Der Schlepper Nr. 31

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KINDERFLÜCHTLINGE chen eine Möglichkeit haben müssen, ihre Beweispflicht auch bei Mittellosigkeit zu erfüllen. Eine Klage gegen das Verfahren scheiterte bisher an Kostengründen, nicht nur für die Anwaltsgebühren, sondern auch für den Unterhalt des betroffenen jungen Flüchtlings, der bis zur Gerichtsentscheidung von den Hamburger Behörden weder Papiere noch Unterkunft und Verpflegung bekäme. Da die große Mehrheit der neu angekommenen Jugendlichen das Geld für die Altersüberprüfung nicht hat und auch Jugendhilfeorganisationen dafür keine Mittel zur Verfügung haben, kann seitdem kaum ein junger Flüchtling mehr die ärztliche Untersuchung wahrnehmen. In Ausnahmefällen zahlen Organisationen wie unser Straßensozialarbeits-Projekt INFO INTERNATIONAL dieses Geld, und manchmal konnte dann auch erreicht werden, dass der Jugendliche wieder für unter 16 erklärt wurde. In diesen Fällen wird das Geld zurück erstattet. Oft bestätigt aber das Institut für Rechtsmedizin durch seine fragwürdigen „Untersuchungen" das von der Ausländerbehörde festgesetzte Geburtsdatum. Der Jugendliche erhält dann lediglich einen Zettel, auf dem „16-18" oder „über 18 Jahre" angekreuzt ist und muss sich damit wieder zur Ausländerbehörde begeben, um eine Berechtigung für eine Fahrkarte (ohne ICE und IC!) an den Verteilort zu bekommen, die er sich dann am Bahnhof abholen muss. Verschwinden aus der Statistik Durch die Umverteilung, der die für über 16 erklärten Flüchtlinge Folge leisten müssen, verschwinden sie aus Hamburg, zumindest aus der Statistik. Nur zu einigen Umverteilten können Projekte wie INFO INTERNATIONAL (dessen Finanzierung aber Ende Februar 2005 ausläuft) weiter Kontakt halten, und in wenigen Einzelfällen, wie z.B. im Mai 2002 bei einem jungen Mädchen aus Liberia, konnten wir durch mühsame Kontakte zu Behörden, Beratungsstellen, Jugendämtern und Ehrenamtlichen, erreichen, dass „Ältergemachte" am Verteilort wieder für unter 16 erklärt und – meist nach langem Hin und Her – wieder nach Hamburg zurück verteilt wurden. In der letzten Zeit gelingt das nicht mehr, da Hamburg die Auffassung vertritt, dass dasjenige Bundesland, das einen von den hiesigen Behörden umverteilten jungen Flüchtling für minderjährig hält und die Hamburger Altersfestsetzung rückgängig macht, auch für dessen Unterbringung in der Jugendhilfe zuständig sei. Die Methoden der „Altersfeststellungen" sind auch unter ExpertInnen umstritten. In Hamburg geschieht die Altersschätzung zum einen mittels „Inaugenscheinnahme" durch SachbearbeiterInnen der Ausländerbehörde, die z.B. Weisheitszähne, Bartwuchs oder Körpergröße „begutachten", zum andern durch medizinische „Untersuchungen", z.B. der Zähne, der Sexualorgane

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und der allgemeinen körperlichen Entwicklung. Diese Begutachtungen erfolgen ohne muttersprachliche Erklärungen und in entwürdigender Weise, da den meisten Jugendlichen nicht nachvollziehbar ist, warum sie sich vor ihnen fremden ÄrztInnen (oft anderen Geschlechts) nackt ausziehen und von ihnen an den intimsten Körperteilen betrachten und berühren lassen müssen, ohne krank zu sein. Das umstrittene Röntgen der Handwurzelknochen darf nur auf Gerichtsbeschluss durchgeführt werden, da Röntgen ohne medizinischen Grund als Körperverletzung gilt, wenn keine Straftat vorliegt, und wird deshalb bei Neuangekommenen nicht angewandt. Zulässig ist Röntgen allerdings, wenn den Jugendlichen Straftaten vorgeworfen werden, und das geschieht auch bei Neuangekommenen oft im Nachhinein, insbesondere dann, wenn sie von den Behörden für „mindestens 18" erklärt wurden.

„Ältermachen" ist für die Hamburger Behörden inzwischen zur gängigen Methode geworden, um sich junger Flüchtlinge und der Verantwortung für sie zu entledigen. Aus einer angeblich falschen Altersangabe wurde von Behörden und Justiz der Straftatbestand der „mittelbaren Falschbeurkundung" konstruiert. Das führt dazu, dass neu angekommene oder auch von der Polizei irgendwo in der Stadt aufgegriffene Jugendliche allein deswegen festgenommen werden, weil man sie für älter hält als sie selbst angeben. Dies passiert auch Flüchtlingen, die bereits vor Monaten oder gar Jahren eingereist sind und als unter 16jährige anerkannt wurden, wenn sie z.B. in der Ausländerbehörde ihre Aufenthaltspapiere verlängern oder beim Sozialamt Geld abholen wollen. In der letzten Zeit werden zunehmend inhaftierte Jugendliche, die vor allem wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, in manchen Fällen aber lediglich wegen „illegaler Einreise" oder anderer ausländerrechtsspezifischer Delikte oder gar nur wegen „mittelbarer Falschbeurkundung" angeklagt sind, zu medizinischen „Altersuntersuchungen" im Institut für Rechtsmedizin vorgeführt – in Handschellen und in Begleitung von Justizbeamten. Gegen die „Gutachten", mit denen die meisten der kriminalisierten Jugendlichen für über 18 oder sogar für über 21 Jahre alt erklärt werden, können die Betroffenen kaum vorgehen.

Der Schlepper Nr. 31 · Frühjahr 2005

Folge ist, dass sie aus der Jugendhaftanstalt ins Untersuchungsgefängnis bzw. die Justizvollzugsanstalt für Erwachsene verlegt werden, dass ihnen keine Unterstützung durch die Jugendgerichtshilfe mehr zusteht und dass sie zu viel höheren Strafen verurteilt werden. Die hohen Strafen und die mangelnde Unterstützung in Haft erleichtern dann auch eine Abschiebung. Abschreckungswirkung Das systematische „Ältermachen" sowie die kriminalisierenden Maßnahmen haben auch Abschreckungswirkung. Nicht wenige Jugendliche verlassen deshalb Hamburg und versuchen, in anderen (Bundes-)Ländern bessere Lebensmöglichkeiten zu finden. Durch verminderten Zuzug, Umverteilung, Illegalisierung und Kriminalisierung leben gegenwärtig offiziell nur noch wenige unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Hamburg. Die Zahl der Plätze in der Erstversorgung wurde auf 25 reduziert. In früheren Jahren gab es über 250 Plätze. Wir behaupten deshalb (und können das durch zahlreiche Einzelfälle belegen): „Ältermachen" ist für die Hamburger Behörden inzwischen zur gängigen Methode geworden, um sich junger Flüchtlinge und der Verantwortung für sie zu entledigen. Dies verletzt die Jugendlichen in ihren Grundrechten. Wir halten die in Hamburg angewandten Verfahrensweisen und Methoden der „Altersfeststellungen" für rechtswidrig, wissenschaftlich fragwürdig und rassistisch. Es ist nicht möglich, das physische Alter junger Menschen exakt zu bestimmen, erst recht nicht, wenn sie aus ganz unterschiedlichen Weltregionen kommen. Dies hat sogar die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in ihrem gemeinsam mit der Gesellschaft für Rechtsmedizin herausgegebenen Newsletter AKFOS (z.B. in No. 3, 1999 bzgl. der geographischen Unterschiede in der Zahnentwicklung) festgestellt. Worum es allein gehen kann, ist, den Jugendhilfebedarf junger Flüchtlinge zu ermitteln. Wesentlich muss dabei sein, dass sie nach dem KJHG gleiche Rechte wie deutsche Kinder und Jugendliche haben. Entscheidend für Unterbringung und Betreuung kann nur der in einem längeren Prozess durch pädagogische Fachkräfte festzustellende erzieherische Bedarf sein, und gemäß KJHG können Jugendhilfeleistungen in bestimmten Fällen bis zum Alter von 27 Jahren gewährt werden. Jungen Flüchtlingen das Recht auf Unterstützung und Betreuung durch willkürliches „Ältermachen" vorzuenthalten, kann langfristig dazu führen, dass auch anderen Kindern und Jugendlichen dieses Recht zunehmend beschnitten wird.

www.frsh.de


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