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Kunst im Angesicht des Faschismus
Zum Politischen im Werk von Friedl Dicker-Brandeis ca. 1930 bis 1942 1
Stefanie Kitzberger
Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‹wie es denn eigentlich gewesen ist›. Es heißt, sich einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte 2
I.
Zwei weiß lackierte Stühle stehen im Zimmer eines Altbaus. Der Altbau, vermutlich in Wien, das Zimmer, vielleicht ein Raum, in dem Friedl Dicker lebte, bevor sie 1933, kurz nach Ende ihres Gefängnisaufenthalts aufgrund einer Verurteilung wegen angeblicher Dokumentenfälschung in die damalige Tschechoslowakei emigrierte.3 In diesem Innenraum hat eine den heutigen Betrachter*innen unbekannte Person, womöglich Dicker selbst, nacheinander insgesamt neun 1,2 × 1/0,9 Meter große Tafeln4 aus Holzfaser und Sperrholz dokumentiert, die in unterschiedlichen Techniken bemalt, beschriftet und mit Ausschnitten aus Schwarz-Weiß-Fotografien und ausgeschnittenen Schriften beklebt wurden: Es handelt sich um sechs großformatige Fotocollagen der Künstlerin Friedl Dicker � S. 200, die sich als linkspolitisch positionierte Agitationsbilder einordnen lassen. Die erhaltenen Glasnegative,5 die mit einer Fachkamera angefertigt wurden, zeigen somit künstlerische Arbeiten Dickers, die zwar offenkundig eine größere Öffentlichkeit adressierten, jedoch anstatt in ihrem ‹natürlichen› Milieu –in einer politischen Ausstellung oder einem Arbeiterklub – in diesen Privaträumlichkeiten inszeniert wurden.6 Mit Ausnahme eines Paars zeigen die Aufnahmen jeweils einzelne, um 90 Grad gedrehte, auf zwei Stühlen platzierte Tafeln, deren Unterkanten die Sitzflächen berühren, und hinter deren Oberkanten sich das Relief einer geschreinerten Türe abzeichnet. Links der Fotocollagen wird ein gefliester, nach oben hin abgetreppter Kamin sichtbar. In der das Tafelpaar zeigenden Fotografie ist ganz rechts ein mit einem karierten Leintuch bespanntes Bett erkennbar.7 Darüber befinden sich drei Steckdosen, aus denen ein Elektrokabel nach unten hängt. Die Linke der beiden Tafeln liegt auf zwei schmalen Büchern auf, eines davon eine Ausgabe von Friedrich
Engels’ Der deutsche Bauernkrieg (1850). Während die Fotocollagen selbst bereits kurze Zeit nach ihrer Dokumentation verschwinden und mit ihnen sämtliche Informationen zu ihrem konkreten Entstehungskontext (Auftrag, Funktion, Ausstellungsort), wird Friedl Dickers Freundin Anny Wottitz-Moller die Glasnegative während der Zeit des Nationalsozialismus aufbewahren. Ihre Erb*innen werden sie zusammen mit anderen erhaltenen Arbeiten der Künstlerin ab den 1990er-Jahren einem breiten Publikum zugänglich machen und so die erste detaillierte kunsthistorische Auseinandersetzung ermöglichen.8
Die hier skizzierte Konstellation des Erscheinens und Verschwindens der Fotocollagen Dickers ist charakteristisch für die mehrfache Prekarität, welche ihr künstlerisches Gesamtwerk durchzieht: Wir begegnen einer in ihrer materiellen Substanz verloren gegangenen künstlerischen Arbeit, die nur als Reproduktion erhalten blieb, und zu deren ursprünglichen Produktions- und Rezeptionskontexten kaum Primärquellen existieren. Dies betrifft etwa auch die gesamte gebaute Architektur (mit Ausnahme einiger Möbel), die die Künstlerin in ihrer langjährigen Ateliergemeinschaft mit Franz Singer entworfen hatte. Sie wurde zerstört und ist heute nur noch fragmentarisch über Fotografien oder Entwurfsgrafiken übermittelt. Ein Großteil der in der Literatur angeführten kontextuellen Informationen entstammt nicht schriftlichen Dokumenten, sondern der mündlichen Überlieferung durch Zeitzeug*innen an die Kunsttherapeutin und Dicker-Biografin Elena Makarova. Diese veröffentlichte ihre Informationen jedoch in Form einer Erzählung von Dickers Leben ohne genauere quellenkritische Kommentare.9
Dennoch, die Reproduktionen der Fotocollagen verraten selbst einiges über die Umstände ihrer eigenen Herstellung und bieten so ihrer sozial- und kunsthistorischen Interpretation einen relevanten Rahmen. Denn der bisher unbeachtet gebliebene domestische Raum, in dem sie inszeniert wurden, erweist sich nicht nur als einfache Erweiterung der Evidenzen, auf die sich die Biograf*in in ihrer Erzählung berufen kann. Als jenseits der öffentlichen Sphäre10 positionierter Ort der sozialen Reproduktion und der unbezahlten ‹weiblichen› Arbeit, wie er bis heute in der politischen Ökonomie marginalisiert wird, reflektiert er die spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen, unter denen die Collagen von ihrer Autorin um 1930 hergestellt wurden: Als aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende und lange unverheiratete jüdische Frau musste sie von Kindheit an mit klassistischer, antisemitisch-rassistischer und misogyner Diskriminierung umgehen. Zwar kannte sie bedeutende Intellektuelle und Personen in und außerhalb des Kunstbetriebs, konnte sich aber nie institutionell verankern, schloss sich abseits ihrer Kooperationen mit dem Dramaturgen Berthold Viertel und dem Architekten Franz Singer keiner der bekannten Künstler*innen-Gruppen der europäischen Avantgarde an und profitierte entsprechend auch nicht von deren transnationalen Disseminationsstrategien.11 Zudem verfügte sie über keine größeren Rücklagen, sondern musste ihren Lebensunterhalt aus eigener Arbeit bestreiten – eine Notwendigkeit, deren Bewerkstelligung mit der ‹Machtergreifung› der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 sowie dem sogenannten ‹Anschluss› 1938 massiv erschwert und nach ihrer Deportation nach Theresienstadt verunmöglicht wurde.12
Diese privaten und politischen ‹Umstände›, unter denen Friedl Dicker-Brandeis in den 1930er-Jahren bis zu ihrer Deportation ins KZ Theresienstadt (über)lebte, haben sich wie die Ränder der beschriebenen Fotografien scheinbar zufällig in die Form ihrer
Stefanie Kitzberger
künstlerischen Arbeiten eingeschrieben: Der aus dem Hintergrund hervortretende ‹private Rahmen› innerhalb der Fotografien regt dazu an, die Rolle des ‹Privaten› als ein dem Werk scheinbar Äußerliches oder Unpolitisches zu überdenken. In der nachfolgenden Untersuchung des Verhältnisses von Kunst und Politik in Dicker-Brandeis’ späterem Werk möchte ich diesem Aspekt Rechnung tragen. Über inhaltliche und formale Werkanalysen möchte ich exemplarisch eine Art der Interpretation vorschlagen, die den ästhetischen Modus des Politischen in den Arbeiten von Dicker-Brandeis verdeutlicht und diesen in einen konkreten Bezug zur ‹privaten› Biografie der Künstlerin stellt, um so die scheinbare Trennung von Politik, Kunst und Privatem zu hinterfragen, die insbesondere im Falle von marginalisierten Personen wie Dicker-Brandeis in Zweifel zu ziehen ist. Ich möchte im Zuge dessen auch versuchen, die oft vage bleibende ‹kommunistische› oder ‹linke› Verortung der Künstlerin innerhalb zeitgenössischer gesellschafts- und parteipolitischer Entwicklungen mittels genauer Betrachtungen zu Form und Inhalt ihrer künstlerischen Arbeit nachzuschärfen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welchen Umgang Dicker-Brandeis mit den sich in den 1930er- und 1940er-Jahren insbesondere für jüdische Sozialist*innen rapide verschlechternden Produktions-, Distributions- und Publikumsverhältnissen fand, und wie sich dieser in ihren künstlerischen Strategien und Ausdrucksformen konkret artikulierte.
II. Während Dickers Frühwerk meist im Hinblick auf formal-ästhetische Aspekte beziehungsweise auf die Rezeption bildnerischer Strategien der internationalen Avantgarden am Bauhaus betrachtet wird, taucht die Bezeichnung ‹politisch› vorwiegend in Beschreibungen ihrer späteren Werke auf, allen voran der bereits erwähnten Fotocollagen sowie der unmittelbar nach Dickers Emigration in die Tschechoslowakei 1933 entstandenen Verhör-Serie � S. 152. Tatsächlich begann die Künstlerin erst in den 1930er-Jahren damit, ihre politische Haltung explizit in ihre künstlerische Produktion hineinzutragen. Sie kam jedoch bereits zu einem frühen Zeitpunkt mit linkspolitischen Ansichten in Berührung. Bereits in den 1910er-Jahren begannen teils langjährige Freundschaften mit Personen aus dem Umfeld der zionistisch-sozialistischen Wiener
Warenüberfluss (Detail), 1932–33 Inv.nr. 15.590/3/FW

Fotocollagen
, 1932–33
Die Originalfassungen von Dickers Fotocollagen gelten heute als verschollen oder vernichtet. Nur noch auf acht Glasplatten erhaltene Negativfotografien geben diese vermutlich farbigen Arbeiten in Graustufen wieder.1 Die Platten zeigen sechs großformatige Tafeln, die alle im selben häuslichen Innenraum – in den Hintergründen lässt sich dasselbe Bett wiedererkennen – abgelichtet worden sind. Angesichts ihrer nahenden Emigration ins tschechoslowakische Franzensbad Ende Juni 1933 beabsichtigte Dicker mit diesen fluchtartig aufgenommenen Fotografien vermutlich, jene Arbeiten, die sie nicht mitnehmen konnte oder durfte, zu dokumentieren. Möglicherweise hat die Künstlerin die Originale aufgrund ihrer dezidiert linksgerichteten politischen Inhalte selbst vernichtet.2 Die Kommunistische Partei war am 26. Mai 1933, also knapp einen Monat vor Dickers Flucht, unter Kanzler Engelbert Dollfuß verboten worden.3
Es liegt nahe, die Entstehung der Fotocollagen mit der Agitprop-Abteilung der KPÖ in Bezug zu setzen, in der strategische Agitation gegen den Faschismus und Propaganda für kommunistische Agenden betrieben wurde.4 Dass die Arbeiten noch in Wien entstanden sind, lassen nicht nur die darin zum Einsatz kommenden deutschsprachigen Textausschnitte vermuten, sondern auch ein in der Collage Gegenwart und Zukunft des Kindes vorzufindender Zeitungsschnipsel, der die Datierung auf 1932–33 als einen terminus post quem nahelegt. Die auf etwa 120 × 90 cm geschätzten Maße lassen auf Großformate, womöglich für Agitations- oder Ausstellungszwecke, schließen.5 In ihrer figurativen Dimension weisen die Bilder eine hohe Dichte an zusammengetragenem Zeitungsmaterial auf, während sie in ihrer schriftlichen Dimension sowohl montierte Zeitungszeilen als auch von Dicker selbst gestaltete Schrifttypen beinhalten. Obwohl jedes Bild eine klare und geordnete Komposition aufweist, ist in Dickers Fotocollagen eine augenblickliche Erfassung des Bildgeschehens unmöglich.6 Formal erinnert deren fragmentierte Struktur etwa an Hannah Höchs (1889–1978) oder Paul Citroens (1896–1983) dadaistische Fotocollagen der frühen 1920er-Jahre. Jedoch handelt es sich bei Dickers Arbeiten nicht um reine Collagen, sondern um eine Mischtechnik mit Fotomontage-Effekten – scheinen doch Skalierungen, flüssiger Farbstoff und Retuschen angewendet worden zu sein. So ist der für die Collage beziehungs-
1 Das historische Speichermedium des Glasnegativs stellt bereits um die Jahrhundertwende ein überholtes und hauptsächlich von gelernten Fotograf*innen benutztes Trägermaterial dar. Da die schwere Glasplatte weniger alltagstauglich war als der biegsame Rollfilm, wurde sie sukzessive gänzlich vom Negativfilm abgelöst, siehe dazu Willfried Baatz, Geschichte der Fotografie, Köln: DuMont, 1997, S. 65.
2 Einen Hinweis auf Dickers kommunistische Orientierung liefert auch eine für eine Fotografie zur Begradigung der Fotomontage Gegenwart und Zukunft des Kindes benutzte Ausgabe von Der Deutsche Bauernkrieg von Friedrich Engels.
3 Siehe Walter Baier, Das kurze Jahrhundert. Kommunismus in Österreich. KPÖ 1918 bis 2008, Wien: Edition Steinbauer, 2009, S. 37.
4 Dicker trat um 1931 der KPÖ bei. Konkrete Quellen zu ihrem Beitritt zur KPÖ gibt es nicht, nur die Erinnerungen von Zeitzeuginnen aufgenommen von Elena Makarova. Siehe dazu Katharina Hövelmann, Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien/Köln: Böhlau Verlag, 2021, S. 133.
5 Vgl. Angelika Romauch, Friedl Dicker. Marxistische Fotomontagen 1932/33. Das Verfahren der Montage als sozialkritische Methode, Wien: unpubl. Dipl., 2003, S. 100.
6 Siehe zu diesem Aspekt einen Vergleich mit den zeitgleich entstandenen Fotomontagen John Heartfields (1891–1968) bei Elena Makarova, Kat. Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst und Lehre. Wien – Weimar – Prag –Hronov – Theresienstadt –Auschwitz, Wien/München: Christian Brandstätter, 2000, S. 22 sowie bei Romauch 2003, S. 48–51.
Fürchtet den Tod nicht, 1932–33 Inv.nr. 15.590/7/FW