DHV-info Nr. 227

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EKI MAUTE

FULLSTALL | FLUGTECHNIK

Soll ich überhaupt Fullstall fliegen? Wir springen zur Einleitung: Kurz gesagt – es ist eine Philosophiefrage. Meiner Meinung nach gehört zu einem kompletten Piloten das Beherrschen des Fullstalls genauso dazu, wie die Reaktion auf Einklapper oder das Groundhandling. Der nötige Trainingsaufwand zum Erlernen des Stalls ist jedoch deutlich höher. Um einen Fullstall richtig zu beherrschen, sollte man schon etwa 50-100 Stück in kurzer Zeit erflogen haben. Erst dann kann man sagen, dass man den Stall mit dem Gleitschirm beherrscht. Bin ich ein Gelegenheitspilot mit 10-20 Flügen im Jahr und fliege nur in ruhiger Luft, ist es nicht unbedingt nötig, den Fullstall zu erlernen. Hier ist die Strategie der Stallvermeidung, die Wahl einer sicheren Ausrüstung und eine defensive Wettereinschätzung sicherlich der bessere Weg. Möchte ich aber weg von den ruhigen Hausbergthermiktagen und Soaringflügen, hin zu Streckenflügen in stärkerer Thermik oder gar Schirme ab High-B fliegen, sollte ich das Fullstalltraining in Erwägung ziehen. Denn hier ist die Wahrscheinlichkeit von unbeabsichtigten Stalls, Verhängern oder Situationen, die den gesamten Steuerweg benötigen, durchaus höher.

Was lerne ich vom Fullstall? Vor allem das Gefühl eines Strömungsabrisses. Ich erspüre, wie sich ein beginnender Stall anfühlt und auch wie es ist, in einem vollentwickelten Stall zu sein. Auch ohne den Fullstall bis zur Perfektion zu trainieren, lerne ich bei 2-3 angeleiteten Fullstalls im Sicherheitstraining eine Menge dazu. Körperhaltung, Körperspannung, Armführung, Steuerdrücke und Blickführung – um nur ein paar Punkte zu nennen. Außerdem erlerne ich, wie ich zumindest aus so einer Situation wieder herauskomme – oder noch besser: Eine Strömungsabrisssituation früh erkenne und vermeide. Unterschied FULLSTALL / PROSTALL

Der Fullstall dient in erster Linie nicht als Resetknopf für Störungen. Das ist eher Aberglaube: „Wenn mein Schirm nicht mehr das macht, was ich will, dann stall ich ihn, zerstöre ihn komplett und baue ihn in aller Ruhe in der Luft wieder auf“. Diesen Satz hört man tatsächlich recht häufig, doch leider funktioniert das nicht wirklich. Den Schirm wie oben beschrieben, komplett zu zerstören, ist tatsächlich eher eine schlechte Idee. Genau das führt meist zu noch mehr Problemen www.dhv.de

und geht am Ende sogar bis zur Rettungschirmauslösung. Anders verhält es sich jedoch mit der Technik des Prostalls. Hier wird der Schirm nicht komplett entleert, aber die Strömung am Profil geändert. Genau diese Anströmung von hinten wird genutzt, um Verhänger oder andere Störungen zu lösen. Zusammengefasst ist wichtig: Stall ist nicht gleich Stall. Der Fullstall ist kein Resetknopf, um Störungen zu beseitigen oder Verhänger zu lösen. Der Prostall schon. Ein komplett entleerter Fullstall sorgt eher auf Grund der hohen Unruhe für Probleme. Dennoch ist viel Training nötig, um mit einem Strömungsabriss in der Prostalltechnik Störungen am Gleitschirm in der Luft zu lösen. Unrealistisch ist es aber ganz und gar nicht. Jeder kann dieses Niveau mit ausreichend Zeit und einem guten Trainer erreichen. Warum brauche ich den kontrolliert erflogenen Strömungsabriss (Prostall)?

In erster Linie, um aus einem unbeabsichtigten Stall schnell, sicher und ohne großen Höhenverlust wieder herauszukommen. Beherrsche ich den Prostall, kann ich die

Rückwärtsflugphase auch nutzen, um Tuch-, Leinenverhänger, die von vorne in den Leinen hängen, zu lösen. Achtung: nicht bei jeder Tuch-, Leinemverhänger Art ist der Prostall eine Lösungsmöglichkeit. Es hängt vor der Position des verhängten Tuches ab. Wirklich effektiv lassen sich nur Verhänger lösen bei denen das Tuch vor den Leinen verhangen ist. (In Flugrichtung vor den Leinen). Für andere Verhänger ist ein einfaches Händehoch, ein einseitiger Strömungsabriss, Stabiloleine oder Seitenklapper die bessere Variante).

DER AUTOR Simon Winkler, Sicherheitstrainer, DHV-Fluglehrerausbilder und ehemaliger Akro World Cup Pilot. Am Gleitschirmsport liebt er alle Facetten: Hausbergthermik, Hike+Fly, XC oder Speedriden. Der angehende Airlinepilot gibt sein Wissen gerne zusammen mit dem DHV Lehrteam in Artikeln für das DHV-Info weiter.

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