Heldenprinzip: Kompass für Innovation und Wandel

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Heldenprinzip | Kompass für Innovation und Wandel Herausgeber Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer, Nina Trobisch, Prof. Dr. Carsten Busch Chefredaktion Nina Trobisch Autoren Nina Trobisch, Karin Denisow, Ingrid Scherübl, Dieter Kraft Gestaltung und Illustration Kerstin Kais Umschlaggestaltung Kerstin Kais Korrektorat Roman Rüttinger, Projektteam Kontakt Berlin Career College Zentralinstitut für Weiterbildung (ZIW) Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip Universität der Künste Berlin Bundesallee 1-12, 10719 Berlin Tel. 030 3185 2860 E-Mail: heldenprinzip@udk-berlin.de Web: www.innovation-heldenprinzip.de Förderung Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip“ wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds unter dem Förderkennzeichen 01FH09159 / 01FH09160 gefördert und als Verbund zwischen dem Zentralinstitut für Weiterbildung (ZIW) an der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) durchgeführt. Es ist ein Projekt des Förderprogramms „Balance von Flexibilität und Stabilität in einer sich wandelnden Arbeitswelt“ im Themenschwerpunkt „Vertrauen in Innovationsprozessen“. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den AutorInnen. Soweit nicht anders gekennzeichnet, werden die weiblichen und männlichen Formen jeweils austauschbar verwendet. Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89462-229-9 Druck und Bindung Ruksaldruck GmbH & Co. KG Verlag Universität der Künste Berlin © 2012 der vorliegenden Ausgabe: Universität der Künste Berlin Alle Rechte vorbehalten


Universit채t der K체nste Berlin


Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer Nina Trobisch Prof. Dr. Carsten Busch

Universit채t der K체nste Berlin


HELDENPRINZIP

N I N A TROBI S C H K A R I N D E N I SOW I NGR I D S C H E RÜ BL DIETER K R A F T


Auftakt Neue Orientierung im Labyrinth der Veränderung

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1 | Perspektivenwechsel Blick zurück 1| Geschenke der Geschichten Blick zurück 2| Gaben der Rationalität Blick zurück 3| Logos versus Mythos Blick nach vorn 1| Spagat der Zeit Blick nach vorn 2| Den Bogen aufspannen

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2 | Heldenprinzip – Arbeitswelt Vorstufe 1| Erfahrungshorizont Veränderung Vorstufe 2| Modellbildung Monomythos Vorstufe 3| Adaptionen des Monomythos Heldenprinzip | Ein tradiertes Muster beflügelt Innovation Heldenprinzip | Dramaturgische Grundstruktur Heldenprinzip | Sinnbild für Wachstum und Wandel Heldenprinzip | Akteure der Innovation Arbeitswelt | Die Brücke zum Handeln Arbeitswelt | Handlungsmächtig im Ungewissen Arbeitswelt | Die Odyssee der Erneuerung

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3 | Kunst der Veränderung – Kunst für Veränderung Das Ästhetische | Wechselspiel der Wahrnehmungen Das Dramaturgische | Dramaturgie als Erlebnisbogen

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4 | Ethischer Impuls

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nhalt

Heldenprinzip | Schrittfolge des Wandels

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1. Akt | Aufbruch 1 Ruf 2 Weigerung 3 Mentor 4 Erste Überwindung der Schwelle

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2. Akt | Abenteuer 5 Weg der Prüfungen 6 Höchste Prüfung 7 Elixier

83 84 90 96

3. Akt | Rückkehr 8 Schwieriger Rückweg 9 Zweite Überwindung der Schwelle 10 Erneuerung 11 Meister zweier Welten

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Ausklang

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Anhang

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Luc

(strahlend): Guck mal, was ich uns Schönes mitgebracht habe!

Lucie

(enttäuscht): Och, wieder nur ein Buch.

Luc

(aufmunternd): Ja, aber da geht es um uns.

Lucie

(einlenkend): Na, dann lies mal vor!

WER nutzt das Heldenprinzip

Individuen, Teams und Organisationen, die sich verändern wollen oder sollen

WIE funktioniert das Heldenprinzip der Held ist die Metapher für Akteure in Entwicklungsprozessen, der Heldenweg ist der Kompass für Analyse, Begleitung und Reflexion von Entwicklungsprozessen WAS ist das Heldenprinzip

die universale Dramaturgie, die den charakteristischen Verlauf von Transformationsprozessen abbildet

WARUM braucht es das Heldenprinzip um bei Menschen und Systemen schöpferisch Veränderungskompetenzen zu entfalten WOHER kommt das Heldenprinzip aus den Einsichten der Menschheit in das Wesen des Wandels

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UFTAKT WOHIN weist das Heldenprinzip in eine zukunftsfähige Veränderungskultur für Wirtschaft und Gesellschaft WOMIT arbeitet das Heldenprinzip mit erfahrungszentrierten Methoden und Interventionen aus Management, Kunst und Psychologie WORIN realisiert sich das Heldenprinzip in Prozessbegleitung, Seminaren, Workshops, Coaching, Mentoring

WANN hilft das Heldenprinzip wenn Innovation oder Change, Wachstum oder Krise zu meistern sind WO wirkt das Heldenprinzip

in der Persönlichkeits-, Team- und Organisationsentwicklung

WOZU gibt es das Heldenprinzip

damit Transformationen aus der kollektiven Weisheit heraus gelingen

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Lucie

(forschend): Denkst du, die meinen mit der „kollektiven Weisheit“ uns?

Luc

(belehrend): Ich glaube, die meinen uns im Allgemeinen.

Lucie

(nachdenklich): Hm, dann lies mal weiter.

Entwicklung verstehen. Wandel meistern. Verantwortbar wachsen. Veränderungsprozessen wohnt ein universelles Grundmuster inne, das uns Menschen vertraut ist aus Mythen, Märchen, Filmen und Games, vor allem aber aus dem eigenen Leben. Obwohl dieses kollektive Wissen bewusst oder unbewusst Orientierung geben kann, wurde es gerade in der Arbeitswelt bisher kaum explizit genutzt. Mit dem HELDENPRINZIP füllen wir diese Lücke. Klassische oder auch postmoderne Heldenfiguren aus Kunst und Realität verweisen in einer archetypischen Dramaturgie stellvertretend darauf, wie man auf einem ungewissen und oft risikoreichen Weg zum Meister der Veränderung reift.¹ In Auswertung unseres mehrjährigen Forschungsprojekts „Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip“ ² und der praktischen Entwicklungsarbeit in Unternehmen bestätigte sich die offensichtliche Analogie zwischen den Dynamiken in der Arbeitswelt und der Charakteristik eines Heldenweges. Dabei steht HELD für jene Aspekte in Menschen und Organisationen, die für den Wandel aktiviert werden müssen: etwa das Feuer für eine lohnende Vision, die Kraft für einen schwierigen Kampf, die Fähigkeit, sich für unbekannte Ziele zu motivieren und die Klugheit, das Erreichte zu festigen. PRINZIP beschreibt die modellhafte Schrittfolge des Grundmusters in den drei großen Akten des Wandels: Aufbruch | Abenteuer | Rückkehr. HELD und PRINZIP zusammen bilden ein transrationales Referenzmodell, das Zugang schafft zu bislang nicht 10


Lassen Sie sich inspirieren! Nehmen Sie das Randgekritzel³ hinzu und schreiben Sie selbst Gedanken auf, die Ihnen durch den Kopf schwirren! Wir wünschen spannende Entdeckungen beim Lesen und ein Lächeln der Weisheit für zwischendurch. Herzlich, die Herausgeber & die Autoren

Luc

(stirnrunzelnd): Das muss ich mir jetzt mal auf der Zunge zergehen lassen.

Lucie

(energisch): Und ich koch uns nen starken Kaffee.

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gekannten Potenzialen im Unsichtbaren (der Unternehmenskultur) oder im Unbewussten (der Persönlichkeit). Die Arbeitsergebnisse des Kooperationsprojekts zum Heldenprinzip an der Universität der Künste Berlin, Berlin Career College und der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin stellen wir in drei Publikationen vor. Im ersten Buch Realität und Magie vom Heldenprinzip heute kommen verschiedene Akteure zu Wort, die die mythologische Struktur der Veränderung in ihren Tätigkeitsfeldern anwenden. In der dritten Veröffentlichung ist geplant, konkrete Praxisfälle aus unserer Arbeit zu beschreiben. Mit dem Buch Heldenprinzip | Kompass für Innovation und Wandel, das Sie gerade in Händen halten, stellen wir ein besonderes „Navigationsgerät“ vor: Es ist gefertigt sowohl aus dem kulturellen Erfahrungsschatz der Menschheit als auch aus den Erkenntnissen von Managementlehre, Psychologie und Kunst. Wir richten im ersten Kapitel ebenso den Blick zurück wie den Blick nach vorn, um deutlich zu machen, was es aus unserer Sicht braucht, damit Innovation und Wandel sinnhaft gestaltet und Kompetenzentfaltung möglich werden. Im zweiten Teil des Buches beschäftigen wir uns detailliert mit der Schrittfolge des Heldenweges und zeigen, welche Entwicklungsszenarien und Orientierungsmuster wir für heute daraus schöpfen können. Es ist uns ein Anliegen, all den Menschen an dieser Stelle besonders zu danken, die mit Rat und Tat zur Seite standen und zusammen mit uns diesen spannenden Weg gegangen sind oder immer noch gehen. Unternehmer, Führungskräfte und Berater, Wissenschaftler und Künstler haben mit ihren Erfahrungen und kreativen Impulsen sehr zum praxisnahen Gelingen beigetragen.

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EUE ORIENTIERTUNG IM LABYRINTH DER VERÄNDERUNG


1 | Perspektiven wechsel Warum die Trennung von Logos und Mythos überwunden werden muss — Wie die gegenwärtigen Herausforderungen in der Synergie von Logos und Mythos zu meistern sind — Wieso das Kohärenzgefühl als Basis von Veränderungsfähigkeit nötig ist

Noch niemand hat es je gewagt, sich freiwillig dem Minotauros im Labyrinth zu stellen. Doch Theseus, Königssohn von Theben, will das menschenfressende Ungeheuer bezwingen. Unbekannt ist das Labyrinth, gefährlich der Widersacher, ungewiss die Aufgabe. Ariadne, Tochter des Königs von Kreta, gibt dem mutigen Jüngling, den sie liebt, einen Wollknäuel, damit er an dem ausgerollten Faden wieder aus dem Labyrinth zurückfindet. Welche Bedeutung hat der hilfreiche Faden? Er leitet Theseus in seinem risikoreichen Vorhaben und ist die Verbindung des Helden zur Außenwelt, er ermöglicht nach dem Kampf den Weg aus dem Labyrinth und damit in die Zukunft. Obschon leitender Faden, zeigt er doch nicht, wie lang die Strecke ist, wie hart der Kampf sein wird, ob Theseus ihn gewinnt. In Analogie zu diesem mythischen Bild rollen wir hier unseren Leitfaden aus, der ebenfalls Mut macht, loszugehen und hilft, sich im Ungewissen zu bewegen. Die Intention dieses Kompendiums besteht darin, das Heldenprinzip für die unternehmerische Praxis zu adaptieren. So, wie die Nadel eines Kompasses sich nach Norden ausrichtet, zeigt unser Kompass die Achse der Erneuerung, an der die Akteure die Richtung des Weges bestimmen können. Dabei handelt es sich nicht einfach um die kürzeste Verbindung zwischen zwei Eckpunkten, sondern um eine ständige Ausrichtung. Zwar kann der Kompass ganz deutlich in eine Richtung zeigen; was aber, wenn diese mit Gestrüpp und Dornen verbarrikadiert ist? Hier gilt es dann abzuwägen, was als Nächstes sinnvoll zu tun wäre: das Hindernis beseitigen, einen Umweg nehmen, Flügel bauen oder... Die Kenntnis des Heldenprinzips minimiert nicht die Unwägbarkeiten und Herausforderungen des Weges, sie gibt uns aber wie hochragende Pflöcke in einer Schneelandschaft die 14


Blick zurück 1 | Geschenke der Geschichten Schauen wir einmal weit zurück, in eine Zeit ohne Facebook, Google und Twitter, ohne Fernsehen und Radio, auch ohne Bücher und Zeitungen. Immer haben Menschen Informationen ausgetauscht und voneinander gelernt. Denn solange die Menschheit existiert, will sie ihr Wissen erweitern, Erkenntnisse verarbeiten und an den Erfahrungen der anderen teilhaben. Als die Jäger von der Jagd kamen, versammelte sich der Clan um das Feuer und die Heimgekehrten zeigten mit Tanz, Gesang, Worten und Gesten, welche Abenteuer sie in der Wildnis bestanden hatten. Sie ließen auf diese Weise noch einmal lebendig werden, was sie da draußen erfahren hatten. Mit vermutlich staunenden Augen oder ängstlichen Blicken folgten die Daheimgebliebenen diesen Berichten. Oder an langen Winterabenden, in denen nur eine kleine Kerze flackerte, beantworteten alte Frauen und weise Männer des Dorfes die lauten und leisen Fragen der Mädchen und Jungen mit Geschichten über das Leben. „In den alten Zeiten, als das Erzählen noch geholfen hat…“ Damit beginnen Märchen und Mythen. Sie sind heilsam in Kummer und Krisen, hilfreich für Erkennen und Entscheiden, wertvoll für Sehnsüchte und Visionen. Geschichten bieten existenzielle Themen der Menschheit in wunderbar gelungenen Formen dar: Finden und Trennen, Werden und Vergehen, Liebe und Hass, Anfang und Ende und vieles andere mehr. Sagen, Märchen, Lieder, Geschichten, die bildmächtig Ereignisse deuten, wurden an Kinder und Kindeskinder mündlich weitergegeben, voll Dramatik und Spannung, damit sie auch ja nicht vergessen werden. Tausendmal erzählt, um Details ergänzt, verbessert oder zugespitzt fanden sie mit der Schrift eine zusätzliche Form der Überlieferung. So entstanden die Mythen. Als Archiv von Menschheitsgeschichten wird durch sie die Schatztruhe des kollektiven Orientierungswissens über Generationen und Kulturen hinweg immer wieder 15

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nötige Orientierung. Sie ermöglicht Vorbereitung für den Weg, Ausrichtung auf seinen verschlungenen Pfaden und aktive Aneignung des Erreichten. Das Wissen um diese archetypische Dramaturgie, als geteiltes Wissen vieler, löst ein Paradoxon: Es generiert Sicherheit für den unsicheren Weg, indem Unsicherheit akzeptiert wird.


aufgefüllt. Damit definieren wir den Mythos als ursprüngliche Form von Erkenntnis, der den Grundstock elementarer Auseinandersetzung des Menschen mit seinen Erfahrungen umfasst und dieses Lebenswissen tradiert. Jede Gesellschaft und jeder Mensch ist mit archetypischen Problemen und lebensnotwendigen Fragestellungen konfrontiert. Um den Zusammenhängen des Lebens Form zu geben und sie einsichtig zu machen, schufen die Menschen sich große Bildwelten. So betrachtet sind Mythen Ausdruck einer seit Jahrtausenden gepflegten Lesart von Sachverhalten, Geschehnissen und Erklärungen, die über das rein rationale Abbilden von Mensch und Natur oder ihre prärationale Simplifizierung weit hinausreicht. Das Besondere dieser Weltaneignung liegt in der Verdichtung zu metaphorischen und narrativen Formen: in Zeichen, Bildern, Symbolen, Figuren, Situationen und lebendigen Handlungssträngen. Damit bieten sie eine Plattform an für unterschiedliche Deutungen: poetische und soziologische, strukturalistische und symbolistische, psychologische und transzendentale. Kurt Hübners Lesart des Mythos als Beschreibung des inneren Wesens der Dinge in ihrem Zusammenhang betrachten wir als den Kern des Mythos.⁴ So wird das gegenwärtige, wissenschaftsorientierte Verstehen von Welt durch die mythische Substanz erweitert. Hübner und Grønbech würdigen diesen Reichtum am Beispiel längst vergangener Zeiten: „Die Griechen... sehen etwas, was wir nicht zu sehen vermögen, deshalb bewegen sich ihre Gedanken in einer ganz anderen Dimension“.⁵ Das Mythologische mit seinen Bruchstücken in „unserem inneren Weltanschauungssystem“ knüpft an unsere Wurzeln der bewusst oder unbewusst wirkenden Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Bewertungsmuster an und formt Gefühle. Das rational nicht mehr oder noch nicht Erfassbare wird in Bildern zum Ausdruck gebracht. Was im kognitiven Bereich schon lange als veränderungswürdig angekommen ist, lässt sich erst fassen und bearbeiten, wenn alle Ebenen des Menschen – Körper, Gefühl, Intellekt, Unbewusstes – beteiligt sind. Damit wird seine Komplexität nicht reduziert oder vereinfacht, bekommt aber Nahrung aus einer anderen Ebene. „Die Macht der inneren Bilder“ ⁶ und der mentalen Modelle beruht nicht zuletzt darauf, dass sie gleichsam im Raum der Vorstellung stehen bleiben, während die verbale Sprache im Bewusstsein immerfort fließt.

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(nachdenklich): Die glauben also, dass Mythen so ne Art Schatztruhe sind, in der Perlen und Rohdiamanten aufbewahrt sind?

Lucie

(zustimmend): So hab ich es verstanden, ja.

Mythen bündeln universelle Erfahrungen und geben Wissen weiter. Sie sind über Kulturkreise und Zeiten hinweg ein kollektiver, weltweiter Fundus der Menschheit. In ihnen bekommt der Zusammenhang des Lebens in emotionalen Bildern und Geschichten eine Gestalt. Bewusst und unbewusst sind sie auch heute noch Teil unserer Verarbeitung von Wirklichkeit und beeinflussen die psychische Verfasstheit von Menschen. Sie leben – im Grunde unseres Herzens – in uns.

Lucie

(freudig): Dann könnte ich ja meine Geschichten und Erlebnisse dort auch reinlegen...

Luc

(liebevoll): Wenn’s dann mal nicht sofort überquillt.

Blick zurück 2 | Gaben der Rationalität Schauen wir nochmals anders zurück, in eine Zeit ohne Laserskalpell, Elektronenmikroskop und Quantenforschung, ohne Hightech und Computer, auch ohne Elektrizität und Eisenbahn. Seit jeher trieb der Forscherdrang die Menschen dazu, die Natur zu ergründen und ihre Lebensumstände zu analysieren. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich ein Streben, wissenschaftliche Erklärungen zu suchen und objektive Erkenntnisse zu erringen. Solange die Menschheit existiert, will sie ihr Wissen für die Vervollkommnung ihrer Lebensbedingungen nutzbar machen. Ein abgedunkelter enger Raum. Das Licht fokussiert einen Tisch, auf dem ein Toter liegt. Ein Arzt in vornehmer, niederländischer Kleidung des 17. Jahrhunderts hält ein medizinisches Instrument in der Linken, mit dem er in den geöffneten Unterarm der Leiche weist. Er demonstriert seinem wissbegierigen Publikum die Anatomie der Skelettmuskulatur des vor ihm liegenden Objektes. Das Gemälde „Die Anatomie 17

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Luc


des Dr. Tulp“ von Rembrandt zeigt eine der berühmten medizinischen Vorführungen, die in seiner Zeit gesellschaftliche Ereignisse waren. Die gemalte Szene weist sinnbildlich auf einen Trend hin: das zunehmende Interesse der Allgemeinheit an naturwissenschaftlichen Einblicken und die Art und Weise, wie sie den Menschen zugänglich gemacht wurden. Für den medizinischen Fortschritt ist es notwendig, den menschlichen Körper bis ins kleinste Detail zu kennen. Um Flugzeuge zu bauen, muss man gesicherte Kenntnisse über Gravitation und Thermik besitzen. Lange zuvor haben Universalgenies wie Leonardo da Vinci (1452 -1519) in anatomischen, mechanischen und physikalischen Experimenten um wissenschaftliche Einsicht gerungen. Schon vor der Aufklärung begann das grandiose Projekt der Moderne, das menschliche Bewusstsein durch die rationale Vernunft aus der Enge des Glaubens als einem bloßen Fürwahrhalten zu lösen. Die Welt wurde mit anderen Augen wahrnehmbar, gestützt auf bisher unbekannte Instrumente. Die Zeit der großen Entdeckungen begann. Das wissenschaftliche Weltbild breitete sich aus. Aus dem Handwerk wuchs die technische Industrie, die Wirtschaft nahm Schwung auf. Rationales Erforschen und Erkennen zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass überprüfbare Beziehungen von Ursache und Wirkung in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Vom Bild zum Begriff, vom Symbol zum Raster, vom Abwägen zur Präzision, von der Idee zur Zahl, vom Erkunden zum Analysieren. Rationalität bietet der Menschheit Erklärungsmuster in sachlich nüchternen Formen an: Wenn-dann, weil, aufgrund, deswegen... Die Menschen wollen wissen, wie etwas funktioniert, um es eigenmächtig in Anwendung bringen zu können. Die Fragestellungen, die zur Beantwortung anstehen, zeugen vom Drang, die Lebenswelten naturwissenschaftlich zu durchdringen. So stellt sich rationale Erkenntnis zunehmend die Frage, wie etwas zu bewerten ist, ob etwas richtig oder falsch ist, ob es vernünftig und nützlich ist. Das Besondere dieser Weltaneignung ist ihre Konkretisierung in Zahlen, Daten, Fakten, liegt im Erkennen von Details und in Abgrenzungen beim Differenzierungsprozess. Dadurch bekommt die Fähigkeit, Kausalitäten herzustellen und im Voraus planerisch abzuschätzen, zunehmend Bedeutung.

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Luc

(verschmitzt): Und dann hat sich die Menschheit nagelneue Schuhe geschustert, mit denen sie schneller gehen, fliegen, schwimmen kann.

Lucie

(schmollend): Sie waren so wahnsinnig stolz darauf, dass sie die alten am liebsten entsorgt hätten.

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Mit der Aufklärung begann die Zeit großer und immer schneller aufeinanderfolgender Entdeckungen, die die Welt wissenschaftlich erkennbarer und erklärbarer machten. Nun wird das Verstehen von Welt durch das stetige Reflektieren und Hinterfragen objektiviert. Ziel ist es, aus hypothetisch vorgestellten zu naturgesetzlichen Zusammenhängen vorzudringen, damit weitere und immer differenziertere Erkenntnisse möglich werden. Hier kommen Kategorien wie Effektivität und Effizienz ins Spiel; Zweckorientiertheit von Erkenntnis tritt in den Vordergrund. Diese Erkenntnisart braucht andere Mittel, Methoden und Verfahren, die eine Plattform für Messbarkeit und Überprüfbarkeit schaffen: Das Experiment wird zum wichtigen Prüfstein für wissenschaftlich begründete Forschung. Überprüfte Hypothesen, tabellarische Reihungen, komplizierte Formeln, analytische Schaubilder, quantitative Messungen, Hochrechnungen u.a. stellen ein immer komplexeres Verstehen von Zusammenhängen in Aussicht. In einer Entzauberung der Natur durch das Offenlegen ihrer Geheimnisse nach Nützlichkeitsprinzipien und in ihrem Anspruch auf theoriegeleitete Erkenntnis sehen wir den Kern des Rationalen. Die Kriterien der Rationalität ermöglichten eine zunehmende Beherrschbarkeit der Lebenswelten zur Herstellung von nützlichen und effizienten Instrumentarien und Produkten. Naturwissenschaftliche Nachweise und technische Funktionalität stehen seither im Vordergrund und bescheren uns die großartigen und zugleich janusköpfigen Errungenschaften des wissenschaftlich-technischen Zeitalters.


Blick zurück 3 | Logos versus Mythos „ ...das Subjekt und das Objekt, die Idee des Objektiven und des Subjektiven – sie wurden mit der europäischen Wissenschaft geboren, und da sie nicht gestorben sind, machen sie uns noch heute Schwierigkeiten.“ ⁷

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Hans Peter Fischer

Während sich der Mensch im Mythos noch als Mittelpunkt seiner Welt sieht, zerlegt der Mensch im wissenschaftlichen Zeitalter die Zusammenhänge in Teilbereiche, um sich ihrer zu bemächtigen. Das aber hat weitreichende Konsequenzen. Schauen wir uns das am Beispiel von Kopernikus an: Er konnte nach seinen eigenen astronomischen Berechnungen nicht länger die allgemeine Deutung aufrechterhalten, dass die Sonne um die Erde kreist. Er erkannte, dass umgekehrt die Erde um die Sonne kreist, was allerdings jedem Anschein widersprach. Das führte zu einer spezifischen Verunsicherung: ich sehe etwas und weiß doch, dass es anders ist. Wenn wahr ist, was meiner eigenen sinnlichen Wahrnehmung widerspricht, worauf kann sich mein Wissen dann stützen? Muss dann nicht die Logik prüfbarer Fakten die eigentliche Art der Erkenntnisgewinnung sein? Seit diesen zeittypischen Überlegungen verschloss sich das rationale Denken mehr und mehr dem sinnlichen Zugang zur Realität. In der Wende von der unmittelbaren Erfahrung zur rationalen Abstraktion manifestiert sich eine folgenschwere Spaltung des Menschen, die einen immer tieferen Graben aufreißt zwischen der sinnlichen und der begrifflichen Erkenntnis, zwischen der Welt der Phänomene und der Welt der abstrakten Zeichen, zwischen dem sinnlich wahrnehmbaren und dem rational messbaren Zugang zur Wirklichkeit. Die gesellschaftlich entstandene Übereinkunft, den Wissenschaftstheorien mehr zu vertrauen als der natürlichen Erfahrung, machte die Wissenschaft zur Dominante für Denk- und Handlungsweisen. Das war die Geburtsstunde für die Trennung des Subjektiven vom Objektiven, die uns zwei Dinge zugleich bescherte: eine unglaublich effiziente Entwicklung, die wir heute Industrialisierung nennen, aber auch die beginnende Zeit der Entfremdung des Menschen von sich selbst. Zunehmend wurden der Emotion und Intuition Türen in Wirtschaft und Wissenschaft verschlossen. Allmählich bekam dort alles, was nicht in die Sparte der Rationalität oder des objektiv Nachweisbaren passte, einen irgendwie eigentümlichen Geruch.

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Luc

(vernünftig): Doch nützliche Schuhe sind auch viel wert.

Und so erging es auch den Mythen. Wie viele andere Begriffe hat der Begriff des Mythos einen gesellschaftlichen Bedeutungswandel durchlebt.⁸ Die Wahrheiten der Mythen erschienen zunehmend irreal und verstandesmäßig nicht greifbar. Ohne das Fundament der wissenschaftlichen Beweisbarkeit hielten sie der rationalen Logik nicht stand. Deshalb wurden sie als Phantasien, Ammenmärchen oder Lügengeschichten abgetan. Folgen wir der Annahme, wonach der Mensch ein vernunftbegabtes und zweckorientiertes Wesen ist, dann wäre die Periode des Mythos eine Zeit, in der den Menschen die Mittel fehlten, zu „erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethe, Faust I). So hätten sie das „Übersinnliche“ genutzt, um sich das Nichterklärbare zu deuten. In dieser Argumentation wird der Mythos zum kindlich naiven, vorwissenschaftlichen Erklärungsversuch von Welt und Natur. Bezogen auf Ken Wilbers Theoriemodell der „Prä / Trans-Verwechslung“ ⁹ wurden die Mythen so ausschließlich dem Bereich des prärationalen Bewusstseins zugeordnet. Nach einer anderen Annahme vollzieht sich Entwicklung immer vom Niederen zum Höheren. Aus dieser Perspektive wäre das Verdrängen des Mythos ein unumgänglicher ideengeschichtlicher Vorgang, der den Mythos als niedere Bewusstseinsstufe disqualifiziert. Beide Deutungen sind symptomatisch für die Dominanz des Wissenschaftlichen und die Abwertung alles Nichtwissenschaftlichen. Obwohl auch heute weit verbreitet ¹⁰, sehen wir das als Ergebnis reduktionistischer Rationalisierungen, jener Entzauberung der Welt durch den aufgeklärten Verstand. Ausgeblendet wird damit die Qualität des mythischen Denkens in ihrer Transrationalität.¹¹ So stellen wir fest, dass Logos und Mythos, Erkenntnis und Erfahrung, Erklärung und Intuition gegenwärtig in verschiedenen Häusern wohnen, deren Gardinen voreinander zugezogen sind.

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(immer noch schmollend): Schade um die schönen Perlen.

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Lucie


Blick nach vorn 1 | Spagat der Zeit Effizienter, funktionaler, perfekter! Reicht das heute? Die Szenen des skurrilen kleinen Mannes, der ausgestattet mit einem überdimensionalen Schraubenzieher der unbeherrschbaren Aufgabe Herr werden soll, an einem immer schneller werdenden Fließband im Akkord zu arbeiten und darüber den Verstand verliert, gehört zu den Filmklassikern des letzten Jahrhunderts und treibt uns ein Lachen ins Gesicht, das im Halse stecken bleibt.¹² Obwohl in unseren Breiten digitale Lösungen und Computer die menschenunwürdige Fließbandarbeit schon lange ersetzt haben, greift zunehmend Verunsicherung im privaten, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben um sich. Krisenzeiten verschärfen den Veränderungsdruck. Immer häufiger befinden sich Individuen, Teams, Organisationen, sogar ganze Gesellschaften bzw. Wirtschaftszonen (siehe den Kampf um den „sterbenden“ Euro) in Situationen, wo lineares Denken in althergebrachten rationalen Strukturen nicht genügt. Allerorten ist zu beobachten, wie Strategien, die vor wenigen Jahren als bewährte Erfolgsrezepte in der Wirtschaft Furore machten, an Gültigkeit verlieren. Gleichwohl hält das Management sein Plädoyer noch immer für Berechenbarkeit, Beherrschbarkeit und Kontrolle. Nichtplanbares gilt als Störfall statt als Normalität in stark veränderlichen Umwelten. „Hard Facts“ aus Rationalität, Funktionalität und Kalkül regieren; während die „weichen Faktoren“ als schwer messbar und kaum zu skalieren gelten und in guten Zeiten „Zubrot“, in schlechten Zeiten die ersten Opfer des Rotstiftes sind. Veränderungen in den gegenwärtigen technologischen und organisationellen Zusammenhängen werden als störend, intransparent, chaotisch, unwägbar und ohne Sinn erlebt. Der Mensch wird in Arbeitspakete geteilt, obwohl er ganzheitlich handeln müsste. Prekäre Arbeitsverhältnisse, Überforderung, schleichende Depression und Burn-out sind Zeichen der Zeit. Unter diesen Umständen müssen sich Unternehmen jedoch Themen stellen wie: die Gestaltung von Kulturen der Wertschätzung, des Vertrauens, der Innovationskraft; Corporate Social Responsibility, transformationale Führung, demographischer Wandel u.ä. Diese Aufgaben brauchen aber Energien und Atmosphären, die sich erst mit der Integration der „weichen Faktoren“ entfalten, um schließlich Bewertungssysteme und Verhalten vieler Menschen nachdrücklich zum Positiven zu verändern. Schneller, weiter, höher!? Gilt das noch? Darf das noch gelten? 22


Blick nach vorn 2 | Den Bogen aufspannen

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Nähern wir uns der Beantwortung dieser Fragen über ein dunkles Kapitel unsere Geschichte: Frühling 1945, ein sonnigwarmer Tag. Seit Stunden ist das KZ Bergen-Belsen befreit. Die Häftlinge sind sich in ihrer Not selbst überlassen. Einer der Überlebenden schleppt sich durch das offene Tor hinaus und stolpert auf die erste naheliegende Wiese. Was sein Blick gerade noch einfängt, sind die sich im Wind bewegenden Grashalme. So liegt er viele Stunden und ganz langsam spürt er, wie eine innere Berührung erstmals zu ihm zurückkommt.¹³ Am Applied Social Research Institute befragte in den 60er Jahren ein amerikanischer Soziologe Frauen aus Mitteleuropa, die zwischen 1914 und 1923 geboren wurden, unter ihnen auch eine Kontrollgruppe von Überlebenden aus Konzentrationslagern. Erstaunlicherweise waren 29 % der ehemals internierten Frauen trotz der extremen existentiellen Belastungen in einem guten mentalen Zustand.¹⁴ Diese Beispiele legen nahe, dass es augenscheinlich etwas gibt im Menschen, das ihn von innen her in extremen Situationen stabilisiert. Im ersten Beispiel von Viktor Frankl ist es die Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung des Lebendigen, was Entfremdungsprozessen entgegenwirkt. Im zweiten Beispiel leitete Aaron Antonovsky sein Konzept der Salutogenese aus der Tatsache ab, dass Menschen wider Erwarten in schlimmen Umständen ihre geistige Unversehrtheit behalten. In seinem Salutogenese-Konzept ¹⁵ formuliert er, dass sie dafür einen „sense of coherence“ brauchen, also einen Sinn für Stimmigkeit und Zusammenhalt und zudem ein Gefühl dafür, ob und wie sich dieser Sinn gerade in ihren konkreten Situationen ausprägt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Menschen umso gesünder sind, je stärker ihr Kohärenzsinn ist und sie in der Lage sind, in ihren Lebensumständen diese Kohärenz auch zu fühlen. Kohärenz sei „eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß eine Person ein durchdringendes, dynamisches Gefühl des Vertrauens darauf hat“,¹⁶ sodass Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit in diesen Situationen vorherrschen. Es sind zentrale Aspekte, sagt er, damit Menschen sich von Umständen gefordert, aber nicht überfordert bzw. unterfordert fühlen. Ein Gefühl für Kohärenz, auch in herausfordernden Veränderungsprozessen, entsteht also unter drei wesentlichen Voraussetzungen:


VERSTEHEN Veränderungen müssen in ihrem Zusammenhang verstanden werden MEISTERN Das nötige Selbstvertrauen und die Mittel müssen verfügbar sein, dass diese Veränderungen gestaltbar sind SINN WAHRNEHMEN In der Veränderung muss ein Sinn erkannt werden Wenn also Veränderung verständlich sein soll, müssen wir Wissenschaftlichkeit und Zweckgerichtetheit als Teil unserer Erkenntniswirklichkeit (rationales Bewusstsein) anwenden. Zusätzlich aber benötigen wir für das Meistern der Veränderung und das Erkennen von Sinn ein erweitertes und vertieftes Bewusstsein. Es beinhaltet all die individuellen Erfahrungen und Eindrücke, die im Laufe des Lebens gewonnen wurden. Sie sind als sinnliche Erinnerungen abrufbar und/oder im Unterbewussten gespeichert. Daneben stehen uns kollektive Weisheiten, die in uns schlummern, als Teil des prärationalen sowie des transrationalen Bewusstseins zur Verfügung. Speziell im Mythos und im mythischen Denken verknüpfen sich diese Erfahrungs- und Erkenntniselemente. Denn Mythen sind Wissensressourcen, die aus einer Zeit stammen, bevor die Spaltung von Subjekt und Objekt stattgefunden hat. In ihnen liegen Denkspuren, die das Meistern von Veränderung mit der Stiftung von Sinn verknüpfen; sie führen zu einem integrativen Verstehen von Welt. Menschen stabilisieren sich, wenn sie all ihre Energien und Kräfte einsetzen können und sich im Einklang mit einem lebendigen Zusammenhang fühlen. So lassen sich selbst schwierige Situationen und Dynamiken bewältigen, ohne dass es zu anhaltenden Schädigungen kommt. Deshalb ist uns eine Veränderungskultur wichtig, die Mythos und Logos zu einem neuen Bewusstsein verbindet. Wir möchten etwas über Generationen hinweg besonders in der Arbeitswelt Abgespaltenes hinzunehmen: kommunikative Bezüglichkeiten und Belange, die wir nicht rational erfassen. Sich über sie gedanklich oder spürend zu vergewissern, eröffnet einen transrationalen Wirklichkeitszugang. Das Kriterium für Transrationalität sehen wir in der verschränkten Gleichzeitigkeit von Unmittelbarkeit und Reflexion. Dazu gehört Rationalität ebenso wie Emotionalität, Körperlichkeit ebenso wie Intuition. Das Heldenprinzip verbindet diese Ressourcen von Wirklichkeitsdarstellung mit Deutung 24


und lässt sie aus einer tieferen Struktur wirken. Das transrationale Element des Heldenprinzips führt zu einer Aktivierung von archetypischen Mustern unter Einschluss hoher Rationalität und Wissensbeständen. Das mythische Denken ermöglicht Zugänge zu unbewussten Vorgängen, vor allem aber zum Erspüren größerer Zusammenhänge und Missstände. Abstraktionen werden durch mythisches Denken gegenwärtig, Dimensionen des eigenen Verhaltens sinnlich zugänglich. Denken, Fühlen und Handeln werden in der qualitativen Verschränkung ganzheitlich und kraftvoll. Außerdem liegt unser Bild-Erleben in tieferen, früheren Schichten unseres Gehirns als die rationale Kognition. Dadurch bringt die sprachliche Übersetzung des Heldenmythos Sinnlichkeit in die rationale Arbeitswelt und eine lebendige Sprache in das funktionale Managementvokabular. Bezogen auf die mythische Begriffswelt ist das Aufblühen von Kohärenz damit für uns die Qualität eines HELDEN. Dann ziehen wir die Gardinen zurück und öffnen die Fenster...

Lucie

(erschöpft): Puhh, ganz schön schwerer Tobak...

Luc

Oh ja!

Lucie

(bittend): Fass doch mal zusammen, du kannst das immer so schön.

Luc

(holt tief Luft): Also, der Mensch hat zwei Arten von Erkenntnis; eine mit Bildern und Geschichten, eine mit Zahlen und Fakten. Die kann man fein säuberlich trennen, dann entsteht in uns und untereinander Spaltung. Oder wir verknüpfen sie und bleiben mit uns selbst und anderen verbunden.

Lucie

(ergänzt): Das scheint zwar so kompliziert wie aus dem Labyrinth des Minotauros herauszufinden oder dem Blick der Medusa unversteinert zu entkommen, aber um aus dem heutigen Wandels wie Phönix aus der Asche emporzusteigen, braucht es diesen Faden der Ariadne? ¹⁷

Luc

(entzückt): Genau, so kann man das kurz sagen, Süße.

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2| Heldenprinzip Arbeitswelt Wo menschliche Erfahrung von Veränderung gebündelt ist — Was unter dem Heldenprinzip zu verstehen ist — Was das Heldenprinzip zu einer Erneuerungskultur in der Arbeitswelt beiträgt

Vorstufe 1 | Erfahrungshorizont Veränderung Was teilen Herakles und Rapunzel, was verbindet Gilgamesch mit Parzival, was haben Prometheus und Inanna gemeinsam? Diese Fragestellung lässt sich vervielfältigen und immer wieder neu über alle Kontinente und Kulturkreise hinweg zusammenstellen. Sie lässt sich ausdehnen auf Persönlichkeiten aus Geschichte, Wissenschaft, Politik und Kunst. Sie lässt sich ergänzen um die vielen unbekannten Personen, von denen nur die engsten Vertrauten wissen. Ob Wirklichkeit oder Kunst, dramatische Begebenheit oder stilles Ereignis – menschliche Wachstums- und Wandlungsprozesse verlaufen nach modellhaften Mustern. Bewusst oder unbewusst nehmen wir sie in Filmen, Büchern, Games wahr. Wir alle kennen diese Schrittfolge, vor allem aus dem eigenen Leben. Denn real oder fiktiv, Mann oder Frau, Individuum, Gruppe oder Unternehmen: Ein Entwicklungs- und Veränderungsprozess vollzieht sich immer innerhalb einer ähnlichen Abfolge. Diese Dramaturgie der Veränderung ist ein kollektives Wissen, das jeden berührt. Was also eint sie alle: Helden verlassen gewohnte Bahnen, überwinden Schwellen, stellen sich ihren größten Ängsten und wagen Neues.

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