Das Goetheanum – 150 Jahre Rudolf Steiner

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Liebe | Ruth Ewertowski

Sprache | Jobst Langhans

Schulden bezahlen

Das Tor zum Geist

Wenn Rudolf Steiner sagt: «Alles, was wir aus Liebe tun, stellt sich so heraus, dass wir damit Schulden bezahlen», dann ist das unerwartet und erfrischend nüchtern. Liebe, so Steiner, bringt keinen Lohn. Und dennoch stellt er sie in einen ökonomischen Zusammenhang, nämlich den, dass mit ihr ein bereits verbrauchtes Gut bezahlt wird. – So hatten wir uns Liebesverhältnisse nicht gedacht. Was sollte man denn mit Liebe «bezahlen» können? Die Antwort trifft ins Zentrum karmischer Verhältnisse: Wir be-

Am 27. Januar 2003 hatte ich Gelegenheit, zusammen mit Beate Krützkamp, einen Sprechchor mit Berliner Waldorfschülern anlässlich der Gedenkfeier der Opfer des Nationalsozialismus im deutschen Bundestag einzustudieren. — Jorge Semprun war der Festredner. Er schilderte, wie er während seiner Internierung in Buchenwald die tiefsten menschlichen Schmähungen durch die deutsche Sprache erleiden musste und wie er sich durch die heimliche Rezitation von Gedichten von Heine, Goethe und Schiller wieder heilte. Es schien, als sei es die Sprache gewesen, die ihn überleben ließ. Sie war das Letzte, was ihm geblieben war. Sie konnte seine Seele stärken, dass sie nicht zugrunde ging. Die Sprache ist eine gewaltige Kraft. Im Alltag vergessen wir ihre Wirkung. Erst in Grenzsituationen des Lebens scheinen wir ihrer Macht wieder gewahr zu werden. — Wenn wir das Geistige und den Idealismus in der Sprache pflegen – und dies geschieht in dem Bemühen um Sprachgestaltung – dann werden die Sprache und der Mensch frei. Die Sprache ist dann nicht mehr «Dienerin des intellektuellen erkenntnismäßigen und des geist-fliehenden sozialen Lebens». – Die inspirierenden Kräfte haben dann die Möglichkeit, mit uns zu kommunizieren. Mehr noch: Sie bekommen Nahrung und es besteht keine Gefahr, dass sie Schaden nehmen. Für uns bedeutet dies, dass wir zu inspirierten Lösungen gelangen – für welche Frage des Lebens auch immer. Besonders das soziale Leben wird durch die Folgen gewinnen. Unsere Bemühungen um gerechte Gesetze und Regeln sind keine abstrakten Gebilde des Intellekts mehr, sondern künstlerische Lösungen. — Für Rudolf Steiner bestand eine zentrale Vision des Gemeinschaftslebens darin, dass die Gesetze Geschenke der geistigen Welt sind. Die Sprache ist das Tor zu dieser Welt, denn sie stammt aus ihr.

Je weiter ein Mensch gekommen ist, desto größer sind seine Schulden an seine Vergangenheit. zahlen mit ihr unseren eigenen Entwicklungsfortschritt. Geht es in der Entwicklung des Menschen um seine Vervollkommnung, dann so, dass er selbst nichts davon hat, sondern allein die Welt. Je weiter ein Mensch gekommen ist, desto größer sind seine Schulden an seine Vergangenheit. Aber es sind Schulden, die er gerne hat und ebenso gerne begleicht. Nur so erweist er sich seiner selbst würdig. Dass ihm dann doch, wie es Steiner gut elf Jahre später sagt, ein karmischer Lohn aus seinen Liebestaten erwachsen kann, steht in einem schönen und sinnreichen Widerspruch zu der früheren Aussage, dass diese umsonst sind. Denn der Lohn besteht in der Freude, die er in einem künftigen Leben als eine Folge der Liebe erleben darf. Nichts aber könnte diese Freude bringen, was zielstrebig um ihretwillen unternommen wird. Die Liebe ist kein Mittel zum Zweck der Freude. Deshalb ist sie umsonst, was das Karmagesetz nicht daran hindert, sie mit Freude zu belohnen. Ruth Ewertowski hat sich der Judas-Thematik, dem schwierigsten Gebiet der christlichen Theologie, gewidmet. | Zitiert aus GA 178 und GA 314.

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24 Gedanken – 150 Jahre Rudolf Steiner | Das Goetheanum | Nr. 8 . 11

Jobst Langhans leitet die Schauspielschule Michael Tschechow Studio Berlin. | Zitiert aus GA 190.


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