Mein musikalisches Leben - ein Capriccio - Leseprobe

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PAUL ANGERER Mein musikalisches Leben –

ein Capriccio

Immer derselbe – niemals der Gleiche


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Impressum: Umschlaggestaltung: Tina Gerstenmayer nach einer Idee von Nele Steinborn Umschlag- und alle Farbfotos: Gerd W. Götzenbrucker, Wien Alle sonstigen Fotos und Dokumente: Privatbesitz Paul Angerer Redaktion: Veronica Angerer, Breitenbrunn Herstellung (Layout, Satz, Druck): Tina Gerstenmayer, adpl-solutions International – Division Publishing, Wien © 2010 by Wiener Dom-Verlag Wiener Dom-Verlag Gesellschaft m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-85351-222-7 www.domverlag.at


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Inhaltsverzeichnis

Vorwort .................................................................................................................. 6 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV. XV.

1927–1938 ............................................................................................... 11 1938 – 1945 ............................................................................................. 16 September 1945 – September 1948 ................................................. 30 1948 – 1952 ............................................................................................. 38 1952 – 1956 ............................................................................................. 46 1956 – 1957 .............................................................................................. 55 1957/58 .................................................................................................. 71 1959 ......................................................................................................... 84 1960 ....................................................................................................... 94 1961 ....................................................................................................... 101 1962 ...................................................................................................... 106 1963/64 ................................................................................................. 111 1964 – 1971/72 ....................................................................................... 119 1971 – 1981 ............................................................................................ 140 1982 – Juni 2010 ................................................................................. 177

Fundstücke …..................................................................................................... 227 Widmungen …..................................................................................................... 231 Notenbeispiele ….............................................................................................. 239 Manuskripte ….................................................................................................. 266

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Vorwort „Ich habe eine Frage, eine Bitte . . . eigentlich ein Attentat!“ Fragen von Paul Angerer bin ich gewohnt – es dreht sich meist um Themen für die nächsten Sendungen oder um die Absicherung, eine pointierte Formulierung verwenden zu können (ohne, dass sich eventuell jemand beleidigt fühlt). Auch Bitten sind nicht ungewöhnlich – trotz großer Archivbestände im Hause Angerer und bei Radio Stephansdom findet der Moderator Paul Angerer immer wieder Musikstücke, die er gerne in seinem „Capriccio“ verwenden würde, die allerdings nur einmal (irgendwann in den späten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts) aufgenommen wurden. Aber ein Attentat? Der Anruf Ende Mai musste etwas Besonderes sein. Ein Vorwort für das Capriccio-Buch! Ich wurde ausgewählt, weil uns seit längerer Zeit eine besondere Art der Freundschaft verbindet. Paul Angerer wollte das passende Wort dafür nicht einfallen. Wir haben es gemeinsam gelöst. Ich habe im Internet vorrecherchiert, er hat in einem Lexikon aus dem frühen 19. Jahrhundert die Bestätigung gefunden: Intimus. Was kann der Intimus zur Niederschrift des „musikalischen Lebens“ von Paul Angerer einleitend sagen, was nicht ohnehin im Text folgt? Den Musiker, den Komponisten, den Moderator, den Künstler, den Menschen Paul Angerer zu beschreiben – das überlasse ich ihm selbst. Aber die Geschichte hinter der Geschichte? Im Werkverzeichnis des Komponisten Paul Angerer wird eine Komposition niemals aufscheinen. Sie trägt keine Opus-Zahl. Sie ist nicht verschollen, auch nicht verloren oder gar vernichtet. Sie trägt eine ISBN-Nummer und liegt mit diesem Buch vor. Der Autor Paul Angerer arbeitet nicht wie andere Autoren. Es wurden keine Skizzen angefertigt, um diese Autobiographie zu schreiben. Paul Angerer hat mit Seite 1 begonnen und zu Pfingsten 2010 mit der letzten Seite aufgehört. Er hat dieses Buch durchgeschrieben – eigentlich durchkomponiert. Wobei auch die Art des Schreibens erwähnenswert ist. Paul Angerer hat jede einzelne Seite handgeschrieben (siehe Seite 266 ff.), jede einzelne Seite an seine Tochter Ixi gefaxt. Die Manuskripte wurden transkribiert und wieder retour gefaxt. Dann folgte die Erstkorrektur. Per Telephon wurden die ausgebesserten Stellen eingearbeitet – und dann erst hat der Verlag gesehen, wie es gedacht war. Haben wir uns gedacht ...

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Nach dem ersten Layout war Paul Angerer verzweifelt. Da wurden doch einfach seine Absätze, seine Einrückungen nicht berücksichtigt! Obwohl es schön ausgesehen hatte, war hier etwasschiefgelaufen. Was denkt sich ein Komponist, wenn der Setzer eine Viertelpause durch zwei Achtelpausen ersetzt – nur weil sie schöner aussehen? Für Paul Angerer ist dieses Buch eine Komposition. Jedes Bild muss die richtige Größe am richtigen Ort haben. Jeder Absatz ist ein Absatz (ist ein Absatz). Paul Angerer kam mit einem großen Koffer in den Verlag. Fein säuberlich geordnet fanden sich Klarsichthüllen darin. Für jedes Kapitel eine Hülle mit den jeweiligen Bildern, Dokumenten und Noten. Für alles gab es einen fixen, ganz genau bestimmten Platz. So liegt dieses Buch nun vor. Eine nachträgliche Änderung am Aufbau war für Paul Angerer nicht denkbar. Das ist auch der Grund, warum am Ende dieses Buches neben Notenbeispielen, Widmungen und Manuskripten die „Fundstücke“ stehen. Selten hat dieser Begriff so gepasst, wie in diesem Fall. Beim Suchen nach Bildern und Dokumenten hat Paul Angerer noch etliches „gefunden“. Er wollte es nicht vorenthalten, aber auch nicht zwanghaft einfügen. Deshalb stehen diese Funde jetzt genau dort. Ein „Stück“ hat Paul Angerer schon vorher wiedergefunden. Er hat es selbst bis vor kurzem verloren geglaubt: Eine von ihm handgeschriebene Musikgeschichte. Aufgezeichnet auf jedem verfügbaren Stück Papier, das er als russischer Kriegsgefangener in Auschwitz bekommen konnte (Seite 26). Die ersten Worte der Musikgeschichte lauten: „Bach α und ϖ, Anfang und Ende.“ Paul Angerer hat die allerletzte Arbeit an diesem Buch am 28. Juli 2010 getan. Die Komposition war fertig. Am 260. Todestag von Johann Sebastian Bach. Christoph Wellner Programmdirektor Radio Stephansdom, Wien „Intimus“ von Paul Angerer

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Alles, was dir geschieht, ist dir von Ewigkeit her vorausbestimmt. Jener groĂ&#x;e Zusammenhang von Ursache und Wirkung hat beides, dein Dasein und dieses dein Geschick, von Ewigkeit aufs Innigste verwoben. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, X/V

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I. 1927 – 1938 Es begann am Montag, den 16. Mai 1927 im Hintertrakt des Hauses Weyringergasse 40 im 4. Wiener Bezirk: Zimmer, Küche, Kabinett; ein Petroff-Pianino gehörte zur Einrichtung. Meine Mutter Elisabeth Denk, geboren 1900 in Wien, gebar ihren 2. Sohn – 5 Jahre vorher kam in derselben Wohnung Friedrich auf die Welt. Getauft wurde ich in der Elisabeth-Kirche, die noch heute die Argentinierstraße beherrscht, auf die Namen Paul Leopold Ferdinand. Dass zwei Namen komponierende Habsburger Kaiser waren, freut mich – es war wohl nicht Absicht. Mein Vater, Otto Angerer, geboren 1891 in Wien, war Buchhalter im Bankhaus Schoeller, in gehobener Stellung als Privatbuchhalter Philipp Alois von Schoellers. Aufgewachsen also „auf der oberen Wieden“, der Draschepark drüber der Favoritenstraße war die Freiluftspielstätte. Gegenüber von unserem Wohnhaus hatte mein Angerer-Großvater einen Greißlerladen. Seine Vorfahren waren Fragner aus dem Waldviertel. Das waren Händler mit Landesprodukten, früher mit Butter, Eiern und Rahm, später mit allen Viktualien, die sie bei den Bauern direkt einkauften. Die Vorfahren meiner Mutter stammen aus der Poysdorfer Gegend und weiter aus Böhmen. Sie waren Maurer, Tischler und Musiker.

Die Eltern Elisabeth (1900–1981) und Otto (1891–1963), Hochzeit am 14. August 1921

Meine Mutter, sie spielte sehr gut Klavier, stammte aus einer Musikerfamilie: die Großmutter, Leopoldine geb. Bošak, war ausgebildete Pianistin. Mein Großvater, Carl Denk, geboren 1870, war Klarinettist am Theater an der Wien und im Tonkünstlerorchester, das waren die Vorgänger der Wiener Symphoniker. Er war auch ein Funktionär bei der Musikergewerkschaft und hatte als solcher die Aufgabe, Musiker für das „Apollotheater“ zu engagieren. Das heutige Apollokino wurde 1904 erbaut und war

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Ziehrer’s Imperial Austrian Infantry Band, Madison Square Garden, November 1893

ursprünglich ein Varietétheater, in dem bis zum 1. Weltkrieg u. a. Mata Hari, Rastelli, Grock und Charlie Chaplin gastierten. Während des 1. Weltkrieges wurden Operetten gespielt. Die Musiker waren vom Militärdienst befreit! Viele Jahre später erinnerte sich noch manch alter Musiker: „Oh – der Carl Denk!“

Auf seinem Grabstein steht: Carl Denk, Tonkünstler. Doch damit meinte man „Musiker“ – denn er spielte auch Violine (seine Geige von Martin Matthias Fichtl, Wien 1756, habe ich über einen Onkel geerbt). Ich war noch sehr klein, da saß ich auf einem Schemel zu seinen Füßen, wenn er Klarinette übte. Wenn es besonders schön war, sagte ich: „Ochochal“. Dann wiederholte er diese Stelle „noch einmal“. 1893 spielte er in der Kapelle Carl Michael Ziehrers in der vom Kaiser genehmigten Uniform der Hochund Deutschmeister bei der Weltausstellung in Chicago, in Boston und New York.

Erste Grammophonaufnahme mit Carl Denk (1870–1936), Wien Johannesgasse, mit Selma Kurz

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Dabei: Carl Denk, Großvater von Paul Angerer (4. von links)

Er wirkte auch bei Radioaufnahmen im Funkhaus der RAVAG, heute Johannesgasse 4a, mit. Das Foto zeigt die berühmte Hofopernsängerin Selma Kurz mit einem kleinen Instrumentalensemble, im Hintergrund mein Großvater mit der Klarinette. Die Österreichische Radio-Verkehrs-Aktien-Gesellschaft nahm am 1. Oktober 1924 den Sendebetrieb auf. Bis 1937 war das Funkhaus in der Johannesgasse 4a, im Haus des heutigen „Konservatorium Wien – Privatuniversität“. Am 25. Juli 1934 versuchten die österreichischen Nationalsozialisten, deren Partei, die NSDAP, seit dem 19. Juli 1933 verboten war, durch einen Putsch gegen die Regierung Dollfuß an die Macht zu kommen und besetzten bei dieser Aktion auch das RAVAG-Gebäude.

Später habe ich in einem Antiquariat Stimmenmaterial der StraußFamilie erstanden. Es war damals üblich, dass sich die Musiker, besonders die Bläser, mit ihrer Unterschrift oder Bemerkungen am Ende ihrer Stimme „verewigt“ haben. In der 1. Klarinette des Walzers „Künstlerleben“ von Johann Strauß hat sich mein Großvater eingetragen. Er musizierte auch mit dem Kapellmeister Watzek. Seine wichtigen Anweisungen für die Interpretation des Walzers teilte mir mein Großvater mit – als ich schon bei Verstand war: „Scheiß ich auf Mélodie, wenn ich nicht her (höre) Bass“. Damit meinte er vor allem den Einserschrumm der Bässe. Und genauso „bemisch“ deftig die Ergänzung: „Scheiß ich auf Prim, wann ich nicht her Secund!“

Hiemit bin ich also vorerst mit Walzer, Polkas und Galoppen aufgewachsen – das hat mir später sehr geholfen!

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Paul Angerer als Dirigent, Volksschule Ziegelofengasse

1932 beschlossen meine Eltern, den zehnjährigen Fritz beim Großvater Geige lernen zu lassen. Ich, der Fünfjährige, wollte unbedingt auch. Also führte man mich in die untere Wieden, Mayerhofgasse 5, wo meine Großeltern wohnten. Ich begann auf einer Viertelgeige zu spielen – und ich hatte Freude, endlich selbst Musik machen zu können. Die Volksschule besuchte ich bei den Schulbrüdern in der Ziegelofengasse. Das war eine gute, strenge Schule – ein Lehrer für alle Fächer, mit viel Musik, Zeichnen, Malen und Theaterspiel. Eine ebenfalls strenge Geigenlehrerin, Waltraud Christian, übernahm meine violinistische Ausbildung – und bald spielte ich in der Volksschule als „Rattenfänger von Hameln“ die „Mazurka“ von Alexander Zarzycki und „dirigierte“ den Klassenchor. Mit 6 Jahren begann ich bei einer entfernten Verwandten, einer Harfenistin, Klavier zu lernen. In der benachbarten Thekla-Kirche, in der ich natürlich als Ministrant tätig war, durfte ich auf der Orgel spielen – vorerst nur „manualiter“ (für das Pedal waren die Beine zu Paul Angerer als Rattenfänger von Hameln, 1937, Volksschule Ziegelofengasse kurz) . . .

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Auch das häusliche Musizieren begann: mein Bruder Fritz spielte Ziehharmonika und ich Geige – alles, was möglich war. Und mit meiner Mutter Klavier vierhändig: natürlich Diabelli, Bearbeitungen Bachs und Symphonien von Haydn. 1936 starb mein Großvater. Wir übersiedelten in die untere Wieden, dem vornehmeren Teil des 4. Bezirkes ins Haus „Zur Goldenen Kugel“, Wiedner Hauptstraße 53, beim Engelbrunnen. Mein Vater kaufte mir vom nunmehrigen Geigenlehrer, Prof. Heinrich Christian, eine Geige für 1.000 Schilling, gebaut von Anton Wittmann, Wien im Jahre 1928, sie ist also 1 Jahr jünger als ich!

Nach Abschluss der Volksschule, 1937, kam ich ins Schottengymnasium. Um 1155 berief Markgraf Heinrich II. Jasomirgott irische Benediktinermönche nach Wien. Sie erbauten eine Kirche und ein Kloster. Da Irland damals Neu-Schottland genannt wurde, bürgerte sich im Volksmund die Bezeichnung „Schotten“ ein. Ein Gymnasium bestand schon vom 16. Jhdt. bis 1741. 1807 wurde im Stift auf der Freyung das neue Schottengymnasium eröffnet. Schüler waren u. a. Johann Nestroy, Johann Strauß, Moritz von Schwind und Viktor Adler.

Mein Bruder war schon im Seminar der Schulbrüder in Strebersdorf. Und wieder wurde ich musikalisch geprägt: durch den Gregorianischen Choral, angeleitet von Pater Beda Döbrentei. Die Gregorianik findet sich noch heute in meinen Kompositionen. Beeindruckt war ich auch, wenn sich mein Lateinprofessor, Pater Eigl, mit dem Visitator aus Rom in Latein unterhielt. Lateinisch kann man mit einem Verb so viel ausdrücken – ich bedauere es, dass Latein nicht mehr die Sprache der „allumfassenden Einheit der katholischen Kirche“ ist. Ein neues Kapitel beginnt.

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