfen werden. 3. Die größere soziale Einheit hilft. Wenn die Hilfe zur Selbsthilfe nicht greift, erst dann hat die nächst höhere soziale Einheit das Recht, jemandem Aufgaben abzunehmen.

Durch die Subsidiarität wird das Recht kleiner sozialer Einheiten gewahrt, ihre Angelegenheit selbst zu regeln.

79

Oswald von Nell-Breuning SJ, Gerechtigkeit und Freiheit, Wien 1980, S. 48-50. 237


Sünde Das Wort Sünde in den Mund zu nehmen, ist nahezu unanständig und passiert nicht mal mehr in der Kirche. Aber immerhin bezahlt ein Radiosender in Niedersachsen „deine Sünden“. Gesündigt wird noch im Straßenverkehr, denn da gibt es den Verkehrssünder mit einem Sündenregister in Flensburg; auch Bausünden gibt es noch. Sowohl beim Thema Gesundheit als auch beim Essen kommen noch Sünder vor. Wer raucht, der sündigt. Also brauchen wir doch das Wort Sünde, um etwas zu benennen, was einen Tadel verdient. Unter Sünde verstehe ich schlicht und einfach den „moralischen Fehler“. Was ist das?

Keiner will absichtlich etwas Böses tun und einen moralischen Fehler begehen. Fehler kommt von Fehlen, da fehlt einfach etwas – und zwar: ein Maß, eine vernünftige Ordnung, ein wirkliches Ziel. Stattdessen dominiert ein Irrtum – und zwar: Dieses konkrete, reizvolle Ziel sei das Gut, nach dem ich eigentlich streben will, es sei mein ganzes Glück. Wenn mich dann dieses konkrete, reizvolle Ziel so anlacht, gewinne ich einen Tunnelblick, sehe nichts anderes mehr und will es auf dem schnellsten Wege haben, denn es verspricht ja, mein Glück zu sein. „Die meisten Sünden passieren aus Eile“, sagt ein Freund.

Dass zum Beispiel der Bankräuber Geld haben will, ist ja völlig in Ordnung; aber er will es zu schnell, denn er könnte ja auch arbeiten und sparen. Obendrein irrt er, indem er meint, dieses viele Geld zu haben, wäre sein Glück (aber da irrt er ja nicht ganz allein). In der Sünde regiert also ein schreckliches Durcheinander.

Über die Wirkungen der Sünde lässt sich auch einiges sagen. Kurzfristig mag der moralische Fehler sogar Spaß machen. Mittelfristig verliere ich meine innere Schönheit und werde hässlich, wenn ich „fehle“. Ich erleide also einen Schaden. Die Sünde korrumpiert die menschliche Natur, denn ich kann sogar krank werden, und die Sünde beschädigt den Habitus, das innere Sein bzw. die persönliche Haltung. Infolge dessen erliege ich schlechten Gewohnheiten, ziehe nicht mehr geradlinig meine Furche und lande im dauernden Streit mit mir selbst. Auch die 238


Sünde

Urteilskraft leidet, weil ich nicht mehr richtig klarsehen kann. Langfristig wird mein Vermögen, lieben zu können, schwer beschädigt, was sich in Selbstsucht, Argwohn und letztendlich in der Verzweiflung ausdrückt. Sünde zerstört schließlich die Liebe, meine Möglichkeit, lieben zu können. Das ist wirklich tragisch, und dann ist auch „Schluss mit lustig“. Nun kann man noch differenzieren und zwischen Schwäche und Zügellosigkeit, zwischen leiblichen und intellektuellen Sünden unterscheiden. Man kann auch eine Hitliste der Sünden aufstellen. Das sei jetzt dahingestellt. Wichtig ist meines Erachtens die Frage: Wer sündigt bzw. wer fehlt? Weder Teufel noch Dämonen, weder meine Begierden noch mein schwacher Leib, auch nicht die Triebe noch die Sinnlichkeit, weder die Umstände noch Verhältnisse sündigen, denn ich muss ihnen weder zustimmen noch folgen oder nachgeben.

Der moralische Fehler entspringt einerseits dem Willen und andererseits der inneren, persönlichen Haltung, die ich mir durch meine Lebensführung zugelegt habe, denn Wille und Habitus können zustimmen oder nachgeben. Wenn alles Menschenglück Liebesglück ist, wie Josef Pieper sagte, dann ist der Verlust der Fähigkeit, lieben zu können, nicht nur ein Fehler, sondern so ziemlich das Übelste, was einem passieren kann.

239


Symposion Bisweilen werden wir zu einem Symposium eingeladen. Da geht es entweder um eine wissenschaftliche Fragestellung, die von verschiedenen Referentinnen in Vorträgen erörtert und in Arbeitsgruppen diskutiert wird. Manchmal wird durch das Symposium auch eine Person geehrt, und befreundete Wissenschaftlerinnen präsentieren Gedanken aus ihrer Rennstrecke oder aus dem Themenspektrum der zu ehrenden Person. Auf jeden Fall konnotieren wir mit Symposium eine wissenschaftliche Veranstaltung. Doch trifft das zu?

Symposium heißt erstmal „Trinkgelage“ und kommt vom dem griechischen Wort „sympoein“ – zusammen trinken. Das Symposion gehört zum Ritual der Gastfreundschaft (Xenophilia). Wie man bei Homer in der Odyssee nachlesen kann, empfängt der Gastgeber Freunde zu einem Gelage. Die Gäste werden empfangen und – zumindest die Füße – gewaschen. Dann essen sie ausgiebig zusammen Brot und vor allem am Spieß frisch gebratenes Fleisch mit Gemüse. Nach diesem Sättigungsmahl (griechisch: „Deipnon) legen sie sich auf Klinen, eine Art Liegesofa, nieder, wählen einen Symposiarchen, der für die angemessene Mischung des Weines und ein geordnetes Trinken sorgt, und sie widmen sich dem goldfunkelnden Wein. Der Symposiarch bestellt einen großen Mischkrug und lässt darin Wein und Wasser so mischen, dass der Wein die Gäste nicht gleich abstürzen lässt und trotzdem noch nach Wein schmeckt. Nach dem Ausschank opfern die Symposianten, also die Mittrinker, den Göttern, indem ein kleiner Schwupp über den Becherrand verschüttet wird. Ein Trinkgefäß wird rechtsherum weitergereicht, aus dem alle trinken. Zur Unterhaltung erscheinen Tänzergruppen, es wird musiziert oder ein Rhapsode trägt einen Mythos vor. Lieder werden gesungen, Gedichte vorgetragen, Rätsel gestellt oder es wird gespielt. Auf jeden Fall herrscht eine entspannte und fröhliche, bisweilen auch übermütige Atmosphäre. Dieses Treiben endet, wenn die Symposianten müde geworden sind oder nicht mehr können. 240


Symposion

Wie kommt es, dass dieses alkoholisierte Treiben zum Muster wissenschaftlicher Veranstaltungen wurde? Platon erzählt in seinem Symposion solch eine Situation, verdreht sie allerdings, weil Gastgeber und Gäste vom vorausgegangen Abend noch verkatert sind. Keiner soll „trinken müssen“, sondern jeder darf trinken, wie es ihm gefällt. Zu Ehren der Götter wird an diesem Abend nicht das Trinkgefäß herumgereicht, sondern die Symposianten halten Reden – in aller Ordnung rechtsherum – über den Eros. Angesichts der erschöpften Konstitution geht es in Platons Symposion bis kurz vor dem Ende sehr nüchtern und vernünftig zu. Selbst die Flötenspielerin wird nach Hause geschickt. Die Symposianten bewirten sich nicht mit Wein, sondern mit Reden und erörtern, ob Eros ein Gott oder ein Dämon sei, welche Geschenke er für die Menschen bereithält und wie man sich ihm gegenüber verhalten soll. Allerdings geht es in Platons Symposion nicht ohne Humor und kleine Sticheleien zu, denn der Gastgeber hat illustre Gäste eingeladen, die unterschiedliche und sogar konträre Meinungen vortragen. Sie können sich sogar auf den Arm nehmen. Wenn Sie also zu einem Symposium eingeladen sind, und es allzu artig, erhaben oder gar langweilig zugeht, dann halten Sie sich bei Laune, indem Sie an Platons Symposion denken. Übrigens hat Platon noch eine Spezialität: Die Gespräche über den Eros enden aporetisch, das heißt ohne Ergebnis. Warum? Aristodemos, der aufmerksame Zuhörer und Berichterstatter des Symposions, schläft erschöpft ein und verpasst die Pointe, das Ergebnis, die Conclusio oder wie man das nennen mag. Vielleicht ist das auch ein kleiner Trost, wenn Sie in einem wissenschaftlichen Symposion einnicken.

241


Temperantia – die Tugend des Maßes Was ist hier mit „temperiert“80 gemeint? Stellen Sie sich einfach ein Klavier – oder noch besser einen Konzertflügel – vor. Dieses Klavier hat viele Saiten, und je mehr Saiten es hat, desto größer sind Klangfülle und das Volumen der Töne. Allerdings muss das Klavier gut gestimmt sein, sonst entsteht aus der Fülle an Tönen statt der Symphonie eine Kakophonie, ein Missklang. War die Klavierstimmerin da und hat die einzelnen Saiten mittels eines Grundtons aufeinander abgestimmt, dann ist das Klavier „gestimmt“ und eine Spielerin kann sich an die Tastatur setzen, die ganze Tonfülle, das Klangvolumen nutzen und ihre Melodie spielen, so dass es ein Genuss ist, ihr zuzuhören. Steht Ihnen ein Bild vor Augen, haben Sie eine Melodie im Ohr?

Nun übertragen wir die Metapher des „wohl temperierten“ Klaviers auf die Seele, auf das innere Sein eines Menschen: Die Saiten sind die verschiedenen Leidenschaften, Gefühle, Emotionen und Stimmungen, zu der ein Mensch fähig ist und die latent in ihm schlummern. Je mehr Emotionen ein Mensch hat, desto interessanter, kräftiger und wirkungsvoller erscheint uns dieser Mensch. Solche Menschen, die zu vielen Leidenschaften fähig sind, können andere mitreißen und begeistern, solche Menschen mögen wir in unserer Umgebung – allerdings unter einer Voraussetzung: Im Einklang mit sich selbst und Herrin über ihre Emotionen müssen sie sein. Andernfalls laufen wir weg und meiden die Gesellschaft mit ihnen, weil Unbeherrschte leicht „ausrasten“ und dann mit ihren Emotionen gnadenlos um sich herum schießen. Dieses Abstimmen der Leidenschaften mittels eines Grundtones bewirkt die Temperantia. So wie ein „wohl temperiertes Klavier“ durch den Grundton „gestimmt“ ist, so werden die Leidenschaften in der Seele eines Menschen durch die Tugend Temperantia aufeinander abge-

Vgl. Andreas Fritzsche, Die Tugend des Maßes. Temperantia macht schön, Münster 2016.

80

242


Temperantia – die Tugend des Maßes

stimmt, so dass dieser Mensch mit sich selbst und mit anderen befreundet sein kann, sich auf sich selbst auch in kritischen Situationen verlassen und vor allem Wirklichkeit adäquat wahrnehmen kann. Weil ein solcher Mensch mit sich selbst im Reinen ist oder im Einklang lebt, kann dieser auch Schönes sehen, riechen, schmecken, tasten und hören. Weil ein solcher Mensch in seinem inneren Sein schön ist, kann er auch draußen – in der äußeren Wirklichkeit – Schönes wahrnehmen. Temperantia macht klarsichtig, aufmerksam und wahrnehmend. Die Augen der Seele oder des Herzens können sehen.

Temperantia bewirkt, dass die Vernunft zum Tragen kommt und so den Menschen vor Maßlosigkeit im Streben nach Lust schützt, weil maßloses Luststreben Menschen auf ein animalisches Niveau bringt und sie hässlich macht. Leidenschaften müssen gestimmt sein oder dieser Mensch landet in der Selbstzerstörung. Es geht also nicht um die Stilllegung der Leidenschaften, es geht um eine vernünftige Ordnung der Emotionen, also um eine Balance in der Seele, so dass die Leidenschaften „wohl temperiert“ und aufeinander abgestimmt sind.

243


Transzendent – transzendental Die Wörter „transzendent“ und „transzendental“ klingen zum Verwechseln ähnlich und werden darum auch gern synonym verwendet, was allerdings falsch ist. Darum ist die Frage nach diesen Begriffen in Philosophieprüfungen sehr beliebt, und manch einer ist darüber schon gestrauchelt. Beide Worte haben das lateinische „transcendere“ gemeinsam, was „überschreiten“ oder „hinüberschreiten“ bedeutet.

Das ältere von beiden ist „transzendent“ und bezeichnet ein Hinüberschreiten von der diesseitigen in eine jenseitige Welt. Wahrnehmungen, Erfahrungen, Bezeichnungen, Begriffe, Einsichten und Zusammenhänge aus unserer diesseitigen Lebenswelt werden genommen und auf eine jenseitige Welt übertragen, das heißt auf eine Welt, die mit unserer sinnlichen Wahrnehmung und unserem rationalen Denkvermögen nicht erreichbar ist. Wahrnehmungs- und Denkvermögen bilden eine Grenze, die überschritten – also transzendiert – wird. So kann man zum Beispiel transzendent vom Urknall oder von Gott als Anfang ohne Anfang sprechen.

Das Wort „transzendental“ führte Immanuel Kant ein, um seine kritische Philosophie zu charakterisieren, die dann auch Transzendentalphilosophie heißt. Was macht menschliches Erkennen überhaupt erst möglich? Was sind die Möglichkeitsbedingungen des Erkennens? Was liegt „vor“ jeder menschlichen Erkenntnis? 1. Raum und Zeit sind für die sinnliche Wahrnehmung notwendig und liegen darum „transzendental“ vor jeder Erfahrung; anders gesagt: Ohne Raum und Zeit kann es keine Erfahrung geben. Darum können wir vom Urknall auch nichts aussagen, denn Raum und Zeit entstanden erst nach dem Urknall.

244


Transzendent – transzendental

2. Weil die Wahrnehmungsdaten noch unsortierte und nichtidentifizierte Informationen der Sinnesorgane sind, benötigen sie ein System der Zuordnung – und das ist die Vernunft mit ihren Kategorien. Im Denk- oder Erkenntnisvermögen finden wir Sortierkriterien, die „transzendental“ vor jeder Erkenntnis in der menschlichen Vernunft vorhanden sind.

Vorsicht: Das zum Verwechseln ähnliche Wort „Transzendentalien“ gehört nicht zu Kants Wortschatz.

245


Transzendentalien Über einigen Theatern in Deutschland steht „dem Wahren und Schönen“. Das mutet altertümlich an. Trotzdem kann man fragen, was damit gemeint und wie es zu verstehen sei. Im Mittelalter hatte man einen Kernsatz, die Transzendentalien:

„Verum, bonum, pulchrum et unum convertuntur.“ Wahr, gut, schön und ganz sind austauschbar.

Mit Blick auf einen Menschen kann man den Satz so verstehen: o o o o

Die Vernunft sucht Wahrheit, der Wille ist auf Gutes aus, die fünf Sinne möchten Schönes wahrnehmen und das alles passiert in einem ganzen Menschen.

Mit Blick auf einen Gegenstand oder eine Sache:    

Wenn etwas wahr ist, dann ist es auch gut und schön und ganz. Wenn etwas gut ist, dann ist es auch wahr, schön und ganz. Wenn etwas schön ist, dann ist es auch wahr, gut und ganz. Wenn etwas ganz ist, dann ist es auch wahr, gut und schön.

Ob diese Grundannahme zutrifft oder nicht, darüber wird heftig gestritten. Auf jeden Fall dokumentiert dieses Axiom ein fundamentales Vertrauen in die Wirklichkeit – eben als eine wahrheitsfähige, gute, schöne und ganze Realität. Freilich ist dieses Vertrauen ein Glaube, der nicht beweisbar ist. Darum werden gegenwärtig die Transzendentalien als naiv und vorwissenschaftlich belächelt.

246


Transzendentalien

Die Alternative, die man bei Nietzsche nachlesen kann, lautet knallhart:

„Es gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt.“ 81

Freilich muss man das auch glauben.

Was entspricht nun unserer Welterfahrung?

Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, KSA 13 S. 193.

81

247


Ursache Menschen bevorzugen einfache Erklärungen, weil sie schlicht und leicht zu merken sind. Darum lieben wir die monokausalen Erläuterungen – also Erklärungen, die nur eine Ursache benötigen – und sagen zum Beispiel, das Haus besteht aus Steinen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Philosophie legt uns nahe, mehrere Ursachen anzunehmen, und schlägt vier Ursachen vor.

1. Jedes Ding oder jede Situation hat eine Form, die man Formursache – causa formalis – nennt. Diese Form kann in der äußeren Gestalt sinnlich wahrnehmbar werden, sie kann auch als innere Form, wir sagen heute wohl Idee, gedanklich aufgenommen werden. Bleiben wir bei dem Beispiel Haus, dann entwickelt der Architekt gedanklich das Haus und macht dann eine Skizze des Hauses. So können wir erkennen, wie das Haus konstruiert ist und wie es aussehen soll: die Form des Hauses. 2. Bevor ein Architekt ein Haus konstruieren kann, muss er zuvor mit dem Bauherrn gesprochen haben, um zu wissen, wozu dieser das Haus benutzen oder warum er es bauen will. Wenn es ein Wohnhaus sein soll, dann wird sich die Familie als Bauherr über ihre Wünsche unterhalten und sie dem Architekten mitteilen. Die Frage, wozu das Haus genutzt werden soll, muss klar beant 248


Ursache

wortet werden, sonst kann der Architekt nichts machen, denn es macht schon einen Unterschied, ob es ein Familiennest, ein Ferienhaus oder eine Repräsentationsvilla sein soll. Das Wozu ist die Zweckursache – causa finalis. 3. Wenn das geklärt ist, dann stellen sich die Fragen nach den Ressourcen und Materialien, die im Haus verbaut werden. Grundstück, Geld und Baumaterialien müssen bereitgestellt und manches ausgewählt werden. Hier geht also um die Materialursache – causa materialis. Weil die Materialien ins Auge springen, kann man an ihnen leicht das konkrete Haus identifizieren – am roten Klinkerstein oder dem Schieferdach. Das Material individuiert. 4. Schließlich brauchen wir noch eine weitere Ursache, denn das Haus macht sich nicht von allein. Handwerker bauen das Haus, bringen Bewegung in die Materialien und bewirken etwas, damit das Haus Wirklichkeit wird. Wirkursache – causa efficiens – nennt man das.

Wenn wir vor so einem Haus stehen, es uns anschauen, kommen wir nicht gleich auf diese vier Ursachen. Doch macht es schon Sinn, so differenziert heranzugehen, um zu erkennen, was das da (für ein Haus) ist.

Damit kein Missverständnis aufkommt. Es geht mir nicht um ein dogmatisches Schema von vier Ursachen, es geht mir um die Empfehlung, sich mehrere Fragen zu stellen und die Dinge oder Situationen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, weil in der Regel die Erklärung mit nur einer Ursache zu kurz greift.

249


Verantwortung Verantwortung hat Konjunktur. Das merkt man besonders in der politischen Rhetorik. Wenn zum Beispiel eine Partei sagt „Wir sind jetzt bereit, die Verantwortung zu übernehmen“, heißt das doch im Klartext „Wir wollen an die Macht.“ Worte, die emotional positiv aufgeladen sind, flutschen ganz schnell über die Lippen und dienen dazu, die eigentliche Intention zu tarnen. Das Wort Verantwortung ist zurzeit solch ein Kandidat. Geben Sie also acht! Nebelbomben, Vertuschung, Lügen und Ablenkung tummeln sich gern im Umfeld der Verantwortung.

Erst seit zwei, drei Jahrhunderten gibt es das Wort Verantwortung in der Ethik, und es kommt aus einem religiösen Kontext. Nach seinem Tod wird ein Mensch vor Gott stehen und Antwort für sein Leben geben müssen. Dieser Gedanke vom Jüngsten Gericht bringt eine gewisse Ernsthaftigkeit ins Spiel, und unter diesem langen zeitlichen Horizont, erhält die gegenwärtige Praxis eine andere Gewichtung: Lebe jetzt so, dass Du künftig Rede und Antwort stehen kannst – ohne Wenn und Aber. Das ist die Situation der Verantwortung im religiösen Kontext. Heute haben wir eine säkulare Variante – Rede und Antwort ohne Leben danach, ohne Richter und Ankläger. Wer das Wort Verantwortung in den Mund nimmt, muss drei Fragen beantworten: 1. Wer verantwortet? 2. Was? 3. Vor wem?

Alles andere hat keinen Sinn. Das Wort suggeriert, dass wir für alles verantwortlich seien. Genau das zerstört Moralität und macht gutes Handeln unmöglich. Für wen wir nicht verantwortlich sind, wer sagt uns das? Wo liegen die Grenzen, oder sind wir in der Tat für alle und alles verantwortlich? 250


Verantwortung

Die Reichweite unserer Verantwortung wird durch die Grenzen unseres Handlungsspielraumes bestimmt. Wer für alles offen ist, ist nicht mehr ganz dicht. Wer für alles verantwortlich ist, ist für nichts mehr verantwortlich. Menschen sind Menschen – mit begrenzter Aufmerksamkeitsenergie, einfach mit Grenzen, die es zu respektieren gilt. Außerdem lenkt die Fernstenliebe immer von der Nächstenliebe ab und inszeniert nur einen Kult der Betroffenheit – die Betroffenheitskompetenz. Alles – das kann nur Gott verantworten, denn er hält die Welt in seinen Händen, ist in allem mächtig, kennt alles und weiß, was für jeden gut ist. Wären wir für alles verantwortlich, würden wir der Hybris, der Überheblichkeit, dem schlimmsten aller Laster anheimfallen, und wie Gott sein wollen. Hybris ist dumm und geht auch dumm aus. Meines Erachtens hat das Wort Verantwortung Konjunktur, weil es das harte und lustfeindliche (nicht mehr zeitgemäße) Wort Pflicht umschifft und trotzdem denselben Sachverhalt bezeichnet. Vielleicht ist die Frage besser:

Was sind meine Pflichten?

Verantwortung hat auch Konjunktur, weil sie zum Aktionismus drängt, und unserem Lebensgefühl entspricht. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Eine Alternative gibt es, und wir sehnen uns nach ihr. Die Dinge sein lassen, wie sie sind, und ihnen Zeit zum Reifen gewähren. Aufmerksam und achtsam bleiben – mehr nicht, weniger auch nicht. Oder muss immer alles in unserer Verantwortung liegen?

251


Vernunft und Leidenschaft Im Dialog Phaidros entwickelt Platon ein Gleichnis82, um zu zeigen, wie es um die menschliche Seele bestellt ist. Dieser Wagen mit zwei Pferden und dem Lenker veranschaulicht sehr schön und zutreffend, was in uns los ist: Die Emotionen ziehen, bringen Bewegung. Allerdings würden sie den Wagen zerstören und sonst wohin rasen, wenn der Wagenlenker nicht die Zügel in der Hand hätte.

„Verglichen sei die menschliche Seele mit der zusammengewachsenen Kraft eines geflügelten Gespannes und seines Lenkers. Der Götter Rosse und Lenker sind selbst edel und stammen von Edlen, die der übrigen sind gemischt. Und erstlich lenkt bei uns der Führer ein Zweigespann, aber da ist von den Rossen eines schön und edel und von edler Abstammung, das andere das Gegenteil davon in Abstammung und Artung. Schwer und voller Verdruss muss daher die Lenkung bei uns sein. … Wie ich am Anfang dieses Gleichnisses jede Seele dreifach geteilt habe, in zwei Gestalten von Rosseart und drittens die Gestalt des Wagenlenkers, so wollen wir es auch jetzt weiter gelten lassen. Von den beiden Rossen, so sagten wir, sei das eine edel, das andere nicht. Welches die Tüchtigkeit des edlen, die Bosheit des unedlen ist, haben wir übergangen und holen es jetzt nach. Das eine von ihnen in schönerer Haltung, ist aufrecht von Wuchs, feingegliedert, den Hals aufreckend, mit geschwungener Nase, von weißer Farbe, mit dunklem Auge, stolz, aber auch Besonnenheit und Scham liebend, und da es den wahren Gedanken vertraut ist, wird es ohne Schlag, allein durch Befehl und Ermunterung gelenkt. Das andere ist senkrückig, plump und rasselos, steifnackig, kurzhalsig, stumpfnasig, schwarz von Farbe, die Augen mattblau mit Blut unterlaufen, der Ausschweifung und Frechheit Freund, zottig um die Ohren, taub, kaum der Peitsche und dem Sporn gehorchend. Wenn nun der Wagenlenker, das liebreizende Antlitz erblickend, die Seele ganz vom Anschauen durchglüht, geschwellt wird vom stachelnden und brennenden Verlagen, so hält das dem Lenker gehorsame Ross, jetzt wie auch sonst immer von Scham beherrscht, sich selbst zurück, dem Geliebten nicht entgegenzuspringen. Das andere aber kehrt sich nicht länger an Stachel noch Peitsche des Lenkers, sondern springt und treibt mit Gewalt, macht dem Mitgespann und dem Lenker alle Not und zwingt sie, den Geliebten anzugehen und in ihm den Gedanken zu wecken an die Genüsse der Liebesgunst.“ Platon. Phaidros 245, 253. 82

252


Vernunft und Leidenschaft

Vielleicht haben Sie die MuĂ&#x;e, bei Platon selbst nachzulesen.

253


Vernunft – zwei Vermögen und doch eine Eine ganz bestimmte Vorstellung von Vernunft haben wir. Benutzen wir dieses Wort, so denken wir an geistige Aktivität: Wir analysieren und synthetisieren, das heißt Dinge werden in ihre Einzelteile zergliedert und dann wieder zu einem Ganzen zusammengesetzt. Wir abstrahieren vom Konkreten, um ein allgemein gültiges Schema zu erkennen. Wir untersuchen eine Sache und vergleichen einzelne Elemente. Wir wenden eine allgemeine Regel auf eine konkrete Situation an. Wir sammeln Argumente und beweisen oder widerlegen eine These. Wir ziehen Schlussfolgerungen, erstellen Verknüpfungen und fällen Urteile. In diesen Tätigkeiten wird die Vernunft als „ratio“ (lateinisch: Grund, Berechnung, Geschäft) aktiv und man nennt „ratio“ auch die diskursive Vernunft oder „das übliche rationalisierende Denken“. „Das Wort Intellekt ist daher genommen, dass dieses Vermögen das Innerste eines Dinges erkennt. ‚Intelligere‘ (einsehen, verstehen) heißt nämlich so viel wie ‚intus legere‘ (im Inneren lesen).“ 83

Eine andere Tätigkeit der Vernunft gibt es aber auch und sie kommt zum Zug, wenn wir aufmerksam einen Gegenstand wahrnehmen und betrachten. Wir nehmen etwas auf und empfangen es. Wir öffnen uns, halten inne und sehen etwas ein. Gemeint ist damit ein unangespanntes Hinblicken und einfach ganz bei der Situation, der Person sein – nur Aufnehmen und Anschauen. Das innere, geistige Auge schaut und sieht möglicherweise das Ganze, das ja bekanntlich mehr als die Summe seiner Teile ist. Diese intellektuelle Anschauung lässt Gedanken an Messen, Zählen, Zuordnen und auch Gedanken an Nutzen, Verwertbarkeit beiseite, und legt sozusagen einen interesselosen, unbefangenen Blick auf die Dinge, so wie sie sind, und öffnet sich, nimmt nur auf und „schaut nur zu“. Wenn die Vernunft in dieser Tätigkeit wach wird, nennt man sie „Intellectus“ (lateinisch: Wahrnehmung, Einsicht) oder 83

Thomas von Aquin, Über die Wahrheit, 12. Frage, Antwort. 254


Vernunft – zwei Vermögen und doch eine

rezeptive Vernunft. Übrigens verweist das deutsche Wort „Vernunft“ auf diese Tätigkeit: Vernunft von „ver-nehmen“.

Beide Vermögen der Vernunft, das aktiv Konstruierende wie auch das passiv Empfangende, gehören zusammen: Ratio und Intellectus – Begründen und Einsehen – ergeben zusammen das geistige Vermögen des Menschen. Auf die Balance kommt es an. Darum scheint es mir gegenwärtig angebracht, den Intellectus zu betonen und Wirklichkeit unverstellt wahrzunehmen – „im Hinhören auf die Natur“, wie es der antike Philosoph Heraklit formuliert.

255


Verstehen – ein paar Differenzen Verstehen muss nicht gleich Zustimmen bedeuten. Viele meinen ja, wenn sie den Satz hören „Ich verstehe dich“, dass damit auch die Zustimmung zum Verhalten oder zu einem Urteil ausgedrückt ist. Dem ist aber nicht so, denn hier gibt es sehr wohl Differenzen. Verstehen heißt nur gedanklich nachvollziehen und ist noch keine Positionierung. Vielleicht hilft diese Rangordnung:

1. Akzeptieren. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „annehmen“. Deine Meinung verstehe ich nicht nur, ich übernehme sie auch als meine. So wie du handelst, handle ich auch. 2. Respektieren. Auch dieses Wort kommt aus dem Lateinischen und heißt „Rücksicht nehmen“. Deine Meinung kann ich zwar verstehen, allerdings ist sie nicht meine. Doch ich werde auf sie Rücksicht nehmen. 3. Tolerieren. Den Lateinkurs kann man fortsetzen, denn auch dieses Wort ist lateinisch und heißt „tragen“, bzw. „ertragen“ (und hat nichts mit „toll“, auch nicht mit „Tollwut“ zu tun). Deine Meinung verstehe ich schon, kann sie weder für mich annehmen noch berücksichtigen. Mit Geduld und Demut werde ich sie ertragen. Das Modewort „Toleranz“ bedeutet im Grunde genommen eine schwache Positionierung, und wir sollten genau überlegen, ob damit etwas anderes gemeint ist: Akzeptanz, Respekt oder auch nur Gleichgültigkeit. 4. Gleichgültigkeit bedeutet einfach „gleich gültig“, also indifferent. Dazu muss man nichts sagen. 5. Ablehnung. Hier hört selbst die Gleichgültigkeit auf. Ich kann zwar verstehen, wie du zu dieser Meinung kommst. Allerdings kann ich sie nicht hinnehmen und lehne sie ab.

„Ich verstehe dich“ heißt nur „Ich kann nachvollziehen, warum du so gehandelt hast.“ Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

256


Vertrauen senkt die Transaktionskosten. In der Praxis handeln immer Personen und diese benötigen in ihrem Betriebssystem Vertrauen. Warum ist das so?

Wir Menschen müssen wissen können, dass es die Anderen gut mit uns meinen, dass sie uns nicht belügen und betrügen. Ohne diese Handlungsgrundlage können Menschen, die ja zusammen ein Ziel erreichen wollen, nicht zielgerichtet arbeiten. Wie der Computer ein Betriebssystem benötigt, das unterschiedliche Rechenoperationen im Prozessor organisiert und synchronisiert, so benötigen kooperierende, handelnde Menschen das Vertrauen, jenes grundsätzliche Wohlwollen. Diese Einstellung gegenüber den anderen bildet die Basis der Kooperation. Handlungskontexte – insbesondere im Unternehmen – sind so komplex, dass eine Person schlicht und einfach nicht alles wissen kann. Qualitätsmanagement, Leitbilder, Basel II, Standardisierungen … wollen Sicherheit organisieren, doch wissen wir ganz genau, dass diese nicht das Papier wert sind, auf dem sie stehen, wenn nicht ein gelebtes Vertrauen zugrunde liegt.

Die unternehmerischen Ziele und deren Erreichbarkeit kann kein Manager beweisen, auch wenn er viele gute Gründe und berechtigte Annahmen vorträgt. Gut ist er beraten, wenn er es ermöglicht, dass die anderen es glauben können. Da helfen keine Appelle wie „wir müssen vertrauensvoll zusammenarbeiten“, wenn allein der Glaube an die handelnde Person und ihre Lauterkeit fehlt. Eine gelebte Kultur des Vertrauens bewirkt das Wunder, dass der Aufsichtsrat, die Belegschaft und auch die Kundschaft in schwierigen, nahezu aussichtslosen Situationen den verantwortlichen Personen folgen – ja folgen können. Warum? Weil sie sich als vertrauenswürdig erwiesen haben und es wirklich sind. Vertrauen bringt die Entscheider in Form, sodass andere ihnen folgen können; das sagen uns diese drei Tatsachen.

Zum Handeln gehört Vertrauen – Vertrauen darauf, dass Gutes auch zu Gutem führt, wenigstens im Allgemeinen und auf lange Sicht. Denn nur dann hat Handeln überhaupt Sinn. Vertrauen informiert uns über den 257


Vertrauen senkt die Transaktionskosten.

Kontext und den Sinn des Ganzen. Wie soll sonst der Bauer ans Werk gehen? Im Frühjahr muss er loslegen, den Acker bestellen und säen. Er muss das tun, was an ihm liegt, und darauf vertrauen, dass seine gute Saat auch gute Ernte bringen wird. Und selbst wenn die gute Ernte ausbleibt, weil die Elbe Hochwasser hatte, welche andere Chance hätte er? Sicher ist seine Arbeit, seine Aussaat. Die Ernte ist unsicher, aber sehr wohl zu erwarten. Wenn wir handeln, vertrauen wir auf ein gutes Ende, selbst wenn es nicht eintritt. Wir können nicht anders. Meine Empfehlungen:     

Gewähre Vertrauen. Zeig Dich vertrauenswürdig. Nimm Vertrauen entgegen. Lass dem Heiligen Geist eine Chance – vertraue Dich anderen an. Vertrauen informiert uns: das Ganze hat einen Sinn.

258


Wahrheit Nimmt man heute das Wort Wahrheit in den Mund, steht man sofort unter Terrorismusverdacht. Trotzdem brauchen Menschen Wahrheit.

„So wenig wie jemand ohne Freude leben kann, so wenig kann man ohne Wahrheit leben.“ 84

Warum tun wir uns so schwer mit der Wahrheit?

Wahrheit ist eine Antwort, und mir scheint es, dass uns die Frage abhandengekommen ist. Die Frage lautet: Wie kommt es, dass ich überhaupt etwas verstehe? Die Beobachtung oder Feststellung, dass Menschen etwas verstehen, dass zum Beispiel der Arzt die Krankheit des Patienten richtig diagnostiziert oder dass der Ingenieur Elektrizität und Sonnenenergie so versteht, dass er eine funktionstüchtige Solaranlage bauen kann, erstaunt mich. Wir Menschen können Natur und sogar einander verstehen. Wie kommt das? „Wahrheit ist das, wodurch sich das zeigt, was ist.“85

Dieser Gedanke ist uns modernen Menschen ziemlich fremd. Die Natur, die Dinge sind wahr und zeigen sich uns, das heißt sie sind für uns Menschen gedanklich zugänglich – eben wahrheitsfähig. Zwischen den Dingen (da draußen) und dem menschlichen Verstand gibt es ein Drittes, ein Verbindendes, und das ist die Wahrheit. Vielleicht macht ein Modell, bzw. eine Analogie, diese Situation klar: In einem Raum können eine Blume und mein Auge sein. Wenn es in dem Raum dunkel ist, kann mein Auge die Blume nicht sehen. Etwas Drittes – nämlich Licht – muss hinzukommen, und dann sieht mein Auge die Blume. Auf das Verstehen übertragen, bedeutet das: Die Gegenwart des Erkenntnisobjektes und -subjektes bewirkt noch nicht Erkennen, erst wenn das Dritte, die Wahrheit oder Wahrheitsfähigkeit, hinzukommt, Thomas von Aquin, Summa theologica II-II 114, 2 zu 1. 85 Augustinus, De vera religione, c. 36, p. 230/15-16. 84

259


Wahrheit

erkennt der menschliche Verstand. Eine andere Analogie hilf vielleicht, den Sachverhalt zu verstehen: Zwei Personen können die gleiche Sprache sprechen und intensiv miteinander kommunizieren. Wenn ein Drittes – nämlich Wohlwollen – fehlt, werden sie aneinander vorbeireden und sich nicht verstehen. „Wahrheit ist Angleichung eines Dinges und des Verstandes.“ 86

Beide – die äußere Wirklichkeit und der menschliche Verstand – passen sich an und im Verstand bleibt das „erfasste Ding“, sozusagen ein wortartiges Bild des Dinges. Das Ding selbst bleibt draußen. Zu dieser Angleichung (adaequatio) sind Menschen in der Lage, weil sie mit dem Intellekt ein Erkenntnisvermögen haben. Die Erkenntnis setzt in den Sinnen – im Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten und Hören – an und findet im Intellekt, der gedanklich die Dinge aufnimmt, sozusagen ihr „Inneres lesen“ (intus legere) kann, ihren Abschluss. „Veritas est adaequatio rei et intellectus.“ Thomas von Aquin, Über die Wahrheit I, 1 responsio. 86

260


Wahrheit

Die Wahrheit hinterlässt im Erkennenden eine Wirkung: die Erkenntnis. Der Erkennende ist in der Wahrheit und kann die Dinge „schmecken“, wie sie sind.

Der eben geschilderte Erkenntnisweg ist theoretischer Art, das heißt Menschen „schauen“ (theorein) Wahrheit. Die Wahrheit hat auch einen praktischen Aspekt: Menschen können mit Wirklichkeit umgehen, mit ihr handeln, sie bewegen und aus ihr kreativ Neues schaffen. Dann sagen wir umgangssprachlich: „Das ist ein wahrer Meister.“ Im Handeln „verifiziert“ sich Erkenntnis bzw. Theorie. Die Praxis zeigt und offenbart, ob die Theorie wahr ist. Wahrheit hat also sowohl einen theoretischen als auch einen praktischen Aspekt.

261


Wandern Bisweilen kann es ja vorkommen, dass die Gedanken unsortiert im Kopf herumsausen und uns in Unruhe versetzen. Klarheit wünschen wir uns zwar, aber sie stellt sich nicht ein. Da gibt es eine Empfehlung, um wieder den Durchblick zu gewinnen: Wandern.

Beim Wandern wird der Leib in Bewegung gebracht, und zwar in eine rhythmische. Die Bewegung stimuliert den Kreislauf und die Muskeln. Wir werden hell wach. Meines Erachtens überträgt sich das nach einer gewissen Zeit auch auf den Geist. Dieser kommt in eine gleichmäßige Bewegung, und unser Denken gewinnt durch den Rhythmus des Gehens an Intensität. Wir können uns so leichter auf einen Gedanken konzentrieren und lästige Ablenkungen ausblenden. Manches Beiläufige, das einem zuvor vielleicht den Durchblick versperrte, verfliegt, und das Wesentliche tritt in Erscheinung. Vielleicht inspiriert der freie Raum auch zu anderen Gedankengängen. Allerdings braucht das wandernde Denken etwas Geduld und Demut. Man kann es nicht machen oder erzwingen. Der klare Gedanke (oder Durchblick) stellt sich ein, wann er will, und nicht, wann ich es will.

Meine Empfehlung: Nehmen Sie beim Wandern etwas zu Schreiben mit. Manchmal blitzt ein heller Gedanke auf, der nicht wieder entweichen soll. Dann sind eine Bank, Stift und Papier sehr hilfreich.

Bei der Lektüre des Thomas von Aquin habe ich mich häufig gefragt, wie er zu so präzisen und schnörkellosen Einsichten gelangte. Als Bettelmönch durfte er keinen Wagen benutzen und musste alles zu Fuß gehen. Auf diesen Märschen durchwalkte er seine Gedanken, so mein Eindruck, und schrieb abends das Ergebnis auf.

Beim Wandern kann man auch sehr gut Gespräche führen. Die Gesprächspartner haben einen gemeinsamen Weg, gehen im gleichen Tempo und finden wahrscheinlich auch einen gemeinsamen Rhythmus. Sie haben vieles gemeinsam und damit eine solide Basis. Das Zuhören gelingt beim Wandern viel leichter als am Tisch. Auch ist das Schweigen beim Wandern nicht peinlich. Die Gesprächspartner können 262


Wandern

wortlos eine Zeit nebeneinandergehen, ohne Angst haben zu müssen, die Kommunikation sei zerbrochen und nicht mehr möglich. Damit will ich sagen, beim Wandern gelingen Zuhören und gemeinsames Nachdenken eher als in anderen Situationen. Platon gibt ein sehr schönes Beispiel dafür: Drei Freunde gehen in Athen vom Phaleron, dem alten Hafen, in die Stadt hinauf. Einer der Drei will wissen, was für Reden auf dem Symposion gehalten wurden, und Apollodor nutzt die Wegstrecke, um den anderen beiden zu erzählen, was er vom Symposion gehört hat. „… ist doch der Weg in die Stadt hervorragend geeignet, im Gehen sowohl zu reden als auch zu hören.“87

87

Platon, Symposion 173b. 263


Weisheit – und zwar die menschliche Das Thema Weisheit interessierte die Menschen schon immer, weil sie bald entdeckten, dass nicht nur in den Fäusten, sondern auch im Wissen Macht steckt. Insbesondere wenn eine scheinbare Weisheit das Deutungsmonopol erlangt hat, wenn hypothetisches Wissen als der Weisheit letzter Schluss verkauft wird, dann scheint es sinnvoll, sich an den Steinmetz aus Athen, an Sokrates, zu erinnern. Nur bei Sokrates war die Pythia, das delphische Orakel, ein einziges Mal mit ihrem Spruch eindeutig: „An Weisheit nimmt es niemand auf mit Sokrates“. Er kann es nicht fassen, weil er sich selbst nicht so einschätzte und ganz andere helle Köpfchen in Athen als weise galten. Nun lass ich ihn selbst zu Wort kommen.

„Ich habe nämlich, ihr Athener, diesen (zweifelhaften) Ruf durch nichts anderes als durch eine gewisse Weisheit erlangt. Durch was für eine Weisheit? Durch eine, die vermutlich die eigentlich menschliche Weisheit ist. ... Über meine Weisheit – was sie ist und worin sie liegen mag – biete ich euch den Gott von Delphi als Zeugen an. Ihr kennt den Chairephon; er war mein Freund von Jugend auf, und er war auch Freund von vielen unter euch. ... Ihr wisst doch, wie Chairephon war, wie konsequent in allem, was er anpackte. Einst, als er nach Delphi kam, wagte er, folgenden Wahrheitsspruch zu begehren …: Er fragte also, ob jemand weiser sei als ich. Da leugnete die Pythia und sagte, niemand sei weiser. Und dies kann sein Bruder hier bezeugen, da jener bereits verstorben ist. Bedenkt nun, warum ich das erzähle; ich will euch nämlich klarmachen, wie die gegen mich gerichtete Verleumdung entstanden ist. Nachdem ich das gehört hatte, dachte ich bei mir: ‚Was meint der Gott? Was deutet er an? Ich bin mir doch dessen bewusst, dass ich weder viel noch wenig weiß. Was meint er mit der Behauptung, ich sei der Weiseste? Lügen wird er wohl nicht; das ist nicht sein Stil.‘ Lange Zeit war ich unsicher, was er meine; schließlich nahm ich, wenn auch mit Zagen, die Sache auf folgende Art in Angriff:

264


Weisheit – und zwar die menschliche

Ich wandte mich an einen, der als weise galt, um bei ihm, wenn irgendwo, den Spruch zu widerlegen und dem Orakel nachzuweisen: ‚Hier ist jemand weiser als ich, obwohl du auf mich gedeutet hast.‘ Als ich mir nun den Mann genauer anschaute – sein Name tut nichts zur Sache, er war aber ein Politiker -, als ich den nun ins Auge fasste, erging es mir wie folgt, ihr Athener: Es schien mir, er halte sich selbst für besonders weise und werde auch von vielen anderen Menschen so eingeschätzt, aber im Gespräch war er es nicht. Nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaube nur, weise zu sein, sei es aber nicht; dadurch machte ich ihn und viele der Anwesenden wütend. Im Weggehen dachte ich bei mir selbst: Weiser als dieser Mensch bist du wohl. Denn es mag zwar sein, dass keiner von uns beiden etwas Schönes und Gutes weiß, aber der da glaubt in seiner Verblendung, etwas zu wissen, ich dagegen maße mir kein Wissen an, wenn ich nichts weiß. Ich bin also um eine Kleinigkeit weiser als er, weil ich das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube.“ 88 Anscheinend liegt die menschliche Weisheit im Erkennen der eigenen Grenzen, im Wissen um den hypothetischen Charakter unserer Einsichten oder man erliegt der Gefahr der Borniertheit. Vielleicht liegt die menschliche Weisheit in einer Demut des Geistes.

88

Platon, Apologie 20d – 21e.

265


Werte und Güter Das Wort Wert taucht erst im 18. Jahrhundert auf und kommt von der Wirtschaft in die Ethik. Im Bankwesen und in der Wirtschaft spricht man von Wertschöpfung, Wertbereitstellung, Wertberichtigung, usw. Deutlich wird daran, dass eine Sache erst zu einer wertvollen Sache wird, wenn sie von einem Menschen oder einer Gruppe wertgeschätzt wird.

Durch Wertschätzung erhält eine Sache einen höheren oder niederen Wert. Das klassische Beispiel dafür ist das Glas Wasser in der Wüste. Für einen Verdurstenden kann dieses Glas Wasser eine Million Euro wert sein, denn er möchte sein Leben erhalten. Selbst in Istanbul laufen solche Wasserverkäufer herum, weil es sich lohnt, Menschen Wasser zu verkaufen. Nur in Deutschland und schon gar nicht an einem verregneten Novembertag ist das Glas Wasser überhaupt etwas wert. Damit will ich sagen, dass der Wert des Glases Wassers nicht in der Sache, sondern in der wertschätzenden Person liegt. Ihre Aufmerksamkeit möchte ich darum auf drei Differenzierungen bzw. Ebenen lenken:

1. Wert für mich. Weil wir Menschen bisweilen sehr unterschiedliche Neigungen, Vorlieben und Interessen haben, fallen unsere Wertschätzungen auch entsprechend unterschiedlich aus: Der eine mag Fußball, die andere erfreut sich über klassische Musik usw. Darum haben wir ganz persönliche, individuelle Werte und diese kann man recht leicht herausfinden: Sag mir woran Dein Herz hängt, und ich sage Dir, wer Dein Gott ist. Glücklicherweise ist das so, denn so können wir Farbe in die Welt bringen und uns gegenseitig bereichern. Bisweilen bereitet diese Individualität auch Probleme, wenn jemand zum Beispiel bei Omas 80. Geburtstag keine Torte mag. 2. Wert für uns. Wenn Menschen in Familien oder Unternehmen zusammenleben bzw. arbeiten brauchen sie – bei allem Respekt vor ihrer Individualität – gemeinsame Wertschätzungen oder sie 266


Werte und Güter

lassen sich scheiden bzw. müssen Insolvenz anmelden. Zum Beispiel sollten in der Familie die weihnachtlichen Rituale oder das Briefgeheimnis eine annähernd gleiche Wertschätzung erfahren. Auch im Unternehmen sollten die Zuneigung zum Produkt, Loyalität und Zuverlässigkeit eine gemeinsame Wertschätzung finden. 3. Wert an sich – ein Gut. Dann gibt es noch eine Gruppe von Werten, nämlich solche, die immer gelten, auch wenn sie augenblicklich keiner wertschätzt. Das sind die Güter. Zum Beispiel sind sauberes Wasser und Gesundheit Werte an sich. Das merken wir erst, wenn diese Güter abhandengekommen sind. In der Demokratie spricht kaum jemand über Freiheit, in einer Diktatur diskutieren fast alle darüber. In der Jugend opfert man seine Gesundheit, um Geld zu verdienen; im Alter gibt man alles Geld aus, um die Gesundheit wieder zu erlangen. Das kennzeichnet Güter, und Sie können auch sagen: objektive Werte.

Weil es nun viele, ja sehr viele Werte gibt, kommt alles auf die Wertrangordnung an: Welcher Wert, welches Gut sitzt auf dem Thron? Wofür geben wir alles her? Nach welchen Kriterien ziehen wir einen Wert vor und setzen einen anderen zurück?

267


Wertschätzung Das Wort Wertschätzung kommt gegenwärtig vor allem im Kontext des Führungsverhaltens vor. So wird von wertschätzender Führung gesprochen, und die meisten meinen damit, dass der Chef loben und nicht nur meckern soll.

Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit, denn es gibt sowohl lobende Wertungen als auch tadelnde. Tadel und Abmahnung sind durchaus Wertschätzungen, die allerdings der Empfänger nicht gern hören will. Die Chefin oder der Lehrer geben nicht einfach Feedback, wenn sie eine Arbeit für gutheißen oder monieren, sie werten und geben ein Urteil ab. Ob das in Form einer Note oder Beförderung geschieht, sei dahingestellt. Dabei darf der Empfänger ruhig fragen, nach welchen Kriterien der Bewertung oder mit welchem Zollstock das Urteil gefällt wird. Damit will ich sagen, dass Wertschätzung nicht einfach Lobhudelei ist. Übrigens kommen beim Empfänger rituelle Lobessprüche auf die Dauer nicht gut an. Als ehrlich wird ein Lob dann wahrgenommen, wenn auch Fehler als solche benannt wurden. Mein Lehrer Josef Pieper bemerkte einmal: Die schlimmste Lüge sei die Schmeichelei, denn diese Lüge hören wir gern und wehren uns nicht dagegen. Vielleicht noch ein Hinweis aus der Philosophie: In unserer Wertschätzung (Ästimation) sind wir in der Regel emotional gefangen und reflektieren sie nur selten. Blaise Pascal nennt das „logique di coer“ (Logik des Herzens) und Daniel Goleman „emotionale Intelligenz“.

In einer Situation empfinden wir Gefühle und erleben uns in einer gewissen Stimmung. Diese Gefühle können Liebe, Hass, Zuneigung, Ekel, Bewunderung usw. sein; die Stimmungen können Begeisterung, Traurigkeit, Langeweile … sein. Auf dieser emotionalen Basis werten wir und kommen zu unseren Wertschätzungen. Bei unseren Wertungen spielt allerdings auch noch unser Habitus, also unser Charakter, eine Rolle. Ein gelassener Mensch kommt zu anderen Wertschätzungen, als 268


Wertschätzung

ein Karrierebewusster. Damit will ich sagen, in unseren Wertungen sind wir emotional und habituell gefangen.

Allerdings können wir reflektieren, wie wir zu unseren Wertschätzungen kommen. Nach Kriterien und Maßstäben können wir sie befragen und prüfen, das heißt, wir bemühen die Vernunft. Wir können auch mit Freunden das Gespräch suchen, was auch meine Empfehlung wäre, denn die Freundinnen haben nicht meine blinden Flecken.

269


Wesen und Eigenschaften Wenn uns etwas Unbekanntes begegnet, dann stellen sich Fragen. Die erste Frage lautet wohl:

„Was ist das?“

Die Frage zielt auf das Wesen. So wird auch die Antwort einen Namen oder einen Begriff benennen. Gibt man nun genau acht, was beim Nennen des Namens passiert, dann wird man feststellen, dass dieses Wort eine sinnlich nicht wahrnehmbare, doch dafür denkbare Form dieses bislang Unbekannten angibt.

Ein Beispiel: Sie gehen mit einem Kind spazieren, und das Kind zeigt ganz wild auf etwas, was auf dem Weg liegt. Die ganze Aufmerksamkeit des Kindes ist auf „das da“ gerichtet. Es lässt auch nicht locker und beharrt, ob Sie es wollen oder nicht, auf eine Antwort auf die Frage „Was ist das?“ Sie antworten „Das ist eine Schnecke“, weil Sie wissen, was eine Schnecke ist. Sicher wird das Kind weiter fragen, was denn eine Schnecke sei. Dann haben Sie ziemlich leichtes Spiel, weil ein Probeexemplar zur Verfügung steht und auf dem Weg liegt. Sie beschreiben dann einfach, was Sie und auch das Kind sehen. Sie beschreiben die sichtbaren Eigenschaften der Schnecke, fassen sie an und legen sie dem Kind in die Hand. Die Schnecke fühlt sich weich und glitschig an, reagiert auf Berührungen, ist 80 Gramm schwer und vielleicht 8 cm lang.

Die Eigenschaften geben Antwort auf die Frage „Wie ist das?“, und wir geben als Antwort einfach das, was die sinnliche Wahrnehmung uns liefert: Qualität, Quantität, Beziehungen zu anderen Dingen, Orts- und Zeitangabe, Bewegungen usw. Die Eigenschaften geben uns (nur) Hinweise auf das Wesen, auf das, was etwas ist, teilen uns das Wesen allerdings noch nicht mit. Dass die Eigenschaften nur Hinweise auf das Wesen sind, merken wir besonders, wenn wir uns täuschen und irren.

270


Wesen und Eigenschaften

Da sieht jemand wie Peter aus, bewegt sich und spricht auch wie Peter, ist aber Moritz. Eigenschaften können sich auch ändern. Schauen Sie mal in Ihr Fotoalbum. Als Säugling sahen Sie anders aus denn als Schulanfänger und heute im Spiegel, aber Sie sind es immer noch und können sich vielleicht sogar an Ihren ersten Schultag erinnern. Die Eigenschaften werden vom Wesen getragen, haften an ihm. Der Vorteil an den Eigenschaften liegt darin, dass wir sie leicht auffassen und sehr gut beschreiben können.

271


Wesen und Eigenschaften Was eine Schnecke ist, sehen Sie nicht mit den Augen, sie wissen es. Das Wesen sehen wir nicht visuell, auch wenn wir ein Probeexemplar vor Augen haben, wir sehen das Wesen mit dem geistigen Auge ein und nehmen es gedanklich auf. Rein sprachlich ist es ein Subjekt, das konkrete, mess- und beschreibbare Eigenschaften hat; das Wesen ist in dieser Hinsicht Träger von Eigenschaften. Die Eigenschaften können sich sehr wohl ändern oder auch zufällig sein. Das Wesen bleibt. Andererseits bekommen wir den ersten Kontakt mit einem Ding oder einer Situation durch die Eigenschaften. Die Erkenntnis setzt in der sinnlichen Wahrnehmung an, welche die Eigenschaften aufnimmt, und gelangt dann zur intellektuellen Einsicht, was etwas ist, zum Wesen.

272


Wirklichkeit Die Frage nach der Wirklichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Philosophie und wird Menschen auch künftig beschäftigen. Darum möchte ich auch nur einen Aspekt ansprechen, denn landläufig versteht man unter Wirklichkeit die harten Fakten und Tatsachen. Das Wort „Wirklichkeit“ haben wir der deutschen Mystik, und soviel ich weiß Meister Eckhart aus Erfurt, zu verdanken. Wenn wir dieses Wort auseinandernehmen, heißt es so viel wie:

Wirklichkeit ist das, was wirkt, was auf mich einwirkt.

In der Tat wirken Dinge und Ereignisse auf mich ein, die einfach so sind, wie sie sind, und die ich nicht ändern kann. Wie kommt es, dass Meister Eckhart diesen Akzent setzte? Das mittelalterliche Latein hatte für das, was wir heute Wirklichkeit nennen, die zwei Wörter „realitas“ und „actualitas“.

 Mit „realitas“ – von „res“ das Ding, die Sache, der Gegenstand, etwas – wurde die Dinglichkeit der Wirklichkeit betont. Darunter verstehe ich die Wand, die eben für meinen Kopf ein harter Gegenstand ist und an der ich mir den Kopf bisweilen blutig schlage, wenn ich das Vorhandensein dieser Wand nicht respektiere – also keine Rücksicht auf sie nehme.  Das andere Wort heißt „actualitas“ – von „actus“ einer lateinischen Übersetzung des griechischen Wortes „energeia“ Handlung, Akt, Aktualisierung der Möglichkeit – und betont den Wirkungszusammenhang oder die Einwirkung. Und in der Tat wirken nicht nur Gegenstände auf uns ein, sondern auch Ereignisse wie fallende Aktienkurse. Diesen Akzent der Wirkung betonte Meister Eckhart und hat das deutsche Wort Wirklichkeit im Blick.

273


Wirklichkeit

In der Wirklichkeit geht es also nicht nur um harte Fakten, sondern auch um die Wirkung, die sie auf uns haben, denn Dinge und Ereignisse stehen nicht einfach isoliert nebeneinander. Wenn ich zum Beispiel VW-Aktien habe und der Kurs dieser Aktie steigt, ist das eine andere – und auch noch harte – Wirklichkeit als für Marianne Mustermann, die überhaupt keine Aktien besitzt. Mit Meister Eckhart möchte ich damit betonen, dass sich Wirklichkeit nicht nur auf Dinge und Gegenstände beschränkt, wie die platten Materialisten meiner Kindheit (Onkel Kurt: „Ich glaube nur an das, was ich mit beiden Händen anpacken kann.“) behaupteten; sondern auch – und vor allem – Wirkungszusammenhänge zwischen Gegenständen, Personen, Ereignissen und Fakten einbezieht. Wahrscheinlich haben wir im Deutschen darum die beiden Worte Wirklichkeit und Realität. Summe: Wirklichkeit ist das, was wirkt, was auf mich einwirkt, und so ist wie es ist.

274


Wirklichkeit und Möglichkeit Wenn etwas nicht ist, dann ist es noch lange nicht nichts. Was soll dieser Satz? Sitzt ein Klavierspieler im Café, trinkt eine Tasse Tee und liest dabei die Zeitung, dann spielt er zwar nicht Klavier, aber er könnte es – im Gegensatz zu mir, denn ich kann nicht Klavier spielen. Es macht also einen Unterschied, ob jemand etwas kann oder nicht kann, auch wenn tatsächlich nichts passiert. Diesen Unterschied nennen die Philosophen Möglichkeit (dynamis, potentia) und Wirklichkeit (energeia, actus). So verstanden, ist die Möglichkeit eine latente Wirklichkeit, etwas, was sozusagen auf dem Sprung zur Wirklichkeit ist. Der Klavierspieler kann also von seinem Tisch aufstehen, sich ans Klavier setzen und spielen. Dann zeigt es sich, dass er ein Klavierspieler ist. Insbesondere unsere Wirtschaftswelt lebt von dieser Differenz. Kaufleute sprechen von Marktpotentialen, die es zu finden und zu heben gilt. Dann werden Potentiale realisiert. Aber auch die Bibel (Matthäus 25, 14-30) spricht von Talenten, mit denen wir wuchern sollen. Wird das Talent vergraben oder bleibt es brach liegen, versündigt man sich gegenüber seinem Schöpfer.

In der Ethik, zum Beispiel in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, ist die Möglichkeit (dynamis) etwas, das den Menschen speziell kennzeichnet und ihn als moralisches Wesen markiert, denn Menschen sind frei und haben Handlungsalternativen, das heißt sie können auch anders handeln. Ethik beschreibt, was Menschen sein können. Die menschliche Natur hat jedem das Vermögen, Mensch zu sein, in die Wiege gelegt. Aufgabe eines jeden ist es, dieses Vermögen zu realisieren. Mit einem infantilen Bild gesprochen: Als Kinder haben wir gefragt, warum ein Schwein nicht Rad fahren kann. Weil es keinen Daumen zum Klingeln hat, lautete die Antwort. Wir haben einen Daumen und können in der Tat Rad fahren. Vielleicht mag das zu banal klingen, ist es aber nicht. Wirklich MenschSein macht sich nicht von allein und darum werden Menschen erzogen, 275


Wirklichkeit und Möglichkeit

lernen das Sprechen und mit ihrer Hand umzugehen. Die menschliche Hand kann vieles – streicheln und schlagen, schreiben und malen … Aber sie muss es nicht. Diesen langwierigen und mühsamen Weg der Verwirklichung des menschlichen Vermögens nannten die 68er „Selbstverwirklichung“ und lagen damit gar nicht – bis auf die Überbetonung des „Selbst“ – falsch.

Zur Realität gehören – insbesondere im Bereich des Menschen – die Modalitäten Möglichkeit und Wirklichkeit.

276


Würde des Menschen „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ 89 Diesen ersten Satz des Grundgesetzes kennen sehr viele und stimmen ihm wohl auch zu. Trotzdem taucht bald die Frage auf, was damit gemeint sei und wie man ihn begründen kann. Dazu schweigen die Verfassungsmütter und -väter, denn sie stellten 1949 juristisch eine Tatsache fest. Kommentare zum Grundgesetz verweisen auf den christlichen Glauben an den Menschen als Ebenbild Gottes und auf Immanuel Kant, welcher den Menschen als moralisches Subjekt beschreibt.

Nun ändert sich die intellektuelle Großwetterlage. Der Glaube an die jüdisch-christliche Gottesebenbildlichkeit des Menschen sowie an den gemeinsamen Vernunftbesitz aller Menschen, auf den die Aufklärung setzte, ist abhandengekommen und nicht mehr nachvollziehbar.

„Wenn wir nicht an eine menschliche Natur in einem Kosmos glauben, womit eine Norm vorgegeben wäre; wenn wir nicht an einen Gott glauben, als dessen Ebenbild wir uns würdig erweisen müssten – wie ist dann die, wenn man so will, entstandene Leerstelle zu füllen?“90

Wenn wir nicht mehr weiterwissen, fragen wir nach den Anfängen. In Formulierungen wie „die Würde des Königs“ oder „die Würde des Amtes“ setzt der Gebrauch des Wortes „Würde“ (dignitas) an. Da kann sich ein Bundespräsident so benehmen, dass er die Würde des Amtes beschädigt, und da können wir uns bei einer Audienz gegenüber dieser Amtsperson würdelos benehmen. Der Würde gewisser römischer Beamter kam es zu, dass ihnen Weihrauchschwenker vorhergingen, damit nicht nur jeder sah, welche bedeutende Person auftrat, sondern damit jener Beamte auch nicht den Gestank der Straße roch. GG 1 (1). 90 Eva Weber-Guskar, Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde. Münster 2016, S. 145. 89

277


Würde des Menschen

Allerdings ist die Würde des Amtes eine Zuschreibung, denn wenn Christian Wulff nicht mehr Bundespräsident ist, kann er auch nicht mehr die Würde des Amtes beschädigen. Die Last des Amtes – und damit verbunden auch die Privilegien – ist er los. Verhält es sich ebenso mit der Würde des Menschen? In diese Richtung laufen gegenwärtig Vorschläge. „Würde ist eine Verfassung, in der sich Personen befinden können, genauer eine Haltung, die darin besteht, mit sich unter anderen [Menschen] in Einklang zu sein, indem man seinem Selbstbild entspricht.“91

Wenn ich das richtig verstehe, wäre dann die Würde des Menschen das erfolgreiche Arbeitsergebnis einer Person am eigenen Selbst.

Dass man metaphysische und religiöse Grundannahmen gegenwärtig vermeiden möchte, lässt sich vielleicht noch nachvollziehen. Dass jedoch der historische Kontext ausgeblendet wird, irritiert mich gewaltig. Warum taucht „die Würde des Menschen“ seit 1948 in juristischen Dokumenten erstmalig auf? Was bedeuten „Verbrechen gegen die Menschheit“? Welches Verständnis vom Menschen benötigen wir, um angemessen miteinander – auch in Krisensituationen – umgehen zu können? Die klassische Position ist mir sehr plausibel und tragfähig: Der Mensch hat keinen Wert, denn diesen könnte man bezahlen; er hat eine Würde, die inkommensurabel ist. Inkommensurabel heißt, nicht vergleichbar, nicht messbar und nicht aufwiegbar.

Menschen sind zwar Lebewesen, allerdings anders als andere Lebewesen. Sie gehen nicht in ihrer Triebstruktur auf, sie können Alternativen entwickeln und verfolgen. Darum kann man sie als moralische Subjekte ohne weitere Bedingungen behandeln und auch zur Rechenschaft

Eva Weber-Guskar, Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde. Münster 2016, S. 187.

91

278


Würde des Menschen

ziehen. Diese Tatsache würdigen wir im Umgang miteinander und sprechen von der Würde des Menschen ohne Hinblick auf persönliche Besonderheiten.

279


Zeit ist Leben. „Wollen wir uns über die Zeiten beklagen? Nicht die Zeiten sind gut oder schlecht. Wie wir sind, so sind auch die Zeiten. Jeder schafft sich selber seine Zeit! Lebt er gut, so ist auch die Zeit gut, die ihn umgibt! Ringen wir mit der Zeit! Gestalten wir Sie! Und aus allen Zeiten werden heilige Zeiten.“ 92 Viele klagen über Stress und Zeitdiebe. Wie wir bei Augustinus lesen, ist das kein modernes Phänomen, sondern so alt wie die Menschheit selbst. Jeder von uns verfügt über 24 Stunden täglich. Darum ist das Wort Zeitmanagement Blödsinn, auch wenn viele Pädagogen und Psychologen damit ihr Brot verdienen. Worum es eigentlich geht, heißt „life-leadership-management“ oder „work-life-balance“. Es geht um die Lebenszeit. „Wer nicht weiß, was er will, mit dem machen die Anderen, was sie wollen,“ sagte mein Fraktionsvorsitzender Frank Schober.

Mein Lebensziel sollte ich schon kennen und eine Antwort auf die Frage finden, wofür es sich zu leben lohnt. Die Wege sollte ich erkunden Augustinus, Unvollendetes Werk über Genesis 13. Von Augustinus stammt die bis heute gültige Beschreibung der Zeit: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht. … Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne, und anderswo finde ich sie nicht: die Gegenwart des Vergangenen als Erinnern, die Gegenwart des Gegenwärtigen als Anschauen, die Gegenwart des Zukünftigen als Erwarten. Erlaubt man mir, dies so auszudrücken, dann sehe auch ich drei Zeiten und gebe zu, es seien drei. Dann mag man auch sagen: ‚Es gibt drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.‘ Die Gewohnheit gestattet es fälschlich, also kann man so sagen. Mich kümmert das nicht, ich sträube mich nicht und tadle niemanden, solange man nur einsieht, was man da sagt, dass nämlich weder das Zukünftige noch das Vergangene existiert. Wir drücken uns ohnehin selten genau aus. Vieles sagen wir ungenau, aber man weiß schon, was wir sagen wollen.“ Augustinus, Bekenntnisse XI. 17. 92

280


Zeit ist Leben.

und das Marschgepäck zusammenstellen. Um die (Opportunitäts)Kosten sollte ich mich auch kümmern, das heißt, zu wissen, welchen Preis ich zahle und wogegen ich mich entscheide. Das ist hart formuliert, aber es geht schließlich um das Wichtigste, was wir haben: unser Leben.

Die klassische europäische Ethik macht die persönliche Lebensführung zum zentralen Thema und fragt nach den Zielen des Lebens, nach Entscheidungskriterien, nach Gestaltungsmöglichkeiten und bedingungen, nach Methoden und guten Gewohnheiten. Diese Ethik stellt sich der Herausforderung, in einer unübersichtlichen Welt Wege und Methoden zu finden, auf bzw. mit denen das Leben gelingen kann. In diesem Anspruch sehe ich eine große Schnittmenge zwischen der Ethik und dem Zeitmanagement des „Work-Life-Balance“.

Wie kann ich mein Leben führen, sodass es ein „gutes Leben“ wird?

Die Frage der Lebensführung ist die Frage der Ethik schlechthin. Bei den Menschen, die sich um Zeitmanagement bemühen, wird diese Frage akut, weil sie unter Zeitnot leiden, weil sie die Bereiche des Lebens ordnen wollen und weil ihnen Klarheit wichtig geworden ist. Ethik hat sich hier zu bewähren.

Eine Studentin sagte am Ende eines Seminars zu diesem Thema: „Mich hat das Seminar dazu gebracht, darüber nachzudenken, was ich wirklich will.“ Mit einem Bild möchte das verdeutlichen. Wenn die Uhr das Symbol der Zeit ist, so ist der Kompass das Symbol für Orientierung. In unserer beschleunigten Zeit brauchen wir weniger Uhren, viel nötiger brauchen wir einen Kompass, damit wir in die richtige Richtung laufen. Je größer die Geschwindigkeit, desto wichtiger die Navigation. Als Lektüre zu diesem Thema empfehle ich den Klassiker von Michael Ende „Momo“. Zeit ist Leben und das Leben wohnt im Herzen eines Menschen. 281


Ziel Wenn man sagt, „Erfolg ist das Erreichen selbstgesetzter Ziele“, klingt das sehr vollmundig. Trotzdem gehen wir davon aus, dass wir Ziele verfolgen, und der Satz „Du geisterst ziellos in der Welt herum“ ist nicht gerade ein Kompliment. Was hat es mit dem Ziel auf sich?

Im Griechischen heißt Ziel „telos“ und gehört meines Erachtens zu den fundamentalen Grundannahmen unserer Zivilisation. Handeln wir, so verfolgen wir ein Ziel, auch wenn der Zweck einer Handlung – wie beim Wandern – in der Handlung selbst liegt.

Die Zielursache (causa finalis) oder der Zweck einer Handlung muss als erstes geklärt werden, oder wir tun nichts. Wozu willst du das Haus bauen? Ist diese Frage geklärt, kann der Architekt eine Skizze machen und den Bauplan entwerfen. Dem Bauherren muss also klar sein, ob das Haus ein Ferienhaus, Wohnhaus oder Bürogebäude werden soll. Das Ziel bestimmt also alles weitere. So werden zum Beispiel in einem soliden Projektmanagement alle Aktionen vom Letzten, vom Erreichen des Ziels, her geplant.

Ziel ist also das Letzte (to eschaton) und auch eine Grenze, nämlich die Grenze des Möglichen. Sind dann alle Möglichkeiten auch tatsächlich realisiert worden, sagen wir „Das Ferienhaus ist gelungen, es ist vollkommen“. Das griechische Wort für „vollkommen“ heißt „teleion“ und ist vom Wort Ziel abgeleitet: Etwas ist so, wie es sein kann, und alle Möglichkeiten sind ausgeschöpft. Dieses zielorientierte Denken hat man teleologische Philosophie genannt, weil es das Axiom "Alles hat ein Ziel." zur Grundannahme macht und auch noch behauptet, dass das Ziel ein Prinzip der Wirklichkeit ist.

Der Eichenbaum drängt im Wachstum zur vollen Pracht und will dastehen, wie eben eine Eiche sein kann. Im Bereich des Lebendigen kann man diese Dynamik und Energie erkennen. Leben will leben und Leben will Leben weitergeben.

282


Ziel

Freilich muss man zwischen vorläufigen und einem letzten Zielen differenzieren. Das Ferienhaus wäre nämlich ein vorläufiges Ziel, denn man kann ja fragen: „Wozu baust du ein Ferienhaus?“ Diese Kette von Fragen und Antworten können wir fortsetzen bis zur finalen Frage:

Was willst du mit deinem Leben?

Eine Antwort darauf wäre dann die Mitteilung des letzten Zieles oder Sinn des Lebens. Wir tun uns schrecklich schwer mit dieser Frage und noch mehr mit einer möglichen Antwort, obwohl unsere Lebensweise vor aller Zielorientierung nur so strotzt. Gibt es diese Zielorientierung auch im Kosmos, wie Thomas Nagel93 fragt?

93

Thomas Nagel, Geist und Kosmos, Berlin 2013. 283


Zinsen Für das gesparte Geld bekommt man heute keine Zinsen. Da stellt sich doch die Frage, was Zinsen sind und warum sie einen zweifelhaften Ruf haben. Zinsen sind einfach der Preis für geliehenes Geld. Kauft jemand ein Haus und nimmt ein Darlehn von 150.000 € auf, dann kann er im Tilgungsplan lesen, dass ihn diese Darlehnssumme zum Beispiel 35.000 € kosten wird. Sowie man für einen Liter Milch 0,99 € bezahlen muss, muss man einen Darlehnsbetrag kaufen und der Kaufpreis heißt Zins.

Vom Zins lebt unsere moderne monetarisierte Welt. Als ich Kind war, wurde ich angehalten, Geld zu sparen, um meinen Wunsch zu erfüllen. Würden wir heute diese Haltung der deutschen Sparsamkeit aufrechterhalten, bekäme das Wirtschafswachstum einen Knick. Darum lautet jetzt der Imperativ: Erfülle Deine Wünsche sofort und bezahle später! Insbesondere in Zeiten einer Niedrigzinsphase scheint diese Empfehlung der Realität nahe zu kommen. Mal abgesehen davon, dass mit dieser Empfehlung eine hedonistische Haltung – Ich. Alles. Jetzt. – gepuscht wird, verwundert es, dass insbesondere das Judentum und der Islam die Zinsen ablehnen, als seien sie ein Geschenk des Teufels. „Diejenigen, die Zins nehmen, werden nicht anders dastehen als wie einer, der vom Satan erfasst und geschlagen ist. Dies (wird ihre Strafe) dafür (sein), dass sie sagen: ‚Kaufgeschäft und Zinsleihe sind ein und das-selbe.‘ Aber Allah hat das Kaufgeschäft erlaubt und die Zinsleihe verboten. …Diejenigen aber, die es wieder tun, werden Insassen des Höllenfeuers sein und darin weilen.“ 94 „Du sollst von deinem Bruder nicht Zinsen nehmen, weder für Geld noch für Speise noch für alles, wofür man Zinsen nehmen kann.“ 95

Koran, Sure 275. 95 Deuteronomium 23, 21. 94

284


Zinsen

Wo liegt das Problem? Geld produziert Geld. Der Gewinn, der aus den Zinsen entsteht, rührt nicht von Arbeit her und entsteht „aus dem Nichts“. Wenn nun ohne Arbeit ein Gewinn – und zwar noch ein risikofreier und gesicherter – entsteht, benimmt sich Geld wie Gott und schafft „ex nihilo“. Das schöne Beispiel bei Thomas von Aquin: Leiht jemand einem anderen zehn Fässern Wein, dann hat er nur Recht auf die Rückgabe von zehn Fässern Wein. Woher soll bei einer 10%igen Verzinsung das elfte Weinfass herkommen?

• Die Zinserträge aus dem Geldverleih verführen den Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit zu Habgier und Geiz – also zu einer tödlichen Sünde. • Der Zinsertrag wird ohne jegliche Verpflichtung garantiert, wogegen man bei Unternehmensbeteiligungen am Risiko teilhat und haftet.

Mir scheint das Problem woanders zu liegen.

„Zins nehmen für geborgtes Geld ist an sich ungerecht, denn es wird verkauft, was nicht ist, wodurch ganz offenbar eine Ungleichheit gebildet wird, die der Gerechtigkeit entgegen ist.“96

Zins fördert die Tendenz, dass Geld zu Geld kommt, zur „Akkumulation des Kapitals“, wie Karl Marx das nennt. Der Schuldner wird durch den Zins wie ein Sklave auf der Ruderbank festgekettet und der Gläubiger genießt die Früchte dieser Arbeit. Zins trägt die Gefahr in sich, den Ausgleich zwischen unterschiedlichen Menschen in einer Gesellschaft – genau um den Zinssatz – zu behindern und Gerechtigkeit zu verletzten. Das zur Kritik des Zinses.

Zum Lob des Zinses: Ein Darlehn ermöglicht es mittellosen Menschen ein Studium, ein Haus oder eine Unternehmensgründung zu finanzieren. Dadurch erhöht sich die Durchlässigkeit der Gesellschaft, wie es die sogenannten Mikrokredite in Bangladesch zeigen, und ein Plus an Gerechtigkeit wird gewonnen. Es muss ja einen Grund haben, warum seit der Renaissance in Westeuropa Zinsgeschäfte erlaubt sind. 96

Thomas von Aquin, Summa theologica II-II 78,1 Antwort. 285


Zum Schluss die Frage: Was bleibt? Die Logik dieser Welt besteht im Fressen und gefressen werden: Damit der eine lebt, muss der andere sterben. Der Wolf frisst das Schaf und das Schaf frisst Gras. Das können wir nicht ändern, ob wir es wollen oder nicht. Immer steht jemand am Ende der Nahrungskette. Eine Familie freut sich über ein neugeborenes Kind und muss bald über einen Verstorbenen trauern. Auch die Verdrängung ist nicht abzuschaffen: Wo ein Körper ist, kann kein anderer sein. Den Arbeitsplatz, den ich einnehme, kann kein anderer einnehmen, es sei denn, ich gehe in den Ruhestand, und die Stelle wird neu ausgeschrieben. Das Brot, das ich esse, kann kein anderer essen, auch wenn der Hunger der anderen noch so groß ist, und ich helfen will. Diese Übel schmerzen durchaus, können jedoch keinem vorgeworfen werden, denn sie sind „vormoralisch“. 97 Ohne Schuld ist dieses Übel, obwohl es einigen übel mitspielt: Schmerzen, Zerstörung, Trauer und bisweilen Verzweiflung.

Zur Logik dieser Welt gehört auch, was Christen an Palmsonntag und Karfreitag zu hören bekommen: „Hosanna“ 98 und fünf Tage später „Ans Kreuz mit ihm!“ 99. Die öffentliche Meinung erscheint in der Geschichte Das sah schon einer der ersten Philosophen Anaximander von Milet: „Woraus aber den seienden Dingen das Entstehen ist, dorthin geschieht auch ihr Vergehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen einander Schuld und Buße zahlen für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“ Mansfeld, Anaximander, Fragment 15. 98 „Da nahmen sie Palmzweige, zogen hinaus, um ihn zu empfangen, und riefen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn, der König Israels!“ Johannes 12,13. 99 „Pilatus sagte zu ihnen: Was soll ich dann mit Jesus tun, den man den Christus nennt? Da antworteten sie alle: Ans Kreuz mit ihm! Er erwiderte: Was für ein Verbrechen hat er denn begangen? Sie aber schrien noch lauter: Ans Kreuz mit ihm!“ Matthäus 27,23f. 97

286


Zum Schluss die Frage: Was bleibt?

der Menschheit wie eine Wetterfahne, und das wird in Zukunft auch so bleiben. Stimmungsmache oder auch einfach nur Irrtum gab es, gibt es und wird es immer geben.

Die Welt kann nicht halten, was sie verspricht. Auf Erden können wir nicht unser vollkommenes Glück erwarten, auch wenn alle Umstände optimiert wurden. Selbst wenn es keine Verbrecher mehr gäbe und alle Gefängnisse abgeschafft würden, selbst wenn alle gesund und CO2-frei lebten, gäbe es weiterhin Schmerz, Trauer und Schicksalsschläge. Vollkommenheit ist vor dem Jüngsten Gericht nicht zu erwarten. Erstaunlicherweise sah das sogar Immanuel Kant und erhoffte Glück erst nach dem Jüngsten Gericht aus der Hand Gottes. 100 Auf Erden wird es keine vollkommene Gerechtigkeit geben können, denn dann müssten wir alle Götter sein und alle Differenzen kennen, um den angemessenen Ausgleich der Gerechtigkeit herzustellen. Wir sind nun mal keine Götter und können nicht alles wissen. Darum werden wir auch in Zukunft unangemessen die Ungleichheiten behandeln und damit Fehler machen.

Die Welt möchte ich nicht wie Paulus in die Pfanne hauen. Das hat keinen Sinn, weil wir mit Leib, Seele und Geist Menschen sind. 101 Wir Menschen gehören mit Fleisch und Blut, mit Herz und Verstand zur Welt. Das heißt: Wir können nur unter diesen Konditionen handeln und leben.

Was bleibt dann noch?

„Gratia supponit naturam et perficit eam.“ 102 Gnade setzt Natur voraus und vollendet sie.

Siehe: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, V 124-126. 101 Diesen Gedanken verdanke ich übrigens Paulus, vgl. 1 Thessalonicher 5,23. 102 Thomas von Aquin, Summa theologica I, 8 ad 2; I-II, 99, 2 ad 2. 100

287


Zum Schluss die Frage: Was bleibt?

Diese Wirklichkeit, die einfach so ist, wie sie ist, und zu der auch ich gehöre, kann ich sinnvollerweise nur akzeptieren. Damit meine ich: Licht und Schatten, Freude und Malessen, Erkenntnis und Irrtum, Notwendigkeit und Freiheit, Kompromiss und Vollkommenheit, Sehnsucht und Erfüllung.103 Wir selber sind auch Wirklichkeit – und nicht nur das Da-draußen. Wir selber verdrängen Wasser, wenn wir in die Badewanne steigen, weil wir eben physikalische Körper sind. Das ist gut so, allerdings noch nicht sehr gut. 1. Axiom: Glauben wir also, dass die Wirklichkeit nicht nur einfach da ist und so ist, wie sie faktisch ist, und sehen sie im Licht der erleuchteten Vernunft als gute Schöpfung aus der Hand eines Schöpfers, dann können wir vertrauen, dass die Wirklichkeit eine sinnvolle ist, auch wenn uns das nicht jeden Tag ins Auge springt. 2. Axiom: Vertrauen wir, dass wir mit unserem Namen angesprochen und geliebt sind, dann müssen wir nicht mehr Sinn machen und uns zu Tode strampeln. Wir können Wirklichkeit gelassen annehmen und sinnvoll handeln, weil wir in einer sinnvollen und guten Schöpfung leben. Dieses demütige Vertrauen schenkt uns Freiheit und Handlungsspielraum. 3. Axiom: Hoffen wir, dass der Tod nicht der Schlusspunkt unter unserem biografischen Skript ist, dass wir wirklich ‚nachhaltig‘ den zeitlichen Horizont ausweiten können, dann entlastet uns diese Hoffnung und wir können tief durchatmen. Erlösung – also Loskauf aus einem Schuldverhältnis – kann Verzweiflung, Trägheit, Zynismus oder Stress wegwischen. Mit Blick auf Karfreitag und Ostern halte ich das für eine begründete, und eben nicht naive Hoffnung.

Jede Ehe können sie mit einer Forderung kaputt machen. Sie müssen nur fordern, dass jeden Tag Schmetterlinge im Bauch tanzen. Der Perfektionismus hat eben tödliche Wirkung. 103

288


Zum Schluss die Frage: Was bleibt?

Zur Verteidigung der Philosophie und der natürlichen Vernunft sei mir die Bemerkung gestattet: Auch der Gläubige kann sein Verlangen nach Wissen nicht beiseiteschieben, denn er muss ja schließlich wissen, was er glaubt. Er glaubt ja nicht dummes Zeug und möchte sich anderen verständlich machen. Das geht nur mit Vernunft. Glaube und Vernunft zeigen sich als Spannung, aber nicht als sich ausschließende Gegensätze. Zur Verteidigung des Glaubens möchte ich abschließend sagen: Selbst der abgebrühteste Wissenschaftler, der voll und ganz auf Empirie setzt, wird eingestehen, dass er seine Grundannahmen glaubt und nicht rational begründen kann, oder er reflektiert seine Methoden und Axiome nicht.

289


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.