DENKBILDER Abrakadabra

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Vom Zauber des Dadaismus Ein Gedicht Tristan Tzaras

Ana Lupu «Nun ist’s nicht mehr der Gegenstand, der die äußersten Enden seiner Flugbahn in der Iris vertauscht und sich fehlerhaft auf die Oberfläche projiziert. Der Photograph hat ein neues Verfahren erfunden: er hält dem Raum das Bild, das dessen Grenzen sprengt, entgegen und die Luft reißt’s mit gesenkter Stirn und geballten Händen in ihr Innerstes um es zu verwahren.» So Tristan Tzara in dem von Walter Benjamin als Die Photographie von der Kehrseite aus dem Französischen übersetzten, 1922 erschienen Text. Dieses Zitat liefert einen Ansatz, um sich mit dem Gedicht abrakadabrakadaver, französisch Carnage abracadabrant zu befassen [s. Seiten 14/15]. Die scheinbare Ungegenständlichkeit des vorliegenden Gedichts, wird beim Lesen desselben erzeugt: Die aneinandergereih-

ten, unmittelbar aufgedrängten und rasch niedergeschriebenen Wörter sind wie Risse aus einem anderen Text. Von ihrem Ursprung losgelöst, finden die Wörter, die vom Einfall diktiert zu sein scheinen, zu einem Wortspiel, das ihre Gespaltenheit doppelt sichtbar macht. Indem sie voneinander differieren und sich stets einer Fixierung auf (unmögliche) Bedeutung entziehen, sind sie umso mehr in der eigenen Schriftlichkeit gefangen. Es entsteht eine Intimität zwischen Wort und Ding, die das Eine mit dem Anderen identifizieren lässt. Der Reiz des Ästhetischen wird durch den gewaltsamen, doch schöpferischen scheinbaren Zufall der Simultaneität dieser objets trouvés gesteigert. Wenn also in einer Inversion von Verhältnissen der Photograph «dem Raum das Bild entgegenhält», dann widerspiegelt hier der

Text seine Unlesbarkeit, seine Medialität, wie etwa die readymades Marcel Duchamps, die, so Dietrich Mathy, von «keiner Gebrauchsmanipulation veränderten Gebrauchsgegenständen» gegen Rationalität und Normativität revoltieren. Kunst und Leben sind für den Dadaisten durch Umstülpen, Zersetzen, Subversion und Verlachen sich selbst vorgelagert. Die Skepsis gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Kunstbegriff führt zu einer Vorstellung von Kunst, die im pathetischen Manifestton ihre negative Komponente findet. Anti-Kunst wird zur Anti-Lyrik, einer, so Hauck, «parasitären [...] Konstruktion eines kontingenten Materials», dessen Textelemente laut Kieruj «auf den Raum der gegenwärtigen Gleichzeitigkeit reduziert wer-

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