Regine Normann: Das Goldbergschloss im Nordwestmeer (Märchen)

Page 1

Regine Normann

Das Goldbergschloss im Nordwestmeer

Ăźbersetzt von DĂśrte Giebel 2019


Das Goldbergschloss im Nordwestmeer

Es waren einmal ein Mann und seine Frau, die lebten abgeschieden auf einem flachen Küstenstreifen direkt am offenen Meer. Gleich hinter dem Ufer erhob sich ein steiler Berg mit einem viereckigen schwarzen Loch mitten in der glatten Felswand. Aus diesem Loch drang bisweilen ein derartiges Weinen und Wehklagen, dass es für die, die dort in der Nähe wohnten und doch nicht zu Hilfe eilen konnten, kaum auszuhalten war. Vor der Küste lagen noch ein paar flache, grasbewachsene Inselchen, danach kam nichts weiter als Meer und Himmel. Der Mann und seine Frau beherbergten einen Hausgeist auf dem Dachboden über ihrer Stube, denn schon vor ihnen hatten Menschen auf diesem Fleckchen Erde gewohnt. Der Kobold war zum Glück von der gutmütigen Sorte, und es ließ sich leicht mit ihm unter einem Dach leben. Karianna, ihre kleine Tochter, brachte regelmäßig Fischsuppe zu ihm hinauf. Und wenn die Mutter Brot buk, formte Karianna für ihn einen kleinen Laib und steckte ein Speckstück in die Mitte. Nur Kreuz und Krone ritzte sie nie hinein, denn dann würde er es nicht anrühren, hatte die Mutter ihr erklärt. An einem Sommerabend, als ihre Eltern aufs Meer hinausgerudert waren, um Kohlfisch zu angeln, und das Vieh schon wieder sicher im Stall stand, setzte sich Karianna auf den Hügel in Höhe des Giebels, schaute zum Boot hinaus und versuchte die glänzenden Fische zu zählen, die ihre Eltern über die Reling zogen. Wie sie so dasaß und zuschaute, erblickte sie plötzlich einen riesigen Drachen, der über das Meer und die kleinen Inseln hinweg herangerauscht kam. Er hielt direkt auf die Bergwand zu und verschwand in dem schwarzen Loch. Sogleich begann ein solches Jammern und Schreien, dass Karianna zu Tode erschrocken die Treppe zum Haus hinaufsprang und nach dem Haus-

2


kobold rief, dass er kommen und sie retten müsse. Kaum hatte sie gerufen, kam er ihr auch schon entgegengelaufen, ein uraltes Männlein in grauer Lodenjoppe mit einer Mütze aus Otterfell auf dem Kopf und einem breiten Bartkranz um Kinn und Wangen. Das Mädchen warf sich in seine Arme und flehte ihn an, sie von dem schrecklichen Drachen zu befreien, der gerade in das Loch oben im Berg geflogen sei und nun begonnen habe, dort drinnen jemanden zu quälen. „Komm und begleite mich zu meinem Nachbarn”, sagte der Kobold, nahm Karianna bei der Hand und ging mit ihr zu der Anhöhe, von der sie gerade gekommen war. Er klopfte mit seinem rechten Mittelfinger gegen eine Steinplatte, und sofort erschien eine Öffnung, gerade groß genug für die beiden, um in den Hügel hineinzukommen. Im Inneren sah es aus wie in einer Wohnstube. Dort saß ein mindestens genau so altes Männlein und schnitt mit seinem Messer kleine Streifen Fleisch von einer geräucherten Keule und trank saure Milch dazu. „Guten Abend, Herr Nachbar”, grüßte der Hauskobold. „Guten Abend zurück”, antwortete der Erdwichtel. „Komm her und probier von all diesen Leckereien”, sagte er und schob die Keule und den Milchkrug zu ihm hinüber. So saßen sie eine Weile und aßen und tranken, bis der Wichtel fragte, was denn das für ein kleines Geschöpf sei, das den Kobold begleitete, und dieser antwortete, das sei das aufgeweckte Mädchen, das ihm regelmäßig Fischsuppe und frisches Brot brachte. Am Abend habe sie den Drachen vom Goldbergschloss gesehen, wie er in das Loch oben in der Bergwand flog, und sei zu ihm gerannt gekommen, damit er sie vor dem Ungeheuer rette. „Oh, wenn du das liebe kleine Mädchen bist, das immer auf meinem Stubendach sitzt und spielt, dann kenne ich dich”, sagte der Wichtel. „Setz dich auf meinen Fußschemel und hab keine Angst. Hier traut sich der Drache nicht hinein, da kannst du sicher sein.” Dann erzählte ihr das Männlein, dass lange bevor er selbst ins Hügelgrab gezogen war, ein Meereskönig am Ufer gewohnt hatte. Eines Tages, als dieser auf Feldzug war, kam der Drache vom roten Goldbergschloss im Norwestmeer und entführte seinen Sohn. Das Schloss aber und alle, die darin wohnten, sowie alles, was sich darin befand, verbannte er mit einem Zauber hinter die Felswand, so dass nur noch eine kleine Öffnung zu sehen war. Als der König von seiner Fahrt zurückkam, fand er von alledem, 3


was sich an Ort und Stelle befunden hatte, nichts mehr vor als den öden Uferstreifen. Seitdem zog er ziellos umher und suchte nach seiner Königin und seinem Sohn, aber er fand sie beide nicht wieder. „Gibt es denn gar niemanden, der den Drachen töten und den Königssohn befreien kann?”, fragte Karianna und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Um das zu schaffen, bräuchte es einen Menschen aus Fleisch und Blut”, antworteten die beiden alten Geistergestalten und besprachen sich leise. Karianna saß derweil auf dem Fußschemel und dachte an den Prinzen und das Goldbergschloss, bis der Hauskobold sich von der Sitzbank erhob und sagte, dass es an der Zeit sei, wieder zu ihnen hinüber ins Haus zu gehen. Seit diesem Abend schaute Karianna immerzu gen Nordwesten auf der Suche nach dem roten Goldbergschloss. Und jedes Mal, wenn die Sonne im Meer versank, glaubte sie es hinter den glühenden Wolken aufscheinen zu sehen, aber sicher war sie sich nicht. Schließlich zog die Sonne tiefer und tiefer über das Himmelszelt, bis Karianna eines Tages vergeblich Ausschau hielt, denn die Sonne ging nun gar nicht mehr auf, und der Glanz, der ihr verriet, wo das Schloss lag, war erloschen. Der Winter kam und ging. Der Frühling kam und ging. Und auch der halbe Sommer war schon vorbei, als Karianna von den felsigen Steinen aus, die sich ein Stück unterhalb der Bergnase befanden, das rote Goldbergschloss erblickte. Es schwebte dicht über dem Meer, und dahinter schimmerte der Himmel wie eine grüne Schale, und davor befand sich ein Zaun aus gleißendem Feuer. Das Schloss hatte Türme mit Zinnen, und auf einem dieser Turmkränze stand der Prinz und winkte ihr zu. Sie winkte zurück, zuerst nur mit einer Hand, dann mit ihrem Kopftuch, um sicherzugehen, dass er sehen konnte, dass sie ihm antwortete. Doch im selben Augenblick loderten die Flammen vor dem Schloss auf und verbargen den Prinzen, und als sie wieder verblassten, war das Schloss verschwunden.

4


Schnell kletterte Karianna von den Felsbrocken herunter und lief nach Hause, um dem Kobold zu erzählen, was sie gesehen hatte, und er nahm sie sogleich mit in den Hügel hinein zu dessen Bewohner. „Willst du mitkommen und den Prinzen befreien, jetzt, wo du ihn gesehen hast?”, fragte der Erdwichtel, und Karianna antwortete, dass sie nichts lieber täte als das, wenn ihr nur jemand dabei hülfe. Da nahm der Erdwichtel ein altes abgewetztes Feuereisen und legte es in ihre Hände. „Pass gut darauf auf, damit du es unterwegs nicht verlierst”, sagte er. „Wenn du zum Schloss kommst, wirfst du es über den Drachen, der hinter dem Feuerzaun liegt und schläft, dann ist der Weg zum Prinzen frei.” „Aber wie soll ich zum Schloss kommen?”, fragte Karianna, als sie das Feuereisen an sich nahm und in ihrer Brusttasche verbarg. „Ich selbst werde mit dir dorthin segeln”, antwortete der Erdwichtel und begann, für sich und den Hauskobold seetaugliche Kleidung hervorzukramen. Als sie aus dem Hügel hervortraten, lag ganz in der Nähe bereits ein schönes Schiff vor Anker. Die beiden Greise liefen voraus zum Ufer, während Karianna schnell bei ihrer Mutter hineinschaute, um ihr Bescheid zu sagen, dass sie für einige Tage fortbliebe, denn sie müsse los, um den Prinzen befreien. Die Mutter segnete ihre Tochter und gab ihr ein Brot und einen Kanten Käse als Wegzehrung mit, und schon ging Karianna an Bord. Das Kerlchen aus dem Hügel ergriff das Ruder, und der Hauskobold setzte die Segel, und schneller als der Wind wehen und als jeder Vogel fliegen konnte, trug das Schiff sie auf und davon. Während sie so segelten, kamen sie an einen gigantischen Abgrund. Er fiel jäh ab und führte kein Wasser. Auf der anderen Seite des Abgrunds lag glänzend das rote Goldbergschloss, und oben auf einem der Türme stand der Prinz. Sein Antlitz war schneeweiß, und er hielt die Arme vor der Brust verschränkt. „Hier endet meine Macht”, sagte der Erdwichtel und ließ die Ruderpinne los. „Aber meine nicht!”, rief der Hauskobold und begann, aus den Tiefen des Meeres alles heraufzubeschwören, was sich darin an Fischen und sonstigem

5


Getier verborgen hielt. Er lockte sowohl die freundlichsten als auch die garstigsten Geschöpfe hervor. Nur den großen Draugr konnte er nicht erreichen. „Wir schaffen es auch ohne den Kerl”, sagte der Hauskobold. Und dann fragte er alle, die auf sein Rufen hin erschienen waren, ob einer von ihnen bereit sei, die verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen, das Mädchen unbeschadet hinüber zum Goldbergschloss zu bringen. „Lass mich das tun!”, tönte ein riesiger Heilbutt und wälzte sich neben dem Schiff aus dem Wasser empor. Doch sobald Karianna versuchte, sich auf seinen Rücken zu setzen, glitt sie wieder herunter. „Ich sollte dich sowieso etwas besser verstecken, wenn wir den mächtigen Untoten aus dem Meer gegen uns haben”, sagte der Heilbutt und verwandelte Karianna kurzerhand in eine kleine Muschel und legte sie in seinen hohlen Zahn. Und alle Fische und Würmer und andere Lebewesen schworen, das Mädchen mit allem, was sie an Kraft und Macht aufbringen konnten, zu beschützen und zu verteidigen. In dem Moment tauchte der große Draugr aus der Tiefe empor, über und über mit Tang und Muscheln bedeckt. „Das Meer soll brennen, wo immer du wirst rennen, und dich zu Kohle versengen!”, schrie er und schlug mit dem Schiffskiel in seiner Pranke nach dem Heilbutt. „Du hast mich nicht, und du kriegst mich nicht, denn ich kenne Wege, die tiefer führen als du tauchen kannst”, spottete der Heilbutt und schoss schneller als ein Pfeil hinunter zum Meeresboden – der große Draugr hinterher. Auch alle Fische und alles andere Meeresgetier tauchten hinab. Der Abgrund füllte sich mit gleißenden Flammen, und das Meer brodelte und brauste, so dass die Männer Mühe hatten, ihr Schiff in Sicherheit zu bringen. Tief unten auf dem Meeresboden, wo es kein Tageslicht gab, weil niemals ein Sonnenstrahl dort hinkam, befand sich ein schmaler Spalt in einem kantigen Felsen. Hinter diesem Spalt tat sich eine Höhle auf, mit Wänden aus schimmerndem Bernstein. Der Heilbutt schob sich durch den Spalt, verwandelte Karianna in eine Meerjungfrau und bat sie, in der Höhle zu bleiben,

6


während er selbst wieder hinausschlüpfte, um den Kampf mit ihrem Feind aufzunehmen. Es dauerte nicht lange, da erschien der große Draugr mit einem Heer aus Klabautermännern hinter sich. Sie brachten Schiffsplanken und dicke Stränge aus Seetang als Waffen mit und sahen furchterregend aus. Doch der Heilbutt und sein Heer lagen bereits in Stellung. Sie hatten nichts als ihre Körper als Waffen. Die einen fauchten und hackten mit ihren Zähnen, die anderen gebrauchten ihre Krallen und Klauen. Einige spuckten giftigen Eiter, andere benutzen ihre Schwänze als Peitschen. Mitten im blutigen Meeresschlamm lag die Tintenfischmutter und griff sich mit ihren langen, schweren Armen einen Klabautermann nach dem anderen, während der Wal und das Walross, der Seehund und der Eissturmvogel und alle anderen, die so geschaffen waren, dass sie über Wasser Luft holen mussten, hin und her schossen und ihre Kampfeskünste dort einsetzen, wo sie am meisten gebraucht wurden. Drei Tage und drei Nächte dauerte die Schlacht, bis der große Draugr endlich die Flucht ergiff und mit ihm all diejenigen aus seinem Heer, die noch genügend Kraft hatten, um zu entkommen. Der Heilbutt hatte sich im Kampf die Schwanzflosse verletzt. Er löste sein Heer auf und beauftragte die Tintenfischmutter damit, vor dem Höhleneingang Wache zu halten. Sogleich machte sich Karianna daran, die Wunde des Butts von den Splittern aus Holz und Eisen zu reinigen. Sie verwendete eine Seetangsalbe, so wie ihre Mutter es schon getan hatte, wenn sich jemand verletzt hatte, und band einen Stofflappen um die Wunde. Trotzdem dauerte es viele Tage, bis der Heilbutt wieder gesund genug war, um sich aus der Höhle hinauszuwagen. Und er war noch lange nicht in der Lage, den weiten Weg bis zum roten Goldbergschloss im Nordwestmeer auf sich zu nehmen. Karianna ging der Prinz derweil nicht aus dem Kopf, und ihr Herz überschlug sich jedes Mal bei dem Gedanken, ihn endlich zu befreien. Eines Tages, als sie nichts Böses ahnten, regnete es plötzlich Flammen von der Decke der Höhle. Der Heilbutt schoss herum, schnappte sich Karianna, verwandelte sie wieder in eine kleine Muschel, versteckte sie in seinem Zahn und 7


schaffte es gerade noch, sich in einen der engen Gänge zu retten, die von der großen Höhle abgingen, bevor das Wasser in der Höhle zu kochen begann. Er hastete den Gang entlang, dass das Wasser nur so an ihm vorbeibrauste, doch wo er auch hinkam, überall traf er auf eine unerträgliche Hitze. Und vom Dach her hörte er den Draugr beim Anblick der Qualen, die er seinem Feind bereitete, lauthals lachen. Da schoss der Heilbutt hinunter zum Meeresgrund und stieß sein Maul in den Sand. „Hilf mir jetzt, du, der du unter mir wohnst!”, schrie er, und sofort öffnete sich der Boden, und der König der Seeschlangen steckte seinen Kopf durch die Öffnung und ließ ihn hinein. Unter dem Meeresboden gab es Wald und Wiesen, Himmel und Tageslicht wie oben auf der Erde. Mitten in einem See stand ein Schloss aus Marmor, umgeben von einem Wald, der wie Kupfer glänzte. Dort wohnte der Schlangenkönig. Er hieß den Heilbutt in seinem Reich willkommen und begleitete ihn zum Thron. „Zeig mir, wen du da in deinem Zahn versteckst, damit ich hier bei mir auch mal einen leibhaftigen Menschen zu Gesicht bekomme”, sagte er. Sofort zauberte der Heilbutt Karianna hervor, so dass sie vor ihnen stand, als wäre sie zu Hause bei ihren Eltern. Der Schlangenkönig starrte sie an, während die Lamellen seiner Rüstung glitzerten wie die schönsten Edelsteine, und seine Barthaare zitterten. Karianna grüßte so freundlich und ehrerbietig, wie sie nur konnte, denn noch nie hatte sie so etwas Schönes und Prächtiges gesehen wie diesen Schlangenkönig, und der Prinz verschwand aus ihrem Kopf. Der Schlangenkönig fragte sie, ob sie bleiben und seine Königin werden wolle, sie solle auch alles bekommen, was immer sie begehrte. Doch da erinnerte sich Karianna an den Grund ihrer Reise, und sie erzählte, worum es ihr in Wirklichkeit gehe, dass sie zum roten Goldbergschloss im Nordwestmeer müsse, um den Prinzen zu befreien. Und sie bemerkte, dass sie ja auch noch das Feuereisen hatte. „Tu, was du tun musst, ich werde dich nicht daran hindern”, sagte der Schlangenkönig. Und mit diesen Worten kleidete er Karianna in ein Kleid blauer als das klarste Blau des Himmels und übersäht mit Sternen, und sie 8


bekam Schuhe aus Goldfischhaut, und in ihr Haar flocht er lange Perlenschnüre. „Und wenn du irgendwann einmal in Not gerätst, dann rufst du nach mir”, sagte er. So machten sie sich auf den Weg. Karianna saß auf dem Rücken des Heilbutts, und der Schlangenkönig glitt an ihrer Seite dahin. Sie schwammen durch einen Silberwald, dort gab es Vögel, aber sie sangen nicht. Sie schwammen durch einen goldenen Wald, dort gab es Blumen, aber sie dufteten nicht. Sie schwammen unterhalb des Nordwestmeeres, und als sie auftauchten, waren sie beim roten Goldbergschloss. Es war gerade Mittagszeit, als sie ankamen, und der Drache schlief tief und fest hinter dem Feuerzaun. „Nimm dein Feuereisen und geh direkt durch die Hitze und schleudere es über den Drachen.” Karianna machte sich auf den Weg. Noch nie hatte sie etwas so Schönes und zugleich so Furchterregendes gesehen. Und hätte der Prinz nicht darauf gewartet, dass sie kam und ihn befreite, so wäre sie umgedreht und hätte den Butt dazu gebracht, sie zurück zum Strand und zu ihren Eltern zu bringen. Doch jetzt durfte sie nicht aufgeben! Sie ging direkt ins Feuer hinein, und die Flammen wendeten sich von ihr ab, und nicht ein einziger Faden ihrer Kleidung und nicht eine einzige Haarsträhne wurden versengt. Als sie sich dem Drachen näherte, zog sie das Feuereisen hervor und schleuderte es mit aller Kraft über ihn hinweg. Da zersprang der Drachenkörper in tausend Stücke und zerstob wie ein heftiger Glutregen in alle Richtungen, und der Weg zum Schloss lag offen vor ihr. Karianna stieg die Treppen hinauf. Vor ihr öffnete sich ein Saal in einem Saal in einem Saal, und alle schimmerten sie golden. Und ganz im innersten Saal saß der Prinz, steif und bleich, und antworte nicht, als sie grüßte und sich zu erkennen gab. „Ach, halt mich und tröste mich, ich komme zu spät, um dich zu retten!“, rief sie und warf sich in seinen Schoß und begann zu weinen. Doch da erinnerte sie sich an das Versprechen des Schlangenkönigs und rief so laut, dass es in allen Sälen widerhallte: „Große Seeschlange, komm hilf mir!” 9


Sofort erschien der Schlangenkönig. Er gab ihr ein klitzekleines blutrotes Blatt und sagte, sie solle es dem Prinzen unter die Zunge legen, dann werde er wieder zum Leben erwachen. Und schon war er wieder auf dem Weg heraus aus dem Schloss und zurück in sein Reich, genauso einsam wie zuvor. Der Prinz war überglücklich, als er erfuhr, was Karianna alles für ihn getan hatte. Gemeinsam gingen sie durch das Schloss, und er zeigte ihr die Herrlichkeiten darin, und schließlich fragte er sie, ob sie seine Königin werden wolle. Und wie sie das wollte! Doch zuerst musste sie nach Haus zu ihren Eltern und ihnen sagen, dass sie lebte und es ihr gut ging. Auf der Schlosstreppe trafen sie den Hauskobold und den Erdwichtel. Die beiden kamen ihnen in voller Seemannsmontur entgegen und fragten, ob jemand eine Transportgelegenheit brauche, denn ihr Schiff sei bereit, in See zu stechen. Karianna und der Prinz kamen mit, denn nun war es möglich, über den Abgrund zu segeln. Als sie sich dem Ufer näherten, erkannte Karianna ihren Geburtsort nicht wieder. Das Schloss des Prinzen stand nun genau an der Stelle, an der ihr Häuschen gestanden hatte, und es wimmelte nur so vor Menschen und Fahrzeugen. Und hätte sie nicht ihren Vater und ihre Mutter unten am Bootssteg entdeckt, hätte sie geglaubt, sie wären am falschen Ort gelandet. Sie feierten ihre Hochzeit lange und ausgelassen. Doch als der Hochzeitsbraten aufgegessen und das Bier ausgetrunken war und alle Gäste sich satt und zufrieden zeigten, bedankte sich der Erdwichtel und verabschiedete sich. Und der Hauskobold kam mit ihm in den Hügel, denn im Haus war es ihm jetzt zu laut und trubelig geworden. Und schnipp, schnapp, schnaus, jetzt ist das Märchen aus.

10


Det røde gullbergslottet i Nordvesthavet ist zuerst erschienen in dem Buch Nye Eventyr von Regine Normann (Oslo 1926).

Die Übersetzerin Dörte Giebel (Jahrgang 1970) studierte Deutsche Sprache und Literatur in Hamburg und arbeitet heute als Social Media Managerin, Texterin und Literaturübersetzerin. Auf Nordlieben.de bloggt sie unter anderem über zeitgenössische norwegische Literatur. Während eines Sabbatjahres entdeckte sie die Schriftstellerin Regine Normann und reiste auf deren Spuren durch Norwegen. 2017 organisierte Dörte Giebel eine Online-Spendenaktion, um eines der beliebten blauen Gedenkschilder in Oslo zu finanzieren; es hängt heute an der Hauswand in der Stensgate 3, wo Regine Normann fast 30 Jahre lang wohnte.

11


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.