Eckhard Hammel - Zwischen Kant und Lacan. Prolegomena zu Nietzsches Sprach- und Subjektkritik

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Zwischen Kant und Lacan Prolegomena zu Nietzsches Sprach- und Subjektkritik Eckhard Hammel


2 Indem wir so uns selbst ergreifen. wollen, erhaschen wir, mit Schaudern, nichts, als ein bestandloses Gespenst. Arthur Schopenhauer

Vorwort Die seit Mitte der 60er Jahre diskutierten Nietzsche-Forschungen der Philologen Colli und Montinari hatten unbestreitbar einen großen Einfluß auf philosophische Arbeiten über Nietzsche. Dieser Einfluß ist bis in die Gegenwart erhalten geblieben. Die vorliegende Arbeit setzt zwar diese Forschungen voraus, aber sie grenzt sich von der Vorherrschaft der Philologie ab. Gewiß hat die Anwendung der philologischen Methode auf Nietzsches Werk und auf ihn selbst als Schriftsteller ihren Stellenwert gehabt. 1 Man könnte meinen, daß dem von Nietzsche propagierten Perspektivismus dadurch ein wissenschaftliches Fundament geliefert sei. Indem man Nietzsches Werk und Schaffensperioden in Phasen und Teilphasen differenzierte, sei es beispielsweise gelungen, den generellen Vereinnahmungen seiner Arbeit die Grundlage zu entziehen. Gewiß ist es mit Hilfe dieses Verfahrens gelungen, Nietzsches Schriften aus den Fesseln der folgenschwersten fehlgeleiteten Vereinnahmung durch den historischen Faschismus befreien. (Obgleich hier die beunruhigende Frage nach der Bedingung unbeantwortet bleibt, wie es möglich sein kann, daß ein Autor von einem politischen System reklamiert wird, das er wahrscheinlich verabscheut hätte. ) Es versteht sich allerdings von selbst, daß mit der herkömmlichen Unterteilung seines Werkes in Früh-, Mittelund Spätstadien Konstruktionen vorgenommen werden, die erstens als solche bloße Hilfsmittel sind, und die zweitens, da man sie beliebig weiter unterteilen könnte, in ihrer differenziellen Abgrenzung immer willkürlich bleiben. Es ist denkbar, daß Nietzsche dieses künstliche Unterteilen selbst als einen "Mangel an Philologie" bezeichnet hätte, zumindest wenn daraus die entsprechende wissenschaftliche Dogmatik resultiert, daß der Autor Nietzsche zum Zeitpunkt x nur so und nicht anders gedacht habe. Dem Perspektivismus wird also die wissenschaftliche Basis gerade durch deren Wissenschaftlichkeit wieder entzogen. Die vorliegende Arbeit konnte demzufolge keine philologische Arbeit im engeren Sinn werden. Sie gibt vielmehr einen ideengeschichtlichen Überblick über Nietzsches Kritik an Kants Sprach- und Subjektivitätsbegriff und die Weiterentwicklung dieser Kritik innerhalb der von der Psychoanalyse inspirierten Philosophie im 20. Jahrhundert, um schließlich dem Perspektivismus den Rang zu geben, der ihm gebührt.

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Siehe Appendix: Zur philologischen Geschichte des "Willens zur Macht"


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1. Kritik der logischen Subjektivität (Kant, Nietzsche) Die Philosophie Kants fragt nach den anthropologischen Bedingungen der Erkenntnis: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit dem kognitiven Apparat des Menschen etwas als erkennbarer Gegenstand erscheint? Und darüber hinausgehend: Unter welchen Bedingungen kann es sich dabei um Erkenntnis handeln? Nietzsches Philosophie fragt ebenfalls nach den Bedingungen der Erkenntnis. Für ihn jedoch steht nicht wie bei Kant die Frage nach dem "Wie" der Funktionsweise des Erkennens im Vordergrund. Nietzsches Frage zielt auf "warum überhaupt Erkennnis?", eine Frage, die so simpel wie sie ist, in der Beantwortung komplex ausfällt. Er untersucht nicht die möglichen Modelle von Falschheit oder Wahrheit, ihm geht es nicht um die Probleme der Gültigkeit im logischen Verstand. Seine Analyse betrifft die Notwendigkeit der Erkenntnis, die er als eine Notwendigkeit begreift, Wissen mit dem Schein der Unbedingtheit anzusammeln. Wenn Kant formuliert, dass es ihm im Rahmen seines transzendentalphilsophischen Diskurses nicht um eine Erkenntnisanalyse geht, die sich mit einzelnen Gegenstandsbereichen befaßt, sondern, dass es ihm generell um "die Erkenntnisart von Gegenständen"1 geht, so wird dies für Nietzsche nicht implizieren, dass die erbrachten Ergebnisse auch tatsächlich universelle Geltung beanspruchen können. Immerhin könnte Kant mit seiner Theorie nur einen kleinen Ausschnitt aus den Erkenntnisinstrumentarien, die der Mensch zur Verfügung hat, beschreiben. Darüber hinausgehend müsste gefragt werden, ob es nicht historisch-genealogische Parameter gibt, die die vermeintliche Unbedingtheit der Kantianischen Erkenntnisregeln bedingen. Doch zunächst zu seiner Kritik an Kant: Die Kritik Nietzsches ist - darauf hat vor allen Friedrich Kaulbach immer wieder hingewiesen - nicht kompromißlos. Zahlreihe Motive und Themen Nietzsches finden sich auch schon bei Kant, viele Motive und Themen Kants, selbst wenn sie Nietzsche nicht bekannt gewesen sein sollten, finden sich auch bei diesem. Gleichwohl erweist sich eine Reduktion Nietzsches auf eine bloße Fortschreibung Kantscher Theoreme, wie Heyse sie versucht hat stark zu machen, als unnötig, wenn nicht gar unmöglich. Die Konfrontation von Nietzsche und Kant lässt sich oftmals nur unter dem Gesichtspunkt des divergierenden Grades an schriftstellerischer Radikalität durchführen; auf der anderen Seite sind die Interessenschwerpunkte beider Denker teilweise deutlich unterschiedlich gewichtet, so dass sie sich bisweilen schlicht ergänzen. Ein dritter Aspekt, der sich nicht verschweigen lässt, besteht darin, dass heute die Pointen des Denkens weder Kants noch Nietzsches die avantgardistischen Züge tragen, die sie zu ihrer Zeit gehabt haben. Die Pointen haben sich größtenteils historisch verbraucht; die meisten der Fragen würde man heute anders stellen, und man würde demnach auch bei anderen Antworten stehenbleiben. Zunächst zu Kant: Die folgende Untersuchung bezieht sich in erster Linie auf Kants Kritik der reinen Vernunft. Ein dort vorrangig abgehandeltes Thema ist das der Subjektivität, das es im Folgenden näher zu betrachten gilt. Der Teil der KrV wird dabei im Vordergrund liegen, der auch rezeptionshistorisch bevorzugt behandelt wurde: der vom Neukantianismus und der analytischen Philosophie präferierte Teil der transzendentalen Logik, die transzendentale Analytik. Um die "logische Subjektivität", die Kants aufmerksamster und sorgfältigster Betrachtung unterliegt 2 in geeigneter Weise zugänglich zu machen, seien systematische und historische Obligation der Kantischen Philosophie kurz erinnert: "Prima" der philosophischen Disziplinen ist seit Aristoteles über die Scholastik bis teils selbst noch über die Zeit Kants hinaus die Ontologie (Heidegger würde sagen "Ontotheologie"): die Wissenschaft vom Sein, einer alles Seiende übersteigenden universalen Transzendenzebene, die aller singulären Erfahrung und Existenz (Essenz) vorausgeht. Es versteht sich, dass diese Wissenschaft ihren Diskurs nur unter der Prämisse entfalten kann, dass diese Transzendenzebene in der Immanenz alles weltlich Seienden repräsentiert und somit auch dechiffrierbar ist. Insofern jedes Ding an dieser Ebene teilhaftig sei, kämen ihm die klassischen Transzendentalien des Einen, Guten und Wahren, des "unum, bonum, verum" 3 zu. Kant weist diese Kategorisierung als überkommene Art, Metaphysik zu betreiben, ab. Er eröffnet hingegen seine Überlegungen mit dem Anspruch, die Ontologie als bloße "Analytik des Verstandes" 4 neu zu begründen. In der neuzeitlichen Ausprägung der klassisch-ontologischen Fragestellung bestimmen zwei differierende Schulen die philosophische Diskussion. Zum einen der Rationalismus, hier bezeichnet mit "ideeller Rationalismus". Er beruhte auf der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass rationale Erkenntnisse apriori sich vollzögen, vor aller sinnlichen Erfahrung. Zum anderen Empirismus/Sensualismus, vielleicht die eigentliche Ontologiekritik, hier bezeichnet mit "empirischer Rationalismus". Dessen basales erkenntnistheoretisches Axiom beruhte auf der Prämisse, dass rationale Erkenntnisse aposteriori sich vollzögen, im Anschluß nur an sinnliche Erfahrung (Vertreter u.a.: Hume, Berkeley, Locke).

Kant: KrV B25. Folgend unter der Sigle KrV ohne Autorenangabe KrV vor allem B §16, B 404 3 KrV B 113 4 KrV B 303 1 2


4 Mit Hilfe seiner selbstgewählten Metaphorik lässt sich der historische und systematische Ansatz seines "kritischen Rationalismus" bestimmen: Kant nämlich stellt sich als "Nautiker" vor, der schreibt: "Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann."5 Kant will keine überkommenen metaphysischen Territorien besiedeln. In kopernikanischkolumbianischer Manier der Geisteswende begibt er sich auf eine Abenteuerfahrt - darin der Geste des bürgerlich rationalisierenden Odysseus durchaus gleich 6. Primat seines Interesses genießen freilich nicht fremde Ländereien, sondern die Reise von Seefahrer und Schiff als solche, also das Subjekt inklusive seiner erkenntnisleitenden Instrumentarien. Deshalb sei der Problemkomplex, den Kant in der transzendentalen Analytik, dem ersten Hauptkapitel der KrV, in dem er diesen Zusammenhang darstellt, hinfort instrumentelle Subjektivität genannt. Kant gebietet auf der epistemologischen Reise eine doppelte Vorsicht: nämlich vor dem Mangel an sinnlicher Erfahrung der Außenwelt einerseits und an Geist oder Innenwelt andererseits. Er muss das Schiff "zwischen diesen beiden Klippen glücklich durchbringen" 7. Kant erstellt zum Zweck dieser Unternehmung eine Logistik, die er in der transzendentalen Logik ausführt. Folgend sei diese im Hinblick auf das Subjektivitätsproblem in Erinnerung gerufen: Bei allen seinen Überlegungen setzt Kant grundsätzlich voraus, dass es wirkliche Erkenntnisse gibt; seine Frage betrifft dementsprechend nur die Konditionen ihrer Möglichkeit. 8 Eine solche Grundkondition stellt für Kant das Urteilen innerhalb der Sprache dar. Für Kant ist jede Erkenntnis notwendig (und alle Fehlinformation bedingt) an sprachliches Handeln gebunden. Kant vertritt diesen Standpunkt übrigens nicht absolut, das heißt, er sagt nicht, dass es nicht auch Erkenntnisse auf der Ebene beispielsweise visueller Wahrnehmung und Erinnerung geben kann; diese unterliegen nur dann nicht seiner Betrachtung, wenn sie nicht verbindlich sprachlich verifiziert werden können. Eine Erkenntnis in die in der besagten Weise sowohl die empirische Außenwelt als auch die ideelle Innenwelt gleichermaßen einfließen können, realisiert sich nach Kant im Aussagesatz, also in einem bestimmten Verhältnis eines Satzprädikates zu einem Satzsubjekt. Er bringt dies auf die Formel: "Denken ist wesentlich Urteilen" 9. Dem Programm Kants, seinem instrumentellen Rationalismus, wird in dieser kurzen Formel sein Fundament verliehen. Der Begriff des Erkennens erschöpft sich Kant zufolge weder in einem nur für sich genommenen Denken oder einem isolierten Wahrnehmen. Eine Erkenntnis impliziert immer eine umfängliche Aktivität des kognitiven und sensorischen Apparates. Eine gemeinsame Schwäche solcher Begriffe wie Urteilen, Denken oder Wahrnehmen liegt in ihrer mangelnden semantischen Präzision: Man kann über vieles vorschnell ein Urteil fällen; man kann sich etwas ausdenken bis hin zum Wahn, und man kann auch in Gestalt der Halluzination wahrnehmen. Der Begriff des Urteils hingegen impliziert für Kant mehr, nämlich eine intersubjektive Absicherung. Ein Urteil, das ein Subjekt sich bildet, muss von einem anderen Subjekt verstanden werden können. Widmen wir uns aber zunächst weiter dem Plan der Kritik der reinen Vernunft. Zwar geht es Kant nicht um die seiner Auffassung nach antiquierte Frage nach dem Transzendenten, gleichwohl aber um eine Philosophie des Transzendentalen. Auf die alte ontologische Frage nach dem Transzendenten, also dem Bereich, der die diesseitige Welt transzendiert, fand die mittelalterliche Scholastik im Wesentlichen eine Antwort: "Gott". Kants Transzendentalphilosophie hingegen fragt zwar danach, welche kognitiven Instrumentarien die einzelnen Erfahrungen transzendiert, ihnen somit apriori vorausgeht, damit aber richtet Kant sein Augenmerk auf die Kognition selber. Das Transzendentale muss im Gemüt (Kognitivität) des Erkennenden selber begründet werden. In Analogie kann man dieses Transzendentale beispielsweise in der Grammatik im Gegensatz zu einem singulär formulierten Sachverhalt sehen. Dieser entspräche einer konkreten Einzelerfahrung, die sich mit einer weiteren augenblicklich abzuwechseln vermag. Die Grammatik hingegen gibt strukturelle Regeln vor, die sowohl ihren Benutzer als auch den jeweiligen semantischen Gehalt transzendieren, andererseits aber nicht Teil einer "jenseitigen" Welt sind. Dass sie Teil der "diesseitigen" Welt sind, dies macht auf der anderen Seite ihre Leere aus: die transzendentalen Momente ermöglichen zwar Erfahrung, so wie die Grammatik die Aussage erlaubt, ohne diese empirische Semantik eines konkreten Gehalts vermitteln sie aber keinerlei Erkenntnisse. Nach Kant kann ein Aussagesatz entweder analytisch oder synthetisch strukturiert sein. Beide Momente bringen ein spezielles Verhältnis zwischen den grammatischen Kategorien Subjekt und Prädikat zum Ausdruck. Das analytische Verhältnis ist ein solches, welches nur Implikationen des Satzsubjekts paraphrasiert. Das Prädikat fügt dem Subjekt nichts hinzu, was nicht schon im Begriff des Subjekts mitgedacht ist. Somit handelt es sich um eine tautologische "Identitä 10«, die das Wissen nicht im Sinne einer neuen Erkenntnis erweitert, sondern nur bereits Bekanntes wiederholt.»Da Kant seine begriffliche Definition des Begriffs "Subjekt" (ähnlich übrigens die von "Objekt", "Gegenstand" u.a.), was dessen Position im transzendentalen System betrifft, nicht KrV B 294f Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, Exkurs I 7 KrV B 128 8 KrV B 19 9 Kant: E 558 10 K ant: Logik § 36; E 12 5 6


5 immer exakt einhält, sei hier für den Bereich des Satzsubjektes im Urteil der Begriff "Erkenntnisobjekt" eingesetzt. Dieser bloß methodische Schritt lässt den transzendentalen Funktionskontext invariant; er dient nur der näheren Spezifizierung. Wir halten damit den Begriff "Subjekt" in der gegenwärtig üblichen Weise für den Benutzer reserviert. Dieser spricht über ein Objekt, das innerhalb einer Aussage der grammatischen Funktion des Subjektes entsprechen kann. Insofern es sich bei der Aussage um ein erkenntnistheoretisch relevantes Urteil handelt, bezeichnen wir es als Erkenntnisobjekt. Im Gegensatz zu den analytischen Sätzen erweitern die synthetischen Sätze nach Kant das Wissen, denn das Prädikat sagt etwas über das Erkenntnisobjekt aus, das diesem nicht explizit zukommt. Alle Urteile, die einen Erkenntnisgewinn markieren, sind solcher Art. Kant kommt es innerhalb der Transzendentalphilosophie darauf an, Urteile zu finden, die Erkenntnisobjekt und Prädikat nicht bloß analytisch, sondern synthetisch, also als zwei sich ergänzende Pole verknüpfen. Innerhalb des Geltungsbereichs synthetischer Sätze unterteilt Kant in einen Bereich "a posteriori" und einen Bereich "a priori" 11, zwei Bereiche, die also entweder vom "Späteren" oder aber durch das "Frühere" bestimmt werden. Der erste der Bereiche nimmt thematischen Bezug auf den empirischen Rationalismus (Hume, Locke, Berkeley), der letztere auf den den ideellen Rationalismus (Descartes, Leibniz, Wolff). Gemäß der Konzeption der Transzendentalphilosophie, also der Beschreibung dessen, das Erfahrung transzendiert, ihr als gleichsam "Früheres" vorausgeht, geht es Kant um die Ermittlung apriorischer beziehungsweise reiner Erkenntnismomente, die in gewissem Sinn von der Erfahrung unabhängig und "von allen Eindrücken der Sinne"12 gereinigt sind. Diese Momente sind unabhängig von der Erfahrung und gehen ihr voraus. Eine Erkenntnis impliziert nun immer apriorische Momente - sonst wäre sie keine Erkenntnis - insofern diese streng notwendig nach bestimmten Regeln allgemeiner Art verläuft. Nach Kant sind nun die eigentlich philosophisch Erkenntnis-relevanten Urteile solche, die sowohl synthetisch als auch apriori sind. Auf dieser Klasse von Urteilen basieren die gesamte Arithmetik, Geometrie, Naturwissenschaft und desgleichen auch die Metaphysik. Als ein Beispiel für derartige Sätze dient Kant der Satz von der Kausalität, den er im Anschluß an Überlegungen Humes interpretiert: Im Bereich sinnlicher Wahrnehmung lassen sich immer nur Zustände, die in Folgeserien anderer Zustände eingebettet sind, beobachten, keinesfalls aber Ursachen und Wirkungen. Wenn man nun feststellt, dass irgendeinem Geschehen eine Ursache zugrundeliege, so ist diese Feststellung nicht der Erfahrung entnommen. Sie ist bereits eine Ausdeutung, die sich aus der bloßen Wahrnehmung selber nicht ableiten lässt. Unten wird dieses für Kant aber auch später für Nietzsche zentrale Beispiel noch einer genaueren Betrachtung unterzogen. *BSP für Urteilsformen Kant leitet aus der besagten Urteilsklasse bestimmte apriori synthetisierende Verstandestätigkeiten ab, die er quantitativen, qualitativen, relativen und modalen Urteilsbildungen zuordnet. 13 Jede dieser Formen, ein Urteil zu bilden, besitzt drei Untergruppen. Kant beansprucht damit, sämtliche Weisen erkenntnisrelevant zu urteilen, vollständig erfaßt zu haben. Zu den quantitativen Urteilen, die synthetisch und apriori sind, gehören die Untergruppen der Allheit, der Besonderheit und der Einzelheit. Nehmen wir zum Beispiel den Satz, "alle Menschen sind sterblich", so entspricht das Wort "alle" einer Vorstellung, die nach Kant nicht aus der Erfahrung stammt: Man kann nicht "alle" Menschen kennen. Aus diesem alle Erfahrung transzendierenden Fundus zu urteilen leitet Kant - in einer Revision der aristotelischen Metaphysik - reine Verstandesbegriffe ab, die er in einer Kategorientafel auflistet. Sie seien "Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird" 14. Ihre Benennung folgt der der Urteilsformen. Sie ermöglichen als formale Struktur, als Syntax die inhaltlich-materiale Erfahrung eines Gegenstandes, indem sie als mögliche Prädikate eines synthetischen Urteils apriori fungieren. 15 Kant bestimmt dies am Beispiel der Kategorie "Substanz" und führt aus, dass die sinnliche Anschauung in den Anschauungsformen Raum und Zeit dazu das Erkenntnisobjekt eines Urteils * . 16 Die relative Gewichtung von Erkenntnisobjekt und Prädikat muss hier unkommentiert angenommen werden. Hier soll vorerst nur die Funktion des "Seegefährts" der erkenntnistheoretischen Voyage als instrumentale Subjektivität betrachtet werden. Wie muss diese nach Kant beschaffen sein? Ein erster Schritt zur Beantwortung ist schon mit der Kategorienbenennung getan, denen die Rolle des "Schiffes" entspricht, das heißt der subjektivitätskonservierenden Instrumentarien. Dem von aller Erfahrung bereinigten Prädikat, der Kategorie, korrespondiert das Mannigfaltige der Welt der Erscheinungen. Die "Spontaneität" 17 des Verstandes und die "Rezeptivität" 18 der Sinnlichkeit als Entsprechung bilden das begreifende Erkennen. Beide werden als Teilbereiche, die über den Schematismus der Zeit miteinander vermittelt sind, aufeinander bezogen. So erst wird die Einheit eines Urteils und einer Erkenntnis KrV KrV 13 KrV 14 KrV 15 KrV 16 KrV 17 KrV 18 KrV 11 12

B 1ff B2 B 95 B 128 B 94 B 129 B 74 B 74


6 und ihres Gegenstandes möglich. 19 Freilich muss hinzugefügt werden, dass mit der Unterscheidung in passive Sinnlichkeit und aktiven Verstand eine Gewichtung vorgenommen ist. Mit der Aktivität, der Spontaneität des Verstandes, ist dessen Schwergewicht vor der passiven, rezeptiven Sinnlichkeit beziehungsweise Wahrnehmung ausgemacht. Da es die passive Sinnlichkeit auch im Bereich des Animalen gibt, kommt dem Verstand die Funktion des eigentlichen Kriteriums des Menschseins, des Mentalen und Rationalen zu. Der Verstand bezeichnet damit die im engeren Sinne menschliche Zutat zum Erkenntnisprozeß und deshalb unterliegt er Kants besonderer Aufmerksamkeit. Dies liegt deshalb auf der Hand, insofern es Kant ja um die Konditionen möglichen Wissens, die reale Begebenheiten transzendieren, geht. Da nämlich jede Erkenntnis eine solche des Menschen ist, wird folgegerecht eine anthropologische Perspektive (eben die des spezifisch menschlichen Tuns, und sei es auch ein Dazutun) in den Vordergrund rücken. Von denjenigen Erkenntnisquellen, von denen Kant annimmt, dass sie die Außenwelt repräsentieren, die bloß leidenden Wahrnehmungsorganekann Kant deshalb in diesem Zusammenhang abstrahieren. Gleichwohl behauptet Kant zunächst, dass beide erkenntnistheoretischen Funktionen betreffend die Erkenntniskonstitution von gleichem Rang sind, denn "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind". 20 Das "Subjekt der Seefahrt", wenn es denn nicht das "Schiff" allein schon ist, kann nach Kant kein empirischpsychologisches Subjekt sein. Dieses offeriert Kant zufolge kein philosophischen Kriterien genügendes Instrumentarium zur Konstition der erkenntnisrelevanten Subjektivität. Wäre dieses empirische Subjekt bestimmend für Erkenntnisprozesse, so müsste es mit einer objektiven Anschauung verbunden sein, auf die die Kategorie "Substanz" angewandt werden könnte. Dies ist nach Kant aber nicht der Fall, denn auch wenn das empirische Subjekt sich zeitlich, der "Form der inneren Anschauung" 21 gemäß wahrnimmt, so erfährt es sich zum einen in seiner Selbsterfahrung beständig alterierend, zum anderen gibt es bei dieser Selbsterfahrung und -wahrnehmung keine intersubjektiv verbindliche Verifikationsmöglichkeit. Die Subjektivität des "Seefahrers" macht vielmehr das homogene Gesamt des urteilenden PrädikateInstrumentariums selbst aus. Die Zirkulation der Kategorien/Prädikate, die ihren Mangel an Materialität gleichsam beständig aufzufüllen suchen, gibt als Koordinatensystem des "cogitare" die Matrix "seefahrender" Subjektivität ab. Ein Problem Kants besteht nun im Zustandekommen der synthetischen Einheit der vielfältigen, teils voneinander unabhängigen Vorstellungen. Kant, gerade noch dabei, die Subjektivität des "Seefahrers" gänzlich in den strukturalen Instrumentarienraum seines "Seegefährts" zu zerstreuen, beginnt nun, sie wieder einzuführen. Seine selbstgestellte Aufgabe bestand darin, das "Schiff" heil zwischen den "Klippen" hindurchzubringen. Es versteht sich, dass ihm, wie jedem wirklichen Kapitän, nicht daran gelegen sein kann, sein Schiff in Einzelteilen durch die "Meerenge" treiben zu lassen. Seine Kategorientafel behält immer den ihr zueigenen immanenten Kontakt, und Kant hat auch einen Namen für diese einheitsstiftende Instanz. Er nennt sie innerhalb seiner transzendentalen Analytik die "ursprünglich-synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption"22, die "transzendentale Einheit des SelbstBewußtseins" 23 als "Bewußtsein der Synthesis"24 von in Sturm und Flaute konstanter "Identität" 25. Es entspricht dieser Apperzeption das Axiom des "Ich denke", welches, alle Vorstellung begleitend, von allen Grundsätzen "der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist"26. Im Gegensatz zum empirischen, numerisch-identischen, substanziellen Ich bezeichnet Kant dieses formale Cogito auch als als "logisches Ich". Hinsichtlich seiner ursprünglichen Synthesisvorgängigkeit 27 genießt es einen Vorrang vor jeder anderen Funktion des Erkenntnisapparates, denn vor jeder Form des Urteilens muss diese synthetisierende Kraft immer schon aktiv sein. Kant "durchsegelt" die "Klippen" mit Bedacht. Bloß nirgendwo anstoßen, bloß keine Meuterei, bloß keine verwirrenden Sirenengesänge, und dabei den kognitiven Mehrwert erheischend in der Sichtung der Synthesepotenzen. "Kapitän Kant" weiß, dass er den "Heimathafen" wieder anlaufen wird. 28 Dort wird der "Kapitän" in der zölibatären Runde des privaten Tischgesprächs29 die Gefahren der Reise wieder vergessen. Wir werden uns folgend mit einzelnen Aspekten der von Kant vorgezeichneten Erkenntnistheorie beschäftigen.

KrV B 179 KrV B 75 21 KrV A 37 22 KrV B §16 23 KrV B §16 24 KrV B §16 25 KrV B §16 26 KrV B §16 27 KrV A 401f 28 vgl. KrV B 295 29 Hoffmann: ..., Halle 1902, 102 19 20


7 1.1.

Urteil

(Sokrates30) Die neuzeitliche Wissenschaft, als einer deren führender Repräsentanten Kant gelten dürfte, differenzierte Bewußte Erkenntnisgewissheit und das Wissen von ihrer mittelalterlich überkommenen Belastung einerseits durch den Glaubens- andererseits durch den Gewissensbegriff, mit dem wir uns noch genauer beschäftigen werden. Eine klare Äußerung dieses Wandels wurde (vermittelt über Wolff) mit Kants Übersetzung der lateinischen "conscientia" in "Bewußtsein" explizit. Die grundlegende Pointe, die heute gewiss nicht mehr so beunruhigend wie damals wirkt, bestand ganz einfach darin, dass die Neuzeit den Prozeß der Erkenntnis historisch erstmalig unter Berücksichtigung der Außenwelt beschrieb. Weder für die platonistische noch für die theologische Ontologie spielte die dem Subjekt äußerliche Welt eine entscheidende erkenntnistheoretische Rolle. Für diese wie für jene kam der Außenwelt nur der Status eines Täuschungszusammenhangs zu. Innerhalb der Neuzeit emanzipierte sich das Bewußtsein, das in früheren Zeit als "conscientia", als Gewissen, immer ein inneres Bewußtsein von Gott und der Seele war, als ein Bewußtsein von dem, was sich außerhalb des Subjekts ereignet. Das Gewissen als internes Instrument des Subjektes hat allerdings in nicht zu unterschätzendem Maß die Ausbildung der Logik mitgeprägt. Die Logik gründet sich als Formalisierung ja auf eine Abstraktion von konkreten Einzelereignissen. Im Gegensatz zum scholastischen Innerlichkeitsmodell des Kreatürlichen bezieht die Neuzeit gleichwohl die Außenwelt des Menschen mit ein, so betrachtet zwar auch ein Kant die Logik als formale Struktur jeder Urteilsbildung, aber sie liefert nach Kant eben doch keine Erkenntnisse, wie dies die mittelalterlichen Kalkulatoren annahmen. Kant zufolge sind logisches Denken und Erkennen verschiedene Bereiche und nicht, wie der materiale Idealismus annahm, ein einziger. Wären beide identisch, könnte, allein vermittels logischen Denkens, ohne Einbeziehung der Außenwelt, Existenz erkannt werden. Kant meinte, den idealistischen Denkern vor ihm vorwerfen zu können, die Außenwelt, die "den ganzen Stoff zu Erkenntnissen" 31 liefere, in ungenügendem Maße berücksichtigt zu haben. Um eine hypertrophe Verselbständigung des Denkens zu "Gespinsten" zu vermeiden, sei zu beweisen, dass die äußeren Dinge für Erkenntnisse notwendig seien. 32 Ein in diesem Sinne problematisierendes Denken gegenüber bloß logischen Handlungen (wie sie Descartes und Leibniz als Erkenntniskriterium genügten) taucht erst mit Kant auf, der den Bereich der Geltung logischer Gesetze nur im Bezug auf deren Teilhabe an Erkenntnissen analysiert. Wir kommen nunmehr zu Nietzsches Auffassung von der transzendentalen Fragestellung. Nietzsche teilt weder Kants Ansicht über die intersubjektive Allgemeinverbindlichkeit der Erkenntnistheorie, noch dessen Gewichtung des Sprechens. Wenn Kant von einer Struktur behauptet, dass sie den Erkenntnisvollzug repräsentiere, so entdeckt Nietzsche hier weniger ein neutrales Dokument als vielmehr eine Forderung: Kants Analysen implizieren Nietzsche zufolge eine Aufforderung, sie stellen einen Appell an die Subjekte dar, gleich zu tun, zumindest zu respektieren, mehr noch zu akzeptieren, was mit dem Anspruch allgemeiner Notwendigkeit auftritt. Das gilt nicht nur für die praktische Philosophie, Nietzsche sieht diese Forderung tatsächlich hinter der erkenntnistheoretischen Konzeption Kants. Diese ist für Nietzsche eine moralische Konzeption, eine Homogenisierung: Kant macht nämlch nicht deutlich, aus welchem Grund die schematische Synthese aus Verstand und Sinnlichkeit, gesetzt, sie vollzieht sich überhaupt, auf der Ebene des Urteils stattfinden sollte; eine Ebene, deren Funktionsfähigkeit als Medium des Erkennens und des Wissens ja immer stillschweigend vorausgesetzt ist. Umgekehrt gilt dies offensichtlich nicht: Vorgeblich eignet dem Die Quintessenz des Sokratismus bestand nach Nietzsche darin, dass der Mensch, obzwar er einen logos, darum aber noch nicht die Wahrheit habe. Dies stellt den Grund für Nietzsches Bekenntnis dar: "Sokrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe" (NF VIII 97). Die basale Aporie der Erkenntnistheorie, die nämlich eine Differenz zwischen dem menschlichen Signifikationsinstrumentarium und der Referenz in Gestalt der Idee ansiedelt, die paradoxerweise auch überbrückt imponiert, insofern beide in einer Teilmengenrelation stehen: ersteres geht in zweitem auf, nicht aber umgekehrt, wird von Sokrates und Platon nicht dergestalt gedeutet, dass Wahrheit überhaupt in Frage gestellt würde. Die erkenntnistheoretische Aporie wird nur beschränkt auf das als unmittelbar geltende ästhetisches Wahrnehmungsvermögen, das mittels dialektischer Logik substituierbar sei, dergestalt freilich, dass auch dieser nur ein höheres Maß an distinktiven Signifikationen zur Verfügung steht, keinesfalls aber die Potenz adäquater Formen der Repräsentation zukomme. Eine methologische Finte ist dies nach Nietzsche, in der sich die philosophische Aktion selbst begründet, denn ist auch Adäquatheit "vorerst" (wie es bei Leibniz heißt) nicht möglich, so hält diese Impotenz doch gerade das Spiel der Perspektiven und Interpretationen in Gang, sei dies auch um den Preis der Fall, dass man sich auf Korrespondenzen oder Kohärenzen bescheiden müsse. In dieser methodologischen Zwitterstellung zwischen Wahrheit und Irrtum erhält sich die Möglichkeit, Theorie zu betreiben. Galt im vor- und frühneuzeitlichen Denken die Ordnung des Erkennens noch als abgesichert im vermeintlichen Harmonieplafond der Erkenntnissynthesise des Weltganzen, so wird der Erkenntnisvollzug seit Descartes zum Problem. 31 KrV B XXXIX 32 KrV B 275 30


8 transzendentalphilosophisch wesentlichen Satz zwar der Status eines erkenntnistheoretischen Paradigmas, nicht aber der auch mittelbar besonderer Aussageverknüpfungen. Wenn Kant in der "Kritik der Urteilskraft" den subjektiven Effekt der kognitiven Tätigkeit, also der Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff als "Lust" bezeichnet, dann bedeutet das für Nietzsche, dass der Lusteffekt der Urteilskraft ein Konsumakt ist, der sich das Medium seiner Vorstellungen und Repräsentationen aneignet. Jeder kognitive Akt impliziert so die "reflexive" Bemächtigung der Repräsentation. Nietzsches wirft der Transzendentalphilosophie deshalb vor, dass sie den Erkenntnisakt - einmal vorausgesetzt, dass es ihn gibt - in einer Weise stipuliert, die schon in sich die Bedingung der Möglichkeit enthält, den Erkenntnisvollzug erkennen zu können. Nietzsche wirkt bei der Ausführung dieser seiner Kritik, obgleich er immer Wert auf die Verteidigung der Vielschichtigkeit legt, bisweilen recht dogmatisch. Kant sagt doch eigentlich nicht mehr und nicht weniger, als dass es eine finite Urteilsmenge innerhalb aller infinit möglichen Urteile gibt, die man "Erkenntnisse" nennen kann. Kant untersucht desweiteren nur die Grundlagen der Beschreibbarkeit dieser Urteilsmenge, er hat seinen Untersuchungen also von vornherein sehr enge Grenzen gesetzt. Die Frage freilich, die bei Kant ausgespart wird und die auch bei Nietzschenicht ernsthaft diskutiert wird, ist die nach den im weitesten Sinn pragmatischen Nebenaspekten der Urteile. Wenn beispielsweise tausende Menschen in Lourdes (wie es geschehen sein soll) einer Marienerscheinung beiwohnen oder beizuwohnen glauben, dann ist man geneigt, dies als Massenhysterie oder ähnliches abzutun, obgleich doch die Kriterien für eine faktische Erkenntnis (dass es nämlich die himmlische Jungfrau Maria gibt) durchaus vorliegen. Das Argument, dies sei nicht für jeden möglichen Teilnehmer der Urteilsgemeinschaft nachvollziehbar, dies gilt beispielsweise auch für ein Phänomen wie die Mondlandung. So wie man hier auch nur glauben kann, so kann man dort warten. Die grammatische Form des Urteils, so Kant, formiere das Gemüt bereits ohne empirische Erfahrungsgehalte und lege sie als "Syntax-Gerüst" dann aber an die Wahrnehmungsaufnahme, die Produktion von Erkenntnissen an. Kants urteilslogische Erkenntnistheorie setzt darin das Muster der indoeuropäischen Grammatik unbefragt voraus - eine Vorgehensweise, die Nietzsche zufolge als solche der Deutung bedarf. Nietzsches Kritik setzt wesentlich an diesem Punkt an, wenn er schreibt: "Das Urtheilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr- oder Für-Unwahr-Halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewissheit, dass etwas so oder so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich 'erkannt' zu haben - was wird in allen Urtheilen als wahr geglaubt?" Nietzsche zufolge spricht nichts dafür, das "Urtheil" (NF XII 264) als eine verbindliche Form der Erkenntnis zu akzeptieren. Es existiert zunächst nur als eine Art "Glaube" (ebd.). Eine "Analytik des Verstandes" wie sie Kant betreibt, kann deshalb nicht hinreichend philosophisch relevant sein, weil sie ein Vermögen des Erkennens als unbedingte Urteilskompetenz voraussetzt. Nietzsches Gegenkonzeption zu Kants Analytik stellt die Konzeption einer Genealogie (die in ihrer methologischen und thematischen Ausrichtung noch expliziert wird) dar, die jedes vermeintlich Unbedingte als historisch Bedingtes entlarvt. Die für Nietzsche wichtige Frage lautet also nicht "wie sind synthetische Urtheile apriori möglich" (JGB V 24) 33, sondern "warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?" (ebd.) und vielleicht lebensnotwendig, zumindest aber subjektivitätsrückversichernd ein zentraler Transformationspunkt? Ein "Glaube" (NF XI 598) kann nun nach Nietzsche "Lebensbedingung und trotzdem falsch sein" (ebd.), das heißt, er kann zwar für das Leben nützlich sein (Homogenisierung), kann, wie Nietzsche sich ausdrückt, das Leben steigern oder schwächen (Dekadenzaffekt), muss aber darum nicht wahr sein. Einschlägig beispielhaft wäre Religion als dekadente Homogenitätsform. Religiosität liegt für Nietzsche schon in der Fragestellung Kants, denn wenn Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit nicht aus der Erfahrung stammen, woher dann, wenn nicht aus einem obskuren "Anderswoher" (NF XII 265), das philosophisch begründet werden soll. Für Nietzsche bleibt gänzlich ungeklärt, ob die data apriori, von denen Kant glaubt, dass es sie gebe, 34 überhaupt Realität haben können, wenn sie nichts mit der Erfahrung zu tun haben. So bleibt jedenfalls die Möglichkeit derselben unzureichend begründet, und da der Anspruch des allgemein-notwendigen Symbols an die empirische Realität Inkongruenzen zeitigt, muss Kant ihm eine überreale Matrix der reinen Vernunft zu Grunde legen (NF XII 265). Kants Philosophie ist so verstanden nur ein erneuter Begründungsversuch dessen, was als allgemeingültig gelten soll. Einerseits sind dies, semantisch, die gängigen Topoi seiner kritischen Philosophie, andererseits ist dies, homogenisierungslogistisch gesehen, eben die Allgemeingültigkeit selber in ihrer bloßen Form, mithin dasjenige, was als formale Synthesis die Möglichkeit von Allgemeinheit beschreibt und damit ihre Wahrheit begründet - denn dass sie wirklich ist, setzt die Transzendentalphilosophie voraus, nur der Grund dieser Allgemeingültigkeit steht als Problem an. Bei Kant kulminiert dies letztlich in der ominösen, noumenalen Welt des "Anderswoher", das einmal mehr dafür spricht, dass Allgemeinheit im Diesseits der Immanenz kaum sich begründen lässt. Freilich wird Kant dann soweit gehen, die "Jenseitigkeit" intelligibler Bestimmungen in die Anthropologie zu überführen, so dass es in der praktischen Philosophie - und deren Primärstatus zumal - so scheinen muss, als sei gerade das intelligible "Jenseits-Moment" das "natürlichste" aller Phänomene. Die Einsehbarkeit des Glaubens in die Apriorizität des Allgemeinen lässt sich nach Nietzsche jedenfalls nicht aus dem Prinzip "Erkennen" deduzieren. Es sei möglich, dass es gerade wieder aus der Erfahrung stamme und zwar aus einer "sehr begrenzten" (ebd.), die verleugnet wird. Das meint, dass die Erfahrung in einem solchen Falle Erfahrung eines Mangels bedeutet, also zumindest (in der Kantschen Terminologie) einer 33 34

vgl. KrV B 19 KrV B 3


9 Inadäquatheit von Vorstellung und Gegenstand in der Wirklichkeit. Diese Diskrepanz wird verleugnet zugunsten einer "fiktiven" Flucht ins Jenseits aller Erfahrung. Kants Antwort auf Fragen, was denn das Urteilen, Vorstellen, Einbilden, überhaupt jegliche Aktivität und Passivität des Gemüts sei, fiel recht dürftig aus: ein "Vermögen" 35. Das sogenannte "vermischte Gewebe der menschlichen Erkenntnis"36 schließt den Verstand beispielsweise als "Vermögen der Regeln" 37 und die Urteilskraft als "Vermögen unter Regeln zu subsummieren" 38 ein. Die Einbildungskraft hinwiederum sei das "verknüpfende Vermögen"39. Nietzsche amüsiert sich mehrfach über diese Antwort, die er mit "vermöge eines Vermögens" paraphrasiert (JGB V 24f; NF XI 439, 445, 356; * VI 28). Als erstes Ergebnis bleibt festzuhalten, dass der Ausgangspunkt der Philosophie Kants auf das Gerüst der indoeuropäischen Grammatik baut, ein Basalthema, das er nicht ernsthaft (meta-)kritisch in Erwägung zieht: Er hält die möglichen grammatischen Urteile, beziehungsweise die Form des assertorischen Satzes für eine reine Gemütskraft (die freilich der Erfahrung bedürfe), die in allgemeiner menschlicher Verfügungkraft stünde. Nietzsche zufolge ist dieser Deduktion entgegenzusetzen, dass jene Vermögen nur eine eigentlich Transzendentalphilosophie-immanent unzulässige Transformation markieren: von der gegebenen grammatischen Form (Erscheinung) auf ein aktives Vermögen (Subjekt) zu schließen. Kant hält die "Vermögen", von denen nicht behauptet werden kann, sie seien nicht den Menschen angedichtet, die gewohnt sind, sich im Rahmen einer Subjekt-Objekt-orientierten Grammatik zu bewegen, für allgemein menschliche. Deshalb muss er auch glauben, diese Vermögen als notwendig und allgemein gegebene aufgefunden bzw. "entdeckt" (* V 24f; NF XI 604ff) zu haben. Immer geht Kant davon aus, dass die grammatische Form, die indoeuropäische Norm sein muss, schon für sich "in Ordnung" und vernünftig sei. Er ist der Meinung, dass, wenn man nach grammatikalisch bestimmten Rationalitätsgesetzen dächte, man allgemeinverbindliche Urteile (Aussagen) als Erkenntnisse formulieren könnte. Das bedeutet, guten Glaubens zu sein, dass die indoeuropäische Subjekt-Objekt-Prädikat-Logik die rechte sei, die eine Differenzierung von Wahrem und Falschem (selbst eben nur Begriffe, die sich dieser Norminierung verdanken) ermöglichten. Freilich muss der Gebrauch der Regeln schon vernünftig, normal sein. Diese Standardnormierung aller sprachlichen Handlung markiert eine ontologische Homogenisierung, eine Moral, die jede Handlung auf das ihr innenwohnende Allgemeine hin legitimiert. Jeder Versuch, diese Norm zu durchbrechen, sei es auch im Wissen, sie nicht transzendieren zu können, muss als privativ-individueller Schabernack gelten, der in keiner Weise aufschlußreiche Erkenntnismomente enthielte (4). Die "Rechtmäßigkeit im Glauben an die Erkenntnis" (NF XII 265) bezeichnet Nietzsche deshalb als "moralische Ontologie" (ebd.). Die Moral in der formalontologischen Frage Kants zeigt sich darin, dass wenn eine singuläre Aktivität nicht den formalen Gesetzen folgt, sie nicht mehr der möglichen Anerkennung seitens anderer "vernünftiger" Handlungsmuster unterliegen kann. Die Behauptung nämlich, die die Transzendentalphilosophie dem entgegenhalten würde, die Verstandesspontaneität sei kein Diktat (bloße Möglichkeit) sondern Notwendigkeit, apriori, vor aller Individualität, die sich gleichwohl im Aposteriori ad libitum bewegen kann, macht keinen Sinn mehr auf der Ebene einer genealogischen Frage, wie sie Nietzsche anlegt, und wie sie später zu betrachten sein wird. Nietzsche kann in seiner Kritik am Urteilsbegriff noch hinausgehen über die Formulierung, das Urteil sei nur "ein Glaube, dass etwas so und so ist!" (NF XII 264). Mehr noch, nämlich moralisch, basiere er auf dem Willen, "dass etwas so und so sein soll" (NF XII 256). Das Monitum vermeintlicher "Rechtmäßigkeit im Glauben an die Erkenntnis" betrifft die Erkenntnistheorie aber noch fundamentaler. Wenn Kant nämlich zu bestimmen versucht, was die Art menschlichen Erkenntnisvollzuges ausmache, begibt er sich in eine folgenschwere Aporie: Die Frage, was die Art von Erkenntnis sei, setzt den Glauben voraus, dass es Erkenntnis gibt. Die Frage nach dem Wissen setzt den Glauben voraus (NF XII 265, 105). Kants Absicht die Prinzipien der "Erkenntnis der Erkenntnis" (NF XII 264) zu formulieren, wird so zu einem erkenntnistheoretischen Zirkel, den bereits Hegel kurz und knapp in der Phänomenologie des Geistes kritisierte: "Erkennen zu wollen ehe man erkennt, ist ehe so ungereimt wie der weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen ehe er sich ins Wasser wage." Diesem Mißverhältnis, das durch mengentheoretische Spitzfindigkeiten scheinbar aufzulösen, nicht Sache Nietzsches sein kann, eignet im Glaubens-Moment die religiöse Perspektive der Unbedingtheit. Das Wissen vom Wissen bei Kant ist auf den Glauben angewiesen, dass das Wissen etwas sei, dass nicht Glaube sei. Nach Nietzsche wird, wenn dieser "circulus vitiosus" der Erkenntnistheorie nicht als Strukturmoment reflexionsrelevant in die Methodendiskussion eingeht, nicht nur an "die" Erkenntnis geglaubt, sondern auch daran, dass der praktische Erkenntnisvollzug apriori, allgemein und notwendig - und damit in sich gerechtfertigt funktioniere. Nietzsches Kommentierung des Urteilsbegriffs bezweifelt auch, dass Kants adäquations- oder zumindest korrespondenztheoretische Konzeption des Wahrheitsverständnisses tatsächlich applikabel ist. Nietzsches (eher kohärenztheoretischer Wahrheitsbegriff) bezieht sich nur auf einen empirischen Kontext, kein sinnliches KrV KrV 37 KrV 38 KrV 39 KrV 35 36

B 92 ff B 117 A 126 B 171 B 164


10 Einzeldatum. Erst im Kontext, "im Zusammenhang, in der Beziehung von vielen Urtheilen ergibt sich eine Bürgschaft" (NF XII 265). So verstanden gibt es im Bereich der Signifikation "nichts Isoliertes: das Kleinste trägt das Ganze" (NF XII 316). Bedeutung verdankt sich, wie noch zu zeigen sein wird, einem strukturiertem System diverser Aktualisierungsmöglichkeiten grammatikalischer Formvorgaben, die in ihrem oppositionalen Verhältnis erst Verständlichkeit "abwerfen". Die Hilfsmittel der traditionellen Erkenntnistheorie, die von Aristoteles beschriebenen Sätze von der Identität und vom zu verneinenden Widerspruch, die erst mit Kant eigentlich bloß methologischen Status erhalten, können weder reine Erkenntnis sein, noch solche liefern. Die Logik stellt, wie Nietzsche schreibt, nur "regulative Glaubesartikel" (NF XII 266) bereit - damit werden für Kant konstitutive Momente in genealogischer Sichtung bloß heuristische Fiktionen, die ihren Zweck nicht teleologisch-äußerlich bei sich führen, sondern in sich einen Zweck vorstellig machen, den nämlich eines bloß sich selbst erhaltenden Subjekts. Der Begriff dafür lautet Narzißmus. Erkenntnis ist ohnehin im Bereich der Vernunft, so diese noch etwas überhaupt von Begehrungsvermögen bedeutet - was freilich längst das Erkenntnisvermögen des Verstandes betrifft - eine Bewegung, eben eine Begierde, nicht aber statisches Sein, wie die "neue Ontologie" behauptet. Da dergestalt Erkenntnis "im Werden unmöglich" ist (NF XII 313), muss "die Täuschung des Seienden" (NF XII 382) hinzugedichtet werden und damit die Wiederholung des Selben, Bekannten. So gesehen ist Erkenntnis nichts anderes als ein "Zurückfliehen von etwas Fremdem auf etwas Bekanntes, Vertrautes" (NF XII 187, * V 30). Es bleibt der Begriff "Erkennen" (JGB V 29) - da Erkenntnis in sich formal gar nicht fortschreiten kann - eine "widerspruchsvolle Vorstellung"(NF XII 189); selbst als "Möglichkeit" (ebd.) ist der Begriff nach Nietzsche unbrauchbar. Unter logikkritischer Perspektive freilich befindet sich Nietzsche gar nicht so weit entfernt von Kant, denn auch dieser warnt, man solle von der "Möglichkeit der Begriffe (logische) nicht sofort auf die Möglichkeit der Dinge (reale) schließen"40. Dieses Problemfeld wäre bei Kant aber recht eigentlich wieder eines der transzendentalen Dialektik, während Nietzsche hier beispielsweise schon Kategorien und Anschauungsformen zwar als mögliche Interpretation faßt, aber keinesfalls als notwendige. Deshalb nur kann er fast utilitaristisch von einer Nützlichkeit (oder deren Mangel) der Möglichkeit schreiben. Kulminiert die Kantische "Warnung" in der ontologischen Feststellung, dass das Sein kein wirkliches Prädikat sei, beide Größen aber funktionsgerechten Unbedingtheitsstatus besä#en, hinterfragt Nietzsche auch diese noch. "Erkenntnis" ist für Nietzsche ein zirkuläres Phänomen (NF XII 315), das immer nur die Wiederholung eines reduzierten Ausschnittes von Welt betreibt; die Welt ist aber auch anders "deutbar" (ebd.) als systematisch-erkenntnistheoretisch, "sie hat keinen Sinn hinter sich sondern unzählige Sinne `Perspektivismus`" (ebd.) Daraus folgert Nietzsche die "Unendlichkeit der Interpretation" (vgl. * III 621). Im Hinblick auf die empirische Interpretationsvielfalt hätte Kant dem ohne Frage zugestimmt, und im Hinblick auf formale Grammatik ist Nietzsche auch nicht der Meinung, dass man sie beliebig mit anderen Regelmodellen vertauschen könnte. Ein Kriterium der Entsprechung unendlicher Vielfalt des Realen wäre "gegeben", würde der Systemanspruch fallengelassen. vollständigkeit eines Systems kann nur gewährleistet sein, wenn abstrahierende Reduktionen am vielfältigen Wahrnehmungsgeschehen vorgenommen werden. So benötigt das Kantsche System hinsichtlich der praktischen Disziplin die Konstanz des grundsätzlichen Prinzips, ohne die Bedingung für eine sich als allgemeine Form setzende Form überhaupt nicht gegeben wäre. Die Vielfalt der Affekte, Neigungen, Leidenschaften muss vernachlässigt werden, da sie individuell-psychologische Data vorstellig machen, die der Logik des "Hier und Jetzt" (Hegel) unterlägen, heute so, morgen anders seien, und einsichtiger Weise gar nicht in ein System preßbar wären. Nietzsche fordert deshalb anstelle einer "Erkenntnistheorie" (NF XII 342) eine "Perspektivenlehre der Affekte" (ebd.).

1.2.

Logik

Galten in der Scholastik die Transzendentalien "unum, bonum, verum" als ontologische Seinsbestimmungen, die den Wahrheitsbegriff bestimmten, so betrifft der Begriff "Wahrheit" bei Kant nur den rechten Gebrauch des Verstandes. Das heißt, die rechte Anwendung der Kategorien, der logischen Prädikate auf das sinnlich Gegebene. Im von Aristoteles überkommenen Denken der philosophischen Tradition bildeten die Transzendentalien objektive Implikationen des Seienden, während die Kategorien die Art und Weise des subjektiven Anssprechens möglicher Gegenstände bezeichneten. Nach Kant ist das subjektive (nicht individuelle) Anssprechen aber sehr wohl objektiven Charakters, insofern sich die Erkenntnisobjekte des subjektiven Aussprechens objektiv gültigen Regeln subsummieren lassen. Objektiv gültig als notwendige und allgemeine Bedingung subjektiven Aussprechens beziehungsweise dessen Gesetzmäßigkeit. Daraus folgt, dass eine Differenzierung von Subjektivität und Objektivität hier nicht als bloße Entgegensetzung von Begriff und Gegenstand fungiert, sondern auf den Anwendungsbereich des Begriffs selbst bezogen ist. Dieser kann so verstanden subjektiv-empirisch oder objektiv-wissenschaftlich sein. *(Anm 5 -text 62) Die Gesetze dieses Ansprechens sind nach Kant die Gesetze des Urteilens. (So gilt auch hier der Einwand, dass diese "Art von Denken" möglicherweise nur für Urteilsfunktionen aus dem Bereich der indoeuropäischen Grammatik von Gültigkeit ist. Vgl. *Weizsäcker: 291) 40

KrV B 625


11 Kant grenzt verschiedene Prinzipien menschlichen Erkenntnisvermögens voneinander ab: Erstens die Sinnlichkeit, die sich mittels einer Ästhetik beschreiben lässt und zweitens der Verstand, dessen Regeln die Logik beschreibt.41 In der transzendentalen Elementarlehre gliedert er diese in Teilbereiche: Die "besondere Logik" (einzelner Wissenschaften) unterscheidet er von der "allgemeinen Logik", die "die schlechthin notwendigen Regeln des Denkens, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes stattfindet" 42. Diese spalte sich in "angewandte Logik", die die subjektiven, psychologisch faßbaren Konditionen der Verstandeshandlungen untersucht, und in die "reine Logik", die, befreit von allen Inhalten, nur die allgemeine Form, gänzlich apriori bestimmt. Die transzendentale Logik beschäftigt sich mit Erkenntnissen von der Art und Weise, in der Vorstellungen apriori überhaupt erst real werden können. Sie beschäftigt sich also mit den apriorischen Bedingungen der Verstandestätigkeit, die "weder empirischen noch ästhetischen Ursprungs sind"43. Die transzendentale Analytik als Teil der transzendentalen Logik soll die Bestandteile der Verstandeshandlungen auflösen und systematisch darstellen. Da Kant das "bloß logische Kriterium der Wahrheit" 44 als die "Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft" 45 definiert (weiter, nämlich auf Inhalte bezogen, reiche die Logik nicht), kann er die transzendentale Analytik als "Logik der Wahrheit" 46 bezeichnen. Einerseits versteht sich Nietzsche ganz in der Tradition des aufklärenden Denken Kants, dessen "Tapferkeit und Weisheit" (I 101 *(18)) damit ein Sieg gelungen sei. Ein "Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Urgrund unserer Kultur ist" (ebd.). Damit ist gemeint, dass Kant die Logik von dem Anspruch befreite, der sie in Scholastik und Rationalismus noch begleitete, nämlich eine Erkenntnis über die materielle Welt allein durch logisches Schließen in Erfahrung bringen zu können. Solches Materiales kann die Logik, Kant zufolge, "durch keinen Probierstein entdecken" 47. Der Wunsch, am Leitfaden der Logik in die Tiefe des Seins vorzudringen, wie ihn Nietzsche als Programm dialektischer Logik Sokrates und Platon unterstellt, ist innerhalb der Kantschen Kritik an der "Onto-Logie" bereits das Fundament entzogen. Damit freilich haben sich subtilere Fehlfunktionen in die Transzendentalphilosophie eingeschlichen. Deshalb ergreift Nietzsche oftmals Partei gegen Kant. Dieser will allgemeinverbindliche, transindividuelle Regeln ermitteln. Es geht ihm um die Entwicklung einer Theorie, von der gilt, dass tatsächlich jeder individuelle Mensch, wenn er erkennt, ausschließlich nach innerhalb dieser Theorie formulierten Gesetzen denkt unabhängig von dem, was den empirischen, inhaltlichen, materiellen Gehalt der Erkenntnis ausmacht. Dies eben ergibt sich aus dem Vorhaben Kants, Metaphysik wissenschaftlich zugänglich zu machen: Die Ergebnisse dieser Wissenschaft sollen allgemein nachprüfbar sein, wozu es notwendig ist, von individueller Zufälligkeit, die nicht allgemeingültig und notwendig ihrem bloßen Inhalt nach sind, zu abstrahieren. Bei Kant würde diese Zufälligkeit von der Psychologie untersucht, 48 bliebe sie doch als inhaltliche Ebene singulär und kontingent im Gegensatz zu den philosophisch relevanten Begründungsformen der formalen Bedingungen derselben. Dieser Anspruch von Wissenschaftlichkeit zeitigt Konsequenzen, die Nietzsche zumeist metakritisch als fälschlich kommentiert: Die vielschichtige Perspektivenwelt menschlichen Daseinsvollzuges werde im Konstruieren des logischen Terms fälschend zurechtabstrahiert. Wie anders auch sollte die Erstellung eines Regelinventars möglich sein, das jedes Ereignis umgreift? Es wird sich zeigen, dass Nietzsches Kritik an der Theorie eines unbedingten Allgemeinen unter einer kritischen Perspektive gegenüber des Begriffs "Bedingung" bei Kant geleistet wird. Nietzsche gemäß ist "Allgemeinheit" kein ein vom Himmel gefallener Segen zum Zweck höherer Wissensweihen für das Individuum. Wir werden uns mit diesem Punkt im Kapitel zur "phylogenealogischen Subjektivität". Kant führt Formgesetze an, die das Erkennen berechen- und kalkulierbar macht. Diese Formgesetze müssen sich, insofern sie eben bloße Formen sind, notwendig von demjenigen, was sie als ihren Inhalt aufnehmen und regulieren, distanzieren. Inhalt und Form stehen in einer bestimmten Relation zueinander. Diese Relation ist in sich paradox strukturiert. Wahrscheinlich hätten Kant und Nietzsche die Existenz dieser Paradoxie in ähnlicher Weise konzediert, aber andere Folgerungen gezogen. Kant hätte sie hingenommen und seine Untersuchungen auf der Abstraktion von dieser Paradoxie aufgebaut, Nietzsche hätte auf ihr beharrt und ein genaueres Verständnis von ihr zu erlangen versucht. Die Paradoxie besteht darin, dass zwar die Form in Gestalt des kognitiven Apparates des Subjektes jedem Erkenntnisinhalt vorausgeht, dass die inhaltliche Materie eines erkenntnisrelevanten Urteils aber ihrerseits der kognitiven Struktur vorausgeht. Wahrnehmung, Anschauung, und Sinnlichkeit seien empfangende, sensorische Instrumente, die etwas ihnen in der Außenwelt Vorausgehendes gleichsam in das erkennende Subjekt "hineinlassen". Auf der anderen Seite aber nur imponiert nur der Teil der Außenwelt als Inhalt, zu dem der kognitive Apparat aus dem Subjekt gleichsam KrV B14ff KrV B 76 43 KrV B 81 44 KrV B 84 45 KrV B 84 46 KrV B 87 47 KrV B 84; vgl. Nietzsche: * I 468 48 Die Psychologie ist für Kant im übrigen nicht im Stande, die Weihen höherer Wissenschaftlichkeit zu erlangen, *Kant: MAN 41 42


12 "hinaustritt". Es ergibt sich also eine Reihenfolge: diffuse, unstrukturierte Materie -> kognitive Formierung -> strukturierte Materie. Zwei Schlußfolgerungen lassen sich daraus ziehen: Entweder durchläuft die Materie eine qualitative Verwandlung oder die strukturierte Materie stellt nur eine Teilmenge des diffusen Materiebegriffs dar. Die erste der beiden Schlußfolgerungen legt eine konstruktivistische Position nahe, die entweder die diffuse Materie als Unsagbares bestehen lässt oder in ihrer konsequenteren Version behauptet, es gäbe diese Ebene überhaupt nicht. Die zweite Schlußfolgerung stellt die im allgemeinen naturwissenschaftliche Position dar. Sowohl Nietzsche als auch bereits Kant war die Frequenztheorie der Physik bekannt, die besagte, dass nur bestimmte Frequenzen als Reize für die Sensorik des menschlichen Wahrnehmungsapparates fungieren. Aus dem Vorhandensein letztlich infiniter für den Menschen nicht ohne technisches Gerät wahrnehmbarer Frequenzen ließ sich folgern, dass jede Erkenntnis nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wiedergibt. Das gemeinsame Problem beider Schlußfolgerungen liegt darin, dass sie auf der Ebene eines stillschweigenden Hysteron-proteron-Verfahrens basieren: Von dieser in der Reihenfolge vorausgehenden diffusen Materie, dieser Welt des "An-sich-Seins", kann nur behauptet werden, dass sie existiere, nachdem die kognitiven Strukturen die Materie bereits strukturiert haben und nun aus welchen Gründen auch immer annehmen, dass es ein "Mehr" geben müsse. Die Paradoxie besteht also darin, dass die vorausgehende Materie eigentlich die letztgefolgerte Ebene darstellt; in Kants System: die Sphäre des Ansichs geht selbst unerkennbar jeder vernünftigen Erkenntnis voraus, sie ist aber andererseits nur eine Idee der Vernunft. Wir müssen die Erörterung des Umgangs Nietzsches mit dieser Paradoxie noch hinausschieben und wenden uns wieder der Logik zu. Die Logik untersucht ihrem Selbstverständnis nach unter formalen Gesichtspunkten die Falschheit oder Wahrheit eines Urteils. Dies geschieht mit Hilfe der bekannten Wahrheitstabellen, die für bestimmte Satzvariablen {a,b} Verknüpfungen in Gestalt von Negation {N}, Konjunktion {K}, Adjunktion {A}und Implikation {I} ermitteln, die entweder wahr {1} oder falsch {0} sind, und aus denen sich Axiomen und komplexe Theoreme ableiten lassen. a (Na) b Kab Aab Iab 0 (1) 0 0 0 0 0 1 0 1 1 1 (0) 0 0 1 0 1 1 1 1 1 Nietzsche kritisiert an diesem Modell nicht nur die Simplizität des Wahr-versus-falsch. Hier hat es ja auch unterdessen seitens der Logiker Versuche gegeben, die Zweiwertigkeit in eine mehrwertige Logik zu überführen. Nietzsche kann diese Versuche allerdings nicht gekannt haben. Nietzsche ist die Insistenz auf der Form als solcher suspekt. Um nämlich etwas als Wahres oder Falsches identifizieren zu können, ist eine ontologische Hypothesenbildung notwendig: "gedacht" (NF XII 382) könne erst werden, wenn ein propositionales Moment im Denkakt imponiert, also nur unter der "Annahme des Seienden" (NF XII 382), das gleichsam als der Träger der Form imponiert und damit apriori zum Garant des Wahren wird: Wahr nämlich ist schon die Formalisierung im Gegensatz zu der inhaltlichen Dimension. Dies hängt für Nietzsche mit dem Gegensatz des oppositionalen Gefüges von "diesseitiger, falscher" und "jenseitiger, wahrer Welt" zusammen. Ausgehend vom Glauben an Dauerhaftes und Identisches (NF XII 385), wird die dynamische Welt des Diesseits als Falschheit begriffen und die stabile Welt der Abstraktion in ihrer Eigenschaft als phantasmatische Jenseitswelt zur wahren Welt hypertrophiert. Der Begriff "Falsch" übersteigt damit den Rahmen logischer Geltungsrelevanz; er wird genealogisch verstanden, als Moment, das den Konstitutionsprozeß der Logik betrifft. "Falsch" ist somit im Grunde alles, was sich bewegt und demzufolge verändert. Nietzsche kann in seiner Kritik so weit gehen zu behaupten, dass das "Falsche" schlechthin die Veränderung darstellt. Der Tatbestand der Veränderung trifft in erster Linie auf das Leben zu, nicht vielleicht auf das logische und abstrakte Cogito aber auf das konkrete Dasein. Die Logik nimmt für sich in Anspruch die formalen Gesetze rationalen Denkens zu formalisieren. Die Urteilsformen sind als Operationsgrößen innerhalb der Logik formalisierbar. Deshalb sind in der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants Ontologie und Logik keine heteronomen Bereiche, sie gehören gleichermaßen zur Erkenntnistheorie. Die Logik stellt dabei nur den Teilbereich der Regeln möglicher Richtigkeit des Denkens vor. Nietzsche behauptet nun, dass, wenn nach bestimmten Regeln geurteilt werde, eine immer fälschende Rationalisierung stattfindet. Diese Behauptung impliziert zwar auch, dass die Welt nach bestimmbaren Kriterien "zurechtgemacht" wird, sie meint bei Nietzsche aber vor allen Dingen, dass sich in dieser Fälschung das Subjekt "Cogito" manifestiert, inszeniert und sich gerdezu auf diese Fälschung gründet. Es handelt sich bei Nietzsche also nicht mehr um die klassische Fragestellung, in der Ontologie und Erkenntnistheorie durchaus einen gemeinsamen Nenner besitzen, der Beziehung zwischen den Objekten und dem Subjekt (zuzüglich intersubjektiver Konventionen). Der von Nietzsche immer wieder angeführte Vorwurf der Fälschung betrifft in erster Linie die Selbstwahrnehmung des Subjektes beziehungsweise der Subjekte. Aus dieser gleichsam reflexiven Beziehung erst wird das Subjekt-Objekt-Verhältnis abgeleitet. Wir werden diesen Zusammenhang unter erläutern.


13 Bevor die Arbeit des Symbols, die im binären Wahr-falsch-System kulminiert, beginnen kann, muss etwas als Basalfalschheit ausgeschlossen sein, das eine jede Abstraktionsbewegung sofort der Verfehlung überantworten würde. Solche Exklusion betrifft nach Nietzsche das Leben als Werden, Endlichkeit, Sterblichkeit. Da Sinnlichkeit (GD VI 74) bei Nietzsche ihrem Begriff nach ein Bild des Wechsels der Wahrnehmungen und des Wandels der Gefühle generiere (ein Bild, das somit eher einem Film entspricht), müsse sie als basales Konstituens des Eindrucks von Wandelbarkeit negiert werden (GD VI 15), bzw. als bloße Funktion im transzendentalen Apparat ihre Position zugewiesen bekommen, die sie eben gerade ihrer Bedeutung entmächtige. Den Körper, als Zwangsvorstellung der Sinne (ebd.), müsse die Transzendentalphilosophie demzufolge "abschaffen" bzw. zur bloßen Hülle degenerieren lassen, wenn es um das "Verstehen", das heißt die Produktion von Wahrheit" gehe. Dafür trete die "Vernunft" (ebd.) auf den Plan, die die sinnlich wahrgenommene Inkonsistenz in eine "Einheit" (ebd.) umfunktioniere und eine somit eine "Welt des Bleibenden" (NF XII 365) konstruiere, die den Wandel der diesseitigen Welt ins "Jenseits" des Intelligiblen transformiert wird. Das wechselnde Material der Erfahrung - Nietzsche bedient sich in diesem Zusammenhang der Metapher des Irdischen (vgl. Za IV 15) -, wird so zum Mangelhaften, zum prinzipiell Falschen. Im Gegensatz eigentlich zur Erfahrung würden Vernunft und "Wille zur Wahrheit" (NF XII 365, vgl. XI 634) als Instrumente der Erkenntnis die Welt verdinglichen. (Nietzsches Vernunftkritik bezieht sich auf einen Rationalitätsbegriff, der den der instrumentellen Vernunft impliziert, aber auch den von der Emanzipationstheorie stark gemachten substanziellen. Auf das ganze Werk bezogen aber nimmt Nietzsches Vernunftbegriff sich recht komplex aus [vgl. NF XII 369]. Der Begriff der "großen Vernunft des Leibes", wie er im "Zarathustra" angeführt wird, wäre ein Gegenbegriff zu der hier dargestellten.) Dieser Prozeß impliziert drei Verdrängungsstufen: Das Diesseits wird in einem ersten Schritt (aus noch darzulegenden Gründen) für "falsch" befunden, in einem zweiten Schritt wird diese Falschheit verdrängt (NF XII 384), und in einem dritten Schritt wird die Verdrängung selbst verdrängt. Für diesen Verdrängungsmechanismus gilt: "der höchste Wunsch hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge" (NF XII 365). Unter dieser "Einswerdung mit dem Seienden" versteht Nietzsche: 1. die Produktion des Seienden (zunächst Außenwelt) und Negation des Wandelbaren (Innen- und Außenwelt), 2. die Einswerdung als Verbindung von Innen- und Außenwelt, so, dass die verdinglichte Innenwelt unvergänglich erscheint. Die scheinbar "wahre Welt" führt Nietzsche auf eine "moralisch-optische Täuschung" (GD VI 78) zurück. Es entsteht hier eine spezifische erkenntnistheoretische "Optik" (NF XII 382). Dass dies eine Täuschung sei, die die Optik betrifft, heißt, dass der Prozeß der Verdinglichung und Fetischisierung über das Medium des Sehens, des Anschauens verläuft. So muss bereits der Terminus Anschauung innerhalb der Philosophie Kants als Vernunftfunktion gelesen werden. Innerhalb der Religion ist das Verhältnis von "diesseitiger, falscher" und "jenseitiger, wahrer Welt" ein explizites. In der säkularisierten Welt der Logik gilt diese Mythologiebasis gleichwohl; sie ist nicht verlassen, sondern als verdrängte nur implizit und damit subtiler geworden. Die Logik, die darum auch nach Nietzsche wesentlich religiös ist, übernimmt darin die klassische Funktion der Ontologieproduktion. Für den Bereich der transzendentalen Dialektik gesteht Kant selbst dies zu, wiewohl die religiöse Problematik sich eben hier erst entwickelt und nicht post festum einstelle - wenn nämlich das Denken sich in Gaukeleien in die dialektische Projektion begibt, "von den bloßen formalen Prinzipien des reinen Verstandes einen materialen Gebrauch zu machen" 49. Nun aber gilt das religiöse Moment nach Nietzsche auch betreffend die transzendentale Analytik. Da sich "Erkenntnis und Werden" (NF XII 382) wechselseitig ausschließen, müsse die "falsche Welt" (ebd.) des Vergänglichen umformuliert werden (vgl. NF XIII 216); "die Logik handhabt nur Formen für Gleichbleibendes" (ebd.). Da das postulierte "Seiende" aber konstruiert, und keinesfalls aufgefunden werde, sei zumindest unentscheidbar, ob die "logischen Axiome der Wirklichkeit adäquat sind" (NF XII 389). Logik und Mathematik sind nicht dasselbe, aber man darf in diesem Zusammenhang auf die Differenz zwischen mathematischer und physikalischer Geometrie aufmerksam machen. Die mathematische Geometrie ist keine Erfahrungswissenschaft, und obgleich die mathematischen Konstruktionen von ihrer Exaktheit leben, ist dennoch klar, dass sie der Wirklichkeit nicht entsprechen. (Kant freilich hat sich selbst in ähnlicher Weise ausdrückt und Nietzsches Kritik an der Logik, so sie in sich stichhaltig sein sollte, trifft Kants Denken in zahlreichen Punkten nicht.) Aber Nietzsche vertritt damit keinen naiven Realismus; schon die Wahrnehmung ist keine unmittelbare Aufnahme des Realen, sondern sie ist schon der fundamentalen Eigenmächtigkeit logischer Perzeptivitätsstrukturierung unterworfen. Nietzsche hatte sich zwar nicht intensiv aber doch zumindest am Rande mit naturwissenschaftlichen Forschungen auseinandergesetzt (und erwog sogar noch in späteren Jahren einmal Chemie zu studieren). Auf der Grundlage der dadurch erworbenen Kenntnisse konnte Nietzsche gar keinen naiven Realismus mehr vertreten. Das Reale, dies wären Molekularstrukturen, die sich der Wahrnehmung entziehen, die immer schon "oberhalb" dieses Realen ansetzt, insofern sie Gestalten wahrnimmt, die schon Makrostrukturen repräsentieren. (Dazu tritt allerdings der Umstand, dass auch die Mikrostrukturen für Nietzsche schon in Kategorien in Kategorien aus dem Bereich der Makrostrukturen übersetzt werden. Wir werden unten darauf zurückkommen.) Nietzsches Vorwurf an die Epistemologie Kants besteht darin, dass Kant den Prozeß des Erkennens keiner Metakritik unterziehtiert. Die Axiomatisierung stellt für Nietzsche "einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll" (ebd.) vor. Soweit sieht sich Nietzsche noch nicht unter Zugzwang. Die Frage, was Wirklichkeit 49

KrV B 87f


14 wirklich sei, braucht sich Nietzsche hier noch nicht zu stellen. Es reicht zur Kritik der Tatbestand aus, dass Logik die Wirklichkeit zu erfassen vorgibt, ohne weiteres aber demonstrierbar ist, dass die Koinzidenz zwischen Logik und Wirklichkeit nur partiell und insofern defizitär ist. Dieses Defizit besteht zum Beispiel in der einseitigen Ableitung der Logik aus optischen (und haptischen) Erfahrungen und der Vernachlässigung anderer Sinneserfahrung. Nietzsche bestimmt dasjenige als über das Ziel hinausgehend, was Kant als zu wenig galt und zwar, dass Logik "den richtigen, das heißt mit sich selbst übereinstimmenden Gebrauch des Verstandes lehren" (Kant: Logik A 6) soll. Im Zusammenhang dieser defizitären Übereinstimmung mit dem sinnlich Erfahrbaren kritisiert Nietzsche an der Logik den Charakter der Selbstreferenz, also die innere Schlüssigkeit logischer Systeme, die nur durch eine radikale Abkopplung der besagten optisch-haptischen Isolate von anderen Sinneserfahrungen zu Stande kommen kann. Dies macht für Nietzsche den phantastischen Charakter des Logischen und seine daraus folgende unendliche Verfehlung den dessen Mangel aus. Heisenbergs Monitum, das "Beharren auf der Forderung nach völliger logischer Klarheit würde wahrscheinlich die Wissenschaft unmöglich machen" (Heisenberg: 65, 154f), gibt Nietzsche somit von einer späteren wissenschaftsphilosophischen Seite her recht, demzufolge Logik gerade nicht mimetisch "aus der Wirklichkeit genommen sein" (NF XI 597) kann. Ein Sachverhalt, der keinesfalls nur auf sprachliche Problemfelder einzuschränken ist, sondern in gleicher Weise auch die mathematische Sprache betrifft, diese von Leibniz und Kant favorisierte Wissenschaft, die diesen Anlaß gab, die Selbstvervollkommnung des Sprechens durch eine Orientierung an der mathematischen Symbolsprache zu erhoffen. Dieses Sprechen hätte eines der intelligiblen, dem Menschen innewohnende Vernunft sein sollen. Die Mathematik, zu scholastischen Zeiten verruchtes Menschenwerk, in der beginnenden Neuzeit Zeichen göttlicher Präsenz, benötigt Kant zufolge "Anschauung a priori" (Kant: MAN A IX). Als im Raum und in der Zeit befindliche Wissenschaft ist sie nach Kant "wirkliche Metaphysik"(ebd. A xII). Damit wird sie zur reinen Anwendung der "wahren Metaphysik" (ebd. A XIII), die dem "Wesen des Deutungsvermögens" (ebd.) entnommen sei. Insofern Logik und Mathematik aber nicht aus der Wirklichkeit genommen sind, wie Nietzsche in durchaus aristotelischer Denktradition (Aristoteles: Physik 208a32-b25) ausführt, heißt es: "Die arithmetischen Formen sind ebenfalls nur regulative Fiktionen, mit denen wir uns das wirkliche Geschehen, zum Zweck praktischer Ausnützung auf unser Maß (...) vereinfachen und zurechtlegen" (NF XI 597). Dadurch wird das Medium des Zählens zu einem immer anthropomorphen Algorithmus. Diese Einschätzung des Logischen, die auch die Mathematik betrifft und im Wesentlichen die Formalisierung betrifft, ist kein bloß auf diesen Bereich im engen Sinne beschränktes Phänomen. Horkheimer/Adorno haben dies ausgeführt in der Tradition Nietzschescher Kritik, wenn sie schreiben, dass das "Gesetz der großen Zahl, nicht die Einzelheit" in der Gleichung wiederkehre (Adorno: DA 77). Die Funktionalisierung von irreduzibler Einzelheit im Gefolge einer logisch strukturierten Welt greife, so Adorno, auch auf Bereiche zwischenmenschlicher Beziehung aus die sowohl Nietzsche als auch Adorno mit der Irrealität des utopischen Gedankens quittieren (den zu kommentieren hier nicht Sache sein kann). In diesem Zusammenhang verweist Nietzsche auf das kommunikative Moment der Logik. In der Ausbildung logischer Elemente findet eine "Abkürzung eines geistigen Vorgangs zum Zeichen" (NF XI 597) statt. Dieses Moment erst ermöglicht das "Gedächtnis" (ebd.) und darauf basierend "Erfahrung" (ebd.) und "Erkenntnis" (ebd.). Dass auch die in solcher Abkürzung produzierten "mathematischen Gegenstände" nicht naturgegebene Apriori sind, sondern "bloße konventionelle Bezeichnungen" (Aristoteles: ebd.) sind, davon ist bereits Aristoteles ausgegangen. Notwendige und allgemeine Gültigkeit der Konvention gehen nicht aus der logischen Formulierung selbst hervor. Mit einem, so Adorno, "Bewußtsein der Unableitbarkeit" 50 gehe implizit eine "Morallehre"51 einher. Nur so werde Kants "Rekurs auf die sittlichen Kräfte als Tatsache" (ebd. 78) transparent. Die Konvention als Konvention ist in der Logik abendländischer Rationalität immer implizit. "Sittlichkeit" wäre somit kein Problem einer sekundären Finalisierung oder ähnlichen, beispielsweise ethischen Parametern, sondern ein dieser selbst als homogenisierende Moral je implizites Phänomen. Diese implizite moralische Struktur besteht zum einen in der abstrakten Notwendigkeit. Sie beinhaltet den Imperativ, dass notwendig wahr nur Sätze sein können, die sich von der Erfahrung abkoppeln. (Wobei unter Erfahrung beispielsweise andere Perzeptionen als die optisch-haptischen, aus denen sich in der besagten Weise die sprachlich-logischen Kategorien ableiten, zu verstehen sind.) Zum anderen ist die implizite Moral in der abstrakten Allgemeinheit fundiert. Jeder Handelnde muss sich der Konvention entsprechend verhalten, die allein die Differenzierung zwischen Wahrheit und Falschheit trifft. Jemand, der sich nicht der Konvention entsprechend verhält, kann sich unter logischen Gesichtspunkten weder falsch noch richtig verhalten; er entzieht sich der Beurteilung. Die Logik behandelt also nur einen relativ geringen Ausschnitt menschlicher Kommunikation, nämlich den der exakt formalisierbaren Kommunikation. Daraus folgt, dass der größte Teil kommunikativer Beziehungen, die nicht formalisierbaren Akte, der an sprachlichen Urteilsformen orientierten Logik einfach entgeht. (Dazu gehören ja schon Fragen, Imperative, Affekte usw..) Das Abendland hat weder eine Kunst noch eine Wissenschaft der Empfindung hervorgebracht. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft bei Nietzsche eine Implikation des 50 51

Adorno: DA 77 Adorno: DA 77


15 Konventionalismus, die darin besteht, dass der Begriff "Konvention" eine Zufälligkeit der Zeichen voraussetzt. Diese Einsicht ist trivial, sie besagt zunächst nicht mehr und nicht weniger, als dass man beispielsweise an Stelle eines "+"-Zeichens auch ein "#"-Zeichen schreiben kann, ohne darum den Gehalt der Operation zu verändern. Diese der Konvention eigene Willkürlichkeit legt die unbegründete Folgerung nahe, als existierten die logischen und mathematischen Entitäten losgelöst von ihrer Bezeichnung. Sie scheinen als unabhängig von der Art der Bezeichnung auch eine unabhängige Existenz zu führen. 52 Jedenfalls bleibt die Frage der Bedingung der Korrespondenz logischer und mathematischer Operationen mit der Wirklichkeit (man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Wahrscheinlichkeitsrechnung) offen. Entweder es gibt diese logische Entität jenseits der Bezeichnung - aber dann könnte man apriori nicht über sie sprechen, denn sie entzieht sich ja der Bezeichnung - oder aber die Entität ist ein Produkt der Bezeichnung. Da diese aber in der angezeigten Weise arbiträr ist, kann es zur Korrespondenz zwischen Denken und Wirklichkeit nur durch einen Faktor kommen, den wir hier Kohärenzfaktor nennen. Die Komplexität eines Systems ist demnach beteiligt an der Produktion logischer oder mathematischer Entität. Je dichter die Systemeelemente ihre Kohärenz ausbilden, desto größer ist die Korrespondenz, die freilich instantan mit der Kohärenz entsteht. Gewiss bleibt dieser Zusammenhang zunächst wundersam und dunkel. Wir werden unten darauf zurückkommen. Der spezifische Abstraktions- und Abkürzungsprozeß, auf dem Logik basiert, ist stillschweigende Vorraussetzung einer jeden kommunikativen Handlung über das Thema "Wahrheit". Um konventionell behandelt werden zu können, müssen Erfahrungsdaten eine Angleichung aneinander erfahren. Sie müssen formalisiert werden. Man muss Nietzsches Kritik hier genau nehmen. Sie richtet sich nicht dagegen, dass die Logik zu verfährt und unbestritten ihre Erfolge mit diesem Verfahren hat. Sie macht nur aufmerksam auf den mit der Angleichung verbundenen Verlust an - wenn man es so nennen will: - Informationen, die durch den besagten Abstraktionsprozeß ausgeschlossen werden. Jeder Formalist wird hier entgegnen, dass dies unbestritten ist, es jeder weiß und dass darüber hinausgehend in der Abstraktion die eigentliche Leistung der menschlichen Vernunft liege. Es geht Nietzsche in diesem Zusammenhang auch nicht darum, die Vernunft abzuschaffen; da für ihn die Logik aus der Optik abgeleitet ist, aus dem Sichtbaren, stellt er sich nur die Frage, ob nicht auch eine Logik möglich sei, die andere Sinnesleistungen miteinbezieht. Nietzsche spricht hier von der "großen Vernunft des Leibes" im Gegensatz zur "kleinen Vernunft" der Logiker. Was die Ableitung der Logik aus Phänomenbereichen des Optischen ausmacht, so kritisiert er insbesondere das Problem der Dauer.53 Um als Stoff einer "Mittheilung" (NF XII 395) transportierbar zu sein, muss der Charakter des sinnlich wahrgenommenen Werdens als allgemein und dauernd vereinfacht werden. Das Fundament dieser Dauer und Angeglichenheit kommt nach Nietzsche im Satz von der Identität (NF XII 395) zum Ausdruck, der allerdings nicht nur die Möglichkeit der Mitteilung pointiert, sondern gleichzeitig ein subjektives/intersubjektives Verlangen nach Mitteilung anzeigt. Mit Hilfe der Identifizierung werden singuläre Fälle synonym gemacht, angeglichen. So erst wird Wahrnehmbarkeit gesichert und ein Gedächtnis ermöglicht. Diese Gedächtnisfundierung basiert auf der appellativen Grundlage, dass wer sich mitteilen will, sich notgedrungen auf dieser Basis mitteilen muss. Die Identifizierung sie fällt somit unter die Kritik an der Moral. Wiedererkennen und Erkennen implizieren, dass "etwas, das nach einer zugestandenen Art des Schließens auf allgemein zugestandene Wahrheiten zurückgeführt wird" (NF XII 191). Die Begriffe von Wahrheit und Falschheit sind somit am Begriff kollektiver "Verständigung" (NF XII 190) orientiert. In diesem Sinn stellt die Methologie der transzendentalen Analytik nur die Formalisierungsgrundlage eines am intersubjektiven Nutzen orientierten Verständigungszusammenhanges dar. Allgemeinheit und Notwendigkeit (NF XI 505) dieser Analytik basieren nur auf der Auflistung der "Elemente" und "Regeln" dieser appelativen Homogenisierung (NF XII 187f). Nietzsche moniert, dass Kant diese Dimension völlig aus seinen Untersuchungen ausschließt. Kant würde auf diese Kritik wahrscheinlich geantwortet haben, dass Nietzsches Bemerkungen, auch wenn sie durchaus richtig seien, ihn im Rahmen der Analyse des Erkenntnisvermögens nicht berührten. Die transzendentale Analytik untersucht ja die Funktionsweise des Verstandes, nicht aber verdeckte Implikationen seiner Funktionen. Nietzsche hinwiederum würde darauf antworten müssen, dass seine Fragen zumindest der Vollständigkeit wegen thematisiert werden müssten, denn eine Metakritik der transzendentalen Analytik kommt auch innerhalb der Kritik der Dialektik, dem zweiten Zentralkapitel der Kritik der reinen Vernunft, nicht vor. Die transzendentale Dialektik weist zwar mit Recht den überheblichen Eifer des Gemüts in seine Schranken und verweist es auf die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit es Erkenntnis geben kann, reflektiert das Problem der Erkenntnis aber nicht in einem metakritischen Sinn. Die Kritik der reinen Vernunft geht immer davon aus, dass es Erkenntnisse gibt. Der Nachweis der Abhängigkeit logischer Kategorien von der Sprachstruktur dürfte relativ problemloser zu führen sein (Strukturalismus und Poststrukturalismus) als der mathematischer Kategorien. 53 Dahinter steht die Differenz von Werden und Sein. Für Nietzsche impliziert das Plädoyer für eine andere Art der Wahrnehmungkeinen naiven Realismus, also zwei Kategorien der Wahrnehmung: eine primäre, sinnliche auf der Ebene der Perzeption des Werdens und eine sekundäre, geistige auf der Ebene des apperzeptiv aufgenommenen, konstruierten Seins. Die erste Dimension ist immer schon gedacht von der letzteren aus, dergestalt, dass es sich bei jeder Anmahnung eines "sinnlich wahrnehmbaren Werdens" um eine Unterstellung handelt, die die Rationalität selbst vornimmt, und womit sie projektiv ein ihr selbst eignendes Moment auf ein nur scheinbar anderes überträgt. 52


16

1.3.

Kausalität

Der Satz von der Identität und desgleichen der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, Sätze, die seit Aristoteles als Grundgesetze logischen Denkens firmieren, haben Nietzsche zu Folge eine Voraussetzung, die er als "Glaube an die gleichen Fälle" (NF XII 308) kennzeichnet. Die Anwendbarkeit der Gesetze einschließlich des Glaubens daran basiert auf der Voraussetzung, dass Gleichheit in der Welt sei, an welcher jede Wahrnehmung partizipiert. 54 Im Anschluß an die cartesianische Theorie der Zeit, die besagt, dass die Zeit diskontinuierlich verlaufen müsse, insofern eine denkende Substanz nicht ausmachen könne, ob sie in Zukunft noch eine solche sei, also: existiere, wenn nicht das Cogitare ein Bewußtsein davon hätte, dass es durch eine innere Ursache in jedem chronologischen Folgeabschnitt neu kreiert würde,55 fügte Leibniz den beiden aristotelischen Denkgesetzen ein drittes hinzu: das Gesetz vom zureichenden Grunde. Leibniz "ontologisiert" damit die cartesianische Konzeption der Zeit dergestalt, dass er auch die in ihrer monadischen Eigenschaft beseelte Materie und deren räumliche wie zeitliche Diskontinuität in die von Descartes vorgeprägte Begründungsnot einbezieht. "Primum mobile" ist bei Leibniz Gott als die universale Sub-Substanz des Logos, das allem zum Grunde Stehende der Urmonade.56 So wird die Kausalität ein Problem der Beseeltheit als Denkvermögen - damit zu einer Sache der rationalen Logik allein. Wenn auch Kant den rationalen Aspekt in seine Definition der Kausalität mit aufnimmt, so doch nur unter der Berücksichtigungen der Theorien des empirischen Rationalismus, vorzüglich dessen Humes. Für diesen fällt Kausalität unter die operationale Verstandestätigkeit. Dabei meint der Terminus "Operation" eine Aktivität des Assaziationsvermögens. Nach Hume stammt die "Kenntnis von Ursache und Wirkung" 57 nicht wie bei Leibniz aus einem ideellen Apriori-Bereich, sondern "ganz und gar aus der Erfahrung" 58. Da am realen Geschehen nur Folgebeziehungen zu gegenwärtigen seien, sei der Satz von der Kausalität "einfach" ein erlernter, der sich aus der Fähigkeit, Folgeabschnitte zu assoziieren, erkläre. 59 Freilich liegt darin gleichwohl ein rationalistisches Moment, das eben dieses Vermögen von Assoziation veranschlagen muss. Was den ideellen Rationalismus anbelangt, so bewertet die Kausalitätsdiskussion von Aristoteles bis zur Neuzeit essentialistisch die Ursache (Möglichkeit) auch als die Wahrheit und das Wesen (Antezedens) aller sukzessiven Wirklichkeit. Die moderne Interpretation ihrerseits der Kausalität als Implikationsrelation leitet sich her aus dem empirischen Rationalismus. Beide Dimensionen stellen Bestandteile der Transzendentalphilosophie dar. Die erste mehr in die praktischer, die zweite mehr in theoretischer Hinsicht. Bei Kant wird der "Satz der Kausalität" schon in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft als Beispiel für einen synthetischen Satz apriori angeführt. Es gilt nun, seinen Begriff der Kausalität näher zu prüfen. Die Überlegungen der am Begriff der Essenz orientierten Philosophie zielten auf eine Klärung der eigentlich an der Theologie orientierten Begriffe des Absoluten, desjenigen, das allem Wechselhaften und Bedingten ursächlich vorausgehe und alles Seiende dazu bestimme, in ein kausales Verhältnis zu den Dingen zu treten. Für Kant kann es gewiss ein Absolutes im Sinne der im vorneuzeitlichen Denken gedachten Realität nicht mehr geben, die transzendentalphilosophisch Begriffe Idee und Ideal säkularisieren dasselbe gleichsam. Die analytische Kategorie Quantität findet sich hier wieder als "Idee Gottes", die der Qualität als "Idee der Freiheit" und die der Relation als "Idee der Unsterblichkeit". Der "Satz von der Kausalität" gehört zur KAtegorie der Relation. Er setzt zu einer gegebenen eine Ursache oder zu einer gegebenen Ursache eine Wirkung ("wenn x, dann y" oder "aus x folgt y"). Man hat also einen Sachverhalt, der aus zwei Elementen und deren Folgebeziehungen in der Zeit besteht. Der Zusammenhang der Vorstellungen erscheint nach Nietzsche "successiv" (* I 857). Die Vorstellungen erscheinen aber nur dann so, wenn sie nebeneinander gestellt und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit betrachtet werden. Um eine Vorstellung von Folgebeziehungen haben zu können, muss man einen Metastandpunkt beziehen, der den Zusammenhang mindestens zweier Vorstellungen assoziiert und selbst nicht in dieser Folgebeziehung steht (* I 857). Ob das Denken tatsächlich in solchen Beziehungen verläuft, lässt sich, von einem Gedanken ausgehend, der selbst metagedanklich ist, schwerlich beantworten. "Das logische Denken, von dem die Logik redet, ein Denken, wo der Gedanke selbst als Ursache von neuen Somit ist die Frage nach dem Denken eine onto-logische Frage. Tatsächlich versteht sich Kant, wie angezeigt, in der Tradition der Ontologie. Gleichwohl begreift er seine "neue Ontologie", die Transzendentalphilosophie, als einen Versuch, diverse Schwierigkeiten und Paradoxien der klassischen Ontologie zu vermeiden. 55 Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, Hamburg 1954, S.97f (Ullstein IV 195, Meditation III §31, §37f, Hamburg 1977, S. 89, 95) 56 vgl. Kaulbach: Subjektivität, Fundament der Erkenntnis und lebendiger Spiegel bei Leibniz, in: Ztft. für philosophische Forschung, Bd.20 (1966), S.471ff 57 Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1973, S. 37 58 Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1973, S. 37 59 Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1973, S. 24 54


17 Gedanken gesetzt wird -, ist das Muster einer vollständigen Fiktion: ein Denken der Art kommt in Wirklichkeit niemals vor, es wird aber als Formen-Schema (...) angelegt (...): so dass dergestalt unser Denken in Zeichen faßbar, merkbar, mittheilbar wird" (NF XI 597). Kant seinerseits bestimmte das Gesetz der Kausalität als allgemein und notwendig, "mithin gänzlich a priori" 60. Es gewährt als "a priori verknüpfender Begriff" 61 die Möglichkeit, Vorstellungen als in der Zeit notwendige zu setzen. Als Verstandesbegriff 62 macht es die objektive Einteilung der Empfindungen in Zeitquanten möglich. 63 Nietzsche hält diese "Notwendigkeit" (NF XII 383) für eine falsche " Interpretation"(ebd.) der bloßen "Formulierbarkeit" (ebd.) eines Geschehens (dazu gehört.auch das Denken), das nur in bestimmter Weise wahrgenommen werden kann. Indem der menschliche "Erkenntnisapparat" schematisiert, wird das, was nur der "Beginn einer Handlung ist, als Ursache mißverstanden" (NF XIII 274). Hier muss allerdings hinzugefügt werden, dass auch bei dem Hume-Kenner Kant das Gesetz der Kausalität als solches nur regulativen, aber keinen konstitutiven Gehalt hat, das heißt es lässt sich nicht auf irgendeine Erscheinung als Ursache überhaupt beziehen, es gewährleistet nur die formale Möglichkeit analog zu verknüpfen. 64 Hume, Nietzsche und Kant sind einer Meinung darin, dass es unmöglich sei, eine "Ursache (...) apriori" zu bestimmen (NF XI 442). Mit Recht schreibt Nietzsche Hume das Verdienst zu, dass Kant ein "ungeheueres Fragezeichen (...) an den Begriff Causalität schrieb und dadurch den logischen Optimismus in seine Grenzen verwies." ( * ) "Logischer Optimismus" steht bei Nietzsche für die Auffassung, man könne am Leitfaden der Kausalität (ebd.) bis zu einer ersten Ursache vorzudringen, beziehungsweise am Leitfaden der Logik ins Reich des Seins vordringen. Dieser Optimismus hat seit Hume und Kant seinen Sinn verloren. Nietzsche gibt Hume recht, wenn er mit ihm den Glauben an die Kausalität als "Gewohnheit des Hintereinanders von Vorgängen" (NF XII 102) begreift. Kant seinerseits geht über Hume insofern hinaus, als er diesem unterstellt, er habe den Begriff der "Kausalität" aus einer bloßen "Gewohnheit", also aus de "(... bloß subjektiven Notwendigkeit) Vorstellungen zu verknüpfen" 65 abgeleitet. Tatsächlich hätte Hume den Objektivitätsanspruch Kants nicht vertreten können, und darin zeigt sich Nietzsches Nähe zu Hume. Dieser bezweifelte grundsätzlich, dass es gelingen könne, "eine Ursache zu definieren" und sie vom Begriff "Wirkung" klar abzusetzen. 66 Kants transzendentalphilosophische Analyse jedoch verleiht der Kausalitätsbeziehung die Dignität einer allgemeinen und notwendigen Regel des Denkens. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es Kant um Regeln geht, die für alle Wesen, wenn sie vernünftig denken, die gleichen sein sollen. Wenn nun der Satz Nietzsches gilt: "Die gesammte physische Causalität ist hundertfältig ausdenkbar, je nachdem ein Mensch oder andere Wesen sie ausdeuten" (NF XI 624), so impliziert dies zunächst eine Zustimmung zu Kants These, dass jedes menschliche Wesen gemäß seines Formenschemas auf eine allgemeine Weise mit physischen Kausalverhältnissen umgeht. Diese Verhältnisse verlaufen nach Nietzsche sowohl im Rahmen "praktischer" als auch "theoretischer" Vernunft in der Tat bei allen menschlichen Wesen homolog ab. Aber für Nietzsche folgen daraus andere Thesen, als diejenigen Kants. Für Kant ist jedes menschliche Wesen eine Teilmenge aller menschlichen Wesen; für Nietzsches radikalen Perspektivismus hingegen ist dies nicht der Fall. Aus dem Sachverhalt das jedes menschliche Wesen anders als ein anderes menschliches Wesen wahrnimmt, folgt für Nietzsche eine Kritik am Allgemeinen. Schon die jeweilige Motivation der beiden Autoren Nietzsche und Kant ist für die Wahl dieses durchaus ähnlich erscheinenden Ausgangspunktes eine sehr verschiedene. Da es Kant um die normative Begründung wissenschaftlichen Handelns geht, beruht sein Verfahren auf dem Prinzip des Ausschließens des Unbrauchbaren, also dessen, was die wissenschaftliche Erkenntnis trügen könnte. Nietzsche seinerseits geht es mehr um Phänomene des menschlichen Daseins, die ihrerseits gedeutet werden. Sein Verfahren beruht vielmehr auf einem Prinzip des Einschließens. Dies führt zu völlig unterschiedlichen Auffassungsweisen. Nietzsche will ja nicht etwas Unkorrektes oder Falsches vermeiden, sondern als eigenständige Dimension gerade erschließen. Aus dieser Differenz lässt sich auch der divergierende Vollständigkeitsbegriff beider Denker erklären. Während für Kant die Vollständigkeit in der vollständigen Aufzählung von Axiomen und Theoremen besteht, besteht sie bei Nietzsche in der Aufzählung aller möglichen Perspektiven eines Gegenstandes. Beim Prozeß dieser perspektivischen Deutung (der bei Nietzsche mit Hilfe der Begriffe "Nichtfestgestelltheit des Menschen" und "Leben als Wille zur Macht" geleistet wird), hebt nach Nietzsche erst philosophisches Tun an. Dazu gehören aus Nietzsches Sicht Eigenschaften, die er bei Kant nicht entdecken kann, die aber gleichwohl das Wissen mit bedingen, so zum Beispiel die "Leidenschaft" (* III 285f), psychologisches Geschick (NF XII 340), und nicht unbedingt die sogenannte "trockene" Gelehrsamkeit (* I 409; * V 144). Gewiss würde niemand bezweifeln, dass ein großer Teil wissenschaftlicher (zumindest naturwissenschaftlicher) Entdeckungen diesen "unwissenschaftlichen" Größen zu verdanken ist. Nietzsche kann also mit der transzendentalphilosophischen Version des Begriffes "Kausalitätsgesetz" nicht zufrieden sein, zumal für ihn auf der Hand liegt, dass weder Dinge an sich miteinander im Verhältnis von KrV B 13 KrV B 219 62 KrV B 106 63 KrV B 182f 64 KrV B 221ff 65 KrV B 5 66 Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1973, S. 113 60 61


18 Ursache und Wirkung stehen können, noch Erscheinungen mit Erscheinungen: womit sich ergibt, dass der Begriff "Ursache und Wirkung" innerhalb einer Philosophie, die an Dinge an sich und an Erscheinungen glaubt nicht anwendbar ist" (NF XI 135). Aus dem Begriff "Erscheinung" nämlich geht nicht der Begriff einer verursachenden oder verursachten Bewegung hervor. Diese Bewegung als Verhältnis von aktivem Verursachendem und passivem Bewirkt-werden ist aber dem Begriff der Kausalität als Verhältnis von Ursache und Wirkung inhärent. Kant hielt an dem objektiven Sachverhalt der Kausalität fest. Wenn die Fähigkeit des Menschen, Denkgesetze an die Wirklichkeit anzulegen, als Vermögen beschreibt, so ist doch Aktivität mitgedacht. Es ist zu untersuchen, was es damit auf sich hat. Nietzsche bezeichnet es als "Fehler Kants" (ebd.) nicht berücksichtigt zu haben, dass der Begriff der kausalen Verknüpfung psychologische Implikationen besitzt, die "aus einer Denkweise, die immer und überall Wille auf Wille wirkend glaubt" (ebd.) stammt. Wenn die Philosophie den "Willen" als aktives Prinzip (* V 35f) - aktiver Wille ist gleichbedeutend mit "Absicht" (ebd.) - ins Geschehen so weit hineininterpretiert, dass diese Interpretation zu der Formulierbarkeit allgemeiner und notwendiger Denkgesetze führt, dann muss sich dies aus bestimmten Bedingungen ableiten lassen, die es zu betrachten gilt. Nietzsche ist der Meinung, dass mit dem Begriff des aktiven Willens ein Täter hinter die Erscheinung konstruiert worden ist. So entsteht die Vorstellung von gegenseitig sich bedingenden Wirkursachen, die "Zwang" (NF XII 383) aufeinander ausüben. Dieser wechselseitig ausgeübte Zwang wird dann als kausale Beziehung begriffen. "Die Trennung des `Thuns` vom `Thuenden`, des Geschehens von einem Etwas, das geschehen macht, des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, - der Versuch, das Geschehene zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungswechsel von `Seiendem`, von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben an `Ursache`und `Wirkung` festgestellt, nachdem er in den sprachl<ichen> grammat<ikalischen> Funktionen eine feste Form gefunden hatte." (NF XI 136). Der philosophische Diskurs über die Kausalität ist für Nietzsche ein Indiz des Willens zur Berechenbarmachung der Welt: Redet man von einer "Ursache", so hat man "ein Gefühl von Kraft, Anspannung, Widerstand, ein Muskelgefühl, das schon der Beginn einer Handlung ist als Ursache mißverstanden" (NF XIII 74). Man hat hier die "Absicht", den "Willen" hineingelegt (* V 35f), um die innere und äußere Welt festzustellen. Alles was über derartige Folgeerscheinungen gesagt werden kann, ist jedoch nur, dass ein "Quantum Wille zur Macht" (NF XIII 258) "in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten" steht (NF XIII 259). Aus diesem Kampf ergibt sich eine Bewegung, die ein ständiges "Neuarrangement der Kräfte" (NF XIII 273) bewirkt: das Werden. So kann Nietzsche behaupten, dass es einen "Causalitäts-Sinn" (NF XIII 276) als psychologisches Faktum gäbe. Er sei nicht notwendig eine "natürliche" Verstandeskategorie, in ihrer Ursprünglichkeit "instinktiv" wirkend (ebd.), anzunehmen. Instinktiv ist der "Causalitäts-Sinn" nur insofern er "automatisch" abläuft - es ist aber nicht zu beurteilen, ob dies schon immer so war und immer so sein muss. Der "Causalitäts-Sinn" bringt, Nietzsche zufolge, eigentlich nur "die Furcht vor dem Ungewohnten" (ebd.) zum Ausdruck. Damit ist er nur ein Nivellierungs- und Assimilationsinstument, um die Welt in ihrem vielschichtigen Werden (Geschehen) auf Gleiches (bekannte Ursachen) zu reduzieren. Wir erläutern diese Kritik Nietzsches anhand eines Beispieles aus der Kritik der reinen Vernunft. Das "Gesetz der Kausalität" erwähnt Kant dort zum ersten Mal in der Einleitung. An zwei Stellen wird es als Beispiel angeführt.67 Zunächst gibt Kant ein Beispiel für notwendige und allgemeine, "reine Urteile apriori" 68, die auch im einfachsten Gebrauch des Verstandes von Gültigkeit seien. Die ist "der Satz, dass alle Veränderung eine Ursache haben müsse"69, von dem Kant schreibt, "dass der Begriff einer Ursache (so) offenbar den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel" 70 bei sich trage. Dann gibt Kant ein Beispiel für ein synthetisches Urteil apriori an, in dem ein Begriff, der über einen anderen hinausgeht, doch mit diesem verbunden sei. Er wählt den Satz der Kausalität: "Alles, was geschieht, hat eine Ursache"71 und kommentiert ihn: "Der Begriff einer Ursache liegt ganz außer jenem Begriffe 'von etwas, das geschieht', und zeigt etwas von dem, was geschieht, Verschiedenes an, ist also in dieser letzteren Vorstellung gar nicht mit enthalten"72. Diese beiden Sätze widersprechen sich zwar nicht unbedingt, aber sie sind doch nicht ganz frei von Widersprüchlichkeit. In einem synthetischen Urteil muss der Begriff des Sukzedenz außerhalb dessen des Antezedenz liegen und trotzdem notwendig und allgemein mit ihm verknüpft sein. Wenn man aber mit einer Strategie im Sinne Nietzsches gegen Kant vorgehen wollte, so hätte man doch einen Ansatzpunkt. Wenn Kant im ersten Beispiel eine Ursache annimmt, so folgt daraus notwendig die Folge nach dem verursachten Erwirkten; denn letztes denkt man im Begriffe der Ursache mit. In jedem Fall müsste auf die Ursache irgendetwas folgen, sonst wäre es bloß eine Sache,#aber keine Ursache im Sinn einer ersten Sache. Es ist einsichtig, daff hier, insofern von etwas die Rede ist, das aktiv bewirkt, die Vorstellung von einem handelnden Subjekt mitschwingt. Im zweiten Beispiel geht Kant vom Begriff des Geschehens aus und schreibt, KrV KrV 69 KrV 70 KrV 71 KrV 72 KrV 67 68

B 4f und 13 B4 B5 B5 B 13 B 13


19 der Begriff Ursache läge ganz außerhalb desselben, - was offensichtlich ist. Aus dem Begriff "Geschehen" geht (aber) auch der Begriff Ursache niemals allgemein und notwendig hervor, so wie es im ersten Beispiel umgekehrt der Fall war. Es ist also nicht von geringer Bedeutung, dass Kant im zweiten Beispiel mit dem Begriff "Geschehen" und nicht mit dem Begriff "Wirkung" arbeitet. Nietzsche versucht Kant, wenn er auf ihn zu sprechen kommt, überall nachzuweisen, dass er den Begriff Kausalität einseitig von der Ursache aus denkt. Dass er sich nicht aus dem Begriff "Geschehen" deduzieren lässt, ist klar. Um ein wirkliches "Denkgesetz" aber würde es sich nur dann handeln, wenn man mit Nietzsche der Voraussetzung Platz verschafft, dass menschliche Wesen einer aktiv setzenden, fixierbaren Größe, die etwas bewirkt, bedürfen, um "Sinn" in dieses Geschehen zu bringen. Dieser Sachverhalt bliebe dann aber nicht bei der Feststellung eines Denkgesetzes stehen, er würde sich tiefer mit und im Begehrungsvermögen selber begründen lassen. Tatsächlich führt Kant die Vorstellung der Kausalität auf die Vorstellung des etwas ZuGrunde-Liegenden, Ursächlichen, zurück - nämlich auf die Vorstellung der "Substanz". Diesem Begriff, den ich folgend weiter erläutern werde, inhäriert möglicherweise auch nur die Täter-Tun-Vorstellung. Kant schreibt: "Kausalität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft, und dadurch auf den Begriff der Substanz"73. Mit dieser Aussage tritt die Problematik, die sich zu Beginn des Kausalitätskapitels geltend machte, wieder in den Vordergrund. Es ging dabei um die Schwierigkeit bei der Verbindung von Ursächlichkeit und Aktivität. Einmal ist etwas eine für sich bestehende Sache, ein anderes Mal ist es etwas, das auf etwas, das auf etwas, das sich außerhalb seiner selbst befindet, einwirkt. Dies schlägt sich darin nieder, dass in dem oben zitierten Satz "Substanz" als "Ursache" und "Handlung" als bewegendes Einwirken nebeneinanderstehen. Festzuhalten bleibt, dass Nietzsche zufolge nicht die Kausalität selbst ein Denkgesetz vorstellt, das ein fester Bestandteil des kognitiven Apparates ist. Es gibt nach Nietzsche ein Verlangen, das zum Phantasma der Kausalität führt und diesem zu Grunde liegt. Das ändert nur bedingt etwas an dem transzendentalphilosophischen Anspruch, das Kausalitätsgesetz werde mit allgemeingültiger und notwendiger Regelmäßigkeit angewandt. Aber es verschiebt doch de Fragestellung, denn Nietzsche interessiert sich nunmehr deutlich stärker für die Dynamik dieses Verlangens und seine Entschlüsselung. Das ist ein Themenkomplex, den Kant zumindest vernachlässigt hat.

1.4.

Substanz

Kant wählt den Satz von der Kausalität als ein Beispiel für synthetische Sätze apriori. Vermittelt über die Begriffe "Handlung" und "Kraft", mit denen wir uns unten noch beschäftigen werden, führte dieser Satz zum Begriff "Substanz". Bei Aristoteles hatte die "Substanz" den ersten Platz in der Kategorientafel inne. 74 Der übergeordnete Begriff "Kategorie" bezeichnet zwar auch dort die Art und Weise des Zusprechens von Seinsbestimmungen; im Sinne der "alten Ontologie" beschreiben diese Bestimmungen aber objektive Verhältnisse im Sein. Wenn Kant seinerseits die Kategorien in den Zusammenhang der Urteilsbildung stellt und als "Gedankenformen" 75 definiert, so radikalisiert er damit die Bedeutung des "Ansprechens" einer Sache seitens des Menschen im Gegensatz zur ontologischen Seinsbestimmung. Aristoteles kennzeichnet mit dem Begriff "Substanz" etwas Überindividuelles (dabei unterscheidet er "erste", atomare, und "zweite" Gattungs- und Artsubstanzen). Er versucht damit, das Wesen eines Gegenstandes zu bezeichnen. Die Substanz ist keine Eigenschaft eines Dinges, sie ist Träger aller Eigenschaften und Attribute. Diese Attribute haften der Substanz als Akzidenzien an, sie inhärieren ihr nicht. Das Wesen einer Sache ist bei Aristoteles nicht nur mehr als die Summe seiner Teile, es wird gänzlich unabhängig von seinen Eigenschaften gedacht. Für Nietzsche stellt diese Behauptung ein Problem dar, das sich über Kant bis hin zu Hegel erstreckt und sich innerhalb der Geschichte der Philosophie zu keiner Zeit wesentlich verändert hat. Nietzsche fragt sich, ob es überhaupt möglich sein, kann solch eine Substanz nachzuweisen, wenn wir letztlich doch nur ihre Eigenschaften - also unsere Wahrnehmungen - in den Blick bekommen. Aristoteles zufolge unterliegt die Substanz ja nicht dem Wandel, dem die Akzidenzien ihrerseits unterworfen sind. Sie ist somit nicht quantifizierbar oder durch irgendein benennbares Gegenteil, das immer "unwesentlich" bliebe, charakterisierbar. Allerdings hebt bereits Aristoteles die Differenzen der Substanzen zueinander hervor. Die Differenzialität innerhalb eines Raumes von Wesen ist als Bedingung der Abgrenzung der einzelnen Substanzen voneinander (z.B. Mensch und Tier) ebenso wichtig wie die Substanz selbst. Mit diesem Begriff der Differenz weist Aristoteles schon auf die Begriffe der Relationswelt bei Kant und Nietzsche bis hin zum späteren Strukturalismus hin. Weiterhin spricht Aristoteles den Substanzen die Möglichkeit einer bewirkenden Handlung zu. Sie sind im Stande wie ein Täter etwas zu bewirken.76 In Aussagesätzen erscheinen sie in der Funktion des grammatischen KrV B 249 Aristoteles: K IV 75 KrV B 150 76 Aristoteles: K V 73 74


20 Subjekts, von dem etwas ausgesagt wird, denn sie heißen "Substanzen, weil sie Subjekt von allem anderen sind und alles andere von ihnen ausgesagt wird". 77 Nietzsche wird nun behaupten, dass Aristoteles zwar das Satzsubjekt nur als grammatische Repräsentation der Substanz begreift, er aber faktisch in der Umkehrung diesen Begriff nur aus der Grammatik habe ableiten können, innerhalb derer er sprachlich handelte. Wie sollte man also von etwas, dem man nur Eigenschaften zusprechen kann, über das man also spricht, und das sich der Sprache entzieht, überhaupt sprechen können? Liegt nicht vielmehr der Verdacht nahe, dass dieses Etwas auf nichts anderem beruht, als auf einer irreführenden Illusion des sprachlichen Handelns selbst? Nietzsche wird weiter fragen, ob nicht die Ausrüstung des Subjekts mit den Eigenschaften einer "Substanz" den impliziten Wunsch verrät, das Handlungssubjekts mit der Eigenschaft der Unvergänglichkeit auszurüsten, so dass sich ein Wechselverhältnis zwischen dem Menschen und den Dingen ergibt: einerseits werden die Dinge, dadurch dass sie als Substanz aufgefaßt werden, zu einem unvergänglichen Seienden, andererseits wird der Mensch, indem er dieses scheinbar unvergängliche Seiende beobachtet, reflexiv selbst zu einem unvergänglichen Ding. Wir werden sehen, dass Nietzsche hier ein Verlangen veranschlagt: Es gibt ein treibendes Verlangen der menschlichen Wesen, die sich wünschen, dass die Welt auf eine spezifische Weise wahrnehmbar existieren möge. Alles, was anders, fremd zu sein scheint, wird unter den Modus des Bekannten gebracht. Diese Wiederholung des Gleichen bedeutet nicht, dass sich faktisch nur Bekanntes wiederholt, selbstverständlich bleiben beispielsweise neue naturwissenschaftlich relevante Phänomene neu, aber indem sie zu Erkenntnissen werden, werden sie unter Kategorien des Bekannten gefaßt. Methodologisch ist dieser Sachverhalt gewiss unter keiner Bedingung zu umgehen; neue Erkenntnisse vollziehen sich immer auf dem Hintergrund des Alten, d.h. Bekannten. Aber für Nietzsche gibt es keine wirklich neuen Erkenntnisse. Es mag sein, dass die Theorie der Selbstorganisation Phänomene entdeckt hat, die mit den bekannten Mitteln der klassischen Quantenphysik nicht zu lösen waren oder gar nicht erst auftauchten, aber für Nietzsche bringt selbst ein solcher Paradigmenwechsel nichts real Neues aufs Tapez; es handelt sich nur um die Ausweitung des Bekannten auf bislang Unbekanntes: Auch die neu entdeckten Phänomene wurden auf dem Hintergrund alter Modelle entdeckt und auch sie müssen in den Modus der Verständlichkeit übersetzt werden, sonst bleiben sie strikt fremd und unzugänglich. Wir werden unten zeigen, dass unter dem Begriff "Verständlichkeit" wesentliche Einsichten in diese "ewige Wiederkehr des Gleichen" formuliert werden können. Doch zunächst zurück zu Kant: Nietzsche zu Folge gibt Kant die "Substanz" als metaphysische Entität nur partiell auf, insofern er zwar ihre ontologsche Funktion herabsetzt, sie als Einheitsprinzip aber nicht preisgibt. Er geht wie Aristoteles davon aus, dass die Substanz nicht quantifizierbar ist, 78 und dass sie (immer) "bei allen Veränderungen in der Welt" 79 konstant bleibe, während nur die Akzidenzien wechseln. Sie sei "das Substrat alles Realen, d.i. zur Existenz der Dinge Gehörigen", der die einzelnen bestimmenden Eigenschaften anhafteten. Als Substrat sei sie das Reale in den Erscheinungen: das Beharrliche in der Zeit. Dieses Beharrliche erst mache den Wechsel möglich, da er sich an ihm vollziehe. - Man könne einen zeitlichen Wandel gar nicht wahrnehmen, wenn es nicht etwas gebe, an dem er sich vollzieht und das der Veränderung gegenüber unbeschadet bleiben muss. Dieser "Modus der Existenz dessen, was bleibt und beharrt" ermöglicht erst eine Einheit in der Wahrnehmung. Auf der anderen Seite forciert Kant den aristotelischen Gedanken von der Bedeutung der "Differenz" der Substanzen zueinander im Gegensatz zur singulären "Substanz". Die Differenz blieb der aristotelischen Substanz zwar äußerlich, aber sie ermöglichte erst, die Existenz der verschiedenen Substanzen voneinander abzugrenzen. Kant geht insofern über Aristoteles hinaus, als er die Differenz als dezentriertes Inneres der Substanz betrachtet. Zwar geht Kant davon aus, dass das Beharrliche in den Erscheinungen erst den "Gegenstand selbst, d.i. die Substanz (phaenomenon)" 80 möglich mache, die Substanz gehört aber in den Bereich des Phänomenalen und nicht in den des Noumenalen. Kant kennzeichnet die inneren Bestimmungen dieser phänomenalen Substanz als "Verhältnisse"81, und sie selbst als einen "Inbegriff von lauter Relationen" 82. Der Begriff der Relation betont gerade die Bedeutung der Distinktheit von Elementen in einem differentiellen System. 83 Damit wird die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Wesens einer Sache deutlich relativiert. Eine gegebene Substanz ist nicht nur auf das Medium der Differenz angewiesen, um sich von anderen Substanzen abzugrenzen und als solche zu manifestieren; sie ist in ihrem Innersten ein bloßer Relationenzusammenhang. Mit dieser Interpretation des Substanzbegriffs antizipiert Kant eine spätere naturwissenschaftliche Selbstverständlichkeit: Der Substanzbegriff der Chemie begreift ihren Gegenstand in vergleichbarar Weise als molekulare Struktur kleinster Elemente, die selber wieder in Strukturen aufgelöst werden können.

Aristoteles: K V KrV B 225 79 KrV B 227 80 KrV B 227 81 KrV B 321 82 KrV B 321 83 KrV B 341f 77 78


21 In engem Zusammenhang mit dem Begriff der Substanz steht der der Kraft. Kant schreibt: "Die Substanz im Raume kennen wir nur durch Kräfte, die in demselben wirksam sind (...) andere Eigenschaften kennen wir nicht, die den Begriff von der Substanz, die im Raume erscheint, und die wir Materie nennen, ausmachen" 84. Für Nietzsche stellt diese Stellungsnahme einen entscheidenden Anknüpfungspunkt dar. Er deutet den Kraftbegriff als Werden, also als wechselnde Zustandsformen des Entstehens und Vergehens. Die Welt befindet sich dem Modus des Werdens zufolge in einer irreversiblen Bewegung. Nietzsche zitiert in diesem Zusammenhang gern das Fragment des Vorsokratikers Heraklit, das besagt, dass man in einen Fluß nie zwei Mal auf dieselbe Art steigt. Die volle Bedeutung des Kraftbegriffes für Nietzsche werden wir unten deutlich machen. Was den Substanzbegriff im engeren Sinn anbelangt, so sieht Nietzsche hier eine fragwürdige Implikation: Es muss einen genealogischen Hintergrund dafür geben, warum Kant die Beharrlichkeit mit der Substanz in eine sogar kausale Verbindung bringt, 85 obwohl es doch dessen eigenen Ausführungen zu Folge gar nichts Beständiges geben könne.86 Diese Insistenz auf der Unvergänglichkeit der Substanz folgt nach Nietzsche einer gleichsam unBewußten Logik. Er sieht in diesen "feststellenden" Vorstellungen Hypostasen des SubjektBegriffs bzw. des von ihm so bezeichneten Ich-Gefühls. In diesem Sinn beschäftigt sich die Vernunft nur erst sekundär "Substanzen, Attributen, Akzidenzien, Modi", in erster Linie beruht sie nämlich auf dem "Glauben an das Ich, als an eine Substanz" (NF XII 317). Der Glaube an das "Ich", der auf einem Gefühl ruht, ist nur der narzißtische "Herzenswunsch" nach unvergänglicher Macht dieses Egos. In der abendländischen Geschichte hat diese Logik Tradition; sie findet ihren Ausdruck im Begriff "Seele". So gleubte beispielsweise selbst ein Descartes noch mittels seiner untersuchenden Aufmerksamkeit feststellen zu können, dass er als Mensch eine "Substanz" sei87, "deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendeinem materiellen Dinge abhängt, so dass dieses Ich, d. h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, (...) verschieden ist vom Körper, ja dass sie sogar leichter zu erkennen ist als er" 88. Dass auch Kant den Substanzbegriff unterschwellig gegen den "Fluß der Zeit" in Schutz nimmt, um das "Ich" zu retten, obwohl er den Substanzbegriff schärfer kritisiert hat als alle Philosophen vor ihm, dies ist für Nietzsche eine klare Sache. Auf die Nähe des Substanzbegriffs zum Ich verweisen auch die Verknüpfungen, die Kant vorgenommen hat. Eng verbunden nämlich mit dem Substanzbegriff sind bei Kant die Begriffe "Handlung", "Tätigkeit" und "Kraft". Diese Begriffe ihrerseits setzen ein Subjekt voraus, das bewirkt und handelt: ein verursachendes Handlungssubjekt, das Kant eben "Substanz" nennt. Kant schreibt: "Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz, und in dieser allein muss der Sitz jener fruchtbaren Quelle der Erscheinungen gesucht werden"89. Kant folgert aus einem Phänomen eine verursachende Größe. Das Mißverhältnis zwischen Ursache und Wirkung besteht aber sodann darin, dass man aus der Wirkung auf die Ursache geschlossen hat; das übrigens nach Kant einzige Verfahren der Philosophie, die nicht im Stande ist, einen Begriff wie die Mathematik abzuleiten, sondern nur nach der Art des "Modus ponens" zu folgern. Kant spezifiziert noch: Eine Handlung weist nach Kant auf das Subjekt einer Kausalkette. Die Substanz sei nun das erste Subjekt einer solchen Kette. Damit wird die Substanz als Handlungssubjekt beschrieben, deshalb geht es bei ihm auch um die "Beharrlichkeit des Handelnden"90. Dieses erste Subjekt unterliegt in seiner Beharrlichkeit nicht dem Wandel. Diese Voraussetzung ist bedeutsam für Kants praktische Philosophie; es könnte keine Handlungsfähigkeit, keine Verantwortung geben, und es könnte keinem Subjekt objektiv Schuld zugesprochen werden, wenn das Willenssubjekt dem Wandel unterläge. Nun schreibt Kant, das Beharrliche sei nur ein Index für die Zeit, die selbst nicht vergehe, sondern in der alles entstehe und vergehe. Zeit und Subjekt sind eng miteinander verquickt. Zwar zeige sich im inneren Sinn des Subjekts, also innerhalb der Zeit, inhaltlich nichts Beharrliches (die Inhalte entsprächen so den Akzidenzien), 91 aber die Form der Zeit, die mit der Handlung zusammenhängt, bleibe unvergänglich: "Nun ist das, was, als Vorstellung, vor aller Handlung irgend etwas zu denken, vorhergehen kann, die Anschauung, und wenn sie nichts als Verhältnisse enthält, die Form der Anschauuung, welche, da sie nichts vorstellt, außer sofern etwas ins Gemüte gesetzt wird, nichts anderes sein kann, als die Art, wie das Gemüt durch eigene Tätigkeit, nämlich dieses Setzen ihrer Vorstellung, mithin durch sich selbst affiziert wird, d.i. ein innerer Sinn seiner Form nach" 92. Die Zeit als Form der Anschauung hängt als innerer Sinn mit Subjektivität zusammen. Es besteht ein Zusammenhang von Substanz und Subjekt hinsichtlich formal-zeitlicher Bestimmungen. Nietzsche schreibt sich in diesem Zusammenhang auf die Fahnen, als erster in der Vorstellung von der "`Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Stoffes`" (NF XII 384) das Phantasma "Ich" als unvergängliche "Seele" KrV B 313 KrV B 227 86 KrV B 48 87 Descartes: AM 555 88 Descartes: AM 555 89 KrV B 250 90 KrV B 250 91 KrV A 107, B 291 92 KrV B 67f 84 85


22 (NF XII 465) entdeckt zu haben. Damit unterliegt dem Zweifel an der Unvergänglichkeit des Ichs auch der Substanzbegriff (ebd.), und damit würde der Gegensatz Substanz-Akzidenz fraglich, inklusive der Konstruktion "`Materie und Geist`" (NF XII 384). Sie wären nur noch bloße "Mythologie" (NF XI 615) und damit "unbrauchbar" (NF XII 241). Zwar glaubte Kant den Begriff der Substanz aus der Beharrlichkeit folgern zu können (s.o.), andererseits vernachlässigt er aber, indem er die Substanz als "beharrlich" erklärt hat, den Begriff des Beharrlichen selber. Was bei diesem Abstraktionsvorgang übrig bleibt, ist unschwer zu erraten: "Lasse ich die Beharrlichkeit (welche ein Dasein zu aller Zeit ist) weg, so bleibt mir zum Begriffe der Substanz nichts übrig, als die logische Vorstellung vom Subjekt" 93. Alle Wege, so könnte man sagen, führen zu Subjekt. Das angeführte Zitat führt seinerseits vermittelt über die von Kant avisierten Urteilsformen wiederum zur Grammatik, die sich schon bei Aristoteles immerhin als möglicher Referent der Substanztheorie erwies. 94 Wenn sich nun nachweisen ließe, dass "der Substanzbegriff eine Folge des Subjektbegriffs" ist (NF XII 465), der Subjektbegriff sich aber aus einem "Sprachirrtum" herleitete, so könnte man behaupten, dass die "Wurzel der Substanzvorstellung in der Sprache" (NF X 650) zu suchen sei. Es zeigt sich, dass eine Implikation der Sprache mit dem Begiff vom Subjekt zusammenhängt. Wenngleich die "Substanz" bei Kant eine besondere Rolle spielt, reiht er sie ein in die allgemeine Tafel der Kategorien.95 Sie gehört somit zu den Verstandesbegriffen. Den Zusammenhang von Substanz, Begriff und Ich wird später Hegel aufnehmen. Hegel zufolge führt der Wechselbezug, der durch Macht sich auszeichnenden Substanzen, in den Bereich von Freiheit und Subjektivität. Insofern ist der "Substanz" der Begriff des "Subjekts" übergeordnet. Deshalb kann Hegel Kant (im Gegensatz zu Spinoza) in diesem Punkt tiefe und richtige Einsichten zusprechen. Es sei bedeutungsvoll, dass in der "Kritik der reinen Vernunft" die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption, als Einheit des "Ich denke" oder des SelbstBewußtseins erkannt wird. 96 Aber in dem isoliert genommenen Satz aus Hegels Logik: "Die Substanz ist Macht" 97 kündigt sich das ambivalente Verhältnis Nietzsches zu Kant an. Gewiss hat Nietzsche seine Theorie von der Macht und dem Willen zur Macht nicht aus Hegels Logik abgeleitet, aber Hegels Satz artikuliert sich auf dem Hintergrund der Kantschen Implikationen. Das, was Nietzsche bei Kant als Machtansinnen des Subjekts diagnostiziert, wird von Hegel gleichsam objektiviert als Macht des sich denkenden Begriffs. Nietzsche befindet sich also zum einen in der Folge Hegels, des Denkens nämlich der Objektivität der Macht, auf der anderen Seite nimmt er den eindeutigen Bezug auf Kant, womit der Beigeschmack der Objektivität, losgelöst von Subjekt nämlich einzig sich zu artikulieren, wieder auf das Subjekt zurückgebunden wird. Wir werden im Folgenden nach einer ersten Bestimmung des Nietzscheschen Subjekt-Begriffs und halten fest, Subjekt und Objekt (nicht in eine dialektische, sondern) in eine substanziell identische Beziehung gesetzt werden.

1.5.

Subjekt

Der Subjektbegriff in Verbindung mit dem Begriff "Ich" wird mit Descartes bedeutsam. Descartes suchte Nietzsche zufolge in der Kritik an der "Kirchlichen Autorität" (NF XI 430) eine erste "gewisse" Evidenz als Begründung dessen, was ist und dessen, was man wissen kann. Im Gegensatz zu Mystik und Scholastik nahm er für sich wieder das klassische philosophische Medium, das Erkennen, in Anspruch - ein Anspruch, der Descartes nach Nietzsche auch vor den späteren Intuitionisten und Instinktivisten auszeichnet (NF XI 605). Descartes wollte eine unbezweifelbare Gewissheit ermitteln, und da sich nicht ausschließen ließe, dass auch ein Gott betrügen könne, blieb nur das Subjekt dieses Zweifels selbst, das "Ich des Cogitare". Nietzsche sieht insbesondere bei Descartes eine Art Wille zum Nicht-Betrogenwerden am Werk. Dieser Wille nicht betrogen werden zu wollen, hängt nach Nietzsche als Kampf gegen das Falsche (NF XII 358f) mit dem "Willen zur Wahrheit" zusammen und unterliegt damit dem "Willen zur Macht" (NF XI 624). Für Nietzsche stellt sich hier aber - durchaus ähnlich wie im Zusammenhang mit den synthetischen Urteilen apriori bei Kant - die Frage, ob wir uns nicht vielleicht gerade bei der Rückführung aller Probleme des Skeptizismus auf die Kategorie des Cogito betrügen und sogar betrügen wollen (NF XI 632, 563, 638). Descartes Methode unterliegt in diesem Sinn gar nicht dem "Willen zur Wahrheit". Er bedient sich nämlich einiger Fälschungsinstrumente. Er sucht ein Etwas, das ewig gleichbleibt (NF XII 348) und nicht wechselt (NF XII 430) und kommt zum Begriff der Substanz (NF XI 639), den er in der bekannten Weise in zwei Substanzen unterteilt: "res cogitans" und "res extensa". Die erstere, die "denkende Substanz" ist für Descartes die wesentliche Größe, insofern sie die erste Gewissheit: "cogitare ergo sum cogitans" vermittelt. Dass das Denken die wesentliche Größe ausmacht, ist insofern KrV B 300 vgl. KrV B § 14 95 KrV B 106 96 Hegel: Logik II 237-254 97 Hegel: Logik II 222 93 94


23 selbstverständlich, als sie es ist, die feststellt, dass es erstens ein Cogito und zweitens ein extensives Sein der Dinge im Raum, inklusive drittens derer Differenz geben müsse. Für Nietzsche verstrickt sich Descartes damit in eine Reihe von folgenschweren Problemen. Als erstes ist für Nietzsche nicht einsehbar, mit welchem Recht man ein "ergo" zwischen Denken und Sein setzt - zumal gar nicht klar ist, was der Begriff "Sein" eigentlich bedeutet (NF XI 640). Auch im Cogito selbst stecken Nietzsche zufolge schwerwiegende Implikationen. Es impliziert drei Voraussetzungen: 1. Es gibt das "Cogitare" (NF XI 639) und 2. zum diesem "Cogitare" muss zwangsläufig ein Subjekt hinzugedacht werden: ein "Es denkt" (ebd.), und 3. ein "ich glaube, dass ich es bin, der da denkt" (ebd.). Das heißt, dass erstens das Denken selbst als ein Faktum angenommen wird, dem zweitens eine Subjektivität zugesprochen wird, die nichts beispielsweise mit der "res extensa" zu tun hat, und dass es zum dritten ein "Ich" sei, das als dieses Subjekt denke. Dies wären drei Voraussetungen, die der Satz "cogitare ergo sum cogitans" impliziert. So folgt Descartes Nietzsche zufolge nur der "grammatischen Gewöhnung" (NF XII 549) und darin dem "Glauben an die Grammatik" (NF XI 639). Seine Befangenheit innerhalb derselben (NF XI 637) induzierte die Inanspruchnahme eines Subjekts, das Bedingung des Denkens zu sein hat (ebd.). Descartes bleibt damit einseitig im Subjekt-Prädikat-Schema verhaftet, mit dem "cogitare" als Prädikat, das notwendigerweise ein Subjekt haben muss, und des "Ich" der "res cogitans" als Subjekt, das auftauchen muss, da ein "Es denkt" nicht den postulierten Regeln des vernünftigen Verstandesgebrauchs entspricht. Aufgrund dieser Implikation bezweifelt Nietzsche, dass durch das von Descartes geforderte Denken mehr zu erreichen ist, als eine "gewisse" Ordnung in die Dinge zu bringen (ebd.). Es handelt sich in dem von Descartes untersuchten Phänomen also nicht um Erkenntnis sondern um bloße Regulation. Die Setzung des Subjekts erfolgt aus einer Vorsicht gegenüber einem unendlichen Regreß des Zweifels, der in Agnostizismus münden würde. Descartes erledigt sein Problem in pragmatischer Weise. Es scheint ihm nicht "vernünftig" zu sein, das Subjekt des zweifelnden Denkens noch einmal zu hinterfragen. Diese pragmatische Reduktion des Zweifelns hängt mit dem cartesischen Begründungsversuch zusammen, das "Sein des Ich" mittels des Denkens zu ermitteln. Das bedeutet aber, dass es für das denkende Subjekt (im cartesischen Sinn) unter keiner Bedingung möglich werden kann, sich von außen zu bewerten, so dass es beurteilen könnte, ob es von einem Gott oder von sich selbst (beispielsweise einer hyperaktiven Sinnlichkeit) betrogen wird. Das denkende Subjekt kann seine Erkenntnisleistung nicht metadiskursiv beleuchten. Dies nämlich müsste, ebenso wie das Denken selbst, in Gedanken sich vollziehen. Der circulus vitiosus, der sich daraus ergibt, ist der, dass hier Gedanken mittels Gedanken hinterfragt werden sollen, ohne dass Kriterien für eine Unterscheidbarkeit von Objekt- und Metaebene, die doch darin vorausgesetzt ist, geliefert würden. Kant folgt zunächst Descartes, wenn er schreibt, von dieser Ordnung könne nicht behauptet werden, dass sie in der Welt als solcher auffindbar sei. Da die Außenwelt aber in einer bestimmten Ordnung erscheine, müsse etwas vorliegen, das diese Ordnung herbeiführt. Das einzig unbezweifelbar Evidente sei das Subjekt der Zweifelshandlung. Somit müsse der Mensch davon ausgehen, dass er selbst als Handlungssubjekt die Ordnung in die Dinge legt. Eine andere Art der Ordnungsbegründung könne nur in rationalistischem oder psychologisch-subjektivem Mystizismus enden. Kant wird darüber hinausgehend die Probleme, die der Erkenntnisbegriff eines in sich reflektierenden Denkens mit sich bringt, eigens thematisieren, wenn er feststellt, dass das Denken kein reales Prädikat sei. Nach Kant kann nicht mehr vom Denken auf das Sein geschlossen werden.98 Weiterhin bliebe, wenn man mögliche Erkenntnisse nur im Bereich der Gedanken zuließe, zudem unklar, in welcher Weise der extensiven Welt der Dinge Erkenntnisrelevanz verschafft werden könne. Die Substanz der "res cogitans" bleibt bei Descartes ja unverbunden mit der "res extrensa", der bei Descartes systemimmanent keine erkenntnisrelevante Realität zugesprochen werden kann. Kant ist sich über diese Schwierigkeiten im Klaren, wenn er deshalb den Begriff der Anschauung, als eine Bedingung möglicher Erkenntnisse, einführt. Damit glaubt er, dem Zirkel, der in der Reflexion reiner Gedanklichkeit auftaucht, entgangen zu sein. Die Existenz der Außenwelt könne damit in ihr Recht gesetzt werden, da sie nun ihre markante Stelle in der Erkenntnistheorie innehalte. Der "Subjekt-Komplex" im abendländischen Denken ist für Nietzsche der Fokus der nachneuzeitlichen Philosophie: Die "Fiktion: Subjekt" wird von Nietzsche als die Basis aller Vereinheitlichung und Ordnungsstiftung gefaßt. Der "Streit des Vielen" (PhG I 827) - dies ist ein Ausdruck für Nietzsches Begriff des Realen - wird so in Vorstellungen von Kausalität imaginär gebannt und überschaubar gemacht (NF XII 383). Für Nietzsche wird ein jeder Begriff, mit dem das Cogito operiert, zu einem Funktionalen Phänomen (Silberer) des Ichs selber, das heißt, dass sich in jedem Begriff, den das Ich gebraucht, um die Welt zu ordnen, sich der Machtanspruch des Ichs selber nachweisen lässt. Eine solche Lektüre des menschlichen Begriffsregisters fällt nicht schwer, wenn es um mystifizierende Anthropomorphie geht, etwa im Animismus: Tiere und Pflanzen als beseelt zu denken und ihnen darüber hinaus auch noch menschliche Charaktereigenschaften zuzusprechen, dies ist evidenterweise eine Ableitung der Außenwelt aus den Kategorien der Innenwelt des Ichs. Nietzsche geht aber noch deutlich weiter. Für ihn stellt jeder Begriff ein solches Funktionales Phänomen dar, auch die 98

KrV B 622


24 Begriffe der Naturwissenschaft. Für die zeitgenössische Chemie und Physik findet sich eine letzte, konstante Größe im Begriff des Atoms, das für Nietzsche in der besagten Weise auch nur Ausdruck der Subjektivität ist. Die "constanten Ursachen" (NF XII 314), die "Atome" gehören nach Nietzsche zu einer bloßen Interpretationswelt, die zum Zwecke der besseren "Berechenbarkeit der Welt" (ebd.) in diese hineingedichtet wurden. "Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht - alles inhäriert der Conzeption `Ursache`. Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes `Ding` und `Ursubjekt`" (NF XIII 275; vgl. JGB V § 12). Die Physiker und Chemiker glauben zum Beispiel an eine "wahre Welt": "eine feste, für alle Wesen gleiche Atom-Systemation in nothwendigen Bewegungen" (NF XIII 14; *vgl. § 186, S. 373). Die "diesseitige" Welt ist hier reduziert auf den spezifischen Zugang, den jedes Wesen seiner Art gemäß zu diesem "Sein" hat. Diese Seite der Zugänglichkeit stellt im Rahmen dieses Weltbildes der Raum der Subjektivität dar. Nietzsche wendet sich gegen den philosophschen Atomismus, wie er mit Demokrit begann und in Leibniz ein vorläufiges Ende fand und gegen die herrschenden Theorien der Physik und Chemie seiner Zeit. (Es versteht sich, dass hier nicht nur die Rede von dem Begriffsinventar des 19. Jahrhunderts sein kann, auch der gegenwärtige Diskurs der Wissenschaften mit seinen Begriffen der Fraktalen, Quarks und ähnlichem müsste sich der Nietzscheschen Kritik subsummieren lassen. Eine Überprüfung dieser Verhältnisse können wir hier noch nicht vornehmen, da sie auch eine historische Veränderung impliziert. Eine zeitgenössische Frage, die Baudrillard einmal gestellt hat, würde dementsprechend fragen müssen, warum sich das Subjekt im 19. Jahrhundert in den Strukturen der Atome, warum es sich aber im 20. Jahrhundert in den fraktalen Strukturen entdeckt.) Was Nietzsches Kritik anbelangt, so gilt, dass das "Atom" schon erschlossen ist nach der "Logik jenes Bewußtsein-Perspektivismus" - es ist schon eine "subjektive Fiktion" (NF XIII 14; vgl. *§ 186, S. 373). Das physikalische Weltbild ist also selbst schon nach den Subjektiv-Bedingungen gefertigt, die sich auf die "Perspektiven-setzende Kraft", das "Subjektsein", gründen. Will man überhaupt von einem Begriff "Subjekt" sprachlich handeln, so ist dieses in keinem Fall ein "Subjekt-`Atom`" im Sinne einer "fensterlosen Monade", das "Subjekt" ist mehr eine Sphäre (NF XII 391), die veränderbar gedacht werden muss. Manchmal ab- und manchmal zunehmend - jeweils unter verschiedenen oder gleichen Perspektiven. Die "Thüren und Fenster des Bewusstseins" (GM V 291) sind beweglich: es gibt hier eher ein "Seelencontinuum" als eine "Individualseele" (NF XI 645). Dieses vorgestellte Ich als imaginäre Einheit unterscheidet Nietzsche von einem affektiven, perspektivistischen Ich-Verständnis, dessen "Einheit" ein zusammenspiel divergierender Elemente (NF XII 104) ausmacht. Die erkenntnistheoretische Vollzugsgröße "Ich" ist für Nietzsche nur als ein mit "Constanz" wirkendes "fälschendes Medium" (NF XII 189) zu beschreiben. Dieses fälschende Ich ist es, das einen umfänglichen Verkenntnisprozeß in Gang setzt (vgl. GD VI 20) - es filtert Reize und bleibt als dieser Filter gleichzeitig verschwunden, ohne sich als der spezifische Ermöglichungsgrund dieser geltend zu machen. Dieser Zusammenhang wird von Nietzsche mit dem "Willen zur Macht" erklärt (vgl. NF XII 376). (In der Form philosophisch-idealistischer Denkkonstrukte tritt dieser "Wille zur Macht" in Gestalt des Ressentiments auf [NF XII 376; GM V 279 ff]). Das "Ich-Axiom" gründet sich auf eine quantitative Setzung als "erste Einheit". Diese Einheiten sind nach Nietzsche nur notwendig, "um rechnen zu können" (NF XIII 258), allerdings gilt, dass jede theoretische geistige "Conception des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt" (ebd.). Hier sind "Auge" und "Psychologie" (NF, XIII 259) die entscheidenden Größen.

Exkurs: Fichtes Subjektbegriff Als der philosophische Theoretiker des Subjekts muss Fichte angesehen werden. In dem folgenden kurzen Exkurs sei dessen Konzeption des Ichs, die Nietzsche nur sehr selten anspricht, kurz in Erinnerung gerufen: Die Philosophie muss sich nach Fichte insbesondere die beiden folgenden Fragen gefallen lassen: "Welches ist der Grund des Systems der vom Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen und dieses Gefühl der Notwendigkeit selbst?"99, und "wie kommen wir dazu ein Sein anzunehmen?" 100 Eine Beantwortung dieser Grundfragen würde alle innere und äußere Erfahrung aufzeigen können. Nach Fichte kann man zwei Hauptverfahrensweisen, die idealistische und die dogmatische unterscheiden. Die erstere geht von der kognitiven Intelligenz aus und versucht alle Erfahrung als in ihrer Möglichkeit nur durch die Vernunft bedingt erklären zu können; die letztere verlegt das Objekt des Bewußtseins, als ohne Zutun der Intelligenz vorhanden, in die Sphäre der Außenwelt. Keine der beiden Verfahrensweisen, die im Laufe der Geschichte der Philosophie zahlreiche Systeme ausgebildet haben, könne die andere widerlegen. Der Dogmatismus, der notwendigerweise genauso fatal wie materialistisch sei, versuche einzig den Dingen, die mittels ihrer Akzidenzen erst Erfahrung unter dem Schein der Freiheit ermöglichen, Realität beizumessen. Dem Idealismus, dem so das Aktionsspektrum des Ich nur als Folge der Täuschung durch das Ding demonstriert wäre, erschiene das Modell des Dogmatikers als irreal, insofern er jedes Ding nur als kognitive Fiktion des Ich bezeichnen würde. Der Idealismus habe aber in diesem Streit eines voraus: Seine axiomatische Begründung der Erfahrung, die aus und in Freiheit handelnde Intelligenz, weist er als Faktum des Bewußtseins nach. Nach Descartes müsse auch der Dogmatismus akzeptieren, dass die Voraussetzung der Wahrnehmung 99

Fichte: E 423 E2 456

100


25 aller Akzidenzien dem Bewußtsein entspringe. Insofern nun gilt, dass die Erkenntnisfähigkeit des Menschen begrenzt und täuschbar ist, muss irgendetwas im Menschen begrenzt und täuschbar sein, das unabhängig von den Dingen menschspezifisch den Erkenntnisprozeß fundamental prägt. Folgegerecht entscheidet sich Fichte für die idealistische Variante der Erkenntnistheorie. Sein eigenes System, dass auf den Parametern dieser Traditionslinie fußt, bezeichnet er mit "Tranzendentaler Idealismus", ein System, das aus der Freiheit und Unabhängigkeit intelligenter Handlungen bestimmte Vorstellungen herleitet. Die Intelligenz hat unter dieser Voraussetzung nur in sich die Schranken ihres Wesens. Der Ausgangspunkt ist also die Intelligenz, das Ich. Das das Ich für sich selbst sei, dies gilt Fichte als das einzig mögliche Kriterium des Seins - eine Art modifizierter cartesianischer "res cogitans". Das Ich muss hier verstanden werden als eine Instanz, deren Funktion ausschließlich darin besteht, sich selbst als seiend zu festzusetzen. Als diese sich selbst fixierende Instanz wird das Ich zum absoluten Subjekt. Darstellbar ist dieser Prozeß nur in der Selbstreflexion bzw. Selbstbeobachtung. Diese interne Reflexion des Ich durch und auf das Ich nennt Fichte die - für Kant unmögliche - "intellektuelle Anschauung". Die "intellektuelle Anschauung" vollzieht sich innerhalb des Subjekts, das somit einerseits als Denkendes, andererseits als Gedachtes firmiert. Sich-selbst-setzen und Sein unterscheiden sich demnach für Fichte nicht, "das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Sein vermöge seines bloßen Seins" 101. (So wie für Kant die intellektuelle Anschauung unmöglich ist, denn sie würde eine selbstreferentielle Erkenntnis ohne Bezug zur Außenwelt darstellen, so wird Hegel, indem er diese Selbstreferenz vom Subjekt loslöst und zur Arbeit des Begriffs rechnet, zur Grundlage seiner Dialektik machen können.) Fichte versteht diese Anschauuung als ein thetisches Aufeinandertreffen, also eine formierte/formierende Zusammenstellung von Subjektivität ("Ichheit") und Objektivität, das heißt eine Objektivität und Subjektivität vereinende Fundamentalhandlung. Diese Fundamentalhandlung, die gleichbedeutend mit intellektueller Anschauung ist, liegt jedem aktuellen Handlungsakt zu Grunde. Dieses Sich-Begreifen ist die Bedingung für die Ausbildung des SelbstBewußtseins. Die Ursprünglichkeit und Allgemeinheit dieses zunächst subjektiven Prozesses wird für Fichte durch die Allgemeingültigkeit des Für-sich-selbst-seins des Ich und der daraus resultierenden Selbstbeobachtung gesichert. Durch die Allgemeinverbindlichkeit dieses Satzes wird der zunächst vom Subjekt her gedachte Prozeß objektiv - schließlich muss jedes denkende Wesen über dieses SelbstBewußtsein, das durchaus in der Tradition des Cartesianischen "Cogito" steht, verfügen können, um dann einzelne, konkrete Vorstellungen ausbilden zu können. Macht man nun diesen Vorgang selbst zum Gegenstand des Denkens - das nach Fichte eigenlich relevante philosophische Thema -, so wird man bis ins Unendliche vordringen können, ohne je ein über die Handlung hinausgehendes Objekt finden zu können, und selbst eine Wissenschaftslehre könne hier keine nähere Antwort bringen. Der Philosoph kann nur deshalb über ein Problem reflektieren, weil die Reflexion die Grundlage eines jeden kognitiven Prozesses ist. (Die fundamentale "Tathandlung" ist also, insofern sie keine konkrete Einzeltat beschreibt viel mehr als eine "TunHandlung" zu charakterisieren. Es handelt sich in dieser Infinitivform tatsächlich um eine infinite Form.) Das philosophische Tun ist also demnach nur eine Art erörternder Berichterstattung dessen, was der Fall ist, nicht aber eine Erklärung. Schon an dem von Fichte gewählten Begriff "Tathandlung" wird deutlich, dass das Ich kein Fixum darstellt, sondern eine Bewegung, die bei Fichte allerdings mehr oder weniger diffus bleibt und erst mit der Hegelschen Dialektik präzisiert wird. Das Ich ist ein intrasubjektiver Bezug zwischen sich selbst als Denkendem und Gedachtem, ein reflexives Handeln, das auf sich selbst Bezug nimmt und gleichsam in sich zurückkehrt. Als solches stellt es ein unendliches, reines und absolutes Ich dar. Dieses reflexive, in sich zurückkehrende Handeln des Ich vollzieht sich, indem es sich ein Nicht-Ich entgegensetzt, das in seiner basalen Form nichts mit einem seienden Objekt im herkömmlichen Sinn zu tun hat. Als dem Ich entgegengesetzt imponiert dieses Nicht-Ich nur insofern, als es im Subjekt je schon eine Art institutionalisiertes "Nicht-Ich" gibt. Dieses "Nicht-Ich" ist ein formales Objekt der Reflexion des Ich, welches sich selbst als ein Anderes begegnet. Es gehört zum Ich, deshalb ist es kein konkretes Objekt der Außen- oder Innenwelt, sondern als "Nicht-Ich" eben Teil des Ich, andererseits ist es nicht das Ich selber, sondern seine Entgegensetzung, deshalb ist es "Nicht-Ich". Das Ich nimmt diese Selbst-Setzung vor, und es begegnet sich in einer verdoppelten Weise: zum ersten als unendlich und unbeschränkt, denn der Prozeß der Reflexion gelangt nirgendwo an ein fixiertes Ende, und zum zweiten als endlich und beschränkt, denn die Reflexion hat ihre Grenzen in der Form der Selbstbegegnung des Ich. "Die reine Tätigkeit aber ist diejenige, die gar kein Objekt hat sondern in sich selbst zurückgeht, (...) endlich ist das Ich, insofern es objektiv ist" 102. Der Begriff des Seins ist aus dieser Perspektive keinesfalls ursprünglich; er ist ein aus dieser Fundamentalhandlung abgeleiteter. Fichte kann den Begriff "Sein" deshalb als bloß negativ bestimmen. Das einzig Positive besteht für Fichte in der freien Affirmation des Ich. Diese Relation zwischen Ich und Nicht-Ich, die für Fichte die Grundlage der Vernunft darstellt, ja diese selbst ist, stellt demnach nichts statisch Bestehendes vor, auch nicht etwas Bestehendes, dem die Tätigkeit bloß beiwohnt, ein "Tätiges". Sie wird vielmehr in ihrer allgemeinen Funktion der Gegensätzlichkeit zum - wie Fichte es abgrenzt - "Tun". Sie ist in ihrer Einheit nur als Bewegung erkennbar, die Einheit besteht in der Zweiheit, in der jedes der beiden Teile nur durch das jeweils andere wirklich sein kann. In einer nach der Wissenschaftslehre verfaßten Abhandlung, die sein Konzept einem skeptischen Publikum näher bringen sollte, zieht Fichte die Quintessenz, dass die Vernunft völlig selbständig 101 102

WL § 1 WL III § 5


26 sei. Tatsächliche Selbständigkeit und Vernunft sind für Fichte identische Begriffe. In cartesianischer Tradition muss alles, was Vernunft ist, in sich selbst begründet sein. Die Vernunft kann nur aus sich selbst heraus, nicht aber aus etwas außer ihr Liegendem erklärt werden. Wäre dies so, dann müsste sich nach Fichte die Vernunft in diesem Fremdbezug aufgeben. Die Vernunft ist, wenn man so will, reine Selbstorganisation. Auffallend heute an dieser Subjektivitätskonzeption ist dieser selbstreferentieller Aufbau. Man schreibt viel über Kants Antizipation der Selbstorganisation innerhalb seiner Konzeption von Urteilskraft und Natur, und man lässt unbeachtet, dass Fichte - was dessen Konzeption der Subjektivität anbelangt - der Selbstorganisationstheoretiker schlechthin sein dürfte, was ihm selber nicht immer wohlwollend ausgelegt wurde. Die Spezifität seiner Konzeption der selbstreferentiellen Organisation liegt ohne Frage in ihrer Subjektbezogenheit, die die Selbstorganisation der Natur als abgeleitete verstehen würde, abgeleitet insofern, als jede Erkenntnis über Natur die - wenn man so will: - "Engführung des Subjekts" passieren muss, um überhaupt als Wissen über Natur firmieren zu können. Diese Konzeption der Subjektivität geht letztlich weit über die konstruktivistische Auffassung der Konstruktion der Welt durch das Subjekt hinaus. Wenngleich es hier zu einer mindest partiellen Konvergenz der Auffassungen kommen könnte, so liegt Fichtes Eigenart sicherlich in der spekulativen Befassung mit der Konstitution des Subjekts und nicht bloß in der Kommentierung seiner Sinnesphysiologie. (Der konstruktivistische Kommentar zur Sinnesphysiologie der Erkenntnis besagt ja nur, dass man mit den derzeit bekannten Apparaturen nicht mehr als das Förstersche "Krrr" zu hören und zu sehen bekommt - was sich ja in 10 Jahren geändert haben könnte, womit diese ganze Theoriekonzeption irrelevant würde.) Fichtes theoretische Befassung mit dem Subjekt versucht immerhin strukturelle Angaben über die Selbsterzeugung des Subjekts zu machen, eine Erzeugung, die wie sich mit Fichte - gewiss über den größten Teil der Strecke ohne dessen Intention - nachweisen lässt, hochgradig phantasmatisch ist. Wir werden folgend noch die Gelegenheit haben, diese Momente insbesondere in den genealogischen Kapiteln zum Subjekt genauer zu untersuchen und belassen es hier bei der Darstellung der Fichteschen Subjektivitätskonzeption.

1.6.

Prädikat

Zunächst seien einige weitere philosophisch relevante Kategorien angeführt, die sich Nietzsche zufolge dem Subjekt-Begriff verdanken und aus ihm abgeleitet sind. Innerhalb der Logik bildet das Prädikat ein "Pendant" zur Kategorie dem Subjekts. Die klassische Logik begriff dabei das Subjekt als materiales Seiendes, als Substanz, der die Prädikate als modi, Akzidenzien oder Attribute anhafteten. Diese haben den Charakter der Eigenschaft, die einer schon bestehenden Sache, einem Ding zugeschrieben wird. Dieser Logik zufolge setzt die prädikative Ansprechung eines Gegenstandes immer bereits das Sein des Gegenstandes voraus; denn wenn die Eigenschaften nur einem Subjekt zu eigen sein können, setzt die Prädikation die Existenz ihres Trägers voraus. Die Prädikate stehen so in Abhängigkeit zum Subjekt, ohne das sie keinen Bestand haben, und sie unterliegen nach Nietzsche denselben Voraussetzungen, denen auch der Subjekt-Begriff unterliegt. Im Urteilen steckt nicht nur der Glaube an das Subjekt, sondern, ausgehend von dem nach Nietzsche immer stillschweigend vorausgesetzten Zusammenhang von Ursache und Wirkung, auch der an die Funktion der "Prädikate" (NF XII 102). Die Kategorien "Subjekt" und "Prädikat" sind gleichsam Verbündete bei der Herstellung des Subjekts: Beschreibt man die Wirklichkeit, so hat man es sofort mit "Erwirktem" zu tun. Für Nietzsche ereignet sich damit eine folgenschwere Reduktion; es wird nämlich darin jede Veränderung "als Sein gesetzt, als `Eigenschaft`" (NF XII 103). Dieser prädizierten Eigenschaft wird eine "Individuenvariable" addiert, wodurch sich nach den Gesetzen des Verstandes folgender Irrtum einstellt: Es wird jede "Wirkung als Wirkendes (...), als Seiendes" (ebd.) interpretiert. Die Interpretation geht soweit, dass dort, wo kein "offensichtlich Wirkliches" in Gestalt menschlicher Einflußnahme als "Ursache" namhaft gemacht werden kann, eine beliebige andere "Ursache" den Platz des - bei Nietzsche immer menschlichen Subjekts einnimmt. "`Zu jeder Veränderung gehört ein Urheber`" (ebd.), so lautet mit einem Satz betitelt der Automatismus dieser Subjektherstellung. Nietzsche bezeichnet diese willkürliche Trennung von "Erwirkendem" und "Erwirktem" als "Mythologie" (ebd.), welche er am Beispiel des Satzes "`der Blitz leuchtet`" (ebd.) darstellt: "`Leuchten`" (NF XII 104) sei ein rezeptiv-sensorischer "Zustand in uns" (ebd.), der zum "Leuchtenden" umfunktioniert wird - dazu werde der Blitz als "Urheber" gedacht. Der Schritt, der hierbei vollzogen wird besteht darin, "das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein" (ebd.). Der Begriff "Wirkung" bringt so mehr zum Ausdruck als bloß eine "Interpretation" (ebd.) der Sinnestätigkeit. Das Denken formt auch die Bezeichnung der "Wirkung" zum Sein um, so dass "die Worte (...) nicht Zeichen sondern Wahrheiten in Betreff der damit bezeichneten Dinge zu sein" scheinen (NF, XI 614). Ein anderes Beispiel für unzulässige Verdinglichung ist die Interpretation des adjektivischen Momentes des Prädikats: Die "Vielheit der Prädikate" (ebd.) wird der der "Ding-Einheit" gleichgesetzt und darüber hinausgehend sogar noch platonistisch zur "Idee" (ebd.) "gemacht". Auf der anderen Seite sieht Nietzsche auch einen fortschreitenden, kritischen Wandel des Prädikat-Begriffs von Descartes und Leibniz bis hin zu Kant. Kant versteht die Kategorien als Prädikate, denen jederzeit ein Subjekt der Anschauung hinzugetragen werden kann. Das Subjekt stellt hier nur die Füllung einer formalen Matrix dar, der nichts Materiales anhaftet. Descartes Vorgehen, das Denken des Verstandes dem Sein


27 vorangehen zu lassen, zog eine Bewegung nach sich, die sich im Kern gegen die bis dahin unangefochtene Stellung des Seins des Subjektes wandte. Sie versuchte das "Denken" also die Prädizierung als Bedingung zu setzen und das Subjekt "Ich" als Bedingtes zu begreifen. Demnach wäre das "`Ich` also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird" (JGB V 73). Es bestätigt sich darin, das auch bei Kant der Prozeß der Synthese Vorrang vor der statischen Einheit hat. Denn Nietzche zufolge wollte Kant ganz in diesem Sinn "beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, - das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer Scheinexistenz des Subjekts, als `der Seele`, mag ihm nicht immer fremd gewesen sein" (ebd.).

1.7.

Objekt

Nietzsches radikale Kritik am Begriff eines "verursachenden Subjekts" bringt auch das Objekt als dasjenige zu Fall, "auf das gewirkt wird" (NF, XII 384). Das Objekt als Ding ist "ein Reflex bloss vom Glauben an's Ich als Ursache" (GD VI 91). Die zeitlichen, logischen und ontologischen Grundkategorien der Dauer, der Identität und des Seins bezeichnen nach Nietzsche nur passagere Zustandsformen des irreversiblen Werdens (ebd.). So lassen sich mit den Begriffen "Subjekt" und "Objekt" nur graduell unterscheidbare Differentiale eines durch den menschlichen Wahrnehmungsapparat strukturierten Geschehensablaufs ausdrücken. Sie treten als "Gegensätze" (ebd.) zum Flüchtigen, zur Differenz und zum Nichts im Bereich der Vorstellungen auf, obwohl es den "Gegensatz" als Verhältnis von Seiendem nur in der Logik, nicht aber im Leben gibt. Wenn man auch nicht anders kann, als in den Kategorien "Subjekt" und "Objekt" zu handeln, so wirkt sich die Annahme gleichwohl verfälschend aus, diese seien "im Sein liegende" Größen. So aber verfahre die "moralische Ontologie" der Erkenntnistheorie, deren Geschichte vielfältige Interpretationen dieses Verhältnisses als Zugang zu "der Wahrheit" postulierte. In der rationalistischen Philosophie war das Objekt das "Objektiv", mit dem der Mensch die wirklichen Dinge beobachtete, und dem er sich unter rechtem Gebrauch der Vernunft, sei es induktiv oder deduktiv, würde annähern können. Diese Tradition, die sich nach Nietzsche von Bacon bis Leibniz erstreckt und ihre Wurzeln im antiken und auch im scholastischen Denken hat, wurde erst von Kant durchbrochen, der umgekehrt das Subjekt als dasjenige bestimmte, das Erkenntnisse allein dadurch ermöglichte, dass sich, so wie sich Kant ausdrückt, das empirische Objekt (das einzig Erkenntnisse ermöglicht) nach ihm richtet. Nach Nietzsche sind jedoch beide Interpretationsweisen unannehmbar, da sie sich gleichermaßen am Subjekt-Objekt-Modell, das die aristotelische Grammatik fundierte, ausrichten. Wenn der Begriff "Erkenntniß" Sinn machen soll, dann kann man ihn nur als Abgrenzung eines Dinges von anderen darstellen, indem nämlich die Eigenschaften eines Objekts aufgezählt werden, die es nicht auf sich vereinigt (NF IX 312). So betrifft Erkenntnis das "Verhältniß Setzen" der "Beschränktheit" von Kräften, also etwas anderes als die Relation von "Subjekt zu Objekt" (ebd.) Das transzendentale Pendant des subjektiven Erkenntnisapparates (also auch der kognitiven Funktion "Anschauung") in der Objektwelt bestimmt Kant als "noumenon, d.i. `der Begriff` eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst, (lediglich durch den reinen Verstand) gedacht werden soll". 103 Es bedingt als "ein transzendentales Substratum" 104 jedes Erkenntniselement auf Objektseite, insofern es als Träger aller möglichen "Prädikate" 105 innerhalb der phänomenalen Welt imponiert. Kant bestimmt es als ein transzendentales, bloß ideales106 Ansich, das als solches im Stande ist, "die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken" 107. Das noumenale "Ding an sich" ist als bloße Idee 108 ist demnach "eine unentbehrliche Bedingung jedes praktischen Gebrauchs der Vernunft" 109. Diese nämlich vermag dem Verstand eine Selbstbescheidung vorzuschreiben110, die zum einen dazu führt, die Tätigkeit des Verstandes als "absolutes Ganzes zusammenzufassen"111, zum anderen die Selbstherrlichkeit der Subjektivität im Hinblick auf eine äußere Grenze einschränkt. Kants Ansich-Postulat stellt einen der Hauptangriffspunkte Nietzsches dar. Stehen beim neuzeitlich-kritischen Kant zwar die Irrtümer und Verkennungsformen des Subjekts im Zentrum philosophischer Reflexion, so erhalten sich bei ihm doch zu viele der überkommenen Modelle und Ansichten der Philosophiegeschichte. Eigentlich habe Kant doch gemäß seinen eigenen Voraussetzungen gar kein Recht mehr, eine "Ding-an-sichWelt" von einer "Erscheinungswelt" zu unterscheiden, habe er doch den Kausalitätsbegriff nur auf die KrV KrV 105 KrV 106 KrV 107 KrV 108 KrV 109 KrV 110 KrV 111 KrV 103 104

B 310 B 603 B 603 B 604 B 310 B 383 B 385 B 383 B 383


28 phänomenale Welt bezogen, und habe er so doch es sich systemimmanent unmöglich gemacht, noch von einem "Ding an sich" zu reden. Wenn mämlich der "Schluß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erscheinung als unerlaubt" (NF XI 185) gilt, dann bleibt kein Grund, der es zuließe, ein "Ding an sich" - und geschehe dies auch aus den Gründen der besagten Selbstbescheidung der Vernunft - noch anzunehmen. Für Nietzsche bleibt es uneinsichtig, wenn auch unter den annoncierten Subjektivitäts-kritischen Gesichtspunkten nicht unerklärlich, warum Kant eine solche "widerspruchsvolle unerlaubte Fiktion" (NF XII 614) in das System seiner Philosophie aufnahm. Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, dass Nietzsche diese "objektive Welt" als eine Umwegstruktur expliziert: das Subjekt spiegelt sich in seiner Erfindung "Objekt" und konstituiert sich vermittelt über diesen Umweg erst als Subjekt. Im Zusammenhang der Theologiekritik Nietzsches entspricht dies dem Phantasma eines Gottes, der nichts ist ohne die Welt, die von ihm erfundene Schöpfung, in der er sich spiegelt (nichts anderes besagt der Begriff "Kreatur"), und die es erst ermöglicht, ihn als Gott zu inaugurieren. Für Nietzsche besteht der einzige Unterschied zwischen dem Phantasma "Gott" und dem Phantasma "Subjekt" nur darin, dass das letztere nicht ohne seine Verdopplung in der Intersubjektivität zu existieren vermag. Der "Werth der Dinge" (NF XII 351f) besteht drin, dass diesem "Werthe keine Realität" (ebd.) zugesprochen werden kann; er stellt nur das Symptom eines zugrundlegenden Mechanismus der Vereinfachung als Grundlage dafür dar, dass überhaupt zwischen den Subjekten kommuniziert werden kann. Wenn über den Gegenstand "Ding" kommuniziert wird, dann gilt, dass er sich nur explizieren lässt als eine bloße Position innerhalb einer systemischen Struktur, die sich allein durch "Relationen" bestimmt (NF XII 353). Nietzsche führt hier freilich ein Argument ins Feld, dessen sich schon Kant in ähnlicher Weise gegen Leibniz bedient hatte: Kant schreibt, dass die "Materie" für den menschlichen Erkenntnisapparat nichts weiter sei, als "ein Inbegriff aus Relationen"112. Auch für Nietzsche ist das Erkennen ein relatives, perspektivisches "sich-irgend-wozu-inBedingung-setzen" (NF XII 142). Insofern kann ein "Ansich, ein Unbedingtes (...) nicht erkannt werden" (NF XII 141). Jede Eigenschaft und jedes Ding, von dem behauptet wird, es könne nicht erkannt werden, ist Nietzsche zufolge in der Philosophie unangebracht - es ist immer ein Zeichen für den Ausgangspunkt einer Morallehre. Nach Nietzsche gibt es für den Menschen keine "Dinge", die (von sich aus) so sind, wie sie "sind": "ein Sinn muss immer erst hineingelegt werden, damit es einen Thatbestand geben könne" (NF XII 140). Obwohl auch Kant schreibt, der menschliche Verstand sei das, was der Natur die Regel gebe, 113 sind Kant und Nietzsche hier doch nicht auf die gleiche Auffassung zu reduzieren. Kant interessiert die universale Gültigkeit des menschlichen Verstandes und seine Fähigkeit gesetzmäßig zu urteilen. Dies ist nach Nietzsche nur eine mögliche Art und Weise der Interpretation zu nennen. Deren Anspruch, dass Natur nicht mehr sei, als die Systematizität der Wahrnehmung des Menschen, ist Nietzsche fremd. "Sinn" muss nach Nietzsche immer erst erzeugt werden. Insofern es die "Erkenntnis" also mit Relationen und Bedingungen zu tun hat, bestimmt Nietzsche auch den Begriff "Ding" nur als eine Folge einer "optisch-moralischen Täuschung". Der Begriff "Ding" nämlich gründet sich auf "das vom Auge construirte "Ganze"" (NF XII 143). Eine Verlegung dieser Ganzheit in den Bereich eines raum- und zeitlosen "Ansich" erklärt sich daher nach Nietzsche nur aus einer latenten Religiosität Kants, der die Sphäre "Ansich" als erkenntnistheoretisches Jenseits ansetzte. Hier müsse der Ursprung der Dinge liegen (JGB V 16). Indem Kant die "Grenzen der Vernunft" (NF XII 299) festlegte, erlaubte seine "Erkenntnißtheorie (...) ein Jenseits der Vernunft nach Belieben anzusetzen ..." (NF XII 443; M III 14). Dadurch, dass Kant ein Ding-an-sich annahm, machte er "eine vollkommen erlogene Welt, die des Seienden, zur Realität" (AC VI 177). Dadurch wurde das Ideal wieder "möglich gemacht," das die wahre Welt ins "logische Jenseits" der menschlichen Erkenntnis verlagerte (vgl. AC VI 176). Für Nietzsche hat der Angriff auf Kants Postulat des "Dings-an-sich" weitreichende Implikationen. Nietzsche belässt es nämlich nicht bei dieser Kritik. Zwar könnte er nun wie der spätere Neokantianismus davon ausgehen, dass Kant die Metaphysik sorgfältiger kritisiert hätte, hätte er nur über das Anschauungsproblem referiert, aber Nietzsche geht nunmehr davon aus, dass wenn das "Ding-an-sich" einen unrechtmäßigen Platz einnimmt, dies auch für den Begriff "Anschauung" gilt. Gilt das "Ding an sich" als Fälschung, so (im Rahmen der Erkenntnistheorie) auch sein Gegensatz auf Phänomenebene, der Begriff "Erscheinung" (NF XII 384, 241). Das führt zu der zunächst paradox erscheinenden Konsequnz, dass man doch von einem "Ansich" sprechen kann. Das "Ansich" ist freilich kein Ansich mehr: Nietzsche kommt mit der weitreichenden Kritik am Begriff der Erscheinung einer unterschwelligen Wiedergeburt des Noumenalen zuvor. Sagt man nämlich, die noumenale Welt existiere nicht, man könne nur von der phänomenalen Welt sprechen, so transportiert sich darin der Gegensatz von phänomenaler und noumenaler Welt mit. Spricht man beispielsweise, wie der Neokantianismus es unternommen hat von der erkennbaren Welt als einer Konstruktion des "Als ob", so behauptet man notgedrungen mit dem Begriff der Konstruktion etwas Nicht-Konstruiertes, zum Beispiel ein Substrat an Realität (selbst wenn dies nur elekrtische Reize, also Bewegungen sind), das allerdings unerkennbar sei, und über das man schweigen müsse. Nietzsches Kritik führt zu dem scheinbar paradoxen Effekt, dass man schon von "Ansich" sprechen kann, insofern dies eine Funktion innerhalb des Vorstellungsvermögens ist. Ein Künstler kann beispielsweise ein Kunstwerk produzieren, von dem ein Ästhetiker eine brauchbare Interpretation 112 113

KrV B 321 KrV A 127


29 abliefert. Vorstellbar ist es, dass der Künstler sagt, die Interpretation ist sehr interessant, aber ansich habe ich etwas anderes gemeint. Was ein Künstler zu seinen Arbeiten meint sagen zu müssen, ist nicht immer interessant, nur weil er selbst diese Werke fabriziert hat, aber entscheidend ist hier, dass man sagen kann, man habe eigentlich, also ansich etwas anderes gemeint. Damit ist nur ausgesagt, das der Betreffende im Vorfeld direkter Intersubjektivität eine Meinung gehabt hat, von der zunächst unbestimmt blieb, ob sie "wahr oder falsch" war (oder "ungeschickt oder "klug"). In diesem Sinn kann man auch sagen, der Mond sehe zwar wie eine Scheibe aus, ansich habe er aber die Gestalt einer Kugel. Präziser formuliert, kommt es Nietzsche auf den strikten und substanziellen Gegensatz von Ansich und Erscheinung an. Die Begriffe sind einander nicht subsummierbar; beide beschreiben nur Funktionen. Diese Funktionen haben indessen einen gemeinsmen Nenner, denn schließlich bedeutet insbesondere das transzendentale Philosophieren nichts anderes, als gedoppelte Verfremdung des Lebens über den Umweg des Herzenswunsches. Bevor dieser Sachverhalt weiter erläutert wird, erfolgt zunächst eine kurze Beschreibung einiger Gedanken Schopenhauers, dessen Schriften vermittelt über den Begriff "Ding-an-sich" eine Verbindingsstelle zwischen Kant und Nietzsche darstellen.

Exkurs: Schopenhauers Willensbegriff Schopenhauer nannte sein Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" 114; er betrachtete es als die Vollendung der Philosophie Kants. Den Begriff "Wille" entwickelt Schopenhauer im Ausgang vom Begriff "Ding an sich" bei Kant.115 Von Kant aus ergibt sich so über Schopenhauer eine Linie zu Nietzsche. Die Bedeutung Schopenhauers für das Kantverständnis Nietzsches kann hier nicht gebührend dargelegt werden, 116 wir müssen uns auf einige wenige, ausgewählte Tops beschränken. Die individuuelle Existenz gehört nach Schopenhauer nicht zum "Wille als Ding an sich" 117. Sie ist eine bloße, den Gesetzen der Kausalität unterliegende Erscheinungsform des Willens. Für Schopenhauer sind Erscheinungen deshalb bloße Vorstellungen, unter die auch die Kategorie des Objektes zu subsummieren ist. Der Wille selbst zeichnet sich durch verschiedene Stufen der Realisierung, d.h. Objektivation aus. Gipfelpunkt dieser Realisierung macht die Welt der platonischen Ideen aus, insofern dieser am wenigsten Individualität beigemischt ist und der höchste Grad an Allgemeinheit zukommt. Eine für Nietzsche wesentliche Objektivationsstufe, die bei Schopenhauer den platonischen Ideen relativ dicht folgt, stellt die Dichtung dar. Schopenhauer zufolge bildet sie die Vielheit aller menschlichen Empfindungen in generalisierender Rücksicht ab. Deshalb - es mag sein, dass hier eine der Wurzeln der Moralkritik Nietzsches liegt - könne der Poesie niemand moralisierend vorschreiben, was sie darstellen oder sein solle. Was den Poeten anbelangt, so besitzt er nach Schopenhauer nur Qualität, wenn er leidet - und zwar richtig: Im Leid befindet sich der Dichter einerseits im Bereich des Willens, insofern er sich in einem affektiven Gemütszustand befindet, andererseits ist er auch Subjekt des "willenlosen Erkennens"," d.h. er objektiviert den Menschen. Dieses Motiv erinnert an Nietzsches "dionysisches und apollonisches Prinzip", das er in der "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" ausgeführt hat. (Auch Schopenhauer hält die Musik für das "Abbild des ganzen Willens". 118) Diesen Willen bezeichnet Schopenhauer auch als "Wille zum Leben" 119. Er bildet einen Gegenpol zu der "apollinischen" Teilwelt des Individuationsprinzis, das sich durch Vergänglichkeit auszeichnet. Nietzsche übernimmt den Begriff "Wille", setzt ihn aber mit dem Leben gleich. Deshalb schreibt er nicht, "Wille zum Leben" sondern "Leben = Wille zur Macht". 120 Zwar würde auch Nietzsche Schopenhauers Satz unterschreiben, dass der Wille beim großen Trauer- und Lustspiel der Welt sein eigener Zuschauer sei, aber ihre Wege trennen sich, wenn es um die Bewertung geht: Die Zeit, nach Kant mit einem "Fluß" vergleichbar, assoziiert Schopenhauer mit einem ohne Ende sich drehenden Kreis.121 Nietzsche nennt das später die "ewige Wiederkehr des Gleichen". Dieses Laufen eines Kreises um sich selbst kann nach Schopenhauer bejaht oder verneint werden. Für Schopenhauer ist die Verneinung von höherem Wert; er charakterisiert sie als "schmerzliche Selbstüberwindung" 122. Für Nietzsche wird dies zum Ausgangspunkt seiner Kritik am Pessimismus: Schopenhauers Verneinung des Diesseits und sein posttheologischer Glaube daran, dass es "anders" besser sei, seinen im Kern christologisch. So reklamiert Nietzsche zwar den Begriff "Selbstüberwindung" (beispielsweise * I 251, 275; * VI 270-300; * V 205) seinerseits aber für die "Bejahung" des "amor fati" und nicht für jene "schmerzliche" Verneinung des Willens (* V 75, * VI 123 ff, 336, 405, 425 usw.). im folgenden Exkurs zitiert unter der Sigle "WV") WV § 24 116 Die Behauptung Ackermanns (Kant-Studien 9: 12, 71), eines Philosophen aus den 30er Jahren, Nietzsche habe Kant nur indirekt über Schopenhauer, Lange und Fichte gelesen, spielt hier nicht die entscheidende Rolle. 117 WV § 23 118 WV § 52 119 WV § 54 120 vgl. Nietzsche: KSA XIV (Kommentarband) 384 121 WV § 54 122 WV § 62 114 115


30 Da für Schopenhauer der Begriff "Wille" gleichbedeutend mit dem Begriff "Leib" (objektivierter Wille in der Zeit) ist, sind für ihn Verneinung und Bejahung des Willens auch Verneinung und Bejahung des Leibes. So kann er "statt Bejahung des Willens, auch Bejahung des Leibes" 123 sagen. Deshalb zeigt sich die Bejahung des Willens in der "Erhaltung des Leibes"124. Ähnlich drückt sich auch Nietzsche aus (vgl. EH, VI * ff). (Kapitel über die "Küchensitten"). Dabei stellt die Geschlechtlichkeit nach Schopenhauer die oberste Form der Bejahung dar.125 Nietzsche wird diese Einsicht Schopenhauers übernehmen aber gänzlich anders bewerten. Für Nietzsche steht gerade die Bejahung in der Rangliste ganz oben; die von Schopenhauer gefeierte Verneinung gilt ihm als Ausdruck einer völligen Unkenntnis über die Natur und die Logik der Dinge.

WV § 60 WV § 62 125 WV § 60 123 124


31

2. Kritik der psychologischen Subjektivität (Nietzsche, Lacan) Innerhalb des folgenden Kapitels wird es um die von Lacan so bezeichnete "imaginäre Relation" 1 gehen, dass heißt die Beziehung eines Ich zu sich selbst und zu einem anderen Ich. Der Begriff "Imaginäres" leitet sich von dem bei Freud verwandten Begriff "Imago", Gestalt ab. Lacan betrachtet sie als "das eigentliche Objekt der Psychologie".2 Damit ist bereits der Rahmen vorgezeichnet, innerhalb dessen sich die folgenden Überlegungen abspielen. Lacan betreibt freilich keine isolierte Theorie der Imago, das heißt letztlich auch keine Psychologie. Wie zu erwarten ist, bildet er den nämlichen Problemkreis auf die symbolische Ordnung hin ab. Fraglos zeigt die Konzeption Lacans hier eine ihrer faszinierendsten Seiten; schließlich geht es um das Problem der Vermittlung zwischen der Welt der Maschine und der Welt des Lebewesens. Obwohl von Ferud als "autoerotisch" klassifiziert, ist diese Welt nicht gerade heil. Während einer "Periode der Hilflosigkeit und Pflege" 3 in der ontogenetischen Entwicklung des Kindes wird, ausgelöst von der Bedürfnisbefriedigung seitens der Eltern, der Zustand des Autoerotismus (= des primären Narzißmus') künstlich erzeugt und verlängert. Das "Ich" des Menschen basiert unter diesem Aspekt zu einem Großteil auf dieser, mit Allmacht "erscheinenden", symbiotischen Verschmelzung. Mit der zunehmenden Anzahl der Versagungen in der Wirklichkeit schwindet allerdings die Illusion der Symbiose. Lacan knüpft mit seiner Darstellung der Ichfunktion an Freud an. Der neugeborene Mensch 4 befindet sich zunächst in einer "Phase ursprünglicher Not"5. Das Kind ist im Gegensatz zu der Entwicklungsstufe proportional gleichalter Lebewesen anderer Gattungen, lange nicht im Stande, sich ohne Hilfe zu bewegen, geschweige denn zu ernähren. Lacan spricht deshalb von der "Prämaturation" des Menschen, der eigentlich "zu früh" geboren wird. Insbesondere aber, und darin liegt die eigentliche Pointe des Begriffs der Prämaturation, insofern der Mensch ein Sprachwesen ist - Lacan bezieht sich hier auf Pascals Bestimmung des Menschen als Sprachwesen 6 - ist das Kind lange Zeit noch "kein vollständiger" Mensch. Erst die Integration in die Regelsysteme der (sprachlichen) Kommunikation, "jener Subversion aller instinktiven Fixiertheit" 7, führen zur Entwicklung des Menschen im eigentlichen Sinn. Diese nicht nur psychologische, sondern vielmehr anthropologische Bestimmung führt Lacan also auf die grundsätzliche Situation des Neugeborenen zurück. Lacans Interpretation dieser Bestimmung kann in Grenzen mit Elementen der Individualpsychologie Alfred Adlers verglichen werden. Was die Funktion des Imaginären anbelangt, so gibt es durchaus vergleichbare Äußerungen in dessen Werk. 8 Adler schreibt: "Durch die Unfertigkeit seiner Organe, durch seine Unsicherheit und Unselbständigkeit, infolge seiner Anlehnungsbedürfnisses an Stärkere und wegen der oft schmerzlich empfundenen Unterordnung unter andere erwächst ihm [dem Kind] dieses Gefühl der Insuffizienz, das sich in seiner ganzen Lebenstätigkeit verrät" 9. Auch Lacan spricht im Zusammenhang dieser mangelnden Verfügbarkeit des eigenen Körpers von "Insuffizienz" 10, die ihrerseits "Phantasien vom zerstückelten Körper"11 provoziert. "Die Diskordanz der Triebe sowohl wie der Funktionen, die beim Menschen in diesem Stadium auftritt, ist nur die Folge der verlängerten Inkoordination der Apparate. Daher rührt ein Zustand einer affektiven und mentalen Selbstwahrnehmung, die den Körper als zerstückelten wiedergibt" 12. Ihre eigentliche Bedeutung schöpft diese Analyse aus der Implikation, dass diese "Dissymmetrie des zerstückelten Körpers" 13 Mechanismen in Gang setzt, die Begriffe wie Memoration, Bewußtsein, Wissen und Erkenntnis beim erwachsenen Menschen fundamental prägen, und die niemals restlos aufgehoben werden können. Lacan spricht davon, dass die "vitale Insuffizienz" jede Tätigkeit des Ich umgreift und "bis in die Kategorien selber, zum Beispiel die `Räume`" 14 reicht.

Lacan (1973a): 53 Lacan (1980a): 166 3 Freud (*): GW V 121 4 Das "sujet infans" ist in diesem Sinne das der-Sprache-nicht-mächtige Subjekt. 5 Lacan (1980a): 164 6 Lacan (1980a): 165 7 Lacan (1980a): 46 8 Wir erheben hier nicht den Anspruch einer philologischen Gegenüberstellung oder gar Ableitung. Die zitierten Sentenzen Adlers dienen hier nur der Veranschaulichung. Es bedürfte einer gesonderten, meines Wissens zur Zeit noch nicht vorliegenden Arbeit, Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Adler und Lacan herauszuarbeiten. 9 Adler (*): TPI 31; vgl. Nietzsche: JGB V 67 10 Lacan (1980a): 59 11 Lacan *. vgl. Dietmar Kamper: Phantasien * 12 Lacan (1980a): 59 13 Lacan (1980b): 73 14 Lacan (1980a): 59 1 2


32 Die Selbstwahrnehmung des eigenen Spiegelbildes beim 6 bis 18 Monate alten Kleinkind 15 ist begleitet von einer Reaktion sichtlicher Freude. Neben der Phantasie der Zerstückeltheit erhebt Lacan erhebt diese Reaktion zu einem zweiten Paradigma der frühen ontogenetische Entwicklung, bei der nunmehr eine "Prävalenz der visuellen Struktur"16 festzustellen ist. Im Gegensatz zum Affenjungen, das das Menschenkind an Ausbildung der motorischen Intelligenz weit übertrifft, und das deshalb sofort ein "Wissen" um die "Nichtigkeit des Bildes" besitzt17, eröffnet sich dem Kind eine "schöne, neue Welt", die sich auf eine Indifferenzierung von imaginärer Spiegelung und realem Körper gründet. Nach Lacan beginnt einzig das Menschenkind (im Gegensatz zu höheren Primaten) mit dieser Indifferenzierung aus Realem und Virtuellem zu spielen. Das Kleinkind, das mit einer "jubilatorischen Geschäftigkeit" 18 bemüht ist, sich im Spiegel zu erhaschen, so konstatiert Lacan, wird dabei durch einen "libidinösen Dynamismus" angetrieben, der sich nicht durch Desinteresse zu verbrauchen scheint und von daher den Eindruck der Zeitlosigkeit erweckt. Tatsächlich ist die Welt der Imago zeitlos. In diesem Sinn kann Nietzsche die Empfindung des ein Kind beobachtenden Erwachsenen als Sentimentalität vom "verlorenen Paradies" (HL I 249) beschreiben, die nichts "Vergangenes zu verlängern" (ebd.) habe. Das zunächst unbeholfene und hilflose Kleinkind, dem auf proportionaler Alterstufe jedes Tier an motorischer Koordination überlegen ist, identifiziert sich mit seinem Spiegelbild. Das Spiegelbild nämlich tritt in Erscheinung als scheinbar vollkommene Gestalt, die - im Gegensatz zur realen Inkoordiniertheit motorischer Funktionen - als "Bild" 19 den Eindruck der Ganzheit erweckt 20. Die gespiegelte und sichtbare Körperoberfläche erzeugt ein Ideal-Ich - Lacan nennt es "moi" (im Gegensatz zum "je") - als Phantasma der Vollkommenheit. Über die menschliche Welt hinaus bestätigen nach Lacan Experimente aus dem Bereich der Ethologie 21 die Wirkung der Gestalt auf die Entwicklung des Organismus. Dies betriff vor allem das Problem der Mimikry. Sie bestätigen das Vorhandensein einer psychischen Kausalität an, die den Prozeß "einer zwischen Erwartung und Entspannung geschlossenen Zeit" 22 begründet. Dieser Zeitfaktor liefert die Grundlage sowohl eines grundsätzlichen "Vergessens" als auch jeder möglichen Memoration. 23 <*Anschluß und evtl. Verdoppelungen kontrollieren:> Das Spiegelbild erscheint, insofern es wesentlich "Bild" 24 ist, als eine ganzheitliche Oberfläche ohne Tiefendimension. Insofern das Spiegelbild Spiegelung ist, reflektiert es das sich sehende Subjekt. Dieser Vorgang ermöglicht es dem sich spiegelnden Subjekt, sich als eine ganzheitliche Oberfläche wahrzunehmen. 25 Der Vorgang impliziert demnach das Aufkommen der Gestalt, die nach Lacan das "eigentliche Objekt der Psychologie" darstellt. Die Faszination des sich spiegelnden Subjekts bringt Lacan zufolge ein beständiges Verlangen desselben, sich als Gestalt darzustellen, zum Ausdruck, und damit synchron eine Verfremdung in der Reflexion. Für Lacan hängt die narzißtische Faszination mit einer Verschiebung und einer Verdichtung zusammen. Die Selbstwahrnehmung verschiebt sich von von der innerlichen Insuffizienz zur beherrschbaren Äußerlichkeit des Bildes. Damit verdichtet sich die Selbstwahrnehmung auf diese Oberfläche hin, die es dem Subjekt gestattet, sich mit einer - freilich nur scheinbaren - Autonomie auszustatten. Wenn man so will, wird das Bild der res extensa zu einer Marionette des Cogito. "Gestalt" ist nach Nietzsche das "vom Auge construierte `Ganze`" (NF XII 143). Die "`Gestalt`" bezeichnet er als ein "optisches Phänomen: abgesehen von Augen Unsinn" (NF XI 170), und Nietzsche nähert sich hier ziemlich genau der Theorie des Imaginären bei Lacan: "Alle Gestalt ist dem Subjekt zugehörig. Es ist das Erfassen der Oberflächen durch Spiegel" (NF VII 464). Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass Subjektivität und Oberflächenhaftigkeit eine intime Beziehung zueinander unterhalten. Die Gestalt ist von daher sowohl Funktion des Subjekts; sie steht aber auch gleichzeitig für eine Prozedur, nämlich Vorstellungen vgl. Lacan (1978): 216 Lacan (1980a): 164 17 Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass auch Affen auf ihr Spiegelbild reagieren, vgl. Oakley (1985). 18 Diese Aktion ist tendenziell manisch, vgl. Freud (1982): III 208. 19 Lacan (1978): 158 20 vgl. Lacan (1980a): 170 21 vgl. Lacan (1980a): 167ff; (1978): 176ff 22 Lacan (1980a): 166 23 Lacan (1980a): 161. Wider Erwarten stützt sich Lacan hier doch auf naturwissenschaftliche Experimente, die heutzutage auch von der Psychologie durchgeführt werden. Wir können Lacans generelle und spezielle Einschätzung des Experimentes hier nicht diskutieren. Allerdings ist ein Moment an der Mimikry hervorzuheben, dass Lacan nicht expliziert, obwohl es ihm dienlich sein könnte. Man sagt schnell, ein Tier passe sich mimetisch seiner Umwelt an, und so sehe ein harmloser Fisch "x" nach Generationen halt wie der giftige Fisch "y" aus, oder ein räuberisches Tier imitiere eine Pflanze, um nicht aufzufallen. Gewiss liegt, wie Lacan hervorhebt, eine Besonderheit dieser mimetischen Verhaltensweise darin, zu sehen, dass man nicht gesehen wird. Ein weiterer beachtenswerter Aspekt dürfte aber überhaupt in der Bedingung möglicher Anpassung zu suchen sein. Wie kann es geschen, dass sich die Laufumgebung einer Tiermaschine in der genetischen Programmsprache dieses Wesens niederschlägt? Wie wird diese erstaunlich exakte Einschreibung, die ja über die visuelle Rezeption laufen muss, vermittelt? Eine Untersuchung dieser Phänomene steht noch aus. Jedenfalls gewinnen die bekannten Karrikaturen, die den vor dem tv-Gerät sitzenden Beobachter mit viereckigem Kopf zeigen, eine unheimliche Dimension... 24 *Sem1 158 25 *vgl. Sch3 170 15 16


33 von einer Totalität zu erzeugen, von der spiegelnden Oberfläche der Dinge und dem oberflächlich-dinghaften Charakter des Subjekts selbst. Wieder vergleichbar mit Lacan hat Alfred Adler diesen Dynamismus als "kompensatorischen" 26 bezeichnet, der durch "Fiktionen oder Imaginationen (....) eines Zieles der Überlegenheit" 27 gespeist wird. Dieser Vorgang kann innerhalb der psychoanalytischen Terminologie als paranoid bezeichnet werden, insofern Freud an der Paranoia insbesondere das Moment der "Projektion" 28 hervorgehoben hat. Welche Elemente liegen dieser kompensatorischen Projektion zugrunde? Adler hatte bei seinen Patienten pathologische Selbstwahrnehmungen und Handlungsmuster erkennen können, die "kompensatorisch auf einem Gefühl der Minderwertigkeit" 29 beruhten. Diese Selbstwahrnehmungen kompensierten die Minderwertigkeit, indem sie diese in ihr Gegenteil verkehrten: in ein Gefühl freilich wiederum pathologischer "Allüberlegenheit" 30. Liest man Adler nicht individualpsychologisch, sondern versteht man diese "Dialektik" aus Minder- und Überwertigkeit gleichsam existenzial, so ist man schnell bei dem Spiegelstadium Lacans. Lacan faßt diese narzißtische Ambivalenz nicht in einem pathologischen, sondern in einem allgemeingültigen Sinn auf, insofern sie die "ontologische Struktur der menschlichen Welt" 31 ausmacht. Der paranoische Kern dieser Dialektik stellt sich für Lacan deshalb nicht als Effekt einer individuellen Erkrankung dar. Die Lust an imaginärem Seinszuwachs des "moi" erklärt sich bei Nietzsche zunächst dadurch, dass der Mensch den Automatismus instinktgeleiteten Tuns nicht besitzt; er also einem grundsätzlichen Mangel ausgesetzt ist. Nietzsche bekannte Formulierung, dass der Mensch das "nicht festgestellte Thier" (JGB V 81) sei, verdankt sich diesem Sachverhalt. Bei Nietzsche heißt es allerdings genau, der Mensch sei "das noch nicht festgestellte Thier"32, woraus folgt, dass zumindest Nietzsche eine zukünftige Feststellung erwartet. Es ist bekannt, dass die faschistische Nietzsche-Interpretation wenigstens dem sogenannten "Herrenmenschen" eine Feststellung vermittelt über dessen höhere Werte ermöglichen wollte. (Eine erste augenfällige Differenz zwischen Nietzsches Vorstellungen und der faschistischen zeigt sich allerdings darin, dass solch ein "EdelmenschPrototyp" wie Zarathustra über seinen Kosmos mehr oder weniger mit sich selbst zu Rate geht, während hingegen die faschistische Interpretation sich deutlich als Massenbewegung umsetzte, also eigentlich genau das Gegenteil der Vorstellung Nietzsches praktiziert hat.) Der Glaube an eine Sinn-abwerfende Systematik (NF XI 632), bzw. an eine Jenseitigkeit, die "Wahrhaftigkeit" (JGB V 18f) mittels der "Selbstentwicklung einer (..) `Dialektik`, `Inspiration`, `Eingebung`" (ebd.) konstruiert, ist nur "ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch" (ebd.). Ziel und Zweck dieser Entwicklung sind für Nietzsche "Wünschbarkeiten", die dem Leben durchaus zuwider laufen können (NF XII 292). Die spekulative Tradition der Philosophie erfand das Sein zum Zwecke einer imaginären Feststellung. In der spätmittelalterlichen Mystik beispielsweise war dieses speculum der menschliche Geist als ein Abbild des transzendenten Gottes: "die Kreaturen sind wie ein Spiegel in denen Gott wiederleuchtet. Und dieses Erkennen heisst ein Spekulieren", wie Heinrich Seuse - gewiss einer der meditativsten Mystiker - es formuliert hatte. Der Mensch spiegelt sich nicht nur vis-à-vis in einem Spiegel, sondern generell in den Dingen; ihn fasziniert alles, was ihm sein Bild zurückwirft. Für Nietzsche bildet diese Spiegelung die Grundlage der aisthesis als Wahrnehmung und darauf basierend auch die Ästhetik als Lehre vom Schönen. Die Dinge, die diese Reflexion am besten leisten, gelten dem Menschen als schön. Deshalb bezeichnet Nietsche das Urteil, dass etwas schön sei als "Gattungs-Eitelkeit" (GD VI 123). Diese Refelxion funktioniert allerdings nicht nur nicht immer: Sie ist als solche fundamental gefährdet. Erweisen sich nämlich die Phantasmen, die sich mit der Reflexion verbinden, als das, was sie sind: bloße Phantasmen, so führt dies zu anthropologischen Konsequenzen. Bildet der Mensch sich auf das Ideal göttlicher Vollkommenheit hin ab, so mag er zwar als fehlerhaft und eben nicht so vollkommen wie Gott erscheinen, aber Gott kompensiert in gewisser Weise die Fehler des Menschen. Nicht nur aufgrund seiner Gnadenakte, sondern einfach weil man an seine Existenz glaubt. Der menschliche Fehler ist unbedeutend, wenn das kosmische Geschick apriori wohldeterminiert ist. Entfällt aber dieser Hintergrund, und löst sich das Ideal in nichts auf, so ist der Mensch mit seinen Fehlern gleichsam alleingelassen. Im religiös-metaphysischen Denken vollzieht sich diese Spiegelung über einen Umweg, der die Dinge so erscheinen lässt, wie Gott oder die Vernunft sie "sieht". Mit Hilfe dieses Phantasmas schreibt sich der Mensch ein Quantum an Seinszuwachs ("moi") zu: "Diese reine Fiktions-Welt unterscheidet sich dadurch sehr zu ihren Ungunsten von der Traumwelt, dass letztere die Wirklichkeit wiederspiegelt, während sie die Wirklichkeit fälscht" (AC VI 181). Die "Wünschbarkeiten" fallen dann, wenn deutlich wird, dass sie nicht als "Ideal" Abbildung einer "Idee" sind, sondern nur die "Einswerdung mit dem Seienden im Auge" haben. Die erdichtete Fabelwelt erweist sich als eine, die nur der "Wünschbarkeit" hat entsprechen sollen; sie ist nur jene "moralischoptische Täuschung", ein Irrtum, der in Nietzsches Begriff des Nihilismus mündet. Adler (1980): 31 Adler (1980): 25 28 Freud (19**): GW VIII 303 29 Adler(1980): 276 30 Adler(1980): 276 31 Lacan (1973a): 32 Hervorhebung von mir 26 27


34 Im Gegensatz zur Erfahrung der eigenen Körperinnenwelt erscheint im Spiegel das äußerlich vollkommene Wesen der Imago. Wenn Lacan angibt, dass nach den ersten Identifikationen des Kindes die "Unstimmigkeit zwischen dem Ich" und den defizitären Körperfunktionen 33 verdeckt werde, setzt er damit eine narzißtische Funktion voraus. Diese Funktion besteht darin, dass es bereits auf untersten Ontogenesestufen so etwas wie ein "Vor-Ich" gibt, dem die defizitären Sensationen der Körperinnenwelt offenbar unbehaglich sind. Gewiss klingt es plausibel, dass es eine Funktion gebe, die bereits vor dem "Ausbruch" des eigentlichen Narzißmus' für eine Subsumtion der Körperinnenwelt unter das Selbstwahrnehmungsbild sorgt (Freud unterscheidet in diesem Zusammenhang Autoerotismus, primären und sekundären Narzißmus); aber dies ändert nichts daran, dass diese Funktion stark hypothesenbelastet ist, 34 zumal der Autoerotismus nach Freud narzißtisch und masochistisch zugleich ist. Dieser latente Masochismus könnte gegen die prinzipielle Unbehaglichkeit defizitärer Körperempfindungen sprechen, und damit auch gegen die Eindeutigkeit der narzißtischen Funktion. Für Lacan jedenfalls konstituiert sich das spätere Ich auf der Basis dieser "imaginären Beziehung" 35. Man muss hier hinzufügen, dass iese narzißtisch zu nennende Situation bereits intersubjektiv vermittelt ist. Das Ich ist nichts ohne den anderen. Nicht nur das eigene Spiegelbild, sondern gerade auch das Bild, das der andere (beispielsweise die Mutter) abgibt, ermöglicht erst das für Lacan relevante Wechselspiel von Identifikationen des Bildes des Ich mit dem Bild des anderen und dem Bild des anderen mit dem Bild des Ich. 36 Wenn die narzißtische Funktion also die Oberhand über die masochistischen Tendenzen gewinnt, so nicht aus der solitüden Ichheit heraus, sondern in intersubjektiver Vermittlung. Das bedeutet, dass die Wahrnehmung des eigenen Spiegelbildes aus der Wahrnehmung des anderen als Bild abgeleitet ist. Der Bezug auf die Gestalt verdeutlicht nach Lacan sowohl die beständig regsame Absicht, sich darzustellen, als auch die verfremdende Reflexion einer scheinbaren Autonomie. Die Intersubjektivität macht die "Erkenntnis" des Menschen selbständiger gegenüber der des Tieres37, strukturiert sie aber darin zugleich in der besagten Weise als paranoische, der gerade das Wenige an Wirklichkeit zukommt, das übrig bleibt, wenn man von dem Bild der Ganzheit die Phantasie subtrahiert. Die Macht, mit der das Spiegelbild das beobachtende Ich in seinen Bann zieht, zeigt nach Lacan deutlich, dass der andere - sei es ein anderes Individuum oder das eigene Spiegelbild - auf der Ebene imaginärer Gestalten konstruiert wird. Auch der andere seinerseits auch nicht anders konstituiert ist als auf der Ebene imaginärer Ganzheit, welche also jeder übergeordneten gesellschaftlichen Bestimmung vorausgeht. In dieser narzistischen Phase wird jedes andere Ich, jedes Objekt "nur insofern gewählt, als das Ich sich in ihm spiegelt: `Ich bin es, den ich sehe, wenn ich ihn anschaue.` Die Liebe zum Objekt, Ideal-Ich, ist mit der, die das Subjekt sich selbst entgegenbringt, austauschbar"38. Das Kind nämlich sieht sich auch im Spiegel so, wie es seinen Mitwesen erscheint. Dabei spielt natürlich insbesondere die Mutter eine Rolle. Das Kind nimmt sie als ein mit "Allmacht" ausgestattetes Wesen wahr: Dadurch, dass sie bestimmte Bedürfnisse des Kindes befriedigt, enthält die Befriedigung zugleich die Bestätigung, dass auf den kindlichen "Appell" 39 ein Anspruch in Erfüllung geht. Die Entsprechung seitens der Mutter verschleiert und verstärkt die Unfähigkeit des Kindes, allein am Leben zu bleiben; es verdeckt seinen ursprünglichen Seinsmangel. Was also befriedigt wird, ist nicht nur das reelle Bedürfnis ("besoin"), sondern dazu ein Quantum an imaginärem Seinszuwachs ("demande"). 40 Das imaginäre Verlangen oder der imaginäre Anspruch 41 übersteigt das reelle Bedürfnis um einen Begehrensbetrag, der sich nicht an den anderen als Befriedigungsmittel, sondern an den anderen als anderen richtet. Aus diesem Abhängigkeitsverhältnis vom anderen erst wird die Funktion des Fort-Da-Spieles verständlich, auf das wir unten noch ausführlich erörtern und erläutern werden. Teils steht die Mutter dem Verlangen des Kindes nicht zur Verfügung. Sie ist nicht zuletzt deshalb abwesend, weil auch sie eines anderen bedarf. Lacan geht mit Freud davon aus, dass das Kind durch diese Abhängigkeit in ein Tauschverhältnis gerät. Um die Mutter in Dauer anwesend und parat zu haben, will es ihr das geben, was sie von "ihrem" anderen erhält. Da die Abwesenheit Lacan zufolge an den Lebensgefährten der Mutter gekoppelt ist, scheint dieser für das Kind das Geheimnis der Präsenz zu bergen. Man müsste der Mutter also das geben, was sie von diesem erhält. Das, was das Kind der Mutter im symbiotischen Austausch zu geben versucht, ist etwas, das es ihr nie geben kann,

Lacan (1980a): ebd. Eigene Experimente und Nachfragen haben die Reaktion des Spiegelstadiums nicht bestätigt (was hier nicht unbedingt etwas bedeuten soll). 35 Lacan (1978): *; vgl. Freud (19 ): *GW X 142 36 Vgl. Heinz (1985): 179-192 37 Lacan (1978): 171 38 Safouan (1973: 281 39 Lacan (1978): 141 40 Diese Art von narzistisch konstituiertem Ich nennt Lacan "moi" im Gegensatz zum kommunikationsfähigen "je", wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass das "moi" die Grundlage des "je" bildet, dass es also ohne "moi" kein "je" gibt. 41 Im Deutschen haben sich beide Übersetzungen des Lacanschen Begriffs demande etabliert. 33 34


35 und das die Mutter vom Mann zu bekommen scheint. Es ist der Phallus. 42 Lacan beteuert (wofür die Beweise allerdings ausbleiben), dass dies für das Kind auch gelte, wenn die Mutter in einer homosexuellen Beziehung lebt. Der Phallus bezeichnet als Signifikant den "désir" (Wunsch, Begehren) des Menschenkindes. Dieser Signifikant verdeutlicht die Differenz zwischen Bedürfnis und Verlangen; er signifiziert den Mehrbetrag, um den das "Verlangen" das bloße "Bedürfnis" übersteigt: eben das besagte Machtansinnen. Da die an den anderen der Mutter gekoppelte Abwesenheit derselben sexuelle Implikationen birgt, deshalb vermag Lacan die "Insistenz des Subjekts, zu reproduzieren"43 in ihren Grundzügen als sexuell zu bezeichnen. Mit der symbolischen Kompensation der Abwesenheit des anderen im Fort-Da-Spiel sind also sofort sexuelle Implikationen vorhanden, die das Kind in diesem Stadium natürlich nicht als solche wahrnehmen kann. Es versteht sich, dass daher auch der sogenannte "Ödipus-Komplex" eine ganz andere Bedeutung hat als sie ihm das vulgäre Verständnis von Psychoanalyse zugesteht. Man erinnere sich insbesondere der Passagen in Freuds "Entwurf", die darauf bestehen, die im engeren Sinne sexuellen Phantasien erst als postpubertäre Phantasie bzw. "Erinnerung" geltend werden.44 Als solche unterliegt sie dem von Lacan ausgeführten Regelsystem der formalen Sprache. In der symbolischen Ödipus-Situation trennt der Vater die duale Mutter-Kind-Beziehung, indem er die Mutter für sich beansprucht und die Beziehung zur triadischen macht (symbolische Triangulation). Das Kind erfährt sich nun als doppelter Mangel, zum einen nämlich der Phallus nicht zu sein und zum anderen ihn nicht zu haben ("manque-à-être" und "manque-à-avoir"). Dadurch wird es auf sein Seinsverfehlen gestoßen, das es mit Hilfe des Vates, der als gebietendes Gesetz des "nom-du-père" auftritt, überwinden kann. Dazu muss es Eingang in die vom Vater vermittelte symbolische Ordnung der Sprache finden. Es kann sich so seines Mangels an Sein "Bewußt" werden und ihn durch Benennung überwinden. 45 Die "Ordnung des Begehrens" (désir) ist für Lacan mit Freud "eine Ausdehnung konkreter Äußerungen der Sexualität" 46. Das "Begehren" wird demnach im erotisch-sexuellen Bereich eröffnet, der in seinen Spielarten den ursprünglichen Seinsmangel in substituierte Mangelformen verschiebt. An die Stelle der primären und unerreichbaren anderen werden sekundäre andere gesetzt. Nietzsche seinerseits gibt an, der "Leib" sei der "Leitfaden", der Auskunft über den Menschen gebe (NF XI 635, 639) - wenngleich sich bislang ein Philosophieren "am Leitfaden des Leibes" (NF XII 106) kaum ereignet hätte. Ungeachtet dieser historischen "Epoche" zeigt sich das Körperliche in jeder Art von Denken: "Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf" (JGB V 87). In diesem Sinn spielt auch in das idealistische und pessimistische Philosophieren à la Schopenhauer die "SexualErfahrung" (GM V 348ff) des Denkers mit hinein. - Wir listen hier nur einige Äußerungen Nietzsches zum Thema "Sexualität" auf, und behalten dabei im Sinn, dass es bei Nietzsches Bestimmung der Sexualität (selbst wenn es sich um die Äußerungen eines verklemmten Viktorianismus handelte) immer um eine Funktion der Macht geht, die wir noch näher zu bestimmen haben. Diese Macht betrifft bei Nietzsche sowohl Selbstkonstitutive als auch intersubjektive Momente. Wenn man jedoch in Nietzsches Werk einen latenten Moralismus am Werk sehen will, so wird man durchaus behaupten dürfen, dass die intersubjektive Machtausübung nur Effekt der Selbst-Konstitution ist. Für das im "Zarathustra" am eindringlichsten propagierte Menschenbild gilt, dass es im Grunde des anderen nicht bedarf und seine Stärke aus der Macht über sich selbst schöpft. Dies war immer ein Argument derjenigen, die Nietzsche gegen die Massenbewegung des Faschismus - die Stärke aus Macht über andere resultieren ließ - zu rehabilitieren versuchten. Was Nietzsches Konzeption anbelangt, so mag dies (im Großen und Ganzen - es gibt auch Äußerungen Nietzsches die dagegen sprechen) stimmen, aber das ändert nichts daran, dass man Nietzsches Schriften für die Bewegung hat beanspruchen können. Dies spricht vielleicht nur bedingt für die Schuld Nietzsches, aber unbedingt gegen die Unschuld seines Werks.

"Phallus" ist nicht gleich "Penis". Zwar gibt es eine Verbindung zwischen beiden, insofern der Mann als Besitzer des Organs genau das besitzt, was die Mutter nicht hat. Aber der Begriff Phallus trägt in erster Linie die Bedeutung dessen, das die Mutter von "ihrem" anderen bekommt, ihres Mangels, den zu erstatten das Kind begehrt. Die sexuelle Komponente dieser Situation ist also keinesfalls mit einer Koitus-Phantasie oder ähnlichem zu verwechseln, so wie es das vulgäre Verständnis der Psychoanalyse unter den Begriff "ÖdipusKomplex" bringt. Der Begriff Sexualität impliziert hier in erster Linie die differentielle Anatomie der Geschlechter. Ein jeweils spezifischer Mangel liegt demnach sowohl auf seiten des Mannes als auch auf seiten der Frau. Nur da der Psychoanalyse zufolge das Kind die Mutter und nicht den Vater begehrt, ist der Mangel der Mutter der wesentlichere. 43 Lacan (1980b): 84 44 Die sogenannte "ödipale Phase" innerhalb der Ontogenese ist also immer der Nachträglichkeit unterworfen und niemals faktisch im Alter von 5 (Freud) oder 2 (Lacan) Jahren relevant. 45 Lacan (1980b): 290 46 Lacan (1978): 148; vgl. (1973b): 127f 42


36 Jedenfalls kennzeichnet Nietzsche den idealistischen Kampf gegen die "Geschlechtsliebe" und das, was Feuerbach mit "gesunder Sinnlichkeit" bezeichnet hat, als "Widernatur", "Laster" und "eigentliche Sünde" (vgl. GM V 342; AC VI 254; EH VI 306f; NW VI 431). Der richtige Ort, den Menschen zu betrachten,ist "der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus ..." (GD VI 149); erst der "Leib" liefert Kriterien zur Wertschätzung "alles Denkens" (NF XI 627). Der Leib ist ein Knoten im Sein (GD VI 159 f) und nach Nietzsche der "Gebieter" (Za IV 39f) schlechthin. Der Bezug auf den anderen ist ambivalent. Homomorphe und heteromorphe Identifikationen im Spiegelstadium sind nach Lacan nicht auf den Begriff "Anpassung" reduzierbar. Die Kategorie der "Anpassung" wird auch von Nietzsche als "eine Aktivität zweiten Ranges, eine blosse Reaktivität" (GM II 316) bezeichnet.Es gibt nicht nur die über den Blick des anderen vermittelte Macht, sondern auch den Haß auf den anderen in Gestalt des Doppelgängers. Komplementär zur Simulation der Anwesenheit des anderen im Fort-Da-Spiel entspricht der Haß dem Wunsch nach Abwesenheit des anderen. Lacan stellt das Denken Freuds in diesem Zusammenhang in die Tradition "der Dialektik des SelbstBewußtseins, wie es sich von Sokrates bis Hegel entfaltet"47. Deshalb kann er sich bei der Erläuterung der besagten Doppelgängerproblematik auf "die Strukturmomente der Hegelschen Phänomenologie" 48 beziehen, und zwar vor allem auf die "Dialektik von Herr und Knecht"49. Der Zusammenhang zwischen dem Begriff des SelbstBewußtseins bei Hegel und dem Begriff des Imaginären sei folgend kurz nachgezeichnet. Wir werden sehen, dass affirmative und kritische Aufnahme des Denken Hegels in der Auffassung vom Absoluten als Sprache kulminieren, welche das Subjekt immer bereits unterworfen habe.50 Damit können wir einen Bogen schlagen vom psychologischen Problemkreis des imaginären anderen zu dem linguistischen und semiotischen des symbolischen Anderen

Exkurs zur Dialektik des SelbstBewußtseins bei Hegel Die Fragen des Leibes werden bei Nietzsche unter der Kennwort "Dionysos" gehandelt. Das römische Pendant zu dieser griechischen Götterfigur, Bacchus, wird bereits bei Hegel abgehandelt. Dessen phänomenologische Interpretation des bacchantischen Mysteriums, die eine Differenz zwischen Begriff und Wirklichkeit des mythischen Weltbildes herausstreicht, entspricht auf phylogenetischer Ebene auffällig einer ontogenetischen Ebene, die die psychoanalytische Erfahrung hervorgehoben hat: die orale Phase. 51 *erläutern Bei Hegel läutert sich die sinnliche Gewissheit in die Sphäre des SelbstBewußtseins; bei Freud läutert sich das orale Stadium in die Sphäre der analen Organisation. Sowohl Hegels Begriff des SelbstBewußtseins als auch Freuds anales Subjekt artikulieren sich auf dieser Stufe der Erfahrung im Lacanschen Sinn imaginär: Sie verzehren sich transitivistisch im Kampf mit ihren imaginären Doppelgängern: 52 Die SelbstBewußtseine stehen auf einer ersten Stufe der bloßen Gewissheit ihrer selbst in einem Kampfverhältnis, das auf Leben und Tod geht: ein notwendiger Prozeß, denn ohne den Kampf mit seinem Double kann das SelbstBewußtsein sich nicht seiner selbst dergestalt gewiss werden, dass es seine Vermitteltheit mit dem jeweils anderen erkennt. Diese Vermitteltheit im Kampf erweist sich für die Helden als wechselseitige Abhängigkeit. Der eine ist ohne den anderen nichts. Fraglos zielt der Kampf darauf, diese Abhängigkeit zu Gunsten eines der Beteiligten aufzuheben und zu Ungunsten des anderen zu verfestigen. Risiko und Spieleinsatz dieses kriegerischen Verhältnisses sind die verletzlichen Körper der Beteiligten, die korporelle Matrix des Bewußtseins der Kämpfenden (bzw. des kämpfenden Bewußtseins). Spieleinsatz ist die "materielle Existenz". Von daher zeigt sich eine weitere Ebene der Abhängigkeit, die die der "Ichs" unterläuft. Zwar setzt jeder der Kämpfenden sein Leben auf's Spiel, aber insofern der Kampf auf die Etablierung des HerrKnecht-Verhältnisses hinausläuft, besteht das Risiko des Verlierers nicht darin, sein Leben zu verlieren. Was ihm droht ist die Versklavung. Der Tod, der hier droht, ist also nicht der reale Tod. Dies erhellt sich daraus, dass der Sieger den Unterlegenen nicht tötet, sondern ihn zum Knecht macht, um diesen Dinge herstellen zu lassen, die des Herrn Konsumansprüche befriedigen. Was die Streitenden unterschwellig und transgressiv verbindet, das ist ein gemeinsamer Kampf gegen ihre gemeinsame Leiblichkeit, die zum Einsatz in diesem Männerspiel funktionalisiert wird. Zwar geht es um Leben und Tod, aber das SelbstBewußtsein gefährdet sich und sein Double nur, da seine Idealität zur Freiheit des Begriffs nicht seinen Untergang fordere, sondern im Gegenteil sein Zu-sich-selbstkommen. Der reale Tod würde demnach nur die immanente Kontradiktion dieser Bewußtseinsstufe potenziert fortschreiben: das SelbstBewußtsein würde sich - ganz wie auf der niederen Stufe der sinnlichen Gewissheit selbst bis zur Nichtgkeit konsumieren. Der Sieger kann sich vom Toten nicht anerkennen lassen, er hat den Lacan (1973a): 134; vgl. (1980a): 148; (1973b): 216; (1978): 281ff Lacan (1973a): 135 49 Lacan (1973a): 135 50 Lacan (1973a): 136, 230 51 Freud (1982): I 532ff; Hegel (1952): Kapitel A I 52 Lacan (1978): 218 47 48


37 Konflikt zwar abstrakt gelöst, nicht aber im Hinblick auf die über diese Negativität hinaus zu erwartende höhere Positivität der Anerkennung. Hegel unterscheidet dabei folgende Schritte, die ein jedes SelbstBewußtsein spiegelnd durchlaufen müsse: 1. Außer sich kommen 1.1. sich selbst verlieren -> anders Selbst finden 1.2. anderes Selbst aufheben -> sich selbst im anderen Selbst (wieder)finden (Das SelbstBewußtsein finde kein heterogenes Wesen vor, sondern sich selbst im Anderen. Innerhalb des Prozesses der Dedoublikation gehe es mithin um ein Aufheben des Anderen als bloße Erscheinung des Fremden) 2. Aufheben des Anderseins 2.1. anderes Selbst aufheben -> sich seines Selbstes gewiss werden 2.2. sein Selbst im anderen Selbst aufheben 3. Rückkehr zum eigenen Selbst 3.1. sich selbst finden 3.2. das andere Selbst freilassen und für sich bestehen lassen53 Das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft wird sich deshalb etablieren, weil das SelbstBewußtsein der Anerkennung bedarf und sich vor dem Verlust derselben ängstigt. Kojeve hat diesen Prozeß in seiner HegelInterpretation zusammenfaßt: "Die Begierde nach Anerkennung ist die Begierde nach einer Begierde, d.h. nicht nach einem gegebenen (= natürlichen) Sein, sondern nach der Gegenwart der Abwesenheit eines solchen Seins. Diese Begierde transzendiert also das natürlich Gegebene, und insoweit sie wirklich wird, erschafft sie ein transnaturales oder menschliches Sein. Aber die Begierde wird nur soweit wirklich, als sie mehr Gewalt als das natürlich gegebene Sein hat, d.h. insoweit sie es zunichte macht. (...) Zunichtewerden des Animalischen" 54. Der Knecht ist nicht nur abhängig vom Bewußtsein des Herrn, dieser wird für ihn auch der Repräsentant des Todes; aber eben nur dieser Repräsentant, denn der Knecht habe im Kampf erfahren, was es heißt, Angst vor dem Tod (repräsentiert durch den Gegner) zu haben. Sein SelbstBewußtsein "hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn empfunden"55 - eine, wie gesagt, funktionell bestimmte Angst, die das knechtische Bewußtsein zwar Angst erleiden ließ, doch nur, um diese um so geschickter wieder passieren zu lassen. Das knechtische Bewußtsein wartet auf den Tod des Herrn 56, ohne Interesse daran haben zu müssen, dass dieser wirklich stirbt. Lacan schreibt dazu: "Jenseits des Todes des Herrn wird er [der Knecht] dem Tod die Stirne bieten müssen, wie jedes völlig realisierte Wesen, und im Heideggerschen Sinn, sein Sein-zum-Tode annehmen. Der Zwangscharakter nimmt sein Sein-zum-Tode eben nicht an, er lebt im Aufschub." 57 Dieser Aufschub ist als Bewegung innerhalb der Artikulationen der Lebens-Todes-Differenz bestimmt vom Imaginären. Das zeigt sich unter anderem darin, dass der Knecht wiederum auf den Tod des Herren zu warten vermag. Das gewalttätige Erscheinungsbild des destruktiven SelbstBewußtseins nimmt sich Hegel zufolge im Transfer zum Allgemeinen SelbstBewußtsein zurück. Der aus dem Kampf hervorgehende Sieger, der Herr, wird insofern unwesentlich, als das für ihn unwesentliche, knechtische Bewußtsein seine Wahrheit ausmacht. Der Herr ist demnach nicht zur vollen Entfaltung seines bislang ideell gesetzten Fürsichseins gelangt. Hegel führt aus, dass die Wahrheit dergestalt dem knechtischen Bewußtsein zukommt, 58 als dieses einzig seine imaginärunmittelbare Selbstgewissheit aufhebe. Die wahre Gewissheit des Wissens und der Wahrheit, die die cartesianische Gewissheit darin übersteigt, dass sie nur über die Vermittlung mit anderem wahrhaftig werde, bildet sich beim knechtischen Bewußtsein durch die zunächst so erscheinende Unfreiheit. Vermittels derselben aber wird der Knecht, der sein Sein erst über das andere Bewußtsein des Herrn erlangt, zur wahren Freiheit emporgehoben. Der wesentliche Inversionspunkt liegt dort in der Arbeitskraft, die der Knecht dem Herrn zur Verfügung zu stellen hat. Die Arbeit wird für den Herrn geleistet, weshalb der Knecht zum Aufschub seiner unmittelbaren Begierde genötigt wird. Er selbst kann das Ding, das er hergestellt hat, nicht konsumieren, ohne die Gewalt des Herrn fürchten zu müssen - eine Gewalt, die nunmehr eine nicht mehr direkte Todesbedrohung darstellt. Jener "arbeitet" 59 seine imaginäre Willkürlichkeit ab und hebt "die innere Unmittelbarkeit der Begierde auf"60. Durch diese Einschränkungen ebnet sich der Knecht erst den Weg zum wahren, allgemeinen

Hegel (1952): 141f Kojeve (1975): 257 55 Hegel (1952): 148 56 Lacan (1973a): 160f; (1973b): 186; (1978): 359 57 Lacan (1978): 360; vgl. (1973a): 160f. Insbesondere Derrida hat in seiner Philosophie der "differance" darüber gehandelt. (1976a): 302ff Kapitel "Freud und der Schauplatz der Schrift"; (1976b): Kapitel "Die différance" 58 Hegel (1952): 147 59 Hegel (19*): X 224 [Paragraph 435] 60 Hegel (19*): X 224 [Paragraph 435] 53 54


38 SelbstBewußtsein und der Selbstvollendung absoluter Rationalität. Er allein kommt in der Herstellung des für den Herrn produzierten Dings zu einer Refexion des Beständigen, der Kontinuität. Zwei Aspekte gehören hier unauflöslich zusammen: die Furcht und die Produktion 61 (eine Furcht, die zunächst durchaus Anklänge schon an einen existenzialistischen Begriff von "Angst" hervorruft), wandelte sich von der Todesangst in die bloß noch gegenständliche Furcht vor dem Herrn, die nunmehr sich mit der Produktion verbindet. Eine Furcht, die sich gänzlich zu transsubstantiieren scheint in den Fortschritt der sittlichen Ordnung - und hierin bestätigt sich die Vermutung Lacans mindest, dass der Pakt allen Kämpfen vorrausginge -, die Herrn und Knecht zu einer republikanischen Politbruderschaft assoziiert: Hegel nämlich setzt in seinen Überlegungen offensichtlich voraus, dass der Herr das Leben seines Knechtes nicht mehr ernstlich bedroht und ganz im Gegenteil sogar ihm väterlich-versöhnlich verbunden ist. 62 Die Lebensbedrohung schwindet dadurch. Der Tod wurde zwar während des Kampfes als drohend empfunden, wird mit der Entscheidung darüber, wer Herr und wer Knecht ist, aber nicht mehr explizit relevant. Nach der Entscheidung zeigt sich, dass sowohl das Bewußtsein des Herrn, als auch das des Knechtes über die Produktion von Dingen definiert sind. Das des Herrn bezieht sich insofern direkt auf die Dinge, als es diese nach Lust und Laune benutzen, gebrauchen, verzehren, also konsumieren kann. Das Bewußtsein des Herrn befindet sich nach Hegel deshalb in einem bloß negierenden Verhältnis zu den Dingen. Das knechtische Bewußtsein hingegen darf das Ding nicht konsumieren, will es nicht Strafe riskieren. Dadurch aber hat sich sein Bewußtseinszustand gleichsam erweitert: Es muss sich vom direkt konsumtiven Bezug auf die Dinge lösen und damit auch die Bewußtseinsstufe des Herrn verlassen. Dem Herrn bleibt zwar das Genießen, aber dieses ist innerhalb der Hegelschen Dialektik des SelbstBewußtseins die klar primitivere und damit eine unwahre Stufe. Das knechtische Bewußtsein ist's, auf das es ankommt. Der Knecht nämlich produziert Dinge, bildet und bearbeitet sie. Er negiert sie also zumindest nicht vollständig, so wie der Herr. Es muss auf den Konsum verzichten, ihn aufschieben. Hegel zufolge ist also der Gehorsam heilsam, der als knechtischer notwendig verknüpft ist mit der Unterdrückung der selbstsüchtigen Begierde. Die An-und-für-sich-Werdung der wahren und wissenden Vernunft ergibt somit sich, indem sich das Für-sich-sein im Herrn als anderes, in der Furcht als an sich selbst und im Machen als Aneignung erfahre. Der subjektive Begriff des SelbstBewußtseins objektiviert sich darin. Narzißmus und direkt nach außen gewandter Todeskomplex, Destruktivität, kennzeichnen dieses präödipale Umfeld. In der Psychoanalyse besteht nun der genealogische Inversionspunkt des Selbstes im Ödipuskomplex und dessen Untergang in der Symbolisierung. 63 Bevor Hegel seinerseits einen ähnlichen, Anerkennung und Versöhnung verheißenden Diskurs beginnt, setzt auch er einen Inversionspunkt: das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft. Dieses Verhältnis wird entscheidend durch die Herstellung und Produktion von Dingen (inklusive des Rechts auf Konsumation derselben) bestimmt. Sogleich kann Hegel entgegengehalten werden, dass sich sein hoffnungsvoller Moralismus 64 schlicht nicht erfüllen kann. (Tatsächlich hat er sich historisch nicht erfüllt.) Das Binnenverhältnis nämlich von Gesetzgebung und Ausführung innerhalb des Bewußtseins vermag in seiner Selbstbegründung die Phase des Sadismus (diesseits der Perversion), der verfehlenden, unselbständigen "Wahrheit der Gewissheit seiner selbst" 65, nicht zu quittieren. Und die von Freud monierte, der Phänomenologie nahe "Aufhebung der Sonderexistenz des Objekts"66 verbleibt strukturgenealogisch im Rahmen eines bloß verhüllten Kannibalismus. 67 Insofern aber an Hegel (1952): 149 Hegel (19*): X 226 [Paragraph 435 Zusatz]. Tatsächlich spricht Hegel nur über das Herr-Knecht- nicht aber über das Herr-Sklave-Verhältnis. Man sollte vermuten, dass auch der Sklavenherr aus reiner Profitgier sein "Arbeitstier" nicht einfach umbringt, aber die Vermutungen sprechen dagegen. Zwar sollen beispielsweise im brasilianischen Minas Gerais hunderttausende Sklaven umgekommen sein, aber die Dokumente darüber (inklusive der Importzahlen) sind von angeblich sozial engagierten Politikern vernichtet worden. Auf jeden Fall gab es die Sklavenhaltung zu Hegels Zeiten bereits, die keinesfalls auf dem "Auge-in-Auge-Kampf" zweier SelbstBewußtseine basierte. Unter diesem Gesichtspunkt mag man die ganze Geschichte vom Herr-KnechtVerhältnis in Anführungsstriche setzen. 63 Lacan (19*): 219 64 Hegel (1952): 58 65 Hegel (1952): Kapitel B IV 66 Freud (1982): III 101 67 Freud (1982): V 287: "Man will die Mutter auf fressen, von der man sich genährt hat". Vgl. Attali (1981): pass. (Attali zeigt, dass der Begriff "Kultur" gleichbedeutend mit dem hominisationslogischen Begehren ist, das "Kannibalische" zu verwerfen. Dies aber kehre wieder unter der Regie des Codes, der Subjekt und Ding zunehmend indifferenziere. Ein Beispiel dafür sei die Wiederkunft des kannibalischen Konsums in der Organtransplantation. Die künstlichen Organe seien dabei Lebendigkeitskopien gleich dem Subjekt. Um den Tod zu vertreiben, müsse das Gesunde konsumiert werden.) Kant schreibt in der "Metaphysik der Sitten", dass "der fleischliche Genuß dem Grundsatz (wenngleich nicht immer der Wirkung nach) kannibalisch" sei (Kant * VIII 483f [B 165]). Generationendifferentiell sei dabei die Frau betroffen, die vom Kind konsumiert würde, aber sexusdifferentiell sei es der Mann, der sich vor dem weiblichen Vamp(ir) zu hüten habe. Ihm nämlich drohe "von öfteren Ansprüchen des Weibes an das 61 62


39 diesem Produktionsschemen der relevante Hominisations- und Zivilisationsursprung liegt, fällt der Produktion der Dinge eine fundamentale Aufgabe zu. Sie markiert die Entstehung der Zivilisation und der Kultur. Die negativierende Bewegung des Fürsichseins, der drängende Rationalisierungsprogreß des Begriffs, ist freilich der Feministin Luce Irigaray zufolge als ein sich idealisierendes Selbstbegreifen zu verstehen, als eine Aneignung der eigentlichen Produktivkraft des Lebens durch Technik. Für Irigaray ist dies gleichbedeutend mit der Aneignung der Frau durch die männliche Sozialität. In der Tat erscheint das Leben im Diskurs Hegels immer als idealisches, indem - darin Fichte nicht unähnlich, der zu sehen vorgibt, wie das System von sich aus Leben entfalte - das Selbst vorgibt, den Begriff "durch seine eigene Natur, d.h. durch das Selbst als das seinige, sich bewegen zu lassen und diese Bewegung zu betrachten." 68 In dieser Hinsicht ist die Dingproduktion in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Zum einen, weil die gängige Konsumationslust des SelbstBewußtseins (nicht bloß erst der final nachträglichen Funktion des Herren) ein strukturelles Apriori des einzelnen Bewußtseins ausmacht, das sich allerdings im Aposteriori der politischen Organisation vergessen macht. Da der Begriff des Selbst-Bewußtseins bereits in sich den Negationsprogreß hin zum Absoluten birgt, zeitigt den Begriff selber immer auch schon der Verschlußcharakter von Repräsentiertheit schlechthin. Zum anderen im Hinblick auf die Todesanimation des "wahren SelbstBewußtseins" (das knechtische), dessen Angst - "die Furcht des Todes " 69 - eingeht in die Dingproduktion. Diese Angst hat sich also gleichsam in die Dinge hinein transformiert (jene "erste Angst" Artauds: Sterblichkeit des Animierten 70). Freud bedenkt die Produktion so wenig, wie Hegel die Unmöglichkeit des Untergangs des Sadismus. Andererseits aber zeigt sich eine Homologie im Denken beider, die die Todeskomplexlehre Freuds und Lacans mit Hegels Dingproduktion verbindet: Der "eigentliche Sadismus" stellt bei Freud als Expremationstendenz 71 eine Bindung des Todestriebes dar. Diese Expremation ist nicht nur imaginär-destruktiv und direkt konsumatorisch, sondern als desexualisierte Libido (Vermischungsproblematik) produktiv, denn die aus dem Todeskomplex abgeleiteten Destruktionstriebe werden "zu Zwecken der Abfuhr in den Dienst des Eros gestellt" 72. Sie dienen damit dem Aufbau komplexer Objektivitätssysteme, die allerdings ihre Abkunft vom Todeskomplex nimmer durchstreichen.73 Auf Hegel rückgewandt bedeutet dies, dass auch die scheinbare Reinigung des Bewußtseins innerhalb der Erfahrungsstufe der Dingproduktion und darüber hinaus keinesfalls ein Verlassen des Imaginären impliziert, sondern bestenfalls ein Verschleiern, das den imaginären Kampf der unselbständigen männlichen Geschlechtsgenossen verschiebt auf die Frau, die nun, darin dem Dinge gleich, denselben latent werden lässt, indem sie ihn repräsentiert. Zurück zu Lacan: Die Arten von homomorpher Identifikation (z.B. bei der Doppelgängerproblematik) 74 und heteromorpher Identifikation (z.B. bei der Mimikri) während der Phase des Spiegelstadiums sind nach Lacan nicht auf den Begriff "Anpassung" reduzierbar. Lacan sieht das Spiegelstadium als imaginäres wesentlich durch Kampf bestimmt, allerdings durch keinen, der auf Anerkennung aus ist, sondern durch einen der Zerstörung verlangt.75 Der Höhepunkt des Spiegelstadiums zeichnet sich durch eine "Identifikation mit der Imago des Nächsten" (Transitivismus) aus, die mit einer fundamentalen Eifersucht verbunden ist. "Die transivistische Reaktion" bestimmt deshalb "in bedeutsamer Weise die ursprüngliche Phase" 76. Es übersetzt "des Kindes Sprache (...) zunächst in die dritte Person (...), ehe es sie zur ersten macht". In dieser Weise spricht Lacan unter Berufung auf Bühler und Köhler von der "wahrhaften Bestrickung durch das Bild des anderen" 77. Es gilt hier vom Subjekt, dass es "sich in seinem Selbst-Gefühl mit dem Bild des anderen identifiziert" 78. Die fundamentale Eifersucht erläutert Lacan mit Hilfe der Aufzeichnungen des Anselmus. Sie ist ein Teil einer der transivistischen Reaktion inhärenten ambivalenten Haltung gegenüber dem Nächsten und gegenüber sich selbst und durch eine Mischung aus Liebe und Haß bestimmt. (Diese steht im engen Zusammenhang mit einer Geschlechtsvermögen des Mannes herrührende Erschöpfungen aufgezehrt" (ebd.) zu werden. 68 Hegel (19*): 48 69 Irigaray (19*): 279; desgleichen: Ortigues (1961): 320ff. Auch Adorno, (1980): 195, hat hat die "Dialektik von Herr und Knecht" auf die geschlechtsdifferentielle "Ordnung des Hauses" angewandt (Minima Moralia, Paragraph 111). Detailliert wird dieses Interpretationsmodell von K. Böhme, (1973): 39ff, ausgeführt. Im Rahmen der Interpretation sind diese Ausführungen fraglos stimmig, sie lassen aber nicht zu, das knechtische Bewußtsein als eine vom Mann aus gesehen geschlechtsimmanente Simulation lesbar zu machen. 70 Artaud (1979): 145 71 Expremation bedeutet mehr als bloß subjektiv-psychologische Projektion. Die Expremation ist kulturkonstitutiv. 72 Freud (1982): III 308 73 Hegel (19*): IX 429 [Paragraph 349 Zusatz] 74 Lacan (1973b): 183; (1980a): 71 75 Lacan (1978): 347 76 Lacan (1980a): 157ff 77 Lacan (1980a): ebd; vgl. (1978): 158, 217 78 Lacan (1980a): 158


40 natürlichen Aggression, die nicht mit entfremdender Aggressivität verwechselt werden darf. 79) In der Weiterführung der Genealogie des Subjektes wird der Übergang vom Imaginären zum Symbolischen und die damit verbundene Notwendigkeit einer natürlichen Konkurrenz expliziert. *"Das Ich konstituiert sich zur gleichen Zeit wie der andere im Drama der Eifersucht. Für das Subjekt ist es einer Diskordanz, die in die Schauspiel-Befriedigung aufgrund der Strebung einbricht, die diese suggeriert. Sie impliziert die Einführung eines dritten Objekts, das anstelle der affektiven Verschmelzung und der Schauspiel-Ambignität, die Konkurrenz einer Dreiersituation setzt. Also gerät das durch Identifikation in die Eifersucht verstrickte Subjekt vor eine neue Alternative, in der sich das Schicksal der Realität entscheidet: Es findet entweder die Präsenz des Objektes wieder und klammert sich an die Verweigerung des Realen und die Zerstörung des anderen oder es lässt sich zu einer Repräsentation des Objektes führen, das es in der die menschliche Erkenntnis kennzeichnenden Form annimmt: als kommunikables Objekt, weil Konkurrenz ja zugleich Rivalität und Übereinkunft einschließt. Dabei erkennt es aber gleichzeitig den anderen an, mit dem Kampf oder Vertrag es verbinden; das Subjekt findet zugleich den anderen und das sozialisierte Objekt" 80. Dadurch wird es zum "Archetyp der Sozialgefühle" 81. Die scheinbar unabhängige Empfindung einer Autonomie des Selbst wird nun erst deutlich und interpretierbar, vermittelt durch das "Begehren des anderen (Menschen), mit dem er sich messen muss"82. Das Begehren kann seine Funktionsweise nur dann entfalten, wenn es aus dem imaginären Bereich des Verlangens isoliert wird. Es ist die "Metonymie des Seinsverfehlens" 83, sich nämlich nicht mit Allmacht ausstatten zu können. Insofern ist der Subjektbegriff nur der "Statthalter (...) für die Ursache (cause) des Begehrens"84, dies hat der Mensch zu "erkennen". "Das Begehren ist eine Beziehung des Seins zum Mangel. Dieser Mangel ist Mangel an Sein - Seinsmangel - manque d'etre im eigentlichen Sinne" - so gefaßt kann man überhaupt nur von Sein reden85. Das Begehren des einen ist immer auch das Begehren des anderen. Solche Sätze finden sich durchgängig bei Lacan, der sich explizit auf Hegel bezieht. Bleibt das Begehren mit dem imaginären Verlangen verschmolzen, so ist die Begegnung zweier Subjekte von Motiven der Zerstörung, die auch solche der Selbstzerstörung sind, gekennzeichnet 86. Die Begegnung "zweier Begehren", folgt nach Lacan dem Prozeß der Anerkennung zweier SelbstBewußtseine, wie sie Hegel beschrieben hat 87. Gelingt dieser Prozeß nicht im Sinne einer anerkennenden Vermittlung, so bleibt nur das imaginäre Cogito, verstrickt in ein System der "idealen Identifikationen" 88, das von der ursprünglichen Not, der physiologischen Prämaturation gekennzeichnet ist. 89 Das Bewußtsein ist hier wesentlich ein "unglückliches" 90, dem es um seine "Einzigartigkeit" geht:91 Nach Lacan steckt die gesamte Existenzphilosophie in diesem Satz. Sie isoliert die Selbstgenügsamkeit von der wirklichen Körperlichkeit, indem sie immer noch am cogitalen Motiv der Reflexion herumlaboriert. Das Auge ist kein erotischer Ort, sondern der des Hasses wie bei Sartre, ihm eignet die "suizide Aggression des Narzißmus" 92. (Lacan erläutert dies anhand von Beispielen in der Literatur: Molières Alceste und Schillers Karl Moor.) Das Bildverhältnis als Verbindung von Punkten auf der Fläche gründet sich im Akt der Reflexion, indem das Bewußtsein als "Oberfläche" aufmerksam "auf sich merkt" (Fichte) Das speculum des Geistes und die "unendliche Iteration" (Fichte) des spekulativen Denkens führt das Subjekt schein-bar zu sich, indem es von (Ober)fläche zu (Ober)fläche springend sich seiner selbst nähert, sich auf sich bezieht und in seiner Reinheit gewiss wird. Dieses von aller Empirie befreite Ich der "intellektuellen Anschauung" (Fichte) ist das ideale Ich. Der Satz Nietzsches: der menschliche "Intellect ist ein Spiegel" (M III 115) erhält hier eine metaphysisch verabsolutierte Bedeutung. Zusammenfassung: Lacan beschreibt in seinem Aufsatz "le stade du miroir" die Selbstbespiegelung als den Akt, der die "imaginäre" Stufe in der Geschichte der Subjektentwicklung anzeigt. Er konstituiert das Subjekt dadurch, dass dieses sich im Spiegel als "ganze Gestalt", d.h. als Einheit erblickt - ein Sachverhalt, der etwas über eine "structure ontologique du monde humain" 93 verrät. Im Bild er-scheint die manifeste Ganzheit des "Seins" i.G.z. der Nicht-Fest-gestelltheit des Menschen. Das Ich stattet sich im Reflex der Reflektion mit einem imaginären Seinszuwachs aus - nämlich Herrschaft zu haben über das eigene Bild und damit über den sich verbergenden, insuffizienten Körper, der für den Menschen die unbekannteste Welt darstellt (M III 115). Der Lacan (1980a): 65, 151; (1978): 108, 225 Lacan (1980a): 60 81 Lacan (1980a): 60, 87, 158 82 vgl. Lacan (1978): vgl. 220ff 83 Lacan (1978): 214 84 Lacan (1973b): 128 85 Lacan (1980b): 283 86 Lacan (1978): 279ff 87 vgl. Lacan (1980a): 159 88 Lacan (1980a): 155 89 Lacan (1980a): 164 90 Lacan (1978): 69 91 Lacan (1980a): 151; vgl. Hegel (19*): Kapitel IV B 92 Lacan (1980a): 151 93 *Lacan (1966): E 94 79 80


41 Körper, den das Bewußte Denken nicht zu repräsentieren vermag, erzeugt als mächtiger Gegenspieler des Bewußtseins Furcht. Das Bewußtsein wähnt sich zwar mitunter in Freiheit, aber es zeigt sich immer wieder, dass die die Ansprüche des Körpers und des Leibes "mächtige Gebieter" (Za IV 40) sind, die dem Menschen "die schauerliche Poesie" der Zufälle an sich selbst klar werden lässt. Unter dem Kritierium der Furchtabwehr ergibt sich eine Aspektparallele zwischen Ontologie und Optik. Nach Nietzsche ist das "Sein" eine Frage der "Optik" (NF IX 309), "wir bewegen nur seiende Dinge - daraus besteht unser Weltbild auf dem Spiegel" (ebd.). "Erkenntniß" ist so nur eine "Sphäre", die entsteht, weil "Spiegel und Tastorgane" sie uns liefern (ebd.). Dieses "Sein" wird als "Gestalt" wahrgenommen; sie ist das "vom Auge construirte `Ganze`" (NF XI 170). "Die Gestalt ist dem Subjekt zugehörig. Es ist das Erfassen der Oberflächen durch Spiegel" (NF VII 464), das sich machtgeleitet aus der mangelnden Festgestelltheit ergibt. "Ist man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das, was war und was wird, - man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts Seiendes gibt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als seine "`Welt`" (NF XIII 10). Im Rahmen der praktischen Vernunft er-scheint im idealisierenden Spiegel das Ideal des Bewußten Handelns. Waren die Kreaturen einst das speculum der göttlichen Güte (Thomas v. Aquin, Heinrich Seuse usw.), so wird ab der Neuzeit das Subjekt selbst und sein inneres Kriterium des Guten. Das Bewußtsein ist nur eine Spiegelung von "Enderscheinungen" (NF XIII 335), es tritt in Kraft erst nach dem Ablauf eines Geschehens, bei dem jene "andere" Gattung Motive beteiligt war. Es ist so etwas grundsätzlich Nachträgliches, denn es gilt, dass das Dasein nur ein "ununterbrochenes Gewesensein ist" (HL I 249). Das Dasein zeigt sich nach Lacan nur im "futur antérieur", dem Bewußtsein. Dies verweist auf den Prozeß des Werdens bei Nietzsche. Das, was vom Sehestandpunkt der Selbstbestimmung reflektiert wird, ist prinzipiell etwas, von dem sich erst noch zeigen muss, was es zum Zeitpunkt der Reflexion war. Das heißt nicht, dass später etwas adäquat deutlich wird, es wird aber zum späteren Zeitpunkt vergleichbar mit anderen Affektperspektiven. Hegel hat das Motiv, das den "Gedanken" als immer schon verspätet ausweist, in der Vorrede zur "Rechtsphilosophie" beschrieben. Er kritisiert damit gleichzeitig moralische Utopien, die sich auf ein "Jenseits" des Wirklichen berufen, und die "Welt" als Anders-sein-sollende begreifen: "Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat" 94. Diese Kritik der Moral, die bei Nietzsche auch eine Relegionskritik implizierte (von der auch Hegel sich nicht weit entfernt weiß), zeigt an, dass das Denken nur Teil der Welt im Flusse des Werdens ist - und es weder die Welt, noch sich selbst in Totalität erkennen kann. Eine mögliche Totalität entsteht erst im Nachhinein. Da das Bewußtsein nicht alle bedeutungskonstitutiven Affekte zugleich wahrnehmen (und erst recht nicht von sich aus) einsetzen kann, schreibt Nietzsche, dass die Vorstellungen des Bewußten Denkens "nachhinken" (NF IX 283!): das "Dasein im Grunde ist - ein nie zu vollendendes Imperfektum (HL I 249), zu diesem "es war" (ebd.; Za IV 181) vermag der Wille nicht zurückzugelangen. Das Cogito ist also eine kognitive Instanz, die sich dem "Centrum des Individuums" (NF XII 295) nur "beständig annähert" (ebd.). Das Bewußtsein ist also, wie sich aus den beiden Momenten ergibt, durch eine basale "différance" (Derrida) von seiner Wirklichkeit abgeschnitten. Derrida bezieht sich mit seinem Begriffskonstrukt "différance" explizit auf Nietzsche. Die "différance" ist nach Derrida der "Ur-sprung" aller "différences". Im Bezug auf Nietzsche ermöglicht sie das Leben dadurch, dass sie das Bewußtsein als Spiel und Effekt niemals bis zur "Wahrheit", der Bedingung der Möglichkeit einer Bewußten Gesamtregierung, die das Leben zerstören könnte, vordringen lässt. Das "Centrum" des Subjekts ist ein "Mittelpunkt", der "sich beständig verschiebend" gedacht werden muss (NF XII 391) - es ist also "niemals sich selber gleich (...) in seinem Prozesse" (NF X 406). Es ist bei Nietzsche nicht unzentriert aber dezentriert in dem Sinne, das innerhalb des Systems des Subjekts ein Zentrum verschwinden und irgendwoanders entstehen kann. Das Subjekt ist also Nietzsche zufolge nicht etwas, das sich als reflexive Vermittlung denken lässt. Es muss als ein nicht-substanzielles Kontinuum gefaßt werden, das aber eine Ganzheit im Gegensatz zur Einheit darstellt. Diese Ganzheit setzt sich aus einer Vielheit zusammen. Reflektierende Vermittlungsversuche zwischen zwei Polen bringen nur Teile des Selbsts (Affekte) zur Vorstellung, ebenso wie Präreflexivität als ichlos vorBewußter Selbstbezug. Das Bild vom Spiegel beschreibt also im Anschluß an die Kritik der auf der Ebene des Bewußtseins mit sich vermittelten Subjektivität die unaufhebbare (chrono- und topologische) immanente Differenz zwischen den transitiven Polen der (Prä-)Reflexivität: "ich und mich sind immer zwei verschiedene Personen" (NF X 96). Nietzsche kann deshalb schreiben, dass das "Bewusstsein" und seine Wahrheit eine "optisch-moralische Täuschung" (GD VI 77f) darstelle.

94

* Hegel: GPR 27f


42

"Der Philosoph in den Netzen der Sprache eingefangen" (NF VII 19, *463)

3. Kritik der Intersubjektivität 3.1.

Verständlichkeit und Vereinheitlichung

Freud beschrieb im Rahmen der Analyse des "Ich" eine "intellektuelle Funktion", die sich durch "Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit" auszeichnet. Folgend gilt es, diese Funktion in Bezug auf Nietzsches Theoreme einer näheren Untersuchung zu unterziehen. In intersubjektiven Zusammenhängen müssen die einzelnen Zeichen, die gemeinschaftlich ausgetauscht werden, dann, wenn sie für die anderen verstehbar sein sollen, allgemein verständlich sein. Das heißt: wenn mehrere Subjekte über einen Gegenstand kommunizieren wollen, dann kann dies nur geschehen, wenn ein Mindestmaß an Allgemeinheit zu Grunde liegt, das es erst möglich macht, dass die Beteiligten einander etwas sagen können. Bliebe einer im Bereich irgendwelcher Privat-Zeichen verhaftet, würden die anderen nicht wissen können, worum es ihm geht. Die Zeichen blieben unverständlich und eine Botschaft könnte nicht als "sinnvolle" erfaßt werden. Sprachliches Handeln ist also in dem Maße in dem es auf Anerkennung seitens anderer Individuen angewiesen ist, dem Kriterium der Verständlichkeit unterworfen. In diesem Sinne muss die Sprache der Mitteilbarkeit, als Bedingung der Möglichkeit konventionaler Verständigung, genügen. Diese muss das Individuelle, sowohl des Sprachsubjekts als auch des Sprachobjekts, subsummieren, um nicht durch radikale Besonderheiten den Kommunikationsakt zu gefährden. Die Subsummierung von Individualität oder NichtIdentität trifft auf vernünftiges Denken und Sprechen gleichermaßen zu, da beide sich - als Äußerungsweisen eines Zeichensystems zwischen Menschen - der Möglichkeit der Begriffsbildung verdanken. So betrachtet verläuft die Ebene von Denken und Sprechen parallel zu der Mittelbarkeit selbst. Sie werden ermöglicht durch die verallgemeinernden, subsummierenden Begriffe, die "generalisieren, wo nicht generalisirt werden darf" (JGB V 118). Das Bewußte Denken und Sprechen ist von diesem Prinzip der Begrifflichkeit, also des "Gleichsetzen des Nicht-Gleichen" (WL I 880) geprägt. Dieses Moment befindet sich schon im Umfeld des Moralischen. Das Bewußtsein, als "beabsichtigte" Kontrollfunktion und subjektiver Ermöglichungsgrund selbsttätigen, regelgeleiteten, sprachlich-gedanklichen Handelns, verdankte seine Entstehung einer "Mittheilungsbedürftigkeit" (FW III 590ff), die in Bezug auf "Verkehrs-Interessen" (NF XIII 67f) zwischen "Befehlenden und Gehorchenden" (ebd.) notwendig wurde. Wir werden unten darauf zurückkommen. Die Moral als Zwang, dass etwas so oder so sein soll, stellt das Grundmuster der Begriffsbildung dar. Auch die Begriffe bezeichnen etwas so, wie es sein soll, damit über ihre Intension und Extension kommuniziert werden kann. In der Regel gehen die Kommunikationspartner davon aus, dass der Opponent der Reden, den in Diskussion stehenden Begriff schon so verwendet, dass man erkennen wird, was er meint. Wenn die Partner auch verschiedener Ansicht sein können, was ein Gedicht ist, so werden sie doch davon ausgehen, dass sie eine ähnliche Vorstellung von dem Satzgegenstand haben, über den sie reden. Um ein anderes Beispiel zu wählen: Wenn zwei Kommunikationspartner über den Begriff "Gerechtigkeit" diskutieren, so werden beide voraussetzen, dass auch der andere, weicht auch seine Meinung noch so von der eigenen ab, eine Vorstellung davon hat, was den Begriff "Gerechtigkeit" auszeichnen sollte. Hier herrscht nach Nietzsche die immer wieder thematisierte "moralische Ontologie". Das Begriffsfeld Moral verweist auf die Vereinheitlichung, die im Kapitel "Subjekt" beschrieben wurde. "Vereinheitung" ist als Unterdrückung von individueller Abweichung, das praesuppositionierte Prinzip der Moral. (Adorno wird aus diesem Gedanken Nietzsches seine Negative Dialektik entwickeln.) Dies zeigt sich nicht zuletzt in den philosophischen Kategorien, die ebenfalls im Zusammenhang mit "Kant" angesprochen wurden. Sie sind die Fachbegriffe, die den philosophischen Diskurs beherrschen. An die Betrachtung der Kategorien, mit Hilfe derer ein Gegenstand "angesprochen" wird, muss sich eine allgemeinere Betrachtung der Begriffe überhaupt anschliessen. 3.2.

Begriff und Kategorie

Die erfinderische Kraft, welche nach Nietzsche Begriffe und Kategorien erdichtet hat, arbeitete im Dienst der Bedürfnisse nach Sicherheit, nach Abkürzungsmitteln und nach schneller Verständlichkeit mit Hilfe von Zeichen und Klängen: "- es handelte sich nicht um metaphysische Wahrheiten, bei `Substanz` `Subjekt` `Objekt` `Sein` `Werden`. - Die Mächtigen sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben: und unter den Mächtigen sind es die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien geschaffen haben" (NF XII 307, 142). Die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Begriffsproduktion und ihre Anwendung liegen in der Macht. Das betrifft alle Bereiche der Vermittlung. Intersubjektivität bedeutet Macht über sich und den anderen; Wissenschaft und Philosophie bedeuten Macht der Menschen über sich und die Natur. Bei der


43 Ausbildung der Begriffe kommt immer eine "Fälschung des Vielartigen und Unzählbaren zum Gleichen, Ähnlichen, Abählbaren" (NF XI 506) zur Geltung. Nietzsche glaubt soweit gehen zu können, "dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen `das ist das`, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz" (GM V 260). Die Begriffe sind demnach nicht die "Mitgift aus irgendwelcher Wunder-Welt" (NF XI 487), sondern "Erbgut aus Zeiten, (...) wo es in den Köpfen sehr dunkel und anspruchslos zuging" (NF XI 486). Wird dann in solche Begriffe ein symbolischer Sinn hineingedichtet (GM V 265), so vollzieht sich ein Prozeß, den Nietzsche mit Zivilisation und Kultur benennen würde: die Entstehung des Glaubens "an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe" (NF XII 193), von denen man vergaß, wie sie zustande kamen bzw. kommen. So wähnte man das Produzierte wie Selbstentstanden vorgefunden zu haben (MA II 30). Werde nun lange genug an die "wahre Welt" der Begriffe geglaubt, so glaube man bald "an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeterna veritates" (ebd.). "Die `höchsten Begriffe`, das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe" (GD VI 76) werden nunmehr als die ersten, "ursprünglichen gesetzt: Gott, Substanz, Monade usw. Da sie nicht zusammengesetzt sein sollen, müssen sie `causa sui`" (ebd.) sein - und umgekehrt. Die Reihe der Begriffe bis zum "höchsten" der Begriffe zeigt sich schließlich am augenfälligsten in Kategorien wie "ens realissimum", "Urmonade", "primum mobile" und ähnlichen. Das Bild des "porphyrianischen Baumes" wäre ein anschauliches Modell für diese Hierarchiestruktur. Der Universalitätsanspruch des "principium legis" okkupiert als Soll-Norm den Bereich des Nicht-Allgemeinen und wirkt "durch" das Medium der begrifflichen Sprache als Wahrheit."Begriff" - als zusammenfassende Abstraktion von individuellen Besonderheiten fort zu Klassen, verweist auf eine seiner basalen Praesuppositionen: die Kompressibilität der "Elemente", das heißt: Vereinfachung und Verallgemeinerung im Dienste systematisierender Konstrukte von totalistischem Sinn auf Kosten der individuellen Ganzheit seiner Funktionsträger. Der Begriff ist demnach "eine Erfindung, der nichts ganz entspricht". Gilt die Begriffswelt als die der "Wahrheit", so wird einsichtig, dass man "damit eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte" bejaht (FW III 577). Bei Nietzsche ist diese JenseitsManie gebunden an die christliche Gesamtverfassung der abendländischen Kultur: "Der Idealist hat ganz wie der Priester alle grossen Begriffe in der Hand" (AC VI 17f). Als Struktur abstrakter Entitäten, läuft der Mechanismus des Vergessens des Zustandekommens der Begriffe "hinter der Hand" (AC VI 203) und darüber hinaus nur unter der Setzung, "dass kein Wort wörtlich genommen wird" (ebd.). Dies ist "die Vorbedingung, um überhaupt reden zu können" (ebd.). Der "Begriff" steht als Zeichen in Beziehung zu signifikanten Komplexen, dies nähert ihn über den Begriff "conceptus" dem Begriff des "Systems" (welches das Gegenteil zum Begriff "Leben" bedeuten kann, vgl. NF XII 450), als einem symmetrisierenden Sinnhorizont, der nur auf dem besagten Hintergrund des "Gleichsetzen des Nicht-Gleichen" (WL I 880) funktioniert. Dies gibt auch den Hintergrund der Funktionsweise praktischer Gesetze und Normen ab - Moral und Erkenntnis sind bei Nietzsche ja nicht weit voneinander entfernt -, die "sich an "Alle" wenden, weil sie (eben als Begriffe) generalisieren wo nicht generalisiert werden darf" (JGB V 118) Mit dem Aufzeigen genealogischer Entwicklungsprozesse erst, wird die Möglichkeit geschaffen, im Sinne der "transzendentalen Dialektik" Kants, den Schein von ursprünglicher Allgemeinheit (und -verbindlichkeit) zu entlarven und ihn unter dem Kriterium der Nützlichkeit einem neuen Interpretationsraum zu öffnen. Die Frage nach der Nützlichkeit lässt sich nur mit Hilfe einer Antwort auf die Frage: für wen? beantworten. Antworten,die Religions- und Philosophiegeschichte betreffen, wurden bereits gegeben. Über dem System wacht das erste Gebot an's Individuum: "Du sollst nicht erkennen" (AC VI 227; FW III 582 f). So bilden die Begriffe "eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen (...) deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhang zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloß zufällig hintereinander folgen und ablösen" (GM V 314). So fordert Nietzsche eine "semiotisch" (GM V 317) betriebene Analyse und Interpretation. Obwohl sich Nietzsche der Auffassung Kants anschließt, "irgend eine Metaphysik ist immer in der Welt gewesen, und wird auch wohl ferner (...) darin anzutreffen sein" 1, geht es ihm darum das Zustandekommen von Bedeutung zu klären. In diesem Sinn ist der obige Begriff des Zusammenhangs zu verstehen, denn: "Ein einzelnes Urtheil ist niemals "wahr", niemals Erkenntniß, erst im Zusammenhang, in der Beziehung von vielen Urtheilen ergiebt sich eine Bürgschaft" (NF XII 265). Diese Wendung Nietzsches, die sich gegen Kant richten mag, besagt, dass wir Bedeutungen, von denen wir Wahrheit behaupten, in einem Kontext erfahren, der für die Beurteilung einzelner Urteile notwendig ist. Diese Logik des Zusammenhangs haben wir bereits im Kapitel zu Nietzsches Subjektbegriff im Kontext des Willens zur Macht angesprochen. Es gibt nach Nietzsche im Bereich des "Sinns" und der "Bedeutung" "nichts Isoliertes: das Kleinste trägt das Ganze" (NF XII 316).

Exkurs: Saussures Sprachbegriff Die rekonstruierten Vorlesungen Saussures bilden eine der Grundlagen des Strukturalismus und seiner Gegenbewegungen. Im folgenden seien sie kurz in Erinnerung gerufen: 1

Kant: KrV B XXXI


44 Saussure unterscheidet in den "Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft" drei Dimensionen der Sprache, von denen insbesondere die letztere von Bedeutung ist: (1) Der Begriff "Langage" bezeichnet die virtuelle Gesamtheit aller Elemente und Elementekombinationen innerhalb einer Sprache.2 (2) Der Begriff "Parole" bezeichnet eine je individuell aktualisierte Teilmenge Aktualisierung der Langage. Aufgrund eines angeborenen "psycho-physischen Mechanismus'" vermögen menschliche Individuen die Elemente der Langage in individueller "Kombination" 3 anzuordnen. So umgreift der Begriff "Error: Reference source not found das wirkliche Sprechen mit all seinen individuellen Zufälligkeiten, das als solches nicht Objekt einer Wissenschaft werden kann"4. (3) Gemeinsam ist all den möglichen individuellen Kombinationen das Code-System, innerhalb dessen diese formuliert werden.5 Diesen Begriff der Sprache als System nennt Saussure "Langue", das eigentliche Objekt der Sprachwissenschaft, bestimmte mit Hilfe von Regeln beschreibbare, zulässige Lautkombinationen gehören beispielsweise zu diesem System, das von dem "Individuum in passiver Weise einregistriert" 6 und empfangen aufgezeichnet wird. Sprachliche Verständigung vollzieht nach Saussure generell auf der Ebene solcher Zeichen, die durch "kollektive Übereinstimmung anerkannt sind" 7. Diese Zeichen setzen sich aus Elementen zweier Mengen zusammen (1.) dem Lautbild bzw. dem Signifikanten ("signifiant") und (2.) der damit assoziierten Vorstellung, dem Signifikat ("signifié"). Saussure betrachtet die Seite der Signifikate (Bedeutungen, Begriffe) gegenüber den Signifikanten als autonomes Ganzes.8 Die Mengen aktualisierter Signifikanten und die Menge aktualisierter Signifikate bilden zwei voneinander unabhängige Reihen aus. Die Signifikat-Reihe, dies betont Saussure ausdrücklich, darf dabei nicht mit einem Referenzobjekt verwechselt werden; sie betrifft allein die Serie der Vorstellungen, die bei den Sprachteilnehmern vermittelt über eine Signifikanten-Reihe hervorgerufen werden kann. Signifikanten ihrerseits setzen sich generell aus Lauten, spezifisch aus Phonemen, zusammen. Nach Saussure sind nun einzig die Phoneme und ihre Verknüpfungsregeln sprachwissenschaftlich signifikant. Die Phoneme (z. B. die gesprochene Buchstabenverknüpfung des Wortes HUND) sind vom bloßen Laut, der "mündlichen Sprechtätigkeit" 9 im allgemeinen (z. B. der Imitation des Hundegebells) und dem dem Signifikanten entsprechenden, komplementären, psychischen Eindruck (die Vorstellung eines *Hundes) zu unterscheiden.10 Ein Phonem als Objekt der Sprachwissenschaft ist dergestalt "die Summe der akustischen Eindrücke und der Artikulationsbewegungen, der gehörten Einheit und der gesprochenen Einheit, wobei eine die andere bedingt: es ist schon eine komplexe Einheit, welche in jeder der beiden Reihen wurzelt" 11. Der Begriff des Zeichens bei Saussure impliziert zu gleichen Teilen Elemente aus den Mengen der Signifikanten und der Signifikate. 12 Die fixierte Verbindung beider Mengen bzw. Reihen unterliegt der Konvention und ist insofern "beliebig" 13. Beliebig, d. h. für Saussure "unmotiviert" 14: Bezeichnendes und Bezeichnetes haben "in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit" 15. Saussure geht nicht so weit, zu behaupten, die Kette der Signifikanten erzeuge die Bedeutung; sie ruft sie nur hervor. Das Referenzobjekt spielt für Saussure, insofern sich über dessen Realität oder Irrealität keine wissenschaftlich verbindliche Aussage treffen lässt (z. B. über das Referenzobjekt des Phonemkette GOTT), vernachlässigt Saussure bei seinen Untersuchungen den Bereich der im folgenden Schaubild rechts von der Barriere B auftaucht. Diese Barriere stellt für die Sprachwissenschaft ein unüberwindliches Hindernis dar. Über die Barriere B und das Verhältnis von Signifikant- und Signifikat-Reihen allerdings lässt sich wissenschjaftlich urteilen. A B Signifikant ³ Signifikat ³ Referenzobjekt Bezeichnendes -³-> Bedeutung -³-> Bezeichnetes16 ³ ³

Saussure: 9f Saussure: 16f 4 Simon: *SP 198 5 Saussure: 16f 6 Saussure: 16 7 Saussure: 18 8 Saussure: 136 9 Saussure: 77 10 Saussure: 77 11 Saussure: 46 12 Saussure: 78 13 Saussure: 79 14 Saussure: 80 15 Saussure: 80 16 Saussure: 136, 78 2 3


45 Die Vermittlung intensionaler Gehalte ("Tatsachen") im intersubjektiven Bereich (GF 122) ereignet sich innerhalb eines "linearen"17 Kontinuums, das sich aus distinkten Elementen bildet. 18 Das selbst zusammengesetzte Zeichen tritt zu allen anderen Zeichen in ein Oppositionsverhältnis. 19 (Dies gilt für Phoneme, Laute, Vorstellungen und Lautbilder gleichermaßen. 20) Auf dem Hintergrund dieser Integrität des Zeichens lässt sich der "Wert" 21 eines jeden elementaren Zeichens bestimmen, bzw. seine Position innerhalb der Struktur der aktuellen Reihen. Eine Struktur besteht dergestalt aus einer spezifisch angeordneten Reihe von Positionen (den aus der Gesamtmenge aller möglichen Elemente aktualisierten Elementen). Innerhalb einer Struktur kann ein auf eine finite Teilmenge begrenztes Reservoir von Elementen nach konventionell festgelegten und damit invarianten Regeln Relationen und Verknüpfungen eingehen. Strukturen sind - wie grammatische Regeln - völlig unabhängig von ihrer Aktualisierung und dieser übergeordnet. 22 Eine Grundvoraussetzung der Überlegungen Saussures liegt darin, dass das Sprachsystem wird von den Subjekten in passiver Weise empfangen und aufgenommen wird. Nietzsche würde diesen basalen Prozeß als "Einverseelung" bezeichnen, oder als "Einmagazinierung" oder "Einrubrizierung" und zumindest einen Akzent hätte er die Gelegenheit gehabt, auf Saussures Unternehmen kritisch zu reagieren - auf diese mehr oder weniger stillschweigende Voraussetzung gelegt. Mit Nietzsche würde man auf dem Hintergrund dessen Programms der Genealogie fragen müssen, welche phylogenetischen Voraussetzungen notwendig sind, damit dieser Empfangs- und Aufnahmepozeß überhaupt stattfinden kann. Auf dem Hintergrund des Begriffsregisters der GENEALOGIE DER MORAL kann dies nur ein gewalttätiger Zusammenhang sein, der sich aus dem Wechselspiel von Befehl und Gehorsam/Strafe herausgebildet hat und nunmehr wie automatisch funktioniert. In der Konsequenz würde dies bedeuten, dass allen scheinbar friedfertigen kommunikativen Handlungen ein Gewaltmoment implizit ist. Über das Befehl/Gehorsam-Modell hinausgehend impliziert sprachliches Handeln einen kommunikativen Zwang durch die reine Masse der Sprachteilnehmer. Das Individuum ist allein nicht in der Lage, die Werte, von denen die Bedeutungen abhängen, festzustellen. Es ist den "Gesetzen" der Mitteilbarkeit zufolge immer eingebunden in ein Kollektiv, innerhalb dessen es sich sprachlich betätigen muss. Eine abweichende Sprachhandlung jenseits einer bloßen Spezifikation allgemeiner Muster würde, weil sie nicht verstanden würde, pathologisiert. Die von generellen Strukturen abweichende Sprachhandlung würde unter den Begriff des Deliriums fallen. Es gibt aber auch grundsätzliche Parallellen zwischen Saussures und Nietzsches Auffassung von Sprache. Saussure zufolge stellen die Werte als Signifikanten bloß eine Form und keine Substanz, im Sinne eines im metaphysischen Raumes existierenden Bedeutungsaprioris, dar. Der Signifikant verfügt über kein jenseits seiner selbst liegendes Ansich, sondern er bestimmt sich aus einer Position innerhalb einer Struktur von Relationen dieser Bezeichnungen für einander. Genau darin bestand die von Nietzsche in W AHRHEIT UND LÜGE ausgeführte Kritik an der offiziellen Auffassung von Sprache in seiner Zeit. Es gibt aber eine weitere, interessante Parallele zwischen Nietzsches und Saussures Ausführungen, die über die Theorien über Sprache hinausgeht, und in der Ähnlichkeit der Beschreibung des Lebendigen bei Nietzsche und der Beschreibung der Sprache bei Saussure liegt. Beide Male handelt es sich um Strukturen, die sich auf einem nicht näher bestimmten Prozeß oder "Strom" abtragen. Bei Nietzsche ist dies evidenterweise der Strom der Macht oder des Willens. Aber auch Saussure schreibt dunkel über diese Ebene, die er chaotischnatürlichen Strom des Denkens nennt: "Das Denken, das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzisieren; es findet also weder eine Verstofflichung der Gedanken, noch eine Vergeistigung der Laute statt"23. Die Funktion des Exkurses besteht natürlich nicht darin, irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und Saussure (und schließlich auch Freud) herbeiinterpretieren. Mir geht es im vorliegenden Themenfeld nur um jene gewisse Analogie der Beschreibungen, die ausreicht, beide gleichermaßen auf das Motiv, um das es hier geht, anzuwenden. Das Motiv, das hier diskutiert wird, ist das Verhältnis von Form (Bezeichnungsebene) und Inhalt (Bedeutungsebene), soweit man diese trennen kann. Schreibt man über eine Form als Bedingung möglicher Inhalte, so folgt daraus zunächst eine "prinzipiale" Äquivalenz von Inhalten, also bestimmten einzelnen Perspektiven, die im einzelnen nur jeweisl eine Interpretation unter vielen möglichen sind. Bedeutungsgeneration vollzieht sich nach dem Muster der Formstruktur dadurch, dass ein zunächst Bedeutungsloser Strom sich quantifiziert in signifikante Begrenzungen, die die Allheit zur Vielheit werden lassen und hierarchisch ordnen. Zum ersten ist anzumerken, dass dieser Prozeß nicht "tatsächlich" eingesehen werden kann. Wir handeln immer schon sprachlich, wenn wir über Sprache nachdenken, so lässt sich Sprache Saussure: 79 Saussure: 125 19 Saussure: 136 20 Saussure: 124, 136 ua. 21 Saussure: 131ff 22 Saussure: 143 23 Saussure: 134) 17 18


46 nicht von außen, in ihrer Entstehungsgeschichte, betrachten. Daraus folgt zum zweiten, dass es hier nur um eine Hypothese geht, wie es vielleicht sein könnte. "Form" ist hier nicht traditionell zu verstehen, im Sinne des göttlichen 'Vater-Geist'-Prinzips im Ausgang des klassischen und mittelalterlichen, religiösen Denkens. Sie ist weder die "Harmonie"., die den Zusammenhalt der Dinge gewährleistet, noch als Prinzip das, was die "Materie" in Raum und Zeit erst ermöglicht. Der Begriff "Form" dient hier dazu, die einzelnen Interpretationsperspektiven der Inhaltsebene, hinsichtlich ihres möglicherweise absoluten Wahrheitsanspruchs, zu relativieren und zu neutralisieren. Der Inhaltsebene kommt damit keine intelligible Priorität zu, die es zuliesse, eine mögliche Interpretation gegen eine andere auszuspielen. "Form" bezeichnet in diesem Sinne das, was "ewig wiederkehrt" in allen möglichen Interpretationen, insofern diese sich, um anerkannt werden zu können, allgemein darstellen müssen; sie unterliegen den Kriterien von "Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit". Der Begriff "Anerkennung" kann hier nicht meinen, dass eine Interpretation dann erst so etwas wie Gültigkeit hat, wenn sie diesen Kriterien, denen sie gehorchen soll, auch tatsächlich entspricht. Dies würde bedeuten, den Begriff "Form" zur "Norm" zu erheben. Er meint nur, dass "Anerkennung" des Besonderen und Anderen dann erst sich vollziehen wird, wenn das Andere als andere mögliche Interpretation erkannt wird. In ihrer Ganzheit des Andersseins unterliegt sie dann jenen Kriterien: das Andere wird als Einheit im Zusammenhang mit anderen verständlich. Die Formstruktur "besteht" aus Formquanten. Diese Quanten, als signifikante, mögliche Bedeutungsträger sind distinktiv unterschieden und als Einzelelemente polyvalent oppositional von einander abgesetzt. (Innerhalb der Sprache lassen sich, wie die strukturale Linguistik zeigen konnte, solche signifikantiven Strukturmuster nachweisen. Die signifikantiven Quanten wären hier die Phoneme. Der Bedeutungsunterschied von "Tasche" und "Tische" käme demnach durch die Verschiedenheit der im deutschen Sprachbereich gültigen Phoneme ausgemacht. Die nicht aktualisierten Phoneme spielen dabei auch eine Rolle. Sie wirken auf die aktualisierten dadurch in absentia ein, dass ihre Wirklichkeit im augenblicklichen Vollzug ausgespart bleibt, und sie nur als Andeutung in die gemeinte Bedeutung einfließen können). Die Bedeutungsebene einzelner Zeichen ist, so verstanden, nur in Abhängigkeit von der Signifikantenebene denkbar. Nietzsche schreibt in dieser Weise vom Verhältnis der Moral als praktische Gewalt (Inskription), zu einzelnen bestimmten Ge- und Verboten, als Einzelbedeutungen. Das Bewußtsein, das sich der Inskriptionen der Genealogie der Moral verdankt, ist im Stande, sich verschiedene Bedeutungen vorzuführen. (Dies geschieht, wenn man sich verständlich machen will, in der Sprache, wenn man als Subjekt unter Subjekten anerkannt sein will, im Bereich des Rechts). Insofern also eine Homologie der "Bedeutungskonstitution" auf allen Ebenen verläuft, kann behauptet werden: alle Bewußtseinstätigkeit, als semantische, folgt den Gesetzen der Sprache (sie stellt das Zeichensystem des Diskurses vor). Aber auch alle anderen "Organe", die Vorstellungen, ob klar oder dunkel, vorführen - dazu gehören die Affekte und Leidenschaften - folgen, als Bedeutungsvorstellungen, solchen Gesetzen. Deshalb sind wir, Nietzsche zufolge, auch immer eingebunden in moralische Handlungsweisen. Die sprachlichen Signifikanten, in ihrer Struktur, prägen die Begriffe, die Quanten des Willens zur Macht, in ihrer Struktur, prägen die Affekte der lebenden Organismen. Die Moral, als bestimmte Soll-Norm greift in den Prozeß der Strukturierung ein - mit Hilfe der Erzeugung von Furcht durch Gewalt. (Die Furcht steht, als a) existentiale Struktur des menschlichen Daseins (Angst), mit b) der Gewalt in einem Wechselverhältnis, da die Genealogie der Moral parallel zu der des menschlichen "Daseins" verläuft). Indem die Moral angibt, wie etwas zu sein, und wie es nicht zu sein habe, ermöglicht sie verstehbare Textgewebe - ein Begriff, der auch auf den Körper des Menschen angewandt werden kann (wie ich bereits ausgeführt habe). Es kann nun gefolgert werden, dass die Moral, als das Gebot: "So soll es sein", der eigentlichen individuellen Anarchie der Bedeutungen entgegensteht. Die Vielheit der Bedeutungen und des Bezeichenbaren korrespondiert mit der NichtFestgestelltheit des menschlichen Subjekts, wird aber ebenso wie das "Subjekt", im Bezug auf einen "jenseitigen" Maßstab, vereinheitet. Dieses, allem wechselnden, werdenden Geschehen entgegengestellte "Jenseits" allen Wandels ermöglicht es erst, die Welt als "So-sein-sollende" zu begreifen. Aus dem Wandel selbst lassen sich jedenfalls Einzelinterpretationen nicht als "die" eine Wahrheit ableiten. Sie sind immer "nur" Teil eines umgreifenderen Geschehens, das, wenn es semantisch erfasst werden will, sich als unendlich hinsichtlich seiner möglichen Deutungen und Interpretationen erweist. Die Frage, die sich anschließt ist die, nach den Bedingungen und Darstellungsweisen der Bedeutungsgeneration und der Genealogie des Wissens. Dazu muss noch einmal Saussure zitiert werden. Seine Gedanken interessieren in Bezug auf Bedeutungsgeneration im Blickwinkel Nietzsches nur peripher. Sie waren nützlich, das von Bezeichnendem und Bezeichnetem, als ein beliebiges, zu erklären. Saussures Interesse ist aber, im Gegensatz zu Nietzsche, das, Sprache unter synchronischer Betrachtung wissenschaftlich zugänglich zu machen, indem sie als System mit möglichst wenigen, aber für die wissenschaftliche Linguistik um so bedeutungsvolleren Regeln, beschrieben wird. Die mit diesem Szientismus verbundene Verdinglichung sprachlicher Vollzugsmodi und die daraus folgende, am Begriff des Gesetzes orientierte Unterdrückung individueller Sprechtätigkeit (parole) und individueller Merkmale sprachlicher Zeichen, lässt klar werden, dass sich nur bestimmte termini dieser Theorie zur Explikation des vorliegenden Themas eignen. Dass deren Relevanz sich bei Saussure auf andere Geltungsbereiche erstreckt, bleibt unbestritten, wird hier aber trotzdem den Versuch, diese als willkommenes Instrument zur Einsicht in Problemfelder nutzbar zu machen, nicht hindern. In diesem Sinn sei hier darauf hingewiesen, dass Saussure zwei Ebenen der Bedeutungsgeneration unterscheidet: Kriterium der Möglichkeit sinnvollen, sprachlichen Handelns ist der (bei Saussure:) binären Struktur des Zeichens zufolge das Vorhandensein von mindestens


47 zwei Zeichen, deren jeweiliger Wert sich aus dem oppositionalen Verhältnis ergibt, das sie innerhalb der zirkulativen Bewegung des sprachlichen Kontinuums darstellen. Exkurs: Metapher und Metonymie Die erste Linie, der entlang sich Werte konstituieren ist die horizontale "syntagmatische" Kette, die die kombinatorische Aneinanderreihung der verschiedenen grammatisch zulässigen Satzsegmente bezeichnet. Die zweite Kette ist die "paradigmatische", sie bezeichnet die selektive Komponente sprachlicher Strukturen. "Die syntagmatische oder Anreihungsbeziehung besteht in praesentia: sie beruht auf zwei oder mehreren in einer bestehenden Reihe neben einander vorhandenen Gliedern. Im Gegensatz dazu verbindet die assoziative Beziehung Glieder in absentia in einer möglichen Gedächtnisreihe" 24. paradigmatische Achse

° °

° Bekehrung könnte für Jugendliche wünschenswert sein ° Unterricht sollte für Menschen entbehrlich sein ° Ausbildung muss für Personen brauchbar sein ° Belehrung kann für das Leben witzig sein ° ° Syntagmatische Achse ------------> ° Die Gesamtheit der hier im Anschluß an den Zeichen-Begriff dargestellten "Phänomene" hat Gültigkeit nur in Bezug auf den synchronischen Bereich der "langue". Dieses sprachwissenschaftliche Konstrukt bezeichnet alle sprachlichen "Entitäten", ohne den diachronischen Aspekt zu berücksichtigen. Sie "befaßt sich mit logischen und psychologischen Verhältnissen, welche zwischen gleichzeitigen Gliedern, die ein System bilden, bestehen - so wie sie von einem und demselben KollektivBewußtsein wahrgenommen werden" 25. Das synchronische Konstrukt "langue" ist "ein System von bloßen Werten" 26, die das Individuum für sich allein "festzusetzen" nicht fähig ist27. Diese "konventionellen Werte" 28, fallen nicht mit dem materialen Träger zusammen, sie stellen "eine Form, keine Substanz"29 dar. Die Oppositionalität der syntagmatischen und der paradigmatischen Ebene wurde der strukturalistischen und poststrukturalistischen Methodendiskussion aufgegriffen und fruchtbar gemacht. Jakobson brachte sie mit Motiven bei Freud in Verbindung. Diese Motive machen bei Freud die Grundbegriffe der Traumdeutung und der zentralen Mechanismen des UnBewußten (im Rahmen der ökonomischen Hypothese der Metapsychologie) aus. Der syntagmatischen Kette wird, als metonymische, die "Symbolbildung", der paradigmatischen Kette wird, als metaphorische, die "Verschiebung" und die "Verdichtung" gegenübergestellt. Jaques Lacan bezeichnet, in Bezug auf Jakobson, die syntagmatische Reihe als Verschiebung, die paradigmatische als Metapher bzw. Verdichtung. "Metapher" und Metonymie" bezeichnen bei Lacan zwei Ebenen der Signifikantenanordnung, die bei der Generation von "Bedeutung" zur Geltung kommen. Diese sind "die Effekte der Substitution und der Verbindung"30. Der Metaphereffekt verdankt sich also der möglichen Ersetzbarkeit eines Begriffes durch einen anderen31; der Metonymieeffekt verdankt sich der möglichen Kombinierbarkeit eines Begriffes mit einem anderen.32 "Substituierbarkeit" ist hier nicht im Sinne der "analytischen Philosophie" gemeint, welches voraussetzt, dass es einen Bezug eines Wortes auf eine allgemein akzeptierte Bedeutung gäbe, der durch ein ähnliches Wort auf ähnliche Weise wiedergegeben werden kann. Dort muss mögliche Gleichheit von Bedeutungen (innerhalb einer oder mehrerer Sprachen) angenommen werden - sonst können sich Worte nicht ersetzen. Hier liegt der Sachverhalt eher umgekehrt. Die Substituierbarkeit als Metaphorizität gründet sich darauf, dass es eben keine wiederholbaren Äußerungen gibt, die mittels Regeln feststellbar wären. So erweist sich der metaphorische Effekt als gegründet auf die "Polyvalenz der Bedeutungen" 33. Der Begriff "Substituierbarkeit" meint hier, dass der Kontext der Signifikation immer "nur" einen Versuch darstellt, etwas deutlich zu machen. Nach Lacan wird der metonymische Effekt möglich "dadurch, dass es keine Bedeutung Saussure: 148, vgl. 147 Saussure: 119 26 Saussure: 132 27 Saussure: 135 28 ebd. 141 29 ebd. 134 30 Lacan: Sch2 173 31 Lacan: Sch1 212 32 ebd. 213 33 Lacan: Sem1 336 24 25


48 gibt, die nicht auf eine andere Bedeutung verwiese" 34. Das heißt, Bedeutungen ergeben sich immer erst in einem und durch einen Kontext. Kein Wort hat für sich allein eine verständliche Bedeutung, es bedarf einer genaueren Bestimmung der Abgrenzung und Eingrenzung mit Hilfe anderer Worte. Die mangelnde Fixiertheit der Bedeutungen wird nun, im Anschluß an die zwei Ebenen des Sinnes, besonders hinsichtlich historischer Gesichtspunkte auffällig. Wir interpretieren Texte anders als man es vor zweihundert Jahren tat. Wir sehen den Text aus dieser Zeit in einem anderen Zusammenhang deshalb, weil wir einerseits Begriffe (Betrachtungsaspekte) hinzugelernt, andererseits Begriffe verlernt haben. Die "macrokontextuale" Ganzheit des Verstehenshorizontes ist in einem dauernden Wandel begriffen und niemals mit sich identisch. Die Explikationen der metonymischen und metaphorischen Ebene bei Lacan folgen, indirekt vermittelt durch Freud, Gedanken Nietzsches, der die "Geschichte" der Dinge als "Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen" beschreibt, deren Bedeutungen polyvalent und flüssig sind (GM2 V 313f) Angewandt aus Sprache heißt es weiter: innerhalb einer Kette nur im "Zusammenhange" habe ein Urteil Gültigkeit, keinesfalls allein (NF XII 265, 104). In diesem Sinne kann gesagt werden: "Bedeutungen (...) sind und bleiben in ihrem individuellen Sinn aufgeladen durch eine unausgesetzte Berührung mit den sie entstellenden Umgebungen" 35. Diese Aussagen beschwören nicht einen ""Zusammenhang" jenseits des von uns gesehenen Wechsels" (NF XII 189), weisen aber darauf hin, dass wir als erkennende Subjekte eingebunden sind in die Geschichtlichkeit als "ganze Kette" (NF XII 342). Diese Kette erscheint uns als "Vielheit von Eigenschaften, von Relationen", die "anthropomorphisch gefärbt" sind (NF VII 494). Die metonymische Ebene bezeichnet eine "horizontale" Linie, die als ein Aspekt eines allgemeinen Sinnverstehens (Interpretation eines signifikanten Zusammenhangs) gedeutet werden kann. Auf dieser "horizontalen" (syntagmatischen) Ebene spielt sich Bedeutungskonstitutionin der Verbindung von Zeichen, innerhalb eines Kontextes, ab. Auf der metaphorischen, 'vertikalen' (paradigmatischen) Ebene wird die Bedeutungs'konstitution'in absentia beschrieben, d.h. ein präsenter Signifikant steht für einen Begriff (Bedeutung) in Abhebung auf andere, oppositionale, aber absente Signifikanten, die abweichen von dem, was der präsente Signifikant bezeichnet 36. Der Begriff "Abweichen" bringt auch hier die irreduzible, wirkliche Individualität des einzelnen Begriffs zum Ausdruck. Wenngleich die Abweichung bei Saussure und im Strukturalismus von dem Regelsystem her begriffen wird, Oppositionalität sich also aus dem konventional definierten Normenkontext im Rahmen der "langue" ergibt, so gilt es die Überlegungen Nietzsches dahingehend zu verstehen, dass nicht dem "Element" eines Systems die Bedeutung zugesprochen wird, sondern der immer unvermittelbaren besonderen Einzelheit eines Begriffs (o.ä. hinsichtlich seiner Intention, seiner vermeintlichen Intension, Extension, seiner Verwendung eben seiner Position im Kontext, die sich mit jeder Rezeption verändern kann). Der Begriff "Sinnverstehen" verweist mit seinen zwei Linien auf zwei Perspektivebenen. Die metaphorische Ebene kann als die "klassische" bezeichnet werden, insofern sich mit ihr ein bestimmtes Verhältnis von Quantenrelationen (Signifikantenrelationen) und Interpretationen (Signifikaten) verbindet. So kann man schreiben, dass sich das vorneuzeitliche Methodendenken der Philosophie in diesem Rahmen bewegte, obwohl es ihn nicht reflektierte. Nietzsche weist mit dem Begriff "Metapher" darauf hin, was "Wahrheit" zunächst einmal ist, nämlich: "Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationenen, die, poetisch, und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volk fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind" (WL I 880f). Wenn es heißt, dass Metaphern "sinnlich kraftlos" werden können, so setzt dies einen Zusammenhang zwischen Sprache und Kraft vorraus. In einer Darstellung der "älteren griechischen Philosophen" schreibt Nietzsche auch von der "Kraft zur Metapher" (NF VII 479). Die "Metapher" steht als sinnliche Kraft im direkten Bezug zum Willen zur Macht als das Leben selbst. Das Motiv der "Bacchusdienste" (DW I 556), das Hegel im Anschluß an Hamann anführt, und das für Nietzsche das Leben selbst beschreibt, ist gleichbedeutend mit den Kulten des Dionysos (ebd.). Es liegt auf der Hand, die "metaphorische" Ebene des Sinnverstehens mit dem dionysischen "Prinzip" in Verbindung zu bringen. In der "Geburt der Tragödie" setzt Nietzsche diesem das apollinische Prinzip entgegen (GT I pass.). Es wird nun zu untersuchen sein, ob es zulässig ist, diesem die "metonymische" Ebene des Sinnverstehens zuzuordnen. Das Apollinische stellt die Dinge nach dem principium individuationis vor. Als der Gott der Kunst ist er, Apollon, auch der Gott des Scheins; er steht für die Abbildbarkeit der Dinge, wie sie möglicherweise wirklich sind, in der Welt. Als solche Abbilder entsprechen sie niemals adäquat der urbildlichen Idee, sie bleiben Darstellungen, die sich der menschlichen Wahrnehmung verdanken, die Dinge deshalb nicht so vorstellen, wie sie vielleicht "an sich" sein mögen. So verstanden ist er der Repräsentant der Vorstellungswelt, der "Gestalt" (DW I 553), also des Bewußtseins. Er beschreibt die "Architektur", die Linearität des Horizontes (Melodie) dessen, was Dionysos in vertikaler Line (Harmonie) "symbolisiert" (DW I 565; vgl. GT I §2) Dionysos ist, im Gegensatz zu Apollon, der Vertreter der Willenswelt (DW I 560f). Er ist nicht der Gott der, in syntagmatischen Ketten verfahrenden Verstandeswelt, die auch die Lacan: Sch1 213 Frank: KH 245 36 vgl. Lacan: Sch2 40ff 34 35


49 Wissenschaften umgreift. Das Dionysische verweist in die Abgründe des menschlichen Daseins, es ist das "Prinzip" der Lust und des Rausches. Aber auch dieses kann nichts so erkennbar werden lassen, wie es möglicherweise wirklich ist. Das apollinische "Prinzip" versuchte das Dasein durch die Vorstellung der individuellen Einzelelemente zu deuten, jenes verfährt gerade in der entgegengesetzten Weise. Seine Ganzheit ist nicht die des Zusammenspiels verschiedener "Elemente", sondern die, des wollüstigen, einfachen Daseins, das seine Ganzheit im momentanen Vollzug erfährt. Dieser Vollzug nimmt das ganze Dasein des Menschen in Anspruch, ohne jedoch irgendein "Wesen" vorzuführen. Aristoteles, der nicht explizit zwischen Metapher und Metonymie unterscheidet, schreibt in der "Poetik" 37, dass es im Bereich des Metaphorischen "Fremdes" und "Zugehörigkeit" gäbe38. Wenn Fremdheit und Zugehörigkeit unterschieden werden sollen, wird ein Maßstab benötigt, der die Unterscheidung der Prädikate, auf die man den Begriff bezieht, in diesem zugehörige und nichtzugehörige, möglich macht. Dieser Maßstab gewährleistet die Identifizierung von Ähnlichem, denn "Metapher heißt etwas als gleich behandeln, was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat" (NF VII 498). Einsichtiger wird dieser Sachverhalt, wenn die These Lausbergs hinzuzieht, die Metapher gelte im religiösen Weltverständnis als real, 39 da die Bedeutungsebene als das Ursprüngliche genommen werde, zu dem die einzelnen Wörter (als Bilder) in einem Abbildungsverhältnis ständen. So verstanden ist also der Maßstab auf der Bedeutungsebene zu suchen. Die signifikanten Wörter repräsentieren nur das Bedeutete (- in diesem Sinne wird die Ebene dieses Sinnverstehens als repräsentationsmetaphysische gelten). Der Mangel an Methodenreflexion der vorneuzeitlichen bis klassischen Philosophie äußert sich nun darin, dass eine Bedeutung als "die" wahre genommen wird, der sich alle Zeichen zu unterwerfen haben. Im repräsentationsmetaphysischen Denken haben demnach die Bedeutungen (Ideen, Universalien etc.) einen intelligiblen vor der Quantenanordnung, die jenen unterworfen sein soll. Wenn so "Wahrheit" verstanden wird, besteht "Freiheit" nur in der "Willensautonomie", sich diesem Begriff unterzuordnen oder nicht. Unter diesem - zugegebenermaßen engen Blickwinkel - rückt das Denken Kants an die Freiheit nicht weit von dem Denken Aristoteles an die Wahrheit ab. Es wird hier schon deutlich, dass die Repräsentationsmetaphysik sich auf Moral berufen muss, auf die Feststellung: "so soll es sein", die dann begründet werden kann (Moral z. B. religiös, konventional, normal). Da die "semantische Lücke", die zwischen den einzelnen Begriffen klafft, nur mit Hilfe eines tertium comperationis überbrückt werden kann, kann man die Metapher als "Sprung-Tropus"40 bezeichnen. Diese Assoziations-Sprünge werden im nichtrepräsentatiosmetaphysischen Denken zunehmend erschwert. Die Metonymie gehört in der klassischen Rhetorik zu den "Grenzverschiebungs-Tropen"41. Es fehlt hier der gemeinsame Nenner der Begriffe, der ihre Heterogenität kompensieren könnte. Nach Kant vollzieht sich dieses wissenschaftliche Erkennen in synthetischen Urteilen a priori. In analytischen Urteilen wird ein Ding dadurch definiert, dass sein "Wesen" genannt wird, d. h. dadurch, dass ein Prädikat angegeben wird, das im Begriff des Subjekts schon enthalten ist. In synthetischen Urteilen werden die "Eigenschaften" eines Begriffs als "Relationen" genannt (NF VII 495). Nun gilt: "Relationen können nie das Wesen sein, sondern nur die Folgen des Wesens. Das synthetische Urtheil beschreibt ein Ding nach seinen Folgen, d. h. eine Metonymie. Also im Wesen des synthetischen Urtheils liegt eine Metonymie" (ebd.). Die Metonymie ist demnach ein Relationsbegriff, der ein Ding "nach seinen Folgen", also mit Hilfe des Aufzählens von Merkmalen, die einen Begriffsinhalt erweitern, beschreibt. Das "Wesen" der metonymischen Relation liegt also darin, mit "dem" Wesen eines Dinges oder Sachverhaltes nichts gemein zu haben. Die klassische Sinnverstehensebene der Metapher, die auch als Analogiedenken bezeichnet werden kann (Lacan wendet sich mit seinem Begriff von Metaphorizität gegen das Analogiedenken dies kann hier nicht erläutert werden), konnte behaupten, das "Wesen" des Göttlichen sei Gerechtigkeit. Insofern ein Fürst als von Gott eingesetzt betrachtet wird, kann dann auch von ihm behauptet werden, er sei gerecht - denn er partizipiere wesentlich am Göttlichen. Wenn dieses "Wesen" aber fragwürdig wird, so lässt sich ein Fürst nicht mehr quasi-analytisch erkennend begreifen. Es sind nun Merkmale aufzuzählen, die seine Position in der "Ordnung der Dinge" ausmachen. Das sind empirische Fakten, also Erfahrungen, über die diskutiert werden kann. Anmerkung zur Poetik: Nietzsche interessiert sich in erster Linie für das produktive Moment der Sprache, wenn auch unter historischen Gesichtspunkten. Dies findet auch in seinen etymologischen Untersuchungen seinen Ausdruck (vgl. GM V 261, 289; NF XI 613, 643 u.a.). Dieses produktiv-historische Moment macht sich vor allem bei Fragen der Semantik geltend. Daraus folgt die Orientierung Nietzsches an Poesie und Poetik. Sie ist also keine schlichte Freude am Reimen, sie ist als Befassung mit Dichtung und Erdichtung eine Theorie der sprachlichen Produktion. Insofern allein kommt der Dichtung eine exponierte Stellung im Werk Nietzsches zu. Eine Poetik als philosophische Wissenschaft hätte zu beschreiben, "was man überhaupt mit der Sprache kann" (EH VI 304). Sie beschriebe die "Poesie" als "Ausdruck" der "Leidenschaft" (ebd.) in dem Sinn, den Nietzsche dem Begriff "Leidenschaft" verleiht, und mit dem wir uns noch zu befassen haben. Aristoteles: P 1457b Aristoteles: ebd. 39 Lausberg: §225.1ff 40 Lausberg: §226ff 41 Lausberg: §184ff 37 38


50 Im indirekten Bezug auf Kant schreibt Nietzsche in einer frühen Schrift, dass dem Menschen die "Gesetzmäßigkeit der Natur" als "Relationsbegriff" begegnete. Darinnen "verweisen alle diese Relationen immer nur wieder aufeinander und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen daran bekannt. Alles Wunderbare aber (...) liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellungen. Diese aber produciren wir in uns" (WL I 885). Nach Nietzsche unterliegt auch der "Sprachbildner" dieser basalen poetischen Funktion, deren "`Formen`" (WL I 876) zwar fest, deren Bedeutungen aber immer wandelbare Interpretationen sind. Auch ein Dichter "bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue" (WL I 879). Auch diese Überlegung ist nicht ursprungstheoretisch zu verstehen, sie ähnelt dem späteren Motiv der "Umschriften des psychischen Apparates" bei Freud 42, und will, als Interpretation, nur die Bedingung der Möglichkeit einer sich verabsolutierenden Deutung, als "die" Wahrheit, in Frage stellen. Diese Bedingung ist gleichbedeutend mit der Annahme, die Bedeutungen seien vorgegeben und mittels sprachlicher Vollzugsgrößen abbildend zu bezeichnen. "Die" Wahrheit beruht immer auf einer moralischen Praesupposition, die "fixirt, was von nun an `Wahrheit` sein soll" (WL I 877). Diese kann auf "Conventionen" (ebd.) gründen, die das Individuelle unterdrücken. Eine der Konventionen mit den weitreichensten Folgen ist die "Gesetzgebung der Sprache" (ebd.), also die Grammatik, die Verständlichkeit, Mitteilbarkeit und Zusammenhang gewährleistet (NF XI 2 136, 139). *?*In einer "primären Bearbeitung" werden latente Traumgedanken in einen manifesten Trauminhalt übersetzt. Die Traumarbeit bedient sich dabei der verfremdenden Mittel "Verdichtung, Verschiebung und Rücksicht auf Darstellbarkeit" 43 im Zusammenspiel mit einer spezifischen Symbolbildung. "Sie stammen wahrscheinlich aus früheren Phasen der Sprachentwicklung" 44. Es gibt eine weitere "sekundäre Bearbeitung" des Trauminhalts" 45, welche "das Vorbild für alle (...) Systembildungen ist. Vergessen wir auch nicht, dass es vom Stadium der Systembildung an zweierlei Ableitungen für jeden vom Bewußtsein beurteilten Akt gibt, die systematische und die reale, aber unBewußte"46. Ausgangspunkt dieser Systemation ist ein Kompensationsmechanismus des "Ich", der in folgender Weise begründet wird. Freud beschreibt sie in einer Formulierung, die wieder an Kant erinnert, als "intellektuelle Funktion in uns"47. Diese Funktion "fordert Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit von jedem Material der Wahrnehmung und des Denkens, dessen sie sich bemächtigt" 48. Die "Realitätsprüfung" setzt nun ihrerseits ein, wenn diese "Objekte verlorengegangen sind, die einst reale Befriedigung gebracht hatten"49; der Zweck jener besteht darin, die Suche nach diesen zu leiten. Hier tritt die dritte und letzte Hauptumschrift des psychischen Gesamts auf den Plan. Es ist diejenige, die "an Wortvorstellungen gebunden"50 ist und von Freud als "unserem offiziellen Ich entsprechend" 51 bezeichnet wird. Da das Verlorene als "Ding" nicht wieder aufgefunden werden kann, muss es später von "Wortvorstellungen" 52 ersetzt werden, die freilich ihrerseits die Unauffindbarkeit dadurch bedingen, dass die "Bedeutung" eines Wortes nicht für die Anwesenheit eines Objektes steht. Nach Freud "geht das Denken in Systemen vor sich, die von den ursprünglichen Wahrnehmungsresten (...) weit entfernt sind" 53. Nicht Wirklichkeit, sondern "solche erst durch Worte faßbar gewordenen Relationen sind ein Hauptbestandteil unserer Denkvorgänge" 54. Das Ich ist mit Hilfe der Sprache im Stande, sich die absurdesten Erinnerungen zu verschaffen. Nicht zuletzt dieser Tatbestand gibt Nietzsche Anlaß, das Ich als ein mit "Constanz" wirkendes "fälschendes Medium" (NF XII 189) zu anzusehen.

$* (s.o. S. 152) Freud (*): GW XVII 89 44 Freud (*): GW XVII 89 45 Freud (*): GW IX 82 46 Freud (*): GW IX 82 47 Freud (*): AP 100 48 Freud (*): AP 100 49 Freud (*): GW XIV 14 50 Freud (*): AP 152 51 Freud (*): ebd. 52 Freud (*): GW IX 105f 53 Freud (*): GW X 300f 54 Freud (*): GW X 302 42 43


51 Exkurs „Sekundärprozess“ Ich "eine intellektuelle Funktion in uns"55. Sie "fordert Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit von jedem Material der Wahrnehmung und des Denkens, dessen sie sich bemächtigt" 56. Die "Realitätsprüfung" setzt ein, "wenn Objekte verlorengegangen sind, die einst reale Befriedigung gebracht hatten"57; der Zweck jener besteht darin, die Suche nach diesen zu leiten. Da das Verlorene als "Ding" nicht wieder aufgefunden werden kann, wird es von "Wortvorstellungen" 58 ersetzt, die ihrerseits die Unauffindbarkeit dadurch bedingen, dass die "Bedeutung" eines Wortes nicht für die Anwesenheit eines Referenzobjektes steht. Die dritte und letzte Hauptumschrift des psychischen Gesamts ist die, die "an Wortvorstellungen gebunden" 59 ist und von Freud als "unserem offiziellen Ich entsprechend" 60 bezeichnet wird. Distinkte Elemente sind mehrfach oppositional in diesem relationalen Gefüge strukturiert. "Solche erst durch Worte faßbar gewordenen Relationen sind ein Hauptbestandteil unserer Denkvorgänge" 61.

Freud (*): Freud (*): 57 Freud (*): 58 Freud (*): 59 Freud (*): 60 Freud (*): 61 Freud (*): 55 56

AP 100 AP 100 GW XIV 14 GW IX 105f AP 152 AP 152 ??AP 302)


52

4. Kritik der reflexiven Subjektivität Von der Tradition her liegen die Bewußtseinsakt und die Grade der Vollkommenheit des Denkens dicht beieinander. Bei Descartes hängt die Differenz von klarer und unvollkommener und die Differenz von deutlicher und ver worrener Perzeption ab vom Grad der "Aufmerksamkeit" des Geistes (im Gegensatz von Sinnen, Einbildungskraft oder Sprache). Bei Leibniz treten die eingeborenen Ideen als potentielle Erkenntnisse und Wahrheiten mittels "Aufmerksamkeit" ans Licht. Es gibt diese nur im Rahmen des reinen Verstandes mit Abweisung aller empirischen Sensationen, die nur verworren sein können. Die "Vollkommenheit" der Seele mißt sich an ihren "deutlichen Perzeptionen". Kant entmaterialisiert den Begriff der Vollkommenheit dahingehend, dass es bei ihm nicht das Sein des Seienden zu ergründen gibt, sondern nur noch der Form genüge getan wird (Gesetz an Stelle des Guten). Im Gegensatz zur Aufmerksamkeit, die das Allgemeine sucht, schreibt er von der Abstraktion, die das Besondere vernachlässigt. Nietzsche glaubt, dass bei den wesentlichen Denkern vor ihm die Vorstellung, "an der Vollkommenheit habe das Bewußtsein zu partizipieren", vorgeherrscht hat. Die Physiologen und Philosophen glaubten nach Nietzsche an die Parallelität des Wachstums von "Helligkeit des Bewußtseins und seinem Wert" (NF XII 210). Das "vereinfachteste Denken" wird hier für das genommen, das den Willen auslöst (ebd.). Bei Spinoza sind die "wahrsten" Gedanken zugleich die einfachen, besonderen. Leibniz bestimmt ebenfalls das Wahre als das Einfache, dieses ist bei ihm jedoch i.G.z. Spinoza gleichzeitig das Allgemeine. Kant bestimmt das Allgemeine in der praktischen Vernunft als den verpflichtenden Imperativ. Nietzsche wendet sich in erster Linie gegen Kant, wenn er schreibt, es sei in Irrtum, zu glauben, die "Präcision des Handelns" erfolge mittels Vorsorge des souverainen Willens (NF XII 210). Der Mensch kann nichts von sich aus tun oder sollen - die Illusion, es doch zu können, ist sein "ewiger grammatikalischer Schnitzer", in Wirklichkeit nämlich wird er "gethan" (M III 15), die Annahme der kantianischen. Der "`Geist`" ist also vielmehr ein "Symptom der relativen Unvollkommenheit des Organismus(NF IX 191). Was aber zeigt sich dem Bewußtsein als Bewußtseinsleistung? Nietzsche erzählt immer kleine Geschichten an solchen Stellen und schreibt: "Zwecke? Willen? - Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwecke und des Willens und an das Reich der Zufälle; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fällt darin, ohne dass Jemand sagen könnte wesshalb? wozu? - Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der grossen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meistens so kennen, dass es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schönen Zweck todtschlägt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabel: wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft todt getreten, - aber trotz alledem möchten wir nicht ohne die schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Unthiere kommen oft, wenn uns das Leben im Spinnennetze der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist und geben eine erhabene Diversion, dadurch dass ihre Hand einmal das ganze Netz zerreisst, - Lernen wir also, weil es hohe Zeit dazu ist: in unserm vermeintlichen Sonderreiche der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen! Und unsere Zwecke und unsere Vernunft sind keine Zwerge, sondern Riesen! Und unsere eigenen Netze werden durch uns selber ebenso oft und plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine! Und es ist nicht Alles Zweck, was so genannt wird, undnoch weniger Alles Wille, was Wille heisst! Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: Vielleicht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes als eben solche Würfe - und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äusserste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, dass wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht! - Um über diess Vielleicht hinauszukommen, müsste man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selbergewürfelt und gewettet haben." (M III §130 120ff; vgl. NF IX 6 287 §355) Das Modell des Zieles und das der Pflicht haben eins gemein - sie gründen sich auf einen "Soll-Zustand" der Welt und setzen das Bewußtsein als maßgebende Instanz voraus. Um Absicht, Zweck und Folgen einer Handlung koordinieren zu können, ist es notwendig, sich diese erst Bewußt zu machen, bevor mittels des ebenfalls Bewußten Willensentscheides die angestrebte Lösung "herbeigeführt" wird. Nach Nietzsche sind Absicht, freier Wille, Zwecke; Zustand und Folgen aber schon Begriffe innerhalb des Bewußten Denkens. Sie existieren nicht an sich als "Dienstherren" des Bewußtseins, denen gegenüber dieses nur den Charakter eines Instrumentes hätte. Gäbe es das Bewußtsein nicht, gäbe es auch keine Zwecke (vgl. NF XII 247f). Nach Nietzsche ist die Bewußte Absicht oder der Wille keinesfalls der Ausgangspunkt von Handlungakten. Das Bewußte ist eher eine "Enderscheinung" (NF XIII 329) und der "Wille" bezeichnet in diesem Sinn nur eine "Art individueller Reaktion" auf eine Affektquantität, die sich als Reize bemerkbar macht (AC VI 180). Daraus folgt, dass nur die wenigsten "Handlungen" nach "Zwecken" verstanden werden (M III 117). - Dass das Bewußtsein sich trotzdem zum diskriminierenden Instrument aufschwingt, verursacht und bedeutet gleichzeitig seine hohe "Irrtumsfähigkeit" (NF XIII 40). Mit dem "Bewußtwerden" verschwand die instiktive "Gewissheit des Handelns"


53 (NF XIII 326f). Im Zuge des introjezierten "Instinctes der Freiheit" (GM2 V 322) konnte der Mensch sich nicht mehr auf seine "regulierenden unbewusst-sicherführenden Triebe" verlassen (GM2 V 322). Er war nun auf sein "Bewußtsein", sein "ärmlichstes und fehlgreifenstes Organ" reduziert, auf sein "Denken, Schliessen, Berechnen, Combinieren von Ursachen und Wirkungen" (ebd.). "Das Bewußtsein liefert nur den kleinsten Teil aller Bewegung und Veränderung des Leibes und aller möglichen Wahrnehmungen (`Elektrizität`, `Luft`, Tonlagen, magnetische Wellen ...)"; das oberflächliche "Bewußte" phantasiert nur aus "Bildern", "Gedanken" und aus diesen "Zeichen", die "Worte".( NF X 653ff) Der Bewußtseinsakt spielt sich da ab, wo "andere" Augen lesen und "andere" Ohren hören als die des Bewußtseins (JGB V 189). "Alles Denken, = Urtheilen, = Wahrnehmen als Vergleichen" ist eine Art "Einverleibung" oder "Einrubrizierung" (NF XII 209). Dieser Akt selber, die "geistige Einmagazinierung" bleibt unBewußt (NF XIII 67f; vgl. GM2 V 291). "Das, was Bewußt wird", steht unter Folgebeziehungen, die dem Menschen gänzlich unklar bleiben (ebd). Die wirklichen Motive einer Handlung bleiben - man liest hier etwas, das man von Freud her kennt - unBewußt. Der cartesianische Rationalismus beispielsweise glaubt, es könnten in einem Bewußten Denkakt alle Motive, die uns zur Handlung bewegen, zumindest abgeschätzt werden. Tatsächlich jedoch werden in dem "überlegenden Bewußtsein" nur die möglichen "Folgen" verschiedener Taten und ihrer Begleitumstände - soweit möglich - vorgeführt (M III 118ff). Bestenfalls liegt so verstanden im "Bilde" der Folgen einer bestimmten Handlung ein "Motiv" vor (ebd). Dass aber diese Rechnung nicht aufgeht, wird schon am Moment der Zufallseinplanung offensichtlich. Deshalb lässt sich der "Kampf der Motive" (ebd.) so nicht erklären. Im eigentlichen Augenblick der Handlung macht sich noch eine ganz andere Gattung Motive geltend ("Gewohnheit", "Anstoß", "Bequemlichkeit", "Erregung der Phantasie", "Körperliches", "Laune", "Sprung irgendeines Affectes"), eine Gattung, die größtenteils unbekannt bleibt und nicht Bewußt bedacht werden kann. In diesen Reihen aber spielt sich der eigentliche "Kampf der Motive: - etwas für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes" (ebd.) ab. Der Mensch rechnet allerdings nur die Vorgänge, die "bewusst" sind, nicht die "unbewussten" zur "Vorbereitung einer That" (ebd.). - Der souveraine Wille ist aber nur eine Art der "Vergleichung" von Handlungsformen - ein für die und in der Geschichte der Moral verhängsnivoller Irrtum (ebd.) insofern, als sich die Moral allein auf diesen stützt und mit Hilfe dessen sich erhält. Die Differenz zu Freud ist in der viel radikalern Befassung mit dem zu sehen, was Freud die Nicht-Repräsentanz des Triebes nennt, die er aber in seinen ersten Schriften versucht, zumindest quantitativ zu bestimmen. Nietzsches Befassung mit dem Willen zur Macht als Leben, versucht gerade diese Nicht-Repräsentanz zu umgehen. Indem er das Leben als Wille zur Macht bestimmt, bestimmt er auch den Willensbegriff genauer, als es beispielsweise bei Schopenhauer der Fall ist. Macht meint ja zunächst nichts anders als Aufbau von Organisation, Erhalt und Steigerung der Organisation. Es sind genau die Prinzipien, die der späte Freud unter dem Begriff "Lebenstrieb" oder "Eros" abhandelt. Das spricht nicht immer für den guten, alten Eros, aber das ist ein anderes Problem. Das "Bewusstsein" nun stellt phylogenealogisch eine sehr späte Entwicklungsstufe dar (NF XII 294), die Welt der Sinne bezeichnet Nietzsche als "ursprünglicher und vielfältiger" (ebd.). Die "Irrthumsfähigkeit" von der die Rede war, gründet in der Eingebundenheit des Bewußtseins in diese Strukturzusammenhänge und die Unmöglichkeit der Kontrolle durch "Instincte" (NF XIII 40). Die Steigerung der quantitativen Intensitäten als "Steigerung der Macht" erklärt die "Nützlichkeit des Bewußtseins" für das Leben, wobei es nach Nietzsche eine isolierte "Steigerung des Bewußtseins" als solche nicht gibt (NF XIII 37; vgl. JGB V 207f). Das heißt: Das Bewußtsein als solches ist selbst eine Steigerung der Machtorganisation, die sich freilich von dieser ihrer Organisation abzukoppeln im Stande ist. Die Sinne besitzen den Primat, insofern sich ihre Funktion bereits einmal festgestellt hatte. Die "Gewohnheiten" der Sinne (perceptio) erzeugen deshalb erst die "Empfindung" (sensatio), die ihrerseits die Grundlage der "Urteile und "Erkenntnisse" (cognito)", bildet (M III 110). Ein Mensch kann nichts wahrnehmen (empfinden - beurteilen - erkennen) außer den Wahrnehmungen, wofür er eingerichtet ist (ebd.). Nietzsche folgt hier Kant, der der Auffassung ist dass die Sinne nicht die Verworrenheit von Vorstellungen bedingen. Diese ist eine Angelegenheit des Verstandes, jene nehmen nur das Mannigfaltige auf. Deshalb betrügen und verwirren sie nicht. Kant hatte sich gegen die Behauptungen Descartes, Spinozas und Leibniz, die den Sinnen den Beitrag zur Erkenntnis absprachen, da sie betrügen würden. Der menschliche "Intellect" (NF XII 248) ist es, der "imaginirt" (NF XIII 459) und zwar mehr als er eigentlich in die Tat umsetzen kann (M III 116f). Deshalb kann er sich mit seinen "vorgestellten Vorstellungen" im Reich der "Freiheit" (ebd.), des Willens und des Handelns wähnen (wobei de facto gilt "`ich will` heißt immer `wenn ich kann`", NF IX 225). "Der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht: das bewusstwerdende Denken ist nur der kleinste Teil davon" (FW III 592), denn nur dieses funktioniert in "Worten", d. h. "Mittheilungszeichen" (ebd.). Wenn das Bewußtsein ein Spätes ist, muss es als Gewordenes seine Geschichte haben. Diese Geschichte hatte Nietzsche in der "Genealogie der Moral" beschrieben. Jene "andere" Gattung Motive und das von "aktiver Vergeßlichkeit" gekennzeichnete Agieren besitzen hinsichtlich der Handlung das Primat vor dem Bewußtsein, welches infolge eines diskontinuierlichen "Sprungs" (GM2 V 323). Nietzsche hatte diesen Sprung, diese "Urverdrängung" mit der Intersubjektivität in Zusammenhang gebracht. Um nämlich zwischen Herrschenden und Beherrschten einen Kommunikationsablauf zu sichern, ist es nötig, dass ein Zeichensystem zu erfinden, mittels dessen sie sich verständigen können. Dass die "Feinheit und Stärke des Bewusstseins" abhängig ist von der "Mittheilungs-Fähigkeit" (FW III 590ff), ist die These Nietzsches. Diese ist


54 ihrerseits abhängig von der aus den Intersubjektivitätsverhältnissen resultierenden "Mittheilungsbedürftigkeit" (ebd.) unter deren Druck sie sich entwickelt hat. Das "Bewusstsein" entstammt so dem Verhältnis von "Befehlenden und Gehorchenden" (ebd.), es ist ein Organ, dass in erster Linie die Hörenden ausbilden mussten, um sich vor Übergriffen zu schützen. "Das bewusst werdende Denken" verfährt nun mit Hilfe dieser intersubjektiven Verfahrenstechnik, mit "Worten", d.h. "Mittheilungszeichen (ebd.); deshalb kann Nietzsche sagen: "Die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (nicht die Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand" (ebd.). Funktionen der Mitteilung sind in diesem Zusammenhang Blick, Druck, Gebärde, das "Bewusstwerden" der Sinneseindrücke überhaupt, inklusive er Zeichenschaffung als aktive Komponente. Sie haben sich im sozialen Umfeld entwickelt und stell(t)en ein "Verbindungsnetz" zwischen den Menschen dar, dessen der Einzelne nicht bedurft hätte. In seiner Wurzel der Mitteilbarkeit gehört das "Bewusstsein" also mehr zur phylogenealogischen als zur ontogenealogischen Entwicklungslinie des Menschen. (Deshalb ist es problematisch, dieses Denken, das für den Verkehr der Menschen untereinander gemacht ist, auf das Verstehen des Vereinzelten (Individuellen) anwenden zu wollen, denn es bezeichnet ja gerade das Nichtindividuelle, Allgemeine. Festzuhalten bleibt hier, dass das "Bewußtsein" als "Mittel der Mittheilbarkeit" in "Hinsicht auf Verkehrsinteressen" entwickelt wurde (NF XIII 67f). Wenn Nietzsche nun mit einem konstruktivistischen Akzent fortfährt, dass das Bewußtsein zwar unsere "Relation mit der `Außenwelt`", erstelle, diese aber aktiv mitproduziere(ebd), so bedeutet dies, dass das epistemologische Problem von Realität und Irrealität sich nach den Parametern der Intersubjektivität ausrichtet. Wenn sich darüber hinausgehend der Komplex aus Bewußtsein und Gewissen aber dem gehorchenden Hören verdankt, so unterliegt auch das SelbstBewußtsein diesen Bedingungen. Sowohl das Realitätsproblem wie auch das Problem des SelbstBewußtseins markieren nur Randbereiche - nach innen hin und nach außen - des Intersubjektivitätsverhältnisses. Dieses ist keine harmlose Dissens- oder Konsensgeschichte, wobei keiner leugnen kann, dass es Formen des Konsenses gibt, sondern schlicht eine Struktur der Gewalt. Für das SelbstBewußtsein, das dem Selbst angehört, folgt daraus, dass es in seiner Eigenschaft als "devotes Organ", das Selbst als Hörendes ausweist. Im selbstBewußten Akt gehorcht das Selbst. Es gehorcht einem Text, einer Syntax, die (um Lacan mit zu erinneren:) so strukturiert ist, wie die Sprache. Es ist eine Homogenisierungsmaschine. Das Bewußtsein bringt bloß "Regelmässigkeit" in die Wahrnehmungen (NF XIII 301f) und zwar in dem Maße, in dem es Wiederkehrendes als Bekanntes erkennbar werden lässt. Die Folgebeziehungen, die dabei ins Bewußtsein treten, werden von diesem als Kausalitätsverhältnisse interpretiert, auf die "Geist, Vernunft, Logik usw.", die "in die Dinge (...), hinter die Dinge projeziert" werden, (auf)gebaut sind (NF XIII 67f). Diese "Regelmäßigkeit" ist hinwiederum verbunden mit dem Narzißmus, man könne etwas "berechnen" und sei fähig "vorherzuwissen" (NF IX 193). "Was als `Einheit` ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer complizirt" (NF XII 205). Es kann zwar geschehen, dass ein "regelmäßig" auftretender "Wille" im "Bewußtsein" als seine "Wirkung" ein "Machtgefühl" angedichtet bekommt (NF XIII 308), dass also eine scheinbare Stringenz des Willens als "Charakterstärke" und sogenannte "Prinzipientreue" ausgelegt wird. Doch ist dies eine bloße "Optik der Psychologie", die besagt, dass uns das nicht gehört, was wir nicht vorher als Wille im "Bewußtsein" hatten (ebd.). Tatsächlich "sehen" wir unserem "Wesen nur zu, auch unserem intellektuellen Wesen: alles Bewußtsein streift nur die Oberflächen" (NF IX 193). Das Bewußtsein ist ja etwas, das aus Gründen der Nützlichkeit "hinzugefügt" (NF XIII 329) ist. "Das Bewußtsein ist in so weit da, als Bewußtsein nützlich ist" (NF XII 108), d. h. die Wahrnehmungen allein, deren Bewußtwerdung dem Leben dienlich war, sind Bewußt geworden (ebd.). Diese Bewußt gewordenen Wahrnehmungen zeichnen sich im repräsentierenden Bewußtsein als regelmäßige Eindrücke aus (NF XIII 301f), die dadurch im Sinn der "Erhaltung" des Einzelnen, der Gattung und damit des Lebens in spezifischer Weise verwertbar wurden. Da der Grad des "Bewußtwerdens" von der besagten "Nützlichkeit" abhängt, ist die Perspektive des Bewußtseins nur eine (sehr) spezifische "Winkelperspektive", die keine "adäquaten" Erkenntnisse liefert (NF XIII 57). Dieser "Winkel" kann angesichts der realen "Vielheit des Geschehens innerhalb eines Organismus" (NF XIII 40f) keine Wahrheit im Sinne einer Entsprechung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand ausdrücken. "Die Forderung nach einer adäquaten Ausdrucksweise" wird insbesondere in diesem Sinn des Selbstverhältnisses absurd; "der Begriff `Wahrheit` ist widersinnig" (NF XIII 303). Dem Menschen wurde in der berichteten Weise durch sich selbst aufgegeben seine "Sinne in sich" zu kehren (AC VI 180). Dabei entwickelte jede Epoche der Moralgeschichte ihre eigenen memotechnischen Instrumente. Das durchgängige Motiv der Bewußtwerdung mittels Introjektion ist jedoch seitens der Menge die "Furcht" vor den Eroberern, den Einzelnen im allgemeinen (Individualität), überhaupt allem außenseitigem Fremden. "Wir wollen, dass es irgendwann einmal Nichts mehr zu fürchten gibt" (JGB V 123) lautet der "Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit" (ebd.). Das Mittel gegen die Furcht ist die Homogenisierung; nichts anderes meint Nietzsches Moral-Begriff als ein: So-soll-es-sein (NF XII 256). Ist erst alles gleich, kann nichts mehr bedrohlich erscheinen. Kernpunkt des SelbstBewußtseins ist also gerade die entropische Aussparung des Fremden, also des Körpers selber. Das SelbstBewußtsein nimmt demnach immer schon eine unzulässige Isolation von dem ihn erhaltenden Körper vor, an dem es faktisch permanent schmarotzt, und ohne den es gar nicht existierte. Kant schrieb in seiner Kritik des Reflexionsbegriffs des Leinbnizschen Rationalismus davon, dass uns das Innere (Materiale) des Menschen nicht bekannt sei. Er bestimmt "das Bewußtsein seiner selbst (Apperzeption)"


55 als die "einfache Vorstellung des Ich", die keinesfalls alles das zu Bewußtsein kommen lässt, was das Ich Konstituiert (KrV B 68). Diese Vorstellung ist nicht "unmittelbar selbsttätig", dies wäre eine unmögliche intellektuelle Anschauung. Das Subjekt nimmt sich nur wahr "nach der Art, sie es von innen affiziert wird, folglich, wie es sich erscheint, nicht wie es ist" (ebd.) Die Welt der Affekte ist für Kant eine individuelle, über die sich in philosophischer Hinsicht nicht viel aussagen lässt. Sie umgreift die Welt der Innerlichkeit des einzelnen, über die nach Kant die Psychologie zu handeln hat. Nietzsche beschreibt in einer zunächst Kant ähnlichen Weise all unsere Erkenntnis mit Hilfe des Begriffs "Relation". Weiterhin gilt auch für Nietzsche: "Bewußt werden wir uns nur eines Haufens von Affekten: und selbst die Sinneswahrnehmungen und Gedanken gehören unter diese Offenbarung der Affekte" (NF X 150). Daraus resultiert aber, dass die "innere Erfahrung" tritt erst unter bestimmten Bedingungen "ins Bewußtsein" tritt (NF XIII 460), nämlich "erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum versteht (ebd.). Es ist also eine immer "Übersetzung eines Zustandes in ihm bekanntere Zustände" (ebd.). Wenn die "Tatsachen" der "`inneren Welt`" betrachtet werden, wird insgeheim die zeitliche Abfolge von "Ursache" und "Wirkung" vertauscht (NF XIII 459). "Die Grundthatsache der `inneren Erfahrung` ist, dass die Ursache imaginiert wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist. Dasselbe gilt von der Abfolge der Gedanken ... wir suchen den Grund zu einem Gedanken, bevor er uns noch Bewußt ist: und dann tritt zuerst der Grund und dann dessen Folge ins Bewußtsein ..." (NF XIII 459) Dem Bewußtwerden geht also die Affektation von einem Machtquantum voraus, zu diesem Affekt wird eine Ursache gesucht. Wenn dann ein stimmiges Bild einer Gedankenkette entstanden ist - die in Wirklichkeit nur aus einer Folge von Reizen besteht - sieht es so aus, als seien die Gedanken fest im Bewußtsein (, wobei auch noch beiläufig die Gründe geliefert sind.). Für das Selbstbwußtsein folgt aus dem intersubjektiven Zwang, dass "Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, "sich selbst zu erkennen", doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein "Durchschnittliches" (FW III 592f). Das SelbstBewußtsein erkennt nur die "Möglichkeiten unserer Strukturverschiebung, nichts mehr" (NF IX 305). Die Wahrheiten der Moral: "`so soll gehandelt werden`", stellen als "Bewußtseins-Form" eine Autorität "höheren Wertes" vor, wenn sie "Ideal" genannt werden. Gleichzeitig stellt diese Aufstellung höherer "Werte" ein narzißtisches Moment vor: Es ist der Narzißmus des Gehorsams dort, wo der Mensch "nur Automat ist" (NF XIII 328). Um gehorchen zu können, musste die moralische Technik "einmagazinirt" werden (NF XIII 420). Das vergleichende Denken subsummiert fremde Eindrücke unter bekannte Parameter; es bezeichnet somit einen Prozeß des Angleichens von Sinneseindrücken. - Das Leben selber allerdings ist ein Begehren anders zu sein, "different" zu sein (JGB V 21). Deshalb kommt Nietzsche zu dem Schluß, dass das Bewußtsein lebensfeindlich sei. Im Gegensatz zur Teleologie des Sinns steht "das ganze Bewußte Leben, der Geist sammt der Seele, sammt dem Herzen, sammt der Güte, sammt der Tugend im "Dienst (...) möglichster Vervollkomnung der Mittel. (Ernährungs-Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktionen" (NF XIII 40). Diese Abhängigkeit des Bewußtseins, seine Spätzeitigkeit, bedingt auch seine Schwäche, es ist das "Organ", das am leichtesten "fehlt" (FW III 382f). Der Speicher der Einrubrikation ist das Gedächtnis, deren Elemente mittels Erinnerung reproduzierend vor das Bewußtsein gebracht werden können. "Die ganze "innere Erfahrung" beruht darauf, dass zu einer Erregung der Nerven-Centren eine Ursache gesucht und vorgestellt wird - und dass erst die gefundene Ursache ins Bewußtsein tritt: diese Ursache ist schlechterdings nicht adäquat der wirklichen Ursache, es ist ein Tasten auf Grund der ehemaligen "inneren Erfahrungen" - d. h. des Gedächtnisses" (NF XIII 459). Der platonische Diskurs - Nietzsche zufolge "Unfug" (NF XIII 289) - bestand auf einer mäeutischen Form der Wahrheitserkenntnis, die die Erfahrungen der Seele während ihrer Wiedergeburten erkennbar mache (vgl. NF XI 445). Nietzsche zufolge aber gilt, dass das "Wiedererkennen" (bei Leibniz die Voraussetung klarer und deutlicher Erkenntnisse) überhaupt icht in der Macht des Menschen steht (M III 117). Wenn anstelle der Möglichkeit des Wiedererkennens die "Vergesslichkeit" (GM2 V 291) das ontologische Primat erhält - und zwar nicht als "Vermögen" (M III ebd.) - dann wird einmal mehr deutlich, dass Bewußtsein und Gedächtnis einschließlich der Erinnerungsfähigkeit späte Entwicklungsstufen sind. AFFEKTE / LUST "Vorurtheile, auf denen die Sprache gebaut ist", sind zum Beispiel die Bedeutungen unserer Extremzustände "für die wir allein Bewusstsein und Worte" haben (M III 107f). Damit bezeichnen wir markante "Aus-brüche", die uns über die "spielenden niederen Grade" hinwegtäuschen. So "verkennen" wir uns in der "scheinbar deutchsten Buchstabenschrift unseres Selbst" (ebd.). Die Verwechslung der "Erklärung mit dem Text" (NF XIII 456) nennt Nietzsche einen "Mangel an Philologie" (NF XIII 460). "Einen Text als Text ablesen zu können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der "inneren Erfahrung", - vielleicht eine kaum mögliche ..." (ebd). "Lust- und Unlustgefühle" tauchen nun als Rahmen der "Affekte" auf, gleichsam als Prämien, insofern sie ein Ausdruck der Macht, niemals selbst "Sinn" und "Zweck" des Daseins (wie im Epikurismus und Hedonismus) sind (NF XIII 37, 34).


56

5. Kritik der genealogischen Subjektivität 5.1.

Kant und die Praxis

Bevor wir uns der Kritik Nietzsches an der Moral und dem, was "Moral" bedeutet, zuwenden, erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über seine Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie Kants. Nietzsche schreibt: "Die Transzendentalisten, welche finden, dass alle menschliche Erkenntniß, nicht den Wünschen ihres Herzens genugthut, vielmehr ihnen widerspricht und Schande macht, - sie setzen unschuldig eine Welt irgendwo an, welche dennoch ihren Wünschen entspricht, und die eben nicht unserer Erkenntniß (sich) zugänglich zeigt: diese Welt, meinen sie, sei die wahre Welt, im Verhältnis zu welcher unsere erkennbare Welt nur Täuschung ist" (NF XII 254; vgl. JGB V §5). In diesem Sinn verlangt Nietzsche "die Unterscheidung von einem `Wesen der Dinge` und einer Erscheinungswelt" (NF XII 241, 315), die sich bis Platon und Sokrates zurückverfolgen lässt, aufzuheben. "Schaffen wir das `Ding an sich` ab, und, mit ihm einen der unklarsten Begriffe, den der `Erscheinung`! Dieser ganze Gegensatz ist, wie jener ältere von `Materie und Geist`, als unbrauchbar bewiesen" (NF, XII 241). Ausgehend von der Frage, ob denn Erkenntnis überhaupt Erkenntnis von Erkenntnis bedeuten kann (M III 13; es gibt sie nach Nietzsche nicht - ua. NF XII 133, 188), wird es möglich, Kants Kritik der reinen Vernunft nur als Grundlegung seiner praktischen Vernunft zu interpretieren. Nietzsche zitiert aus der KrV, dass Kant "es als seine eigene `nicht so glänzende aber doch auch nicht verdienstlose` Aufgabe und Arbeit bezeichnet, `den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen`" (M III 14; NF XIII 43)1. Kant geht davon aus, dass auch in der Ethik von apriorischen Gesetzen der Vernunft gesprochen werden muss, die zu begründen er sich zur Aufgabe macht. 2 Es geht um die Bestimmung des Verhältnisses von "Gesetz" der Sittlichkeit und Neigung der Person im Zusammenhang der Freiheit. Alle "Gesetze der Freiheit" werden im Unterschied zu "Naturgesetzen moralisch" 3 genannt, dabei ergibt sich für den ethischen Bereich der "Moralität" die Ausschließlichkeit des Gesetzes "als Bestimmungsgrund" 4. Im Rahmen der Möglichkeit eines funktionsfähigen sozialen Systems, gilt als Bedingung der Wille zur Unterordnung des Einzelnen unter die Belange dieses Systems: "Das Wesentliche aller Bestimmung des Willens durchs sittliche Gesetz ist, dass er als freier Wille, mithin nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben und mit Abbruch aller Neigungen, sofern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten, bloß durch's Gesetz bestimmt werde"5. Da das Gesetz der Moral der aufs unmittelbare Gefühl gegründeten Neigung als Negativ entgegensteht, scheint dies der vielleicht erste Fall zu sein, der "aus Begriffen apriori das Verhältnis einer Erkenntnis (...) zum Gefühl der Lust oder Unlust" 6 bestimmbar macht. 7 Durch den Gegensatz zur Neigung kommt im Rahmen des erkenntnistheoretischen Apriorismus das Gesetz der Pflicht als kategorischer Imperativ zur Geltung, das sich wesentlich durch ein Sollen definiert, dem sich der "autonome, freie menschliche Wille" 8 zu substituieren hat.9 So kann Nietzsche Kant als einen Konstrukteur von "Maschinen Tugenden" (NF XII 459) bezeichnen. *"`Die angenehmen Gefühle` werden `von irgendeiner unfehlbaren Instanz aus` als schlechte gewertet, die `Pflicht an sich` richtet sich auf `alles, was unangenehm ist` ... Die machiale Existenzform als höchste Existenzform, sich selbst anbetend. Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffes `du sollst`" (NF XII 460). Die biblische "Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit" (AC VI 177) dieses Tugendbegriffs werden als "Hirngespinste" (ebd.) entlarvt. Wirkliche "Tugend" zu fordern kann nur heißen, "dass Jeder sich seine Tugend" (ebd.) selbst zu erfinden habe. Dieser perspektivische Tugendbegriff, der sich am Einzelnen im Gegensatz zur Masse orientiert, scheint mehr an der Wertekonstellation einer gegebenen Situation ausgerichtet zu sein. Die Begründung und Rechtfertigung ethisch interpretierbarer Handlungen vollzieht sich unter Berücksichtigung von "Maximen" als beurteilende Wertschätzungen von Handlungen (vgl. NF XI 170f). Den an der Masse orientierten Tugend-Begriff Kants, der als Pflicht zwar den einzelnen betrifft, aber nur als "die Menschheit in seiner Person" 10 (als vernünftiger Charakter, NF X 656) interpretiert Nietzsche als säkularisierte Theologie. Auch der Begriff des "Homo noumenon" 11 scheint ein Fragment des Seelenbegriffs zu sein, als Versuch, die repräsentationsmetaphysische Begründbarkeit von Instanzen trotz eines kränkelnden Gottes aufrechtzuerhalten. Jener Begriff definiert sich als "Persönlichkeit" vgl. Kant: KrV B375f Kant: GMS 392, 388, 410f 3 Kant: MdS 214 4 ebd. 5 Kant: KpV 128 6 Kant: KpV 128 7 vgl. Kant: GMS 411 8 vgl. Kant: KpV §5 9 ebd. §4 Anm.; GMS 412f 10 Kant: MdS 418 11 Kant: MdS 418 1 2


57 mit der Begabung "innerer Freiheit" und der Fähigkeit der "Verpflichtung" 12 technokratischer Reinheit gegen die Natur. Es ist das Gewissen "jeder Mensch (als ein moralisches Wesen) hat es ursprünglich in sich". 13 Kant definiert es als ein "Vermögen"14, was für Nietzsche Ausgangspunkt einer umfänglichen Ketzerei wird: "der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant (...) ein moralisches Vermögen im Menschen hinzuentdeckte: - denn damals waren die Deutschen noch moralisch und ganz und gar noch nicht `real-politisch`. - Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie; alle jungen Theologen des Tübinger Stiftes gingen als bald in die Büsche, alle suchten nach `Vermögen`. Und was fand man nicht alles - in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies, hineinsang, damals, als man `finden` und `erfinden` noch nicht auseinander zu halten wusste" (JGB V 24f; vgl. NF XI 445, 604). Nietzsche versteht sein Denken im Gegensatz zu dem Kants als historisches (NF XI 442). So wendet er zunächst gegen Kant und die Philosophiegeschichte ein, dass all die Irrtümer solcher Art auf einen "Mangel an historischem Sinn" zurückzuführen sind (MA II 4). Nietzsche seinerseits meint mit "historisch" - ein Schlagwort seiner Zeit - aber nicht "Historismus", also ein Abbilden aller Phänomene auf einen geschichtlichen Zusammenhang oder gar tieferen Sinn innerhalb der Geschichte hin. Nietzsche interpretiert die Motivationssysteme menschlichen Handelns nicht als ursprüngliche Phänomene, aber auch nicht historistisch, sondern genealogisch (vgl. NF XII 442f). Es gilt im folgenden zu untersuchen, in welchem genealogischen Verhältnis Erkenntnis, Bewußtsein und Moral stehen. Dabei gilt: "Erkenntniß" ist auch nur eine "`Auslegung`" (NF XII 104); und die moralischen Verhältnisse sind demnach nur eine "moralische Ausdeutung von Phänomenen" (JGB V 92). Erkenntnis, Bewußtsein und Moral sind Interpretamente und haben als solche eine Geschichte. Im Kontext des okzidentalen Philosophieren nun vermengen sich der erkenntnistheoretische und der moralische Gegenstand des Denkens. Am Anfang der gesellschaftlichen "Staatsformen" könnte nach Nietzsche die bekannte Periode der "blonden Raubthiere" (GM V 324) gestanden haben. Es waren die Barbaren, die Rousseau und Kant schon als Sozialurform vermuten, und die sich durch ihre physische Überlegenheit Schwächeren gegenüber auszeichneten (JGB V 206), also eigentlich auch schon eine Herde, die Nietzsche ansonsten so suspekt ist. Mittels eines "instinktiven Formenschaffens" (GM V 325) machten sich diese "Bestien" zu Herrschern (GM V 275). (An keiner Stelle schreibt Nietzsche übrigens, dass er sich für die Zukunft wünsche, der Staat möge wieder so strukturiert sein. Auch hier greift eine faschistische Interpretation nicht das, was Nietzsche meint. Ein Zurück gibt es für Nietzsche nicht; vgl. M. III 16). Das anarchische Nebeneinander der "niederen" Stämme und Rassen wird kanalisiert, die Geburt des Staates aus dem Geiste der Gewalt nimmt hier ihren Ausgang. Es wird den Unterworfenen eine Art "Funktion" in einer sehr frühen Form "aufgeprägt". Der Prozeß vollzieht sich nun nicht allmählich, es gibt hier keine Möglichkeit der Adaption für den "Rohstoff von Volk und Halbthier", nur einen "Sprung" (GM V 324) zu dieser neuen "gesellschaftlichen" Organisationsform. Das heißt, dass der Staat nicht mit den Rousseauschen "Verträgen", sondern mit einem Verhältnis von Herr und Sklave (GM V 324; JGB V 205) beginnt. Es gibt hier für Nietzsche keinen tieferen Sinn der Gewalt, der auf eine Einheit hin definiert, die Möglichkeit einer Interpretation zuließe (GM V 325). Es ist für die Unterworfenen so wenig wie für die Unterwerfenden einsehbar, um was es bei der Ausübung von GEwalt eigentlich geht und was in einer späteren Form Vergehen und was Reaktion darauf ist. Solche Kategorien gibt es in diesem Stadium nicht, es gibt nur das "Verhängniss" (GM V 320). Man schlug sich halt, oder man ließ es bleiben; man schlug sich tot oder unterließ es; und die Phantasie des Schreckens mag sich ausmalen, dass "Mann" ein einsames Weibchen, das "Mann" an der Tränke fand, einfach mitnahm - oder nicht. Auf dieser frühen Stufe geschieht alles zufällig. Es gibt keine Herrschenden und Beherrschten, höchstens Sieger und Unterlegene. Die Funktionsdynamik dieses Systems bestimmen sich aus dem "Wille zur Macht" (GM V 326) heraus bzw. dem "Bedürfnis nach Grausamkeit" (GM V 301), das sich bei den Überlegenen, die zu Herrschenden werden, stärker ausgeprägt, als bei denen, die sich in die Rolle der Unterworfenen fügen müssen, und die vielmehr notgedrungen von einer "aktiven Vergesslichkeit" (GM V 291), als "einer Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung" (GM V 292) geleitet werden. Bei den Herrschenden tritt dieses Moment insofern tendenziell in den Hintergrund als zur Aufrechterhaltung des Kampfes eher Wachheit denn "vis inertia" notwendig ist. Man tut etwas, und hat Glück oder "Pech" (GM V 321); man wird erwischt, vielleicht auch ohne dass man etwas getan hat. Erst auf einer weiteren Stufe der Kommunikationsentwicklung vollzieht sich alles soziale Geschehen unter dem Gesetz der Tauschprärogative (GM V 306), nach der die Herrschenden das Leiden des Unterlegenen bemessen. - Georges Bataille wird aus diesem Gedanken seine "notion de dépense" entwickeln (vgl. dazu FW III 591). - Es entsteht so der erste "Kanon" der Moral: "Alles kann abgezahlt werden" (GM V 306). Dieses Tauschverhältis nach der Ökonomie der Schuldner-Gläubiger-Relation wird den Unterworfenen langsam Bewußt. - So Bewußt, dass eine späte Stufe dieser Entwicklung das Gemeinwesen selber als Gläubiger zeigen wird (GM V 307). Mit einem zunehmenden Maß an Bewußtwerdung verschiebt sich das das pure Verhängnis der Gewalt in die Richtung eines vorsätzlichen "Gedächtnismachens". Damit beginnt die eigentliche moralische Kant: MdS 418 Kant: MdS 399 14 Kant: KpV 3 12 13


58 Stufe der Handlungsauslegung: Man begann die Tat von der "Absicht", also von der Willensmodalität her (JGB V 51) zu interpretieren. Der "Wille zur Macht" beginnt in seiner Eigenschaft als "Instinkt der Freiheit" (GM V 326) nunmehr introspektiv als "Selbstbeherrschung" zu wirken. Nietzsche zufolge sind damit die Grundlagen der Entstehung des Bewußtseins vorbereitet. Auf der Grundlage wachsender Selbstbeherrschung und der Reflexion der intendierten Berechenbarmachung (der Strafe) kann sich die Genese der menschlichen Vermögen bis hin zur "Vernunft" (GM V 297) entwickeln. Das Aufkommen des Strafwesens vollzieht sich demnach innerhalb des Tauschverhältnisses zwischen Gläubiger und Schädiger/Schuldner auf der Grundlage des "Äquivalents" von "Schaden und Schmerz" (GM V 298). Anstelle des erlittenen Schadens klagt der Geschädigte ein proportionales Maß an Leiden ein - er nimmt so "an einem Herrenrechte teil" (GM V 300). Im Rahmen dieser Ökonomie ist diese Entwicklung gleichbedeutend mit dem Aufkommen eines differentiellen sozialen Wertesystem: Es sind die Grundlagen dafür geschaffen, "ein Wesen als ein `Untersich` verachten und misshandeln zu dürfen" (GM V 300). (Der so entstandene Tauschwertcharakter des Leidens inauguriert seinerseits das Moment des "Festlichen" an der Grausamkeit, vgl. NF XII 335.) War "Schuld" anfänglich noch der Anteil, den der "Schuldner" am Tausch hatte (GM V 305 f), so ist sie später das wesentliche Konstituens des "Schuldigen" (GM V 320). Die Bedeutung der Strafe als sozialer Ritus ist hier: "das Gefühl der Schuld im Schuldigen aufzuwecken" (GM V 318), ein Gefühl also dafür entstehen zu lassen, gegen die Herrschaft des Gesetzes verstoßen zu haben, und demzufolge nach einer Logik von Schuld und Sühne nun dem "gerechten Los" entgegensehen zu müssen. Zunächst ist es also nicht das Gefühl der "Rache", des "Ressentiments" (GM V 309f, 301) gegen die Verbotsübertretung, aus dem "Recht", "Gesetz" (GM V 312) und schließlich der höhere Sinn für "Gerechtigkeit" (GM V 309) entspringen. Die erste Form der Gerechtigkeit ist eine Form der Tauschinteraktion, in der die einzelnen Subjekte sich innerhalb einer Verkehrsform bewegen, die auf den Glauben der "Gleichheit des guten Willens", des Respektes und der Macht ruhen, nämlich: "der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen sich miteinander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu "verständigen" und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen" (GM V 307). So verstanden ist die Gerechtigkeit ein Verhalten, das "positiv" (GM V 310) agiert. Für die Herrschenden bedeutet dieses, ihr Verhältnis auch Schutz voreinander: "es ist ein Stück ihres Egoismus mehr, diese Freiheit und Selbstbeschränkung im Verkehre mit ihresgleichen" (JGB V 220). Indem die oberste Gewalt "nach Aufrichtung des Gesetzes Übergriffe und Willkür-Akte Einzelner oder ganzer Gruppen als Frevel am Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst behandelt" (GM V 312), erzeugt sie den "Sinn für Gerechtigkeit" gerade in einer Umkehrung zur Rache: Sie lenkt das Auge auf die Tat und nicht so sehr auf den Täter. Nicht die Rache am Täter ist das Entscheidende sondern die Einhaltung des Gesetzes. Dieser Übergang von der Täterschaft zur Tat wird deutlich in der klassischen Rhetorik der Jurisprudenz. Innerhalb der klassischen Rhetorik hatte die Auffindung (inventio) von Topoi, die einen Handlungsablauf deutlich machen, bei der Anwendung in Gerichtsverhandlungen ihre Bedeutung, zwar nimmt dort die Frage, "wer war`s?", wie zu erwarten ist eine Vorrangstellung ein, aber das Fragepronomen "quis?" nach dem locus persona sagt den Verhandlungsteilnehmern ja nicht wer`s war, sonedren worum es geht. Und jenes "quid?", das nach dem locus a re fragt, das fragt nach dem Verhandlungskollegen. Die Strafe dient als Inskriptiosinstrument, ähnlich wie die phylogenetische Weiterentwicklung der Initiation. Es ging ja in der Geschichte der Entstehung des Gewissens nicht ohne "Blut, Martern, Opfer" ab (GM V 295f; vgl. JGB V 122, 117f, 211, 7015. Gewissen, Gedächtnis und Anverwandtes, sie sind Produkte dieser Einschreibungen in den Leib; die Strafprozeduren und der Schmerz erst machten dem Menschen Nietzsche zufolge ein Gedächtnis. Exkurs: Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Ethnologie Die "territoriale Repräsentation" ist eine "primitive Territorialmaschine", die die Ströme codiert, die vormals germiale Intensität waren; sie "besetzt die Organe" als die vormals unabhängigen Partiale, "kennzeichnet die Körper", die somit zur Folie werden, auf denen die materiale Relation Wunsch - Organ zu unabhängigen Zeichenketten formalisiert wird; die Intensität "Wunsch" wird so abgeschnitten von der rein organischen Repräsentation. "Inwieweit zirkuliert und getauscht wird, bleibt zweitrangig ..." 16. In diesem Sinn gilt: "primär ist die Gesellschaft kein Bereich des Tausches, worin die Zirkulation und das Zirkulierenlassen das Wesentliche ausmachte, sondern sie ist Sozius der Einschreibung" 17. "Einschreibung" bedeutet im Umfeld der territorialen Repräsentation: Initiationsritus, der sich gegen die germialen Wunschströme richtet, um sie zu codieren, dem Sozius zu unterwerfen. Ein extensives System, das Personen unterscheidbar macht und die Zeichen in bestimmter Weise gebraucht"18 ist Voraussetzung und Folge dieses Herrschaftsverhältnisses. Dazu ist es unabdingbar, dass die intensiven Wünsche mehr produzieren als nur sich selbst; sie müssen zunächst quantifizierbar, dann blockierbar, umleitbar, ableitbar werden, wenn sie entfremdet werden sollen - eine Gewinn-Verlust-Rechnung, die auf der Quantifizierung von Energie beruht, wird eröffnet. Ein Teil der Energie vgl. Marx: MEW XXIII 743 vgl. AÖ 183 17 AÖ 180 18 AÖ 208 15 16


59 wird in diese Richtung, ein anderer Teil in jene geleitet (ebd.). Dieses extensive System: Sozius formt erst den "Menschen", der "durch ein aktives Vermögen zum Vergessen, zur Verdrängung des biologischen Gedächtnisses sich gebildet" 19 hatte. Der Mensch muss sich ein neues "kollektives Gedächtnis" 20 schaffen, das den Sozius konstituiert, eines, das mittels einer Zeichensprache (von "Worten, Versprechungen und Heiratsverbindungen") funktionstüchtig erhalten wird. 21 Der Einschreibungsritus besteht aus zwei "heterogenen Polen"22, dem Gesetz, welches sich als "Stimme" dem Initiierten zu "hören" gibt, sowie der "Hand", die das Gesetz in den Körper einschreibt. 23 Das was eingeschrieben wird, ist das Gesetz der Zeugung, das jedem neuen Gattenpaar, inklusive der Insistenz auf die Regeln der möglichen Heiratsverbindungen, auferlegt wird: die Schuld gegenüber dem Sozius. Die Frage ist, unter welcher Bedingung das Gesetz als die Stimme der Heiratsverbindungen äquivalent zum Schmerz des Initiierten sein kann. Das verbindende Element ist das Auge, das aus dem Schmerz einen "Mehrwert an Code" 24 zieht und Entsprechungen der beiden abschätzt. 25 Der Schmerz ist also hier nichts anderes als "Freude für das ihn betrachtende Auge, das, von keinem Rachegedanken beseelt nur imstande ist, den subtilen Bezug zwischen den in den Körper geritzten Zeichen und der vom Gesicht sich lösenden Stimme herzustellen" 26. Der Schmerz ist so "Teil eines tätigen Lebens" (AÖ 245), der sich zwischen kennzeichnendem Gesetz und leidendem Körper herstellt. Er markiert die territoriale Repräsentation (i.e. Umleitung der Produktionsautarkie auf ein repräsentierendes Sozialkontinuum) oder das "System der Schuld"27. Es wird hier die Nähe zu Nietzsche deutlich, so liest man: "Das große Buch der Ethnologie ist (...) Nietzsches Genealogie der Moral" 28. Die zweite Abhandlung der GM sei eine richtige Auslegung der "primitiven" Kultur, "in Begriffen von Schuld" bzw. "Schuldner und Gläubiger", ohne auf den Topos: Tausch zu rekurrieren. Obwohl es so scheint, als seien einige Mißstimmigkeiten in dieser NietzscheInterpretation, insbesondere bezüglich des Komplexes der Priorität: Tausch oder Schuld, vorhanden, sei der Argumentationsgang bei Deleuze/Guattari zunächst weiterverfolgt. "Die Schuld entspringt geradewegs der Einschreibung"29 und ist dadurch vorrangig gegenüber dem Tausch, insofern dieser nur innerhalb bereits eingeschriebener Extensitäten funktioniert. Der Frauentausch, Ort der Genese der Kultur (bei Lévi-Strauss), kann nur dann diesen instrumentalen Bedeutungsraum füllen, wenn die Sippe den jungen Paaren auflegt, Nachkommen zu zeugen, die die Zirkulation in Gang halten sollen. Diese ist die "objektiv-scheinhafte Bewegung, die auf dem Sozius eingeschrieben ist" 30 darstellt. Der Schuldner ist zu interpretieren als jemand, auf dem die Markierung nicht "ausreichend gefaßt" 31 hat, von dessen Körper das nach "präzisen sozialen Regeln"32 erstellte Zeichen verschwand. Das Zeichen ist zwar insofern es auf den sexuellen Kontext verweist ein Repräsentant des Wunsches, aber die Zeichen als Vorgabe der möglichen Heiratsverbindungen sind territorialisierte 33. Der primäre Repräsentant des Wunsches, das germiale Intensitätseinwirken wird zurückgedrängt von dieser neuen verdrängenden Repräsentation. Die territoriale Repräsentation setzt sich aus drei Aspekten zusammen: dem "verdrängten Repräsentanten" (Intensität), der "verdrängenden Repräsentation" (Extensität) und dem "verschobenen/entstellten Repräsentierten" (Wunsch). In diesem Zusammenhang soll nicht weiter auf Implikationen und die Motivation dieses Systems eingegangen werden. Wichtig ist hier: dasjenige, was das Leben repräsentiert, wird verdrängt zugunsten eines neuen Repräsentanten, der nun den ontisch primären Wunsch kennzeichnet, welcher als "eigentlich" Repräsentiertes nicht mehr auffindbar ist. Durch polympzestartige Metarepräsentationen wird das biomorphe Agieren immer weiter entfremdet und zunehmend weniger rückübersetzbar. Der Akt der Inskription, der "das Zeichen direkt in den Körper eingraviert, ist das System der Grausamkeit, das System der Grausamkeit, das furchtbare Alphabeth (...), die Bewegung der Kultur selbst"34. Der Sinn dieses Systems liegt darin, den Menschen zu "dressieren" 35. Die Menschen werden zu Zahnrädern im "Räderwerk der Gesellschaftsmaschine", wenn sie beginnen, das zu wünschen, was ihnen schadet. Möglich wird das nur durch das "neue Gedächtnis", denn dieses "grausame System eingeschriebener Zeichen" ist es, "das den Menschen zur Sprache (langage) befähigt und ihm ein Gedächtnis von Worten/Reden verleiht". Diese Stufe der kulturellen Entwicklung wird bruchartig (vgl. GM V 324) von Bestien, die die AÖ 184 AÖ 184, 244 21 ebd. 22 AÖ 242 23 ebd. 24 AÖ 245 25 AÖ 243 26 AÖ 243 27 AÖ 243 28 AÖ 244, 184ff, 243ff, 273ff 29 AÖ 245 30 AÖ 241 31 AÖ 245 32 AÖ 183 33 AÖ 184 34 AÖ 184 35 AÖ 244 19 20


60 territoriale Repräsentation zerstören36, abgelöst. Möglicherweise wird dieser Einbruch der Brutalität von allen folgenden gesellschaftlichen Organisationsformen, die vorgeben ihn abzuarbeiten, vorausgesetzt 37 - in dem Sinn, dass eine Gesellschaftsmaschine nicht funktionieren könnte ohne die Disposition der Elemente, der Menschen, die sie konstituiert - und die sie nur deshalb konstituiert, weil sie durch den gewaltsamen Bruch erst die Bedingung der Möglichkeit moderner Sozialkontinua geschaffen hat. Die neue "despotische Maschine" oder der "barbarische Sozius" 38 verbindet mit der alten territorialen der "Schrecken vor decordierten Strömen" 39. Der Despot zerstört die Ordnung der alten Heiratsverbindungen und Filiationen, er fängt wieder "von Null an" und projiziert wieder etwas Neues. 40 Er verwirft die alten Filiationen, ernennt sie, im Verhältnis zu sich, zu direkten und formiert den "Neuen Bund"; die Welt wird unwahr, die ehedem reale Welt der Alten wird aufgrund einer Deterritorialisierung mittels "abstrakter Zeichen ersetzt" 41. Der "Neue Bund" ist etwas, über das "nichts auszusagen ist, weil nämlich die Konstruktion alles enthält" 42, wobei zwischen dem Anspruch dieses Nichts und der Wirklichkeit des Irdischen das imaginäre Recht anzusiedeln ist, das es erlaubt, über "das Leben zu richten und die Erde zu überfliegen: das Prinzip paranoischen Erkennens" 43. Hier erst entsteht das, was nach Deleuze/Guattari das Eigentliche des Gesetzes ausmacht: Gebote zu formulieren, deren Funktion sich primär auf den Zweck der Herrschenden hin definiert, die nicht real verstehbar sind.44 Dieser Vorgang der mehrfachen Umleitung der Intensitäten, die ihrer Lebendigkeit aus Gründen der Unterdrückung beraubt werden, wird "Übercodierung" genannt. 45 "Schluß mit der Strafe als Fest (...) die Strafe wird Rache"46. Schließlich stellen "Rache des Despoten" am Schuldigen und "Ressentiment" der Unterdrückten zwei Momente dar, die "nicht den Anfang der Justiz, aber deren Werden und Bestimmung innerhalb der von Nietzsche analysierten imperialen Formation" 47 ausmachen. Um noch einmal auf die spezifische Problematik zurückzukommen, die die anödipale Theorie analysiert: Dadurch, dass der Wunsch, als germitative, intensive Produktion, die Staats- und Gesellschaftsmaschine (sozietive Zirkulation) besetzt, wird der Inzest eingeführt. Der Vater repräsentiert die territoriale Ordnung, "die Schwester und die Mutter" fungieren als die übercodierende und die verdrängende Repräsentation" 48. Besitz der Mutter steht für den Besitz der Produktionssphäre, der der Schwester für die Herrschaft über die Zirkulationssphäre. 49 So gebietet das Gesetz: "Du wirst deine Mutter nicht heiraten und deinen Vater nicht töten. Und wir folgsamen Subjekte sagen uns: Das also wollte ich!" 50. Postulation eines Zieles, das als solches des Wunsches dargestellt wird, obwohl die Wunschlinie niemals final interpretierbar ist. Degleichen will man/frau nicht "die" Wahrheit, sondern das intensive Leben. Innerhalb der despotischen, imperialen Ordnung und ihrer Mechanik entsteht die unendliche Schuld. Wenn das Leben sich auf etwas richtet, das es eigentlich nicht will und deshalb nie erreicht - und dieses eine (aber auch das andere) dazu verboten wird, wird die Schuld des Einzelnen eine unendliche. Sie ist nicht mehr abzahlbar dadurch, dass jedes vitale Agieren schon potentieller Verstoß gegen das Gesetz ist. Da der Begriff "Wille zur Macht" für Nietzsche gleichbedeutend mit "Leben" ist, kann er in der entstehenden Sozialgesellschaft nicht einfach verschwinden; er muss sich unter der Aufgabe der Selbstbeherrschung und Reflexion nach innen wenden, gegen sich selbst, um das Gefühl der Schuld ermöglichen zu können. Das Schuldgefühl stellt seinerseits Weise den Boden für das Gewissen dar, es hat diese "größte und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit" (GM V 323). Mit Hilfe einer ausgefeilten "Memotechnik" (GM V 295) wird die Introjektion des "Willens zur Macht" herbeigeführt: "Der Mensch soll nicht hinaus, er soll in sich hineinsehen" (AC VI 228), der "Wille zur Macht" wird zum Kontrollorgan umfunktioniert. "Alle Instinkte welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen" (GM V 322); sie dienen schließlich der Selbstunterwerfung, die die Grausamkeit nach innen richtet (NF, XII 335). Die "sociale Zwangsjacke" ist ein Instrument des Normendiktates - von ihr und der gesamten Zivilisation gilt, dass ihr "jede Sitte" besser zupaß kommt als "keine Sitte" (M III 29). Dieser Zuchtmechanismus, der vermittelt über die Institutionalisierung des Gewissens zu Bewußtsein und Gedächtnis führt (GM V 293), wird von Nietzsche unter dem Begriff "Sittlichkeit der Sitte" (ebd.) gehandelt. Diese AÖ 246 AÖ 246 38 AÖ 247ff 39 AÖ 253 40 AÖ 249; die Definition der Paranoia 41 AÖ 252 42 Marx: MEW III 224 43 AÖ 249 44 AÖ 275 45 AÖ 256 46 AÖ 273 47 AÖ 275f 48 AÖ 277 49 AÖ 276 ff 50 AÖ ua. 148 36 37


61 entspricht der bloßen Form, der Syntax der Moral, der gegenüber sich die semantische Komponente der Sitten, Gebräuche, Tabus und ähnlichem indifferent und variabel verhält. Dies bedeutet nichts anderes als die anerzogene Lust an der Befolgung (FW III 582f) beliebiger Rituale (M III 22). Diese genealogische Komponente, die sich später zur Überliefertheit verharmlost gilt im Gegensatz zur "Orginalität" (M III 24) als Voraussetzung der Sitte. Das System dieser Formen-Moral, begleitet von ein paar "`ich will nicht` im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vortheilen der Societät zu leben" (GM, V 297) generiert ein Gewissens-Bedürfnis nach irgendeinem beliebigen "du sollst" (JGB V 119) über das das Gewissen wacht. Insofern das Gewissen den einzelnen berechenbar macht, wird es aus zwei Komponenten gebildet (GM V 291): erstens erinnert es sich retrospektiv an Vergangenes; zweitens bezieht es sich auf Zukünftiges bezieht .Ihm kommt also eine entscheidende Synthesisfunktion zwischen Vergangenheit und Zukunft zu. - Es sei hier eine etymologische Betrachtung des Wortes "Gewissen" gestattet, das sich anders als die "conscientia", vermittelt über das Wort "wissen" aus der indoeuropäischen Sprachwurzel "wid-", für "sehen, wahrnehmend erkennen" ableitet (vgl. lateinisch: videre); das Gewissen ist ein "Janus-Vermögen", das nach vorn und nach hinten gleichzeitig schauen können muss. Auch die "conscientia" ist vielleicht in ähnlicher Weise ein wortwörtliches "Zusammenwissen". - Das Ausschalten der "aktiven Vergesslichkeit" (GM V 291) dient dazu das Vorhaben nicht vergessen zu lassen und es durch Vor(aus)sicht zu prägen. Es kann so erst der "Sinn in Hinsicht auf das Ganze" (GM V 325) entstehen. Paradoxerweise führt nur die Deaktivierung der "Vergesslichkeit", was die inhaltliche Normenerfüllung anbelangt, zu einer strukturellen "Vergesslichkeit" in Gestalt einer Verdrängung des genealogischen Zusammenhangs: ein Vergessen der Vergeßlichkeit. Dass das Motivationssystem "Gewissen" in genealogischer Hinsicht als Gewordenes und nicht als repräsentationsmetaphysisch Ursprüngliches aufgefaßt werden muss, versteht sich aus dem Gesagten. Moralische Bedeutungsräume sind also nicht etwas, das der Mensch aufgrund eines "Wunder-Ursprungs" (MA II 23) "ursprünglich in sich" (Kant) haben und wissen kann. Eine genauere Untersuchung "der moralischen (...) Vorstellungen und Empfindungen (MA II 24) weist diese als Ergebnis einer Gewinn-Verlust-Rechnung auf dem Boden der Nützlichkeit aus (vgl. M III 90). Man wird aber nun andererseits nicht ohne weiteres behaupten können, dass das Gewissen eine antiquierte Instanz sei, von der heutzutage niemand mehr ernsthaft spräche. Gerade indem man nicht mehr über das Gewissen handelt, hat man Teil an der besagten Verdrängung im Sinne des Vergessens der Vergeßlichkeit. Das Gewissen markiert gerade die genealogische Größe, auf der sich Gedächtnis und Zukunftsentwurf überschneiden: die Präsenz des Bewußtseins. Das Bewußtsein hat sich auf dm Hintergrund des Gewissens herausgebildet und ist mit ihm in seinen grundsätzlichen Funktionen identisch. In diesem Sinne ist Nietzsches genealogisches Theorem zu verstehen: "die Fragen über Herkunft und Anfänge sich (nicht) aus dem Sinn zu schlagen" (MA II 24) Wir werden uns diesem Zusammenhang im Schlußkapitel zuwenden. Aber man muss sich vorsehen; der König kann fallen. Ausgehend von der grundsätzlichen semantischen Neutralität der Gebotsstruktur kann sich das Gewissen in seiner bezeichneten Form auch gegen die Herrschenden wenden. An dem Ende einer Kette von Herrscherfiliation ist es möglich, dass sich die "Sittlichkeit der Sitte" gegen die "Autorität" wendet, "die befiehlt" (M III 22) und dass sich die "Wünschbarkeiten" verselbständigen und kraft ihres moralischen Anspruchs gegen die Herrscher sich kehren. Insofern kann "die Einsetzung von Gewissen und Moral - als einen Sieg der Generation über das Individuum" 51 aufgefaßt werden. Die "Dummheit" des Gewissensbisses (WS II 569) - der "Gewissensbiss" kommt bei einem anständigen Verbrecher ohnehin nicht vor (GM V 321) - besteht deshalb nicht nur in einer unzulässigen Trennung der Folgen einer Tat von der Tat selbst (ua. GD, VI 60; EH, VI 278; NF, XII 283), sondern vielmehr in der Identifizierung von Gewissen und Selbst bis hin zum Gewissen sich selbst gegenüber. Das einst vermittelt über die Person des Sehenden das Strafmaß bemessende "Auge" (GM V 306, 312) wird zur Unperson. War es zunächst noch die simple Hybris der Herrscher, deren Brutalität fürchten machte, so wurde das Raffinement später wesentlich erhöht. Aus dem Barbaren wird der Schamane, aus diesem der Priester. Das Schamanentum erhält sich mittels des Postulats der Schuld an den "Vorfahren" (GM V 327), deren "Opfer und Leistungen" (ebd.) zurückbezahlt werden müssen. Wird hier jemand bestraft, so rächt sich nicht nur der Zauberer, - dieser hat bereits das ganze Volk hinter sich gebracht, denn dieser glaubt zu wissen, "dass die Strafe für die Verletzung der Sitte vor Allem auf die Gemeinde fällt: jene übernatürliche Strafe, deren Aeusserung und Gränze so schwer zu begreifen ist und mit so abergläubischer Angst ergründet wird" (M III 23). Demzufolge schlägt dem Einzelnen der ganze Angst-Haß vor und aus Vergeltung entgegen. Im Hinblick auf das Gemeinwesen wird schon die Individualität selbst zur Schuld: "Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder" (M III 24). "Alles was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt (...) heisst von nun an böse" (JGB V 123). Die Einhaltung des "Versprechens" des Einzelnen an die Allgemeinheit (vgl. GM V 292 f) nach ihrem Systemanspruch zu handeln wird überwacht vom Gewissen, das mithin weder eine humanistische Gabe noch die Kantianische Institution ausmacht. Es gibt da nach Nietzsche die Furcht der "Schlechtweggekommenen", und in diesem Sinn bereitet der "Heerde" alles Furcht, was den Einzelnen über sie erhebt - es entsteht der "Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit: "wir wollen, dass es irgendwann einmal nichts mehr zu fürchten gibt!"" (JGB, V 123). 51

Freud: GW XIV 29


62 Anmerkungen zu Religion und Philosophie: Später wachen die "Vorfahren" als Götter, als "Zwischenwesen aller Höhe und Tiefe" (GM V 304), die das "paradoxe" (GM V 323) Diesseits kontrollieren. Seine Hypostase erreicht diese Repräsentationsmetaphysik im Monotheismus: "der Ahnherr wird zuletzt notwendig in einen Gott transfigurirt" (GM V 328). Die okzidental manifest gewordene Variante dessen ist das Christentum. Hierbei wird der Kampf gegen die wirkliche Natur bis zum "Instinkt-Hass gegen jede Wirklichkeit" (AC VI 212) gesteigert. Dieser "Hass gegen die Sinne" (AC VI 188) ist das bestimmende Motiv christlicher Prinzipien. Die Schuld, die abzutragen ist, wird eternisiert bis zum Jenseits, sie wird "ewig" (GM V 331). - "Wir wissen, unser Gewissen weiss es heute -, was überhaupt jene unheimlichen Erfindungen der Priester und der Kirche wert sind, wozu sie dienten, mit denen jener Zustand von Selbstschändung der Menschheit erreicht worden ist, der Ekel vor ihrem Anblick machen kann - die Begriffe `Jenseits`, `Jüngstes Gericht`, `Unsterblichkeit der Seele`, die `Seele` selbst: es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge derer der Priester Herr wurde, Herr blieb ..." (AC VI 210). Die "radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen inneren Welt so gut als der äusseren" (AC VI 191) bildet somit die Grundlage der abendländischen Kultur. Die Gemeinsamkeit zwischen philosophischem und religiösem Denken liegt in der Aufrichtung einer "wahrheitlichen Welt" des "Jenseits" (vgl. AC VI 174f) - aufgrund dessen wird Philosophie seit Sokrates ausschließlich als Explikation der Dekadenz verwertbar. Physiologische Minderwertigkeit ist ein anderes Wort dafür (NF XIII 264ff). Bieten die eigenen Sinne kein Maß mehr für "Lust" und Unlust (NF XIII 278), so generiert diese Unfähigkeit einen generellen "Haß" auf die "Sinne" (NF XIII 318). So wird der Motivationskomplex der Sinnlichkeit substituiert und vom Begriff "Glück" ersetzt (NF XIII 310 f). Damit ist nun keiner Selbstbefreiung der Sinnlichkeit die Rede. Nietzsche artikuliert nirgendwo eine grundsätzliche Abscheu gegen das Denken, im Gegegenteil. Es ist nur an den Begriff des "freien Denkens" zu denken. Was aber Nietzsche sagen will, ist allein, dass man nie über die Sinne wirklich nachgedacht hat. Es gibt zu seiner Zeit zwar eine Philosophie des Cogitare oder der transzendentalen Apperzeption, aber keine Philosophie des Sehens, geschweige denn des Riechens oder anderer sinnlicher Rezeptions- und Produktionsorgane. In diesem Sinn ist die idealistische Entnatürlichung (NF XIII 288ff), die einen passiven Nihilismus (vgl. NF XII 351), zu verstehen. Fallen nämlich die Autoritäten, mit denen man einstmals das Leben von außen meinte bewerten zu können - und die Autoritäten werden fallen, denn das Leben ist aber nicht von "ausserhalb" (GD VI 86) bewertbar -, fallen also die Autoritäten wie "Gewissen", "Vernunft" und "Historie" (NF XII 355), so mündet dies nach Nietzsche in "Fatalismus" und Lebensverneinung (NF XII 356). Schwinden die Konstituenten der überkommener Wertschätzungen, schwindet auch die Konsistenz des Zusammenhangs. Dasein erweist sich solchermaßen nur als wert- und damit sinnlos (Ebd.), die "Ziele und Werthe" sind unbarauchbar geworden (NF XII 351, vgl. 247; NF XI 626). Die Moral, den formalen Imperativ "`so und so soll der Mensch sein`" (NF, XIII 290), die "Circe der Philosophen", bestimmt Nietzsche als die "Ursache" (NF XII 378) dessen. Der "Nihilismus als Folge der moralischen Welt-Auslegung" (NF XII 309) ist die "Logik der Dekadenz" (NF XIII 265) mit dem "Mitleid" als "Tugend" der Dekadenz (EH VI 270) und als "Praxis des Nihilismus" (AC VI 173).


63

5.2.

Anthropologische Grammatik

Dem "Grundschema von möglichen Philosophien" (JGB V 34), das den Rahmen des abendländischen Philosophierens vorgibt, liegt für Nietzsche die beschriebene Systematik zu Grunde, innerhalb welcher gilt, dass alle Begriffe und Kategorien nur "in Beziehung (...) zueinander" - nicht aber etwas jeweils "Für-sichWachsendes" (ebd.) darstellen. Eine Untersuchung der abendländischen Gedankenwelt unter diesen Gesichtspunkten ist Nietzsche zufolge noch nie unternommen worden. "Noch jetzt ist die eigentliche Kritik der Begriffe oder (...) eine wirkliche `Entstehungsgeschichte des Denkens` von den meisten Philos(ophen) nicht einmal geahnt" (NF XI 643). Dasjenige, was die philosophischen Begriffe "in bestimmter Ordnung hintereinander her" treibt (JGB V 34), das ist "eben jene eingeborene Systematik und Verwandtschaft der Begriffe" (ebd.). Der Begriff "eingeboren" bezieht sich auf die "Systematik" der Begriffe innerhalb einer aufgrund von angezüchteter Gewohnheit angewandten Rationalität. Nietzsche kann deshalb von einem "Vorurtheil" (GD VI 77) sprechen, wenn der philosophische Diskurs über "Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein" (ebd.) handelt. Aus dem "Vertrauen" an die Erkenntniskraft des vernunftgeleiteten Denkens folgt ein stillschweigendes Akzeptieren dieser Logik: die "Grammatik als veritas aeterna und folglich als Subjekt Prädikat und Objekt" (NF XI 637). Nietzsche geht so in seiner Kritik der Erkenntnis(theorie) über Kant und seine Kritik der Erkenntnisarten hinaus - die Anwendung begrifflichen Denkens impliziert nicht nur die Möglichkeit "falscher", (d.h., dem Leben auf der Erde widersprechender) Vorstellungen über die Wirklichkeit, sondern sie führt diese mit Notwendigkeit herbei, "das Vernunft-Vorurtheil (...) necessiert zum Irrthum" (JGB, V 34). Die Instrumente dieses Irrtums sind "Auge" und "Sprache" (ebd.). Am Anfang steht nach Nietzsche die Wahrnehmung, dass es "Thäter und Thun" (JGB V 34) gibt, daraus deutet sich "die Vernunft" die Notwendigkeit, dass etwas als "Ursache" (ebd.) wirken müsse, welches nur der "Wille" (ebd.) als grundsätzliche Absicht sein könne. Aus narzißtischen Machtggründen wird er als "Vermögen" (ebd.) dem "atomaren Seelen-Ich" zugedichtet. Dieses "Ich" als erste Substanz wirkt dann ein auf die begegnenden Gegenstände, die ebenfalls für substanzielle "Dinge" (ebd.) genommen werden. Der Begriff "Sein" (ebd.) bezeichnet dann nur den jeweils aktiven und passiven Pol des Wirkungsgeschehens. Der Begriff "Sein" ist als Derivation des Erscheinungsbildes der Wahrnehmungen kein Begriff, der sich wie etwa in Hegels "Erfahrung des Bewußtseins" als Synthese eines "Aufhebungsprozesses" deutlich macht, sondern er ist im Gegensatz zu dem Hegelschen "Aufgehobensein" immer "untergeschoben" (GD VI 77), das heißt er ist eine vom wirklichen Geschehen zu unterscheidende Konstruktion. "Es sind die grammatischen Funktionen die bestgeglaubten Dinge" (NF XI 643), die auf den Glauben an die Begriffe rückwirken und die ihrerseits ihre Begründung im Wahrnehmungsapparat finden. In diesem Zusammenhang entspricht das Subjekt, der aktive Pol, dem subiectum als dem Zu-Grunde-gelegten im Sinn von Untergeschobenem. Der Begriff des willentlich Erkennenden ist hier eng verknüpft mit dem Subjekt als aktivem Satzgegenstand. Dem Begriff Substanz entspricht die Bedeutung des Zu-Grunde-gelegten. Die grammatische Form dieses Subjekts ist in der Regel das Substantiv, das dem "Täter" entspricht. (Im Umfeld des Gegensatzpaares Subjekt-Objekt ist auch das Objekt der grammatischen Kategorie: Substantiv zugehörig, sein vom Subjekt des Erkennens übertragener Substanzbegriff schlägt sich in der Übersetzung des "Substantivs" als "Dingwort" nieder). Ein alleinstehendes Substantiv (dazu gehören auch alleinstehende Verben) hat immer den Rang einer Universalie, als "Nomen" wird es "nominativ" gedacht wieder zum handelnden, verursachenden Subjekt. "Psychologisch nachgerechnet ist es der Glaube, der sich im Verbum ausdrückt, Activum und Passivum, Thun und Leiden" (NF XII 249), der aus Gründen falscher Verdinglichung den Irrtum der Auffassung über Kausalität entstehen lässt (JGB V 35). Das Verb drückt hier die Fähigkeit des Substantives aus, auf etwas (inklusive sich selbst) einzuwirken, es vermittelt zwischen dem aktiven und passiven Pol. Dieser stellt im Grunde schon das Wirkungsgeschehen in zweiter Potenz dar als primäre Spontaneität steht der Wille des (ersten) Bewegers. Die erste Wirkung ist die Handlung selbst, die Ergebnis der direkten Willenseinwirkung ist. Dann folgt das Objekt, auf das mittels der Handlung eingewirkt wird. Im letzten Sinne hat das Verb prädikativen Charakter - jedoch nicht im Sinne einer bloßen Eigenschaft, sondern im Sinne einer Fähigkeit etwas zu bewirken. So zeichnet sich die Bedeutung des Prädikats hier nicht nur als Kriterium der Unterscheibarkeit anhand von Zugehörigkeiten ab (wie in der Prädikatenlogik: f( x)- eine Individuenvariable wird einem Prädikat zugeordnet), aber als Handlungsfähigkeit, die Differenzierung nach Indizien für Verhältnisse von Machtgewinn und -verlust schafft. So verstanden steckt hinter der "Trennung des Geschehens in ein Thun und ein Leiden die Supposition eines Thuenden" (NF XII 249). Hier bedeuten Aktiv und Passiv nichts anderes als "herr-werden und überwältigt werden" (NF XII 311). Die "`Ich-Vorstellung`" (NF XII 250) wird mit ihren Machtansprüchen immer hinzugedichtet; "Alles Geschehen ist als Thun ausgelegt worden: mit der Mythologie, ein dem `Ich` entsprechendes Wesen" (ebd.). Der interpretative Drang geht also noch weiter, der "Täter" braucht dem "Ich" notfalls nur entsprechen; in animistischer Auslegung wird allem Geschehen, allem durch den Charakter des Werdens Gekennzeichnetem, ein Seiendes untergeschoben. Dies zeigt sich in der Grammatik an der Kategorie des unpersönlichen Subjekts: "`es` (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtigt hat)" (JGB V 31). Dies "es" wird von Nietzsche als "Auslegung des Vorgangs" (ebd.) entlarvt, nach dem Schema, dass zu jeder Tätigkeit ein Täter "gehört", bzw. dass alles Werden auf ein Sein reduzierbar sei: "Von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die


64 Ursachen zu sein, schließen wir nur, dass sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: `zu jeder Veränderung gehört ein Urheber`. - Aber dieser Schluß ist Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken" (NF XII 103). Glaubt man dann tatsächlich an die "Rechtmäßigkeit" dieser grammatisch vorgegebenen Struktur der Dinge, wie sie in der Sprache erscheint, so erliegt man dem "Fallstrick der Worte"; zu diesem gehört auch das "es" (NF XI 639). Insbesondere in JGB hat sich Nietzsche mit diesem Problem auseinandergesetzt: "Gerade wo Sprachverwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik - ich meine Dank der unBewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen - von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen anderen Möglichkeiten der WeltAusdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint" (JGB V 34f). Nietzsche wagt, ausgehend von dieser Interpretation der Systemphilosophie als Grammatikderivat, die Hypothese, das in Sprachbereichen mit andersartiger Gewichtung und Entwicklung der Begriffe möglicherweise auch das Weltbild der Sprechenden ein anderes ist. Eine Begründung dieser unterschiedlichen Entwicklungen ergäbe sich aus anderen Wertschätzungen, die Physiologie und die "Rasse-Bedingungen" betreffend (JGB V 35). Ausgehend von dem Gedanken, dass Sprache das ist, "was Erfahrung für uns durch Implikationen definiert" (Sapir) sind in der Ethno-Linguistik Untersuchungen in dieser Richtung erfolgt. Nicht zuletzt der Ethnolinguist Benjamin L. Whorf hat Nietzsches Hypothesen empirisch bestätigt, indem ihn seine Untersuchungen zu dem Ergebnis eines "neuen Relativitätsprinzips, das besagt, dass nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild geführt werden, es sei denn, ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich" (Whorf: SDW 12). Die Wahrnehmungen sind weiterhin eine Angelegenheit der "Formulierungen" (SDW 34), die die verschiedenen "Muttersprachen" (SDW 39) für entsprechende Sachverhalte vorsehen (zum Problem des "es", vgl. SDW 43f). "Die subjektive Gewissheit in der Handhabung der Vernunft-Kategorien" (GD VI 77) seitens der abendländischen Philosophen, ändert nichts am objektiven Tatbestand, dass alle Begriffe z.B. der souveraine "Wille" "bloss ein Wort ist" (ebd.). Ja, der Glaube an die Möglichkeit der Gewissheit ist schon "ein Glaube mehr, und keine Gewissheit" (NF XI 641). (Anstelle der "`unmittelbaren Gewissheit`" (NF, XI 637) und ihrer Ableitungen fordert Nietzsche eine Unterteilung der Geschehnisse nach "Graden des Scheins" (ebd.).) Nietzsche spricht in dieser Weise sämtlichen klassischen Begriffen ihre Bedeutung aber auch ihre Nützlichkeit ab. Die "Vernunft" beispielsweise ist eine "Sprach-Metaphysik" (GD VI 77; NF XII 237). Für die Philosophen ergeben sich hier Schwierigkeiten, die benannt werden müssen: "Wir werden am letzten den ältesten Bestand von Metaphysik loswerden können - jenen Bestand, welcher in der Sprache und den grammatischen Kategorien sich einverleibt und dermaaßen unentbehrlich gemacht hat, dass es scheinen möchte, wir würden aufhören denken zu können, wenn wir auf diese Metaphysik Verzicht leisteten" (GD VI 77). Der Glaube an das machtvolle "Ich, als an eine Substanz" (NF XII 317) gehört zu den Bestimmungen, die der Sprache eignen und die sich in der Sprache rückwirkend selbst bestätigen. So hieße es möglicherweise für den Menschen - gäbe er diesen Glauben auf: "nicht-mehr-denken-dürfen" (ebd.), zumindest nicht nach der "aristotelischen" Grammatik.


65

6. Nietzsches Entwurf eines Systems der Macht 6.1.

Zur philologischen Geschichte des "Willens zur Macht"

6.2.

Macht, Sprache, Automat

Nietzsche beschreibt den Tatbestand, dass wir die Gegenstände schon im Prozeß des Vorstellens ausdeuten (FW III 627), mit den folgenden Worten: "Gesetzt, dass nichts Anderes als real `gegeben` ist als unsere Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen `Realität` hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unserer Triebe - denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zueinander -: ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht ausreicht (...) auch die sogenannte mechanistische (oder `materielle`) Welt zu verstehen? (...) nicht als eine Täuschung (...), sondern als vom gleichen Realitäts-Range, welchen unser Affekt selbst hat, - als eine primitivere Form der Welt der Affekte" (JGB V 54). Wir können an dieser Stelle nur auf einige Implikationen dieser komplexen Textpassage aufmerksam machen: Real sind einzig Leidenschaften, Begierden und Triebe. Nietzsche fordert, die gesamte Innen- und Außenwelt nach den Gesetzen dieser Parameter zu untersuchen. Tatsächlich wird Freud diesem Programm mit der Entwicklung der Psychoanalyse folgen. Was die Begriffe "Triebe" und "Begierde" anbelangt, so wird Freud darauf bestehen, dass diese arepräsentativ seien. Hier von "regulative Fiktionen" zu sprechen, wie Kant dies von den Ideen getan hat, wäre sicherlich falsch. Diese Ideen, wenn man so will, die "obere" Grenze des Vorstellbaren, stellen etwas dar, von dem Kant hoffen konnte, dass es existiert, ohne es jemals beweisen zu können. Jene Begriffe stellen die "untere" Grenze der Repräsentation dar. Gleichwohl gibt es einen Unterschied, denn Freud würde niemals vom Begriff des Triebes (oder Lacan von dem des "réel") sagen, dass es sich dabei um eine Fiktion handelt. Für Kant hingegen wäre auch der Trieb im Freudschen Sinn eine Idee. Was die Gemeinsamkeit zwischen Kants und Freuds Sichtweise anbelangt, so gilt diese auch für Nietzsche: Die Begriffe "Leidenschaft", "Begierde" und "Trieb" sind keinesfalls in einem naiven naturalistischen Sinn zu verstehen. Wir werden im Folgenden Gelegenheit haben, diese nicht-naturalistische Konzeption Nietzsches deutlicher zu explizieren. Klar wird der Akzent dieser Konzeption schon in dem oben verwandten Begriff des Denkens: Das Denken wird vorgestellt als ein Verhältnis der Triebe zueinander. Da sich nun jede Reflexion über welchen Teil von Welt auch immer im Modus des Denkens vollzieht - Nietzsche wäre in diesem Fall mit Hegel einer Meinung -, wendet Nietzsche seine Aufmerksamkeit der Verhältnismäßigkeit der Triebe zu. Nietzsche vertritt keinesfalls einen substanzialistischen Triebbegriff. Würde er das tun, so passte dies überhaupt nicht zu seiner Kritik an Kant, denn mit der Behauptung eines Triebes als Substanz wäre ja dieser "ontologisiert"1. In Blick auf die Arbeiten Derridas muss man sagen, dass das System der Differenzen zwischen den Trieben viel entscheidender ist als diese selber. Freilich könnte man gewiss nicht zu Unrecht einwenden, dass dann die Rede vom "Trieb" obsolet würde, denn der "Trieb" wäre als solcher ja - wie Freud es folglich auch feststellen wird - gar nicht repräsentierbar, bestenfalls könnte sich das Denken in seiner besagten Eigenschaft als Verhältnissystem transparent werden, der Zugang zu einer Triebnatur müsste ihm genauso verschlossen sein, wie der Zugang zu einer äußeren Wirklichkeit unabhängig vom Denken. Innere und äußere Präsenz müssten in der gleichen Weise unzugänglich bleiben, da es sich beim reflektierenden Denken immer schon um eine Repräsentation handeln würde. Die Frage, die uns im Folgenden beschäftigen wird, muss also auf eine Explikation dieses Trieb- und Affektbegriffs abzielen, denn schließlich leitet Nietzsche alle Erscheinungsformen in der äußeren Welt aus dieser inneren ab; die äußere Welt sei nur eine relativ primitive Ableitung aus der inneren Welt. In jedem Fall spricht Nietzsche hier nicht von "Instinkt", der enger noch am Substanzbegriff orientiert ist, sondern von Trieb. Auf der Grundlage der Differenziertheit der verschiedenen Triebe lässt sich der Triebbegriff Nietzsches selbst als Differenzialität bestimmen. Trieb meint Dynamik, und zwar eine Dynamik, die keine fest fixierten, stationären Zustände kennt, sondern in ihrer abstraktesten Form reine Bewegung ist. Einen entscheidenden Punkt markiert dabei der Begriff der "Täuschung". Offenbar versucht Nietzsche damit das Dilemma des Essentialismus zu umgehen, das auch dem Konstruktivismus des späten 20. Jahrhunderts noch Probleme bereiten wird. Nietzsche deutet mit dem Hinweis, die Außenwelt nicht als eine Täuschung verstehen zu wollen, an, dass es keinen Sinn macht, von einer Differenz zwischen dem Realitätproduzierenden Denken und einer diesem unzugänglichen Wirklichkeit zu sprechen, über welche man keine Aussagen machen könne. Unseren obigen Satz zurückgenommen würde dies bedeuten, dass es keinen Sinn macht zu sagen, es müsse wohl so etwas wie eine äußere oder innere Präsenz geben, diese sei aber nicht zugänglich, folglich könne man nur die produktiven und konstruierenden Eigenschaften des Denkens oder der Kognition untersuchen. Man hätte dann doch noch eine - wenn auch dunkle - Essenz jenseits des Denkens, die einem Gott gleich den zugänglichen, konstruierten Teil der Welt bestimmte. Für Nietzsche wäre diese 1

Rudolf Heinz: Kantianismus und Psychoanalyse, *


66 Konzeption, die sicherlich weite Teile der konstruktivistischen Erkenntnistheorie auszeichnet, prinzipiell religiös, das heißt gekennzeichnet von Glaubenskategorien, die der theologia negativa entsprächen. Man wird also mit Nietzsche nicht behaupten dürfen, man nehme nur eine Scheinwelt wahr, der Zugang zum wahren Sein oder Wesen der Welt bliebe dem Menschen verschlossen. Selbstverständlich kann man über Unmittelbarkeit und Präsenz und ähnliches sprechen, man muss nur wissen, dass diese Kategorien nicht jenseits ihrer Explikation existieren. Nietzsche dürfte deshalb auch Freuds Triebbegriff angegriffen haben: Wenn alles nur Vorstellung ist, dann kann man innerhalb des Bereiches "Vorstellung" sehr wohl ideellen und faktischen Teilbereichen sprechen. Die Position des Konstruktivismus (selbst wenn sie nur als Kritik an der Geschichte der Epistemologie zu verstehen ist), das es das Reale nicht gebe, würde Nietzsche parieren, indem er sagen würde, sicher, das Reale gibt es nicht, aber das Irreale, und sei es auch noch so nützlich, gibt es dann auch nicht; also gibt es auch keine Konstruktionen - ergo: Man kann genauso sagen, es gibt Reales und Irreales, sie nehmen nur unterschiedliche Stellungen im Rahmen des Vorstellens ein. Im Winter 1954/1955 handelte Lacan in seinem Seminar über eine Fragestellung, die Sigmund Freud in seiner Ende 1920 veröffentlichten Arbeit Jenseits des Lustprinzips aufgeworfen hatte.2 Der Begründer der Psychoanalyse revidierte in diesem späten Werk seine bisherige Trieblehre. Er vertrat die für Freuds Leserschaft bis dahin ungewohnte Auffassung, dass das Verlangen nach Glück und Lust nicht das entscheidende Prinzip innerhalb der psychischen Dynamik abgibt. 3 Der Mechanismus des Wiederholungszwangs4 ließ es nicht mehr zu, die Triebe dem Lustprinzip und damit dem Verlangen nach Glück zuzuordnen. Der Zwang zur Wiederholung einer Traumatisierung im Fall bestimmter Neurosen, der Wiederholung also eines Phänomens, das gerade nicht mit der Empfindung der Lust begleitet ist, widersetzt sich einer Einordnung unter das Regulationsprinzip einer imaginären Trägheit. 5 Im Falle des Widerstandes in der Analyse löst sich das Ich vom Lustprinzip, insofern es die Wiederholung "auf seine Seite" 6 zieht.7 Freud charakterisierte den Trieb nunmehr als einen "dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes".8 (Lacan wird diesen Drang "Begehren" nennen.) Zum einen trug Freud damit neuen Erkenntnissen Rechnung, die er aus therapeutischen Sitzungen gewonnen hatte, 9 zum anderen bezog er sich damit auf eine Art "Protoglücksspiel", das er bei einem Kleinkind hat beobachten können. Es ist als "Fort-Da-Spiel" bekannt geworden.10 Freud hatte ein Kleinkind beobachten können, das Anund Abwesenheit seiner Mutter mit einer Garnspule simulierte: "es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so dass sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit freudigem 'Da'. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen". 11 Die "größere Lust", so fährt Freud fort, käme "unzweifelhaft dem zweiten Akt" zu. 12 Für Lacan zeigt dieses Spiel eine Entwicklungsstufe an, die die imaginäre Spiegelsituation transzendiert. Er sieht die Pointe dieses Spiels in dem Verhalten des Kindes, Objekte aus der Sicht zu verbannen, "um sie wieder hervorzuholen und anschließend erneut zum Verschwinden zu bringen, währenddessen es jene distinktive Silbenfolge moduliert - dieses Spiel manifestiert in seinen radikalen Zügen die Determinierung, die das Menschentier von der symbolischen Ordnung empfängt. Der Mensch widmet seine Zeit buchstäblich der Entfaltung der strukturellen Alternation, in der die An- und Abwesenheit sich gegenseitig aufrufen." 13 Offenbar Lacan (1980b): 37-119 "... dass es im Seelenleben wirklich einen Wiederholungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip hinaussetzt." Freud (1982): III 232 4 In Analogie könnte man sagen, dass die biologische Trägheit der Homöostase vom chemischen Gleichgewicht heimgesucht wird. 5 vgl. Lacan (1980b): 87 6 Freud (1982): III 233 7 Wir werden im Fortgang der Untersuchung gleichwohl auf das Prinzip der Trägheit zurückkommen. Es wird uns im Hinblick auf das Problem stabiler und instabiler Zustände interessieren. 8 Freud (1982): III 246 (Hervorhebung von Freud), 266 9 insbesondere im Zusammenhang des sogenannten "Widerstandes" in der Analyse und bei speziellen Traumphänomenen 10 Das "Fort-Da-Spiel" ist rezeptionsgeschichtlich innerhalb der Lacan-Diskussion außergewöhnlich oft kommentiert worden. Nicht nur Lacan kommt immer wieder auf dieses Spiel zu sprechen, auch Maud Mannoni (1976: 73-80), Jacques Derrida (*), Luce Irigaray (1983: 21-30) und andere haben es interpretiert. Wir können auf den damit verbundenen Disput, der überwiegend über die Position der Mutter spekuliert, hier nicht näher eingehen. 11 Freud (1982): III 225 12 Freud (1982): III 225; Lacan 1980a): 87, (1980b): 213, sieht in diesem Spiel, insofern es im Wegstoßen des Objekts besteht" die "Annahme seiner ursprünglichen Zerrissenheit". 13 Lacan (1973a): 46. Die Dunkelheit, die für die Texte Lacans fast obligatorisch ist, rührt in diesem Zusammenhang offensichtlich von einer Vorsicht her: Lacan schreibt von bloß "radikalen Zügen" (46) oder an 2 3


67 "triumphiert" 14 das Kind mit Lust"15 in diesem Spiel über die mitnichten glücklichen "Leiden der Entwöhnung" 16, die es aufzuheben vermag, indem es dieses Unglück in symbolisierter Form wiederholt. 17 Entscheidend ist dabei für Lacan, dass das Kind nicht nur die An- und Abwesenheit des Objekts mit spezifischen, distinkten Lauten belegt, sondern dass insbesondere die Abwesenheit des Objekts, ein unsichtbares Ding, mit einem Phonem benannt wird.18 Der Mangel, der sich in der wirklichen Abwesenheit zeigt, wird mit Hilfe der Benennung sprachlich aufgehoben und "transzendiert". 19 Fort und Da geben demnach ein signifikantes Beispiel dafür ab, wie das Kind spielerisch eine Entwicklungsphase antritt, die durch die Ordnung sprachlicher Gesetze bestimmt wird. Indem es mit dem Objekt bzw. mit der An- und Abwesenheit desselben spielt, transformiert es dieses Objekt. "Es ist also ein transformiertes Objekt, ein Objekt mit symbolischer Funktion, ein entlebendigtes Objekt, das bereits Zeichen ist (...) Das Symbol taucht auf und wird wichtiger als das Objekt." 20 Diese Entfaltung betrifft die gesamte Systemumgebung, d.h. nicht nur mit dem Objekt, sondern das Subjekt. Auch das Subjekt ist in dieses Spiel einbezogen. Objekt und Subjekt werden in gleicher Weise gespielt.21 Das Subjekt wird deshalb gespielt, weil es innerhalb der "strukturellen Alternation" keine andere Wahl hat als sich dem Wechselspiel symbolisierter An- und Abwesenheit zu unterwerfen. Lacan formalisiert An- und Abwesenheit nach dem Muster des binären Codes mit {+} und {-} bzw. {1} und {0}, 22 und leitet daraus Zufall und Notwendigkeit von Serien ab, die das Individuum in Gestalt der Sprache aufnimmt. Neben dem Fort-Da-Spiel führt Lacan weitere Spiele an, insbesondere den den Münzwurf und das "Grad-Ungrad-Spiel" 23, bei dem zwei Spielpartner darum wetten, ob der eine es zu erraten vermag, ob der andere eine gerade oder ungerade Zahl Murmeln in der Hand hält. Lacan hielt im Rahmen der besagten Seminarveranstaltung eine Vorlesung über die Novelle The Purloined Letter von Edgar Allen Poe. Diese Vorlesung erschien 1966 als Essay unter dem Titel Le séminaire sur "la lettre vollée" in Lacans Schriftensammlung Écrits.24 Im Anschluß an diesen Essay findet sich ein Anhang, bestehend aus drei Texten.25 Wir werden diese drei Texte folgend als relativ eigenständige Arbeiten ansehen, die das Problem der Formalisierbarkeit der Erinnerung behandeln und damit - leider etwas umständlich - auch das Glücksproblem. 26 Die Texte differenzieren zwischen mémoration und mémoire. Die mémoire stellt eine Eigenschaft des Lebens dar. Die mémoration aber, so Lacan, gehört zu der von Freud entdeckten Welt des UnBewußten.27 Metaphorisch gesprochen wird man die mémoire mit einem Harddisk-Speicher vergleichen anderer Stelle von einer bloßen "Ähnlichkeit" mit einer mémoration (42) (Hervorhebung von mir). Interessant mag dabei sein, dass in diesen vorsichtigen Formulierungen keinesfalls das von Kant, dem Konstruktivismus und auch von Freud selber verwandte 'Als ob' durchklingt. Bei Lacan klingt es zumeist nach "so wie". Diese besondere Stilistik ermöglicht Lacan auf den Konjunktiv zu verzichten und ein für den Leser nicht immer leicht zu durchschauendes Netz von immanenten Verweisungen im Indikativ zu eröffnen. 14 Lacan (1980a): 57 15 Lacan (1978): 221 16 Lacan (1980a): 57 17 Diese Reaktion ist tendenziell manisch, vgl. Freud (1982): III 208. 18 Lacan (1973a): 116 19 Lacan (1978): 221 20 Lacan (1978): 227 (Hervorhebung von mir). Wir können hier nicht auf die Diskussion des Zeichenbegriffs, so wie sie die Semiotik geführt hat, eingehen und müssen uns darauf beschränken, Lacans Zeichenbegriff im Folgenden implizit darzustellen. 21 Zur Veranschaulichung mag es gestattet sein, Lacans Spielbegriffs in die Geschichte der Diskussion des Spielbegriffs einzuordnen. Dort steht er Georg Gadamers Position näher als der Friedrich Schillers, vgl. Schiller (1965): 63. Veranschlagte dieser noch einen aktiven Spieler so bestand die Revision Gadamers, (1960): 104, darin, das System Spiel als eine dem Subjekt übergeordnete Wirklichkeit zu begreifen. In Bezugnahme auf Wittgenstein, (1971), hat Jean-Francois Lyotard, (1982), diesen Spielbegriff später als generelle Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung innerhalb der "postmodernen Welt" ausgewiesen und dadurch nicht zuletzt Lacans Spielbegriff einen breiten Rückhalt verschafft. 22 "Alles in der symbolischen Ordnung kann mit Hilfe einer derartigen Abfolge dargestellt werden", (Lacan (1980b): 235. "Anwesenheit auf dem Grund der Abwesenheit (...) Das ist der ursprüngliche Widerspruch von 0 und von 1", ebd.: 396 23 Lacan: (1973a): 56 24 Lacan (1973a): "Das Seminar über E.A.Poes 'Der entwendete Brief'", 7-41 25 Die Titel der drei Texte lauten: "Darstellung des weiteren Verlaufs", (1973a): 41-43; "Einführung", 44-54; "Parenthese der Parenthesen (1966)", 54-60 26 Wir gehen davon aus, dass sich das Werk Lacans weniger durch die inzwischen zu einem Wald verdichteten psycho- und postpsychoanalytischen, feministischen und philosophischen Arbeiten erschließen lässt, als vielmehr durch die Rekonstruktion seiner formalistischen Konzeption. 27 Lacan (1973a): 42. Die Übersetzung der Begriffe mémoration und mémoire mit "Erinnerung" und "Gedächtnis" wird, obwohl es sich um eine signifikante Differenzierung handelt, in der deutschen Ausgabe (1973a) leider nicht exakt eingehalten. Die Übersetzung folgt zwar dieser begrifflichen Zuordnung auf Seite 42 in den Zeilen 11, 12, 20. Auf S. 48, Z. 1 aber wird mémoire mit "Erinnerung" wiedergegeben, und auf S. 55 wird


68 dürfen, auf denen zahlreiche, individuell verschiedene Datenbündel gespeichert sind. Unabhängig aber von dieser individuellen Verschiedenheit bleibt die Datenverarbeitung, die Arbeitsweise (des UnBewußten) innerhalb der mémoration immer dieselbe. Mit dieser Metapher ist die Eigenwilligkeit der Lacanschen Interpretation des UnBewußten schon angedeutet: Das UnBewußte lässt sich nicht als Eigenschaft oder Besitz des Lebenden beschreiben; es arbeitet wie ein Automat nach dem Muster einer formalen Sprache. Lacan eröffnet seine Überlegungen programmatisch mit dem Satz "das Programm ... besteht folglich darin, zu erkennen, wie eine formale Sprache das Subjekt bestimmt." 28 Lacan wird sich dabei auf Ergebnisse der Automatentheorie stützen. Mit der Ordnung der elementaren Elemente, die Zeichen oder Symbole bzw. Signifikanten 29 - welche sich in einer vertikalen und einer horizontalen Richtung zu ordnen vermögen 30 - versucht Lacan zu zeigen "wie die strengsten Determinationen sich einer Folge von Würfen angleichen lassen". 31 Er gibt eine willkürliche, synchronische Serie an: {+ + + - + + - - + -}. 32 Dabei werden drei in linearer Reihenfolge stehende Zeichen einem spezifischen Zustand zugeordnet. Jeder Zustand besteht also aus einer dreistelligen Ziffer {ijk}. 33 Die erste dreistellige Ziffer {i 1j1k1} der von Lacan angegebenen Serie lautet {+ + +}. Um die zweite Ziffer {i 2j2k2} zu konstruieren, fällt {i 1} im Output weg. Aus {j 1} wird {i2}, aus {k1} wird {j2}. {k2} kommt im Input hinzu: die zweite dreistellige Ziffer des Beispiels lautet {+ + -}, die dritte {+ - +} usw.. Zustand (1) bezeichnet bei Lacan die "Symmetrie der Beständigkeit" 34: {+ + +} oder {- - -}. Zustand (3) bezeichnet die Symmetrie der "Alternation" 35: {+ - +} oder {- + -}. Mit Zustand (2) bezeichnet Lacan die "Dissymmetrie", die zwei gleiche Zeichen nebeneinander mit einem der anderen Gruppe kombiniert: {- - +}, {+ + -}, {- + +} oder {+ - -}. 36 Die einzig möglichen Folgebeziehungen dieser Zustände stellt Lacan im Laufdiagramm eines streng konnexiven37 Graphen dar.38 Wir bezeichnen es als Netz N1: Ö---------------------Ì ° 2 ° ° Ö->-*Ú--Ì ° ° Ö---À ° ° °<--Ì ° ° ° 1* ° ° *3 ° ° ° Û-->° ° ° û---ì ° ° Û--Ù*-<-ì ° mémoration sogar in Z. 21 mit "Gedächtnis", in aber Z. 27 mit "Erinnern" übersetzt. Um diese mit der Übersetzung verbundenen Probleme zu vermeiden, sehen wir uns genötigt, die Bezeichnungen des französischen Originaltextes zu verwenden. Die Ausgabe des Seminars II (1980b) setzt Erinnerung/Gedächtnis gleich dagegen "Wiedererinnerung/la rémemoration", Lacan (1980b): 236. Hinweis: Da man im Deutschen "Erinnerung" eher mit Innerlichkeit und Leben assoziiert, "Gedächtnis" eher mit Außenwelt und Dingen (z.B. Schrift) - diesem Aspekt entspricht das von Lacan auch benutzte souvenir für "erinnern" -, haben wir die von Lacan vorgenommene Differenzierung an anderen Stellen mit einer umgekehrten Zuweisung der deutschen Begriffe "Erinnerung" und "Gedächtnis" aufgenommen. 28 Lacan (1973a): 42 29 Ich verwende hier die Begriffe Symbol, Zeichen und Signifikant in gleicher Bedeutung. 30 Vertikale und horizontale Folgebeziehung lassen sich am einfachsten mit Satzstrukturen vergleichen. Der Satz "wenn es regnet, dann wird die Straße naß" gibt eine horizontale Folgebeziehung von acht Worten ab. Neben dieser Beziehung existieren mehrere vertikale Folgebeziehungen, die im Satz selbst nicht auftauchen, dessen Gehalt aber durch ihre Abwesenheit mitbestimmen: Wenn es regnet, dann scheint die Sonne nicht. Wenn die Straße naß ist, ist es nicht unbedingt im Haus naß usw. Saussure hat horizontale und vertikale Folgebeziehung beispielsweise syntagmatische und paradigmatische Achse genannt; Leach folgt Saussure und fügt die kulturanalytischen Begriffe Kontiguität und Similarität hinzu; Eco: Kontakt und Nachahmung; Jakobson: Metonymie und Metapher, er hat damit Verschiebung und Verdichtung bei Freud mit Syntagma und Paradigma zusammengebracht. Lacan hat sich daran orientiert. Lévi-Strauss spricht meist von synchronischer und diachronischer Achse. Weitere Bezeichnungen finden sich bei Leach: lineare Kombination und distinktive Selektion; Hörmann: Sequenzialität und Assoziativität; Lacan: Kombination und Substitution; Todorov: Koordination und Subordination usw. 31 Lacan (1973a): 46. Lacan spricht in diesem Zusatz von Würfen. Vgl. u.a. (1973b): 197, (1978): 109) Das ist nicht unerheblich, denn im Gegensatz zum Wurf "Grad oder Ungrad" lässt das bloße "Fort-Da-Spiel" die folgende Formalisierung nicht zu, ohne dass man eine distinkte Zeit-Taktung hinzuaddiert. 32 Lacan (1973a): 46 33 "Die Dreistelligkeit ist wesentlich für die Struktur der Maschine", Lacan (1980b): 402. Vgl. Derrida (1976): 449f 34 Lacan (1973a): 46 35 Lacan (1973a): 46 36 "la dissymétrie révélée" Lacan (1966): 60 37 Jeder Zustand ist von einer anderen über Pfade erreichbar. 38 "Netz 1-3", Lacan (1973a): 46


69 ° 2'' ° Û---------------------ì Netz N1 Auf den Zustand (1) können direkt nur (1) oder aber (2) folgen, niemals (3). Gesetzt, die Serie beginnt mit {+ + +} in (1), so geht das System bei einer nachfolgenden {-} in den Zustand (2) über; bei einem nachfolgenden {+} bleibt das System in (1). Den Zustand (3), also die alternierende Symmetrie von beispielsweise {+ - +}, kann das System ausgehend von (1) mit {+ + +} nur erreichen, wenn es zuvor (2) mit {+ + -} durchlaufen hat. (1) und (3) sind reflexiv und durch jeweils eine Schlinge ausgezeichnet, d.h. sie können sich beliebig oft wiederholen. (1) und (2) können auf einem abgehenden Pfad auch in (2) bzw (2') übergehen. (2/2') ist halbreflexiv und kann sich beliebig oft wiederholen, oder in (1) oder (3) übergehen. 39 Beginnt die Serie mit {+ + +} in (1), so kann weder nach einer ungeraden Anzahl von (2/2') ein (1) folgen, noch nach einer geraden Anzahl ein (3).40 Für Lacan ist damit schon die Grundlage einer gesetzmäßigen Formalisierung der mémoration geleistet, insofern sich jede Serie (im Beispiel beginnt sie mit {+ + +}) an den "geraden oder ungeraden Rang" 41 der (2/2') "erinnern wird"42. Daraus folgt als erstes, dass dem Zufall ein Regelsystem vorausgeht. 43 Die Dissymmetrie hat für Lacan einen besonderen Stellenwert, den wir uns sogleich verdeutlichen werden. In einer Fußnote bringt er sie mit dem englischen Wort odd44 in Verbindung. Was für den Verschwundenen Brief in der Erzählung Poes gilt, gilt auch für die Spule des kindlichen "Fort-Da-Spieles": der Signifikant in Gestalt der Objekte Brief oder Spule verlässt einen bestimmten Ort und taucht an einem anderen wieder auf. Bis das Objekt, das "wahre Subjekt"45, am Ort seines Empfangs auftaucht, macht es "Umwege" 46. Lacan schreibt in diesem Zusammenhang, dass mit den Worten "simple and odd (...) die Einzigartigkeit des Briefes auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht" 47 sei. "Da der Brief einen Umweg gehen kann, hat er einen Weg, der ihm eigen ist. Ein Zug, durch den sich seine ganze Inzidenz als Signifikant bestätigt. Denn wir haben gelernt, dass der Signifikant / sich nur in einer Verschiebung erhält, die mit unseren Tagesnachrichten in Laufschrift oder mit den rotierenden Gedächtnissen unserer Maschinen-die-wie-Menschen-denken vergleichbar ist, weil er alternierend funktioniert, indem sein Prinzip fordert, dass er seinen Ort verlässt, um zirkulär zu ihm zurückzukehren." 48 Es stellt keine besondere Schwierigkeit dar, den nach Netz N1 aufgezeichneten Systemlevel in seiner Funktionsweise unmittelbar zu durchschauen. Die Wahrscheinlichkeit des Vorkommens der Zustände (1), (2/2') und (3) ist gleich hoch. Lacan fährt in seiner Darstellung fort, um nunmehr eine erste Probe von der Wir können hier nur andeuten, dass sich jede Differentialfolge innerhalb einer in cartesianische Koordinaten abgetragenen linearen Kurve auf solche Ziffernfolgen formalisieren lässt, indem man aufstigende Differentiale mit {1}, fallende mit {0} notiert. 40 Lacan (1980b): 245 41 Lacan (1973a): 47 42 Lacan (1973a): 47 43 Lacan (1973a): 60 44 Im Deutschen bedeutet odd etwa "ungerade" oder "ungleich", im Französischen "impair". Lacan (1973a): 47, Anmerkung. Lacan verweist auch auf Baudelaires Übersetzung mit "bizarre" (ebd. 22). 45 Lacan (1973a): 28 46 Lacan (1973a): 28. "Wahres Subjekt" bedeutet in diesem Kontext, dass jedes Element aus der Menge aller Elemente die man mit Subjekt bezeichnet, durch diese 'Umweghaftigkeit' stigmatisiert ist. Man kann diesen Begriff von Subjektivität auf die Tradition Kants zurückbeziehen, der bereits die naive Auffassung vom Subjekt als fester Substanz kritisiert hatte, indem er sogar diese als bloße Menge von Relationen im Raum bestimmte. Lacan, (1980b): 73, 82, ordnet dem Subjekt deshalb eine prinzipielle "Dissymmetrie" zu, die auch die Geschlechterbeziehung umgreift, die in einer "Konjunktion der Dissymmetrie der Moleküle" besteht, Lacan (1980a): 234 47 Der Umweg entspricht einem Aufschub der direkten Bewegung. Das hat nicht nur Jacques Derrida im Hinblick auf Freud und auch auf Lacan behauptet. Die ontologie-kritische Bestimmung des Aufschub-Begriffs, die bei Derrida unter dem Namen "différance" firmiert, dass nämlich der Aufschub nicht bloß Verzögerung zwischen Anfang und Ende bezeichnet, sondern als "leere Ursprungsbewegung" gedacht werden muss, können wir hier nicht diskutieren. Wenn aber Marvin Minsky um das Problem der Erinnerung anzudeuten, seiner "oddmachine" eine "memory-machine" hinzufügen muss, die wie Lacans "Netz 1-3" mit drei bzw. vier Zuständen operiert, so könnte dieser Tatbestand mit Derridas Différance-Begriff zusammenstimmen. Die simple "oddmachine" könnte diesen leeren Aufschub darstellen. Lacan (1973a): 28 48 Lacan (1973a): 28/29, alle zitierten Hervorhebungen von Lacan. Darüber, ob ein Brief immer seine Bestimmung erreicht (Lacan) oder aber nie (Derrida) ist viel diskutiert worden. Wir enthalten uns der Stimme und wollen nur festhalten, dass es in jedem Fall kein effektives Verfahren gibt, dass die Menge angekommener Briefe rekursiv aufzählen könnte. Mit anderen Worten: Auf jeden Fall kann man nie wissen, ob ein Brief ankommt oder nicht. In einer verschärften Version kann man auch mit Recht behaupten, dass man nicht wissen kann, ob ein Brief tatsächlich seinen Bestimmungsort erreicht hat. 39


70 Undurchsichtigkeit der symbolischen Ordnung zu geben. Die Zustände werden kombiniert, indem in der Serie ihrer Reihenfolge ein Zustand übersprungen wird. Bei der Folge (1)-(2)-(3) z.B. ergibt sich unter Auslassung von (2) die Verbindung (1-3). Sie gehört der Zustandsmenge (A)=(11) an, deren Elemente mögliche Verbindungen zwischen den Zuständen der Symmetrie darstellen. Die Verbindung einer Dissymetrie mit einer Dissymmetrie gehört zur Menge (G)=(00). Die Kreuzkonjunktionen von einer symmetrischen zu einer dissymmetrischen Relation gehören in die Menge (B)=(10); die von einer dissymmetrischen zu einer symmetrischen Relation seien die Elemente der Menge (D)=(01). 49 Im Gegensatz zu N1 ergeben sich nunmehr "absolut dissymmetrische Verteilungsmöglichkeiten" 50 zwischen (A) und (G) einerseits und andererseits (B) und (D). Man stelle sich eine Reihenfolge von vier Zuständen vor, Lacan nennt sie "Zeitmetren". Vom ersten zum zweiten Zeitmetrum kann jeder beliebige Term von jedem beliebigen Term aus erreicht werden. Auch im vierten Zeitmetrum kann dieser beliebige Term wieder erreicht werden. Zweites und viertes Zeitmetrum sind gegenüber der Zustandsfolge indifferent. Das dritte Zeitmetrum 51 allerdings ist der folgenden Einschränkung unterworfen: Auf (A)=(11) oder (D)=(01) können nur (A)=(11) oder (B)=(10), auf (G)=(00) oder (B)=(10) nur (G)=(00) oder (D)=(01) folgen. 52 Lacan erweitert sodann die binären Ziffern von zwei auf drei bits, so dass sich 2 3 dreistellige Ziffern ergeben. Sodann wird N1 bzw. N2 auf die Reihe mit drei bits erweitert, deren acht Ziffernkombinationen die Zustände in N3 darstellen.53 Im Gegensatz zu N1 erlaubt N3 die differenzierte Darstellung der ursprünglichen Zustände, beispielsweise für (1): {- - -}, {+ + +}; für (2'): {- + +}, {+ - -}. Die neuen Zustände, die nach dem bekannten Generationsprinzip aufeinander folgen, repräsentieren Folgebeziehungen der Symmetrien und Dissymetrien aus N1. N3 stellt wesentlich eine Verdoppelung von N2 dar. Durch Einfügung der jeweilig vernachlässigten zweiten Zeitmetren der (A,B,G,D) in die (00,01,11,10) erhält man N 3. Ö---------------------------------------Ì ° D D ° ° Ö----001---->----011----Ì ° ° ° °° °° ° ° ° Ö---À ° ° ° ° °<--Ì ° ° G° 000 ° 010 <-> 101 ° 111 °A ° ° Û-->° ° ° G A ° ° û---ì ° ° ° °° °° ° ° ° Û----100----<----110----ì ° ° B B ° Û---------------------------------------ì Netz N3 Die Folge von (110 ... 100), also von zwei (B) ohne Einfügung eines (D) kann entweder direkt entstehen oder unter Einfügung einer beliebigen, symmetrischen Menge an (A) und (G): ((110)-(101010101010...10)-(100)). Nach dem zweiten (B)=(100) kann kein neues (B) auftauchen, ohne dass das System vorher in (D)=(001) übergegangen ist. Die Folge von zwei (B) kann sich nicht wiederholen, ohne dass nicht zwei (D) in der Serie erreicht worden wären. Auch diese beiden (D) können, wenn man von der Verbindung über ein (B ) absieht, direkt aufeinander folgen (001 ... 011) oder über den Umweg von (G-A)-Paaren: (001-01010101...01-011). Die Folgen (B ... B) und (D ... D) verhalten sich äqivalent. Das impliziert, dass die (A-G)-Folgen sich infinit wiederholen können; (B) und (D) hingegen vermögen die Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens, das im günstigsten Fall bei 50 Prozent liegt, nicht zu erhöhen. Damit hebt Lacan die Betonung der "Dissymmetrie" innerhalb der Vorkommenswahrscheinlichkeit der Zustände noch einmal hervor. 54 Diese Dissymmetrie impliziert eine systeminterne Determination. Greifen wir zur Erläuterung wieder zurück auf das Beispiel der Würfe: Überlässt man die Ahl der "Würfe (...) streng dem Zufall" 55, so entsprechen die zufälligen Folgen dem Lacan (1973a): 48 Lacan (1973a): 48 51 Lacan bezeichnet es als "le temps constituant du binaire", (1966): 62. In seinem Seminar bespricht Lacan, (1980a): 101f, die Funktion dieses dritten Zeitmetrums, das "in der zwischen-menschlichen Dialektik" liege, wobei die Betonung auf zwischen liegt. Unter dem dritten Term sei nichts anderes zu verstehen als die Arbeitsweise der Symbole, die "zusätzlich zu dem Bezug des Menschen auf Seinesgleichen" benötigt wird (ebd.). 52 Für Lacan, (1973a): 49, zeigt sich darin die "einfachste Formalisierung des Tausches". Siehe Appendix III. 53 N3 bezeichnet Lacan, (1973a): 56, mit "Netz a,b,g,d". Es versteht sich das N 3 in einer "wachsenden Verästelung", (1973a): 109, bis zu Nn hin ausgeweitet werden kann. 54 Lacan (1973a): 50 55 Lacan (1973a): 51, 59f. Wir können den Begriff "Zufall" hier nicht diskutieren. Im vorliegenden Fall darf man den Pseudo-Zufall darunter subsummieren. Es geht hier nur um eine nicht prognostisch berechenbare Serie 49 50


71 Reelen. Die Vorkommenswahrscheinlichkeit von ist äquivalent ist mit der Voraussetzung dafür, dass sich eine beliebige Serie von (A-G)- bzw. (G-A)-Folgen ereignen kann. In dieser Determination von (A) und (G) durch (B) und (D) sieht Lacan ein Kriterium dafür, wie sich eine symbolische Determination vom Reelen abhebt. 56 Denn jeder Zufall wird dadurch in eine Gesetzmäßigkeit gebannt, deren Zeichen die Disparität ist. Kein Zufall vermag dieses Gesetz zu unterlaufen bzw. zu brechen. Nicht das Reele, sondern diese symbolische Determinierung innerhalb der Serien der Signifikanten gibt für Lacan das Grundmodell der von Freud postulierten "Überdeterminierung" 57 ab. Mit diesem Begriff beschreibt Freud ein Phänomen, dass er im Zusammenhang seiner Traumtheorie und seiner Theorie der Symptombildung hervorgehoben hat. Innerhalb des Kapitels zur Verdichtungsarbeit in der Traumdeutung untersucht Freud die dem Traum impliziten, verschiedenen Pfade der "Erinnerung" 58. Die Verschiedenheit dieser Pfade macht die Vieldeutigkeit des Traumes aus. Sie wird insbesondere im Phänomen der Verdichtung deutlich, in dem diese Pfade wie zu einem "Knotenpunkt"59 zusammenlaufen. Freud schreibt: "Jedes der Elemente des Trauminhaltes erweist sich als überdeterminiert, als mehrfach in den Traumgedanken vertreten."60 Und weiter: "Nicht nur die Elemente Traums sind durch die Traugedanken mehrfach determiniert, sondern die einzelnen Traumgedanken sind auch im Traum durch mehrere Elemente vertreten. Von einem Element des Traums führt der Assoziationsweg zu mehreren Traumgedanken, von einem Traumgedanken zu mehreren Traumelementen"61. Daraus folgt, dass sich die Überdeterminierung keiner semantischen Sinngröße verdankt.62 Es ist zusammenfassend festzuhalten, dass Lacan, der einem akzeptablen Verfahren analytischer Assoziation theoretischen Rückhalt verschaffen will, die innere Determination der symbolischen Ordnung zur Grundlage von Zustandsfolgen erklärt. 63 Die Grundzüge der Subjektivität bilden sich innerhalb der Serien, die in N 2 und N3 auf gemeinsame und je spezifische Weise zu entstehen vermögen. Lacan faßt seinen Kommentar zu diesem Modell in einem Satz zusammen: "Die Subjektivität ist von ihrer Herkunft her keinesfalls der Ertrag des Reelen, sondern einer Syntax, die signifikante Markierungen in ihm generieren." 64 Das Modell veranschaulicht, dass die Vorhandenheit des Subjektes ausschließlich als eine syntaktische Funktion der Serien innerhalb der Zustände zu begreifen ist. Da diese Zustände Serien ausbilden, erzeugen sie auch Zeitverhältnisse. Das Spezifische an diesen Zeitverhältnissen besteht in ihrer inneren Determination. Die Elemente in N 3 beispielsweise "wissen", das das System nach einem doppelten Vorkommen von (D) niemals direkt in den Zustand (G) übergehen kann. Das bedeutet, dass die gegenwärtige Position eines Subjekts innerhalb einer Serie wesentlich von den bereits durchlaufenen und den möglichen erreichbaren Zustände bestimmt wird. Deshalb kann Lacan sagen, dass Gegenwart der Subjektivität durch das Futur II bestimmt wird, was hier auf nicht weniger verweist, als dass es kein Patentrezept fürs Glück gibt, sondern dieses sich erst im Nachhinein zeigt. Die Fragen wo sich das Subjekt bei den möglichen Zeitpunkten ((1)...(x)) zu einem gegebenen Zeitpunkt (x) befindet?, oder was das Subjekt zu einem gegebenen Zeitpunkt (x) ist?, lässt sich nur im futur antérieur beantworten; erst wenn das Subjekt einen Zustand (x+n) erreicht hat, kann man sagen, wo es sich zum Zeitpunkt (x) befunden hat, oder was es zu diesem Zeitpunkt gewesen ist. In dem Intervall zwischen (x) und (x+n) entsteht eine Zukunft, die in der Vergangenheit liegen wird und damit paradoxerweise eine Vergangenheit darstellt, die in der Zukunft liegt. Im Hinblick auf die Geschichte des Subjektes entsteht ein leerer Raum zwischen dem, was diese bereits explizit in Gestalt der Vergangenheit einschließt, und dem, was sie als Zukunft bereits implizit in sich enthält. Lacan nennt dieses "Loch" das "caput mortuum des Signifikanten"65. Es gibt die Grundlage für Lacans, oben angesprochenes Axiom des Mangels ab. Dieser Mangel begründet seinerseits die Abhängigkeit der von Würfen. 56 Lacan (1966): 64; (1973a): 51 57 Lacan (1973a) 51. In gebotener Kürze seien folgend die wesentlichen Momente des Begriffes "Überdeterminierung" herausgestrichen. 58 Freud (1982): II 285. Dabei kommen Elemente wie Erinnerungen an den vorhergehenden Tag, die sogenannten "Tagesreste", Erinnerungen an die Kokain-Schrift, an Universitätserlebnisse, Frauengeschichten und weiteres zusammen. 59 Freud (1982): II 286 60 Freud (1982): II 286 61 Freud (1982): II 286. Als ausgezeichnetes Beispiel für die Überdeterminierung verweist Freud, (1982): II 293, auf seine Analyse des Traums von Irmas Injektion. 62 Lacan bezieht damit Stellung gegen Traumheorien, die bestimmte Inhalte zum Motor des Träumens erklären, wie beispielsweise die Jungs (Archetypen), Adlers (Organminderwertigkeit), Ferenczis (Leben), Ranks (Geburtstrauma), Anna Freuds (Ego) usw., oder auch eine vulgäre Freudauslegung (ödipale Sexualität) 63 Er geht dabei einen anderen Weg als Vertreter der mathematischen Logik wie Leibniz, Frege, Morris u.a., die versucht haben, die Mathematik aus der Sprache abzuleiten. (Die besondere Stellung Booles im Zusammenhang der Ausführungen Lacans wäre gesondert zu untersuchen.) 64 "La subjectivité à l'origine n'est d'aucun rapport au réel, mais d'une syntaxe qu'y engendre la marque signifiante." Lacan (1966): 63 65 Lacan (1973a): 50. Der "abgeschlagene Kopf" des Signifikanten hinwiederum wird berechnet mit 3:4 bzw. 7:16.


72 symbolischen Ordnung von der "Abwesenheit" 66, die den Signifikanten dazu zwingt, seinen Umlauf zu "wiederholen"67. Im Zusammenhang einer Charakteristik der Überdetermination kommentiert Lacan die konkrete Situation, die dieses Zeitverhältnis mit sich bringt: Einem gegebenen Symptom liegen immer drei Ebenen zu Grunde. Erstens sei es "Symbol eines abgestorbenen Konflikts" 68, zweitens habe es seine Bedeutung in einem "gegenwärtigen, nicht minder symbolischen Konflikt" 69 und drittes wird es bestimmt durch die Ergebnisse der Analyse bzw. Therapie. Die Serien nehmen dabei die Rolle einer aufschiebenden "conservation" 70 der Wunscherfüllung ein. Das Begehren nämlich erfüllt sich nicht spontan, sondern zeichnet sich durch die Inszenierungen von Umwegen (solcher Serien) aus, die schließlich identisch mit dem Begriff "Leben" selbst sind. 71 Lacan wählt den Begriff "Konservation" (und nicht etwa "délai") nicht ohne Grund: Mit der Revision der Trieblehre und der Konzeption des Todeskomplexes, der den Trieb nunmehr in der angesprochenen Weise als Drang zur Wiederherstellung eines anorganischen Zustands begreift, 72 spricht Freud von einer "konservativen Natur des Lebenden."73 Freilich ist diese Tendenz menschlicher Individuen als Lebewesen, in den Zustand des "Vor-Lebendigen" zu regredieren, Freud und Lacan zufolge nicht gleichzusetzen mit dem direkten "Tod der Lebewesen" 74 selbst. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Tendenz um eine aufschiebende Konservation des Lebens. Lacan präzisiert seine Überlegungen, indem er diesen Aufschub als den "menschlichen Austausch, die Intersubjektivität" 75 begreift, kurzum als "das menschliche Erleben" 76 in Gestalt der Kommunikation. 77 Der Zwangscharakter wird, insofern er seinen Tod nicht annimmt, in diesem "Aufschub" verweilen. 78 Diese konservative Tendenz der Lebewesen, die sich im Wiederholungszwang als "Drang" 79 bemerkbar macht, - Lacan spricht deshalb von "Insistenz" 80 - besitzt Lacans Freud-Auslegung zu Folge eine "vorvitale und transbiologische Motivierung" 81, die jede "zerebrale" 82 und kognitive Kompetenz transzendiert. Das heißt nicht, dass Freud und Lacan plötzlich anfingen, über esoterische Erkenntniswege oder eine spirituelle Entität zu spekulieren: Das Individuum wird bestimmt von der symbolischen Ordnung, wie sie oben erörtert wurde. Jedes menschliche Lebewesen stellt nie mehr als eine Teilmenge innerhalb dieser Ordnung dar, 83 die insofern "vorvital" genannt werden kann, als sie nach den Regelsystemen der anorganischen Welt funktioniert. Diese Regeln beschreiben nach Lacan maschinelle Funktionsprozesse, welche keinesfalls das Produkt einer konstruktiven Tätigkeit des Bewußtseins darstellen, auch wenn ein Subjekt in immer begrenzter Weise 84 diese Funktionsprozesse zu Bewußtsein führen kann. Das Phantasma, dass sie ein Produkt des Bewußtseins seien, führt Lacan die kommunikative Wechselbeziehung der Subjekte zurück. Das Subjekt besitzt nur deshalb die Eigenschaft einer Teilmenge innerhalb der Menge aller symbolischen Elemente, weil es durch ein besonderes

Lacan (1973a): 50 Lacan (1973a): 50 68 Lacan (1973a): 109 69 Lacan (1973a): 109 70 "conservation", Lacan (1966): 65; "Aufschub", Lacan (1973a): 51 71 Die Spanne der Lebensweges macht diesen verzögernden Umweg zwischen der Heraufkunft aus dem Nichts und dem Verschwinden ins Nichts aus. Der Umweg des sterblichen Fleisches erfährt bei menschlichen Lebewesen eine spezielle Auszeichnung, die über die bloß biologischen Funktionen hinausgeht. Diese Besonderheit sieht Lacan in der Beziehung der Menschen untereinander. 72 vgl. Anm. 5 73 Freud (1982): III 246 (Hervorhebung von Freud) 74 Lacan (1980b): 107 75 Lacan (1980b): 107 76 Lacan (1980b): 107 77 Wir werden diese Feststellung folgend erläutern und betonen an dieser Stelle noch einmal, dass wir dieses Programm einer Vermittlung zwischen Maschine, Organismus und Bewußtsein für die bedeutendste Leistung des Lacanschen Oeuvres halten. Wir beabsichtigen mit der Rekonstruktion dieser Vermittlung jenen Ergebnissen der gegenwärtigen Selbstorganisationsforschung ein theoretisches Fundament zu verleihen, die Ilja Prigogine dem Zischenbereich von Lebendem und Totem zugeordnet hat, einem Reich, in dem die Differenz von Lebendem und Totem nicht gelte. 78 Lacan (1978): 360; vgl. (1973a): 160f 79 vgl. Anm. 5 80 Lacan (1973a): 52, (1973b): 15-55, (1980b): 81f, u.a. 81 Lacan (1973a): 52 82 Lacan (1973a): 52 83 Als beispielhaft ist die Sprache anzusehen. Kein Subjekt erschafft sie im Akt des Sprechens. Das Subjekt wird in die schon bestehende Sprache "hineingeboren". 84 Diese Begrenzung entspricht bei Saussure der Limitierung der "parole" im Gegensatz zur strukturell infiniten "langue". 66 67


73 Verhältnis zu anderen Subjekten gekennzeichnet ist. Das Subjekt vermag aufgrund der erörterten "imaginären Relation zu seinem Nächsten in diese Ordnung als Subjekt einzugehen" 85. Lacan stellt sodann die Vermittlung zwischen der Struktur der symbolischen Ordnung und der imaginären Relation86 anhand des "Schemas L"87 vor. Ö-----------------------------Ì ° (Es) S - - > der andere ° ° \ / ° ° \/ ° ° /\ ° ° / \ ° ° (Ich) a <---- das Andere ° Û-----------------------------ì "Schema L" (Lacan) Zunächst notiert Lacan an Stelle der Buchstabenkonvention (A,B,G,D) nunmehr ein- und mehrfache Klammerungen. Der Name für die einfachen lautet "Parenthese", der Name für die mehrfachen Parenthesen der Parenthesen lautet "Anführungszeichen"88. Für Zustand (A) steht {1}, für Zustand (G) {0}; eine öffnende Klammer repräsentiert den Zustand (B) aus N3, eine schliebende, (D).89 Lacan gibt ein Beispiel: die "Kette L: [10...[00...0] 0101...0 [00...0] ...01] 11111... [1010...1] 111... und so weiter." 90 Die Kette L wird auf das Schema L appliziert, wobei die doppelte Klammer als "Anführungszeichen", die einfache Klammer als "Parenthese" bezeichnet wird. 91 1. (Ich) a *<PK> "Material von Erinnerungsspuren"92 wird während der ontogenetischen Entwicklung aufeinandergeschichtet 93 und fortlaufend umgeordnet, also einer dauernden "Umschrift" 94 ausgesetzt. Die dritte und letzte Hauptumschrift des psychischen Apparats ist diejenige, die "an Wortvorstellungen gebunden" 95 ist und von Freud als "unserem offiziellen Ich entsprechend" 96 bezeichnet wird. Das Ich stellt demnach eine "entwickelte" 97 Instanz dar, die innerhalb der zweiten Topik bzw. innerhalb des sogenannten "dynamischen" Modells als Oberfläche beschrieben wird, die sich zwischen Außen- und Innenwelt ausbildet. Der frühe Freud bezeichnet es als "eine intellektuelle Funktion in uns"98. Sie "fordert Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit von jedem Material der Wahrnehmung und des Denkens, dessen sie sich bemächtigt" 99, und kann erst mit dem Auftreten des Sekudärprozesses aktiv werden. Darauf komme ich unten zurück. Die Funktion des imaginären Ich (Cogito, Ego) zeigt die Klammerung [10...01] der Kette L. Das entspricht den Zuständen (BAG...GAD) bzw. (11010...01011) in N3. 2. der andere und die Relation "a-a'" Der Begiff des "anderen"100 ruht nach Lacan auf Hegels Endeckung, "dass die Realität jedes Menschlichen (...) im Sein des anderen besteht"101. Die Diagonale zwischen "(Ich) a" und anderem beschreibt diese Lacan (1973a): 52 bzw. die Vermittlung zwischen vitalen und maschinellen, oder animalen und mentalen Ebenen. 87 Lacan (1973a): 53. Aus technischen Gründen ist die Gestalt dieses Schemas hier variiert. 88 Lacan (1973a): 54 89 Minsky, (1967): 121, hat eine Maschine konstruiert, die als Parenthesen-Scanner funktionieren kann. 90 Lacan (1973a): 54. Der Deutlichkeit wegen sei die "Kette L" in den anderen Konventionen notiert: (Der Bindestrich dient nur dazu die Anführungszeichen in der dritten Zeile abzugrenzen.) [10...[00...0] 0101...0[00...0]...01]-11111...[1010...1]111... BAG...BGG...GD GAGA...GBGG...GD...GAD-AAAAA...BAGAG...ADAAA... "10...[00...0] 0101...0[00...0]...01" 11111...[1010...1]111... 91 Lacan (1973a): 54 92 Freud (1987): **151 93 Freud (1987): **151 94 Freud (1987): **151 95 Freud (1987): **152. Die Psychosen bestehen wesentlich darin "die verlorenen Objekte wiederzugewinnen, (indem sie) den Weg zum Objekt über den Wortanteil derselben einschlagen, wobei sie sich aber dann mit den Worten an Stelle der Dinge begnügen müssen", Freud (1982): III 162 96 Freud (1987): **152 97 Freud (1982): III 44 98 Freud (1987): **100. Man kann sie mit Kants Funktion der transzendentalen Apperzeption vergleichen. 99 Freud (1987): **100 100 geschrieben mit kleinem "a" 101 Lacan (1980b): 96. Siehe Appendix II 85 86


74 psychologische Beziehung eines Ich zu anderen Ich, mit anderen Worten: die Beziehung zu einem anderen, "der gar kein anderer ist"102. Innerhalb äußerer und zwischen inneren Klammern kommen (A) und (G), {1} und {0}, abwechselnd vor. Dabei handelt es sich entweder um eine beliebige Folge von {0} in der Schlinge um den Knoten (G)/(000) in N 3 - oder um eine ungerade Zahl der Elemente {0} und {1} auf der Kante (G-A)/(010-101) in N 3. Diese Alternation stellt die imaginäre Relation zwischen "(Ich) a" und dem "anderen" dar. Dabei kommt nicht nur {1} und {0} ein differentieller Wert zu: {0} besitzt zwei verschiedene Funktionen: erstens besitzt sie innerhalb der Alternation, die den (G-A-G...)/(01010...) aus N 3 entspricht, einen "Skandierungswert"103, zweitens besitzt sie innerhalb der inneren Klammern den Wert eins "schweigendes Zeitmetrums". 104 Im Inneren der Klammer, nach Durchlaufen von (B) können von keinem Zustand aus beliebig viele (A) erzeugt werden. Anders außerhalb der Anführungszeichen, also nach durchlaufenem (D). 3. das Andere *<PA> Das UnBewußte sei "der größere Kreis, der den kleinern des Bewußtseins in sich einschließt" 105, schreibt Freud. Zwar ist das Ich demzufolge sowohl dem UnBewußten als auch dem Subjekt gegenüber "äußerliche" 106 organisiert; diese Organisation aber bringe "ihre Arbeitsweisen" mit sich "ins Ich" 107. Dieses allerdings könne gleichwohl keine Vorstellung vom UnBewußte "als solches"108 erlangen. In Fortschreibung dieser Axiomen Freuds, erweitert Lacan die intersubjektive Dialektik um die Ergebnisse der Psychoanalyse Freuds, "dass der Mensch nicht völlig im Menschen ist" 109. Dieser Begriff vom Menschen weist insofern über den Menschen selbst hinaus, als er symbolische, also maschinelle Funktionen impliziert. Lacan kann dieses Ebene als "Intersubjektivität" 110 bezeichnen, weil hier tatsächlich der wortwörtlich "zwischen-menschliche" Bereich der Kommunikation angesprochen ist und nicht der zwischenmenschliche des Dialogs. In der Kette L zeigt sich das Andere außerhalb der Klammerungen: Nach Durchlaufen des Zustandes (D)/(001) in N3 kann keine binäre Alternation, sondern nur die Unärfolge in (A)/(111) vorkommen, welche freilich beliebig viele Klammerungen in sich einschließen kann. Lacan sieht hier die Vorherrschaft der "Wiederholung in Gestalt der 1, unäres Merkmal, das die gekennzeichneten Zeitmetren des Symbolischen als solches darstellt." 111 Das Andere bezeichnet den Raum der potentiellen Virtualität und Umkehrung (die durch den anderen aktuell wird), so wie ich sie oben beschrieben habe. Aus diesem Raum empfängt das Subjekt seine Information in "umgekehrter Form (Interpretation)". 112 Wenn Lacan nun in Bezugnahme auf Freud angibt, die Analyse habe "im Text der freien Assoziationen der wachsenden Verästelung einer Linie von Symbolen zu folgen, um an den Punkten, an denen die sprachlichen Formen sich überschneiden, die Knoten ihrer Struktur zu ermitteln" 113, so wird die Voraussetzung Lacans deutlich, dass nämlich ein Symptom sich deshalb in "Sprachanalyse" 114 hinein aufzulösen vermag, weil das UnBewußte und demzufolge auch das Symptom "wie eine Sprache strukturiert" 115 ist - wir dürfen hinzufügen: wie eine formale Sprache.116 Lacan sieht hier eine Memoration am Werk, die als Relais-Schaltungen 117 bezeichnet, und dessen Prozessorgeschwindigkeit er hervorhebt. Allen Subjekten kommt die Funktion zu, Relais zu sein. 118 Im Lacan (1980b): 407 Lacan (1973a): 54, vgl. Lacan (1980b): 410 104 Lacan (1973a): 54, vgl. Lacan (1980b): 414 105 Freud (1982): II 580 106 Lacan (1980b): 79 107 * Freud: GW XVII 89 108 Lacan (1980b): 87 109 Lacan (1980b): 97. Der Begriff des "Anderen" impliziert weiterhin linguistische Kategorien. So spielen insbesondere Saussures Arbeiten und dessen Begriff "langue" (der Sprache als System im Gegensatz zur vom Ich gesprochenen "parole") hier eine Rolle. Deshalb spricht Lacan, (1980b): 311f, hier auch von einer "Sprachmauer", die "a, a',a'... an" vom Anderen trennt. 110 Lacan (1973a): 56. "Auf diese Weise definiert sich ein intersubjektives UnBewußtes, das sich weder auf ein individuelles noch auf ein kollektives UnBewußtes reduzieren lässt", Deleuze (1992): 141 (Anm.) 111 Lacan (1973a): 55 112 Lacan (1973a): 55 113 Lacan (1973a): 109 114 Lacan (1973a): 109 115 Lacan (1973a): 109 116 Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen weist Lacan auf das "Experiment mit der Zahlenassoziation" hin. Lacan (1973a): 109 117 Lacan (1973a): 55 118 Lacan (1980b): 408 102 103


75 Zeichenwechsel der Binärnotation ermöglicht es das Überschreiten der Klammerungen und der Zeichen. In dem Tatbestand, dass sich bei Vertauschung der Klammerungen - "[" für (D) und "]" für (B) - die dissymmetische Verteilung erhält, sieht Lacan eine "stabile Disparatheit" 119 gegeben, aus der das "caput mortuum des Signifikanten" 120 die Bedeutung eines Kausalgrundes gewinnt. 121 "Kausalgrund" meint hier die Potenz, von außen her Wirkungen in Innen- und Außenwelt zu erzeugen. 122 4. Subjekt/(Es) S *<PP> Das Subjekt ist solch ein Effekt, eine realisierte Teilmenge "S" aus der Menge "Anderes". Es beschreibt Systemfunktionen eines Teiles des "aus dem System Ich ausgeschlossenen UnBewußten" 123.* Deshalb kann Lacan Freuds Satz, dass Das Ich dorthin müsse, wo Es war, übersetzen mit "Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke. (...). Ich denke an das, was ich bin, dort wo ich nicht denke zu denken. (...). Denn, wenn das, was Freud entdeckt hat nicht genau dies ist, ist es nichts" 124. Das Subjekt ist nicht ganzheitlich zu verstehen, 125 sondern als eine Art coincidentia oppositorum aus Partialen zusammengesetzt. In der automatentheoretischen Revision der Psychoanalyse können die in Anführungszeichen stehenden Ziffern das Subjekt des Schemas L darstellen.126 Als Klammern-in-Klammern implizieren sie eine teilende Verdoppelung, die dem Prinzip der Wiederholung zu eigen ist. Insofern dieses Subjekt "logistisch disjunkt und subjektiv schweigend" 127 ist, entspricht es dem "Es" im Werk Freuds, nicht dem UnBewußten. Das Ich hat Kunde von der Beziehung des Anderen zum Subjekt nur über die Beziehung zu seinem anderen. 128 und der andere sind Subjekte insofern sie den systemischen Zustandsserien des Anderen ohne Wenn-und-aber unterliegen. Lacan erläutert diesen Zusammenhang am Beispiel des Grad-Ungrad-Spiels: Von zwei Spielern hält einer eine Anzahl Murmeln in der geschlossenen Hand. Der zweite Spieler hat zu erraten, ob diese Zahl grad oder ungrad ist. Wenn der erste nicht so dumm ist, die Anzahl abwechselnd auf grad oder ungrad zu beschränken, wird der zweite sich überlegen müssen, woran er erkennen kann, wie der erste handelt. Dazu gehört auch die Strategie des einen oder anderen, sich dumm zu stellen. Solche Abwägungen spielen sich zunächst im Feld des Imaginären ab, indem der eine über eine Identifikation mit dem anderen zu erraten versucht, was dieser tut. Entscheidend aber ist, dass die Spielpartner in der wechselseitigen Einschätzung dem dritten Zeitmetrum 129 begegnen, das heißt dem Raum der Wiederholbarkeit. Wenn ich mit Zug (Z1) begonnen habe, so kann ich darauf einen beliebigen Zug (Z0) folgen lassen; beim dritten Zug aber entscheidet sich, ob ich (Z1) oder (Z0) wiederhole. Strategisch erfolgreicher ist die Methode, wenn das Spiel nicht aus der imaginären Identifikation heraus, sondern über den "Gedankengang" 130 des Spielpartners erfolgt. Als "Hauptbestandteil unserer Denkvorgänge" identifiziert Freud "durch Worte faßbar gewordene Relationen"131. Welche Stellung kommt hier dem Begriff "Relationen" zu, und welche Funktion hat darauf übertragen der Begriff "Wort"? Wir erinnern uns an die Bedeutung der Wortvorstellung: Da das verlorene "Glück" und der mit ihm verbundene Komplex von Sachvorstellungen nicht wieder aufgefunden werden kann, wird es von "Wortvorstellungen"132 ersetzt, die ihrerseits die Unauffindbarkeit dadurch bedingen, dass die "Bedeutung" eines Wortes nicht für die Anwesenheit eines Referenzobjektes steht. Sind Objekte abwesend, deren Sachvorstellungen "einst reale Befriedigung gebracht hatten" 133, so tritt nach Freud die Einheit stiftende Funktion des Sekundärprozesses auf den Plan. Das beginnt offensichtlich mit dem mit dem Fort-Da-Spiel. 134 Beim Fort-Da-Spiel zeigt sich, dass das Wort zunächst nicht Wort sondern eine Lautfolge ist. Fort und Da drücken als Lautfolge eine binär formalisierbar Relation ({+} und {-}) mit Hilfe einer binär formalisierbaren Lacan (1973a): 55 Lacan (1973a): 55 121 Lacan (1973a): 55 122 Was in diesem Zusammenhang das Beispiel des verlorenen Briefes betrifft, so habe dieser tatsächlich Wirkungen nach Innen und Außen erzeugt: "Auf die Handelnden der Erzählung, den Erzähler mit eingeschlossen, wie auch nach außen: auf unsere Leser, wie auch auf ihren Autor, ohne dass irgend jemand jemals sich um seine Bedeutung kümmern musste. Das ist gewöhnlich das Los all dessen, was geschrieben wird." Lacan (1973a): 55. 123 Lacan (1980b): 79 124 Lacan (1973b): 43; vgl. Freud (1982): 320 125 Lacan (1980b): 310 126 Lacan (1973a): 54 127 Lacan (1973a): 55 128 Lacan (1980b): 409. (Deshalb kommt dem Problem der Zweigeschlechtlichkeit ein besonderer Stellenwert zu; es ist der Repräsentant von Sein und Nichts.) 129 Siehe Appendix III 130 Lacan (1973a): 58 131 * Freud (1982): GW IX oder AP 302. Hervorhebung von mir. 132 Freud (1982): IX 373 133 Freud (1982): III 375 134 Freud (1982): III 375 119 120


76 Relation, der Lautfolge selber aus. Das heißt, dass da Wort zunächst wesentlich eine Zusammenstellung von Partikeln nach Regeln ist. Diese Partikel sind "Füllsel" und "Kitt", wie Freud und Lacan sie auch nennen, aber sie füllen und kitten nichts. Es ist eine einzige Bewegung, die das, was sie kittet, erzeugt. Folgend seien einige Textpassagen Nietzsches zusammengetragen, die den Problemzusammenhang von Wille, Macht, Werden, Relation, Leben usw. explizieren. Affektive "Begierden und Leidenschaften" sind für Nietzsche zunächst Ausdrucksweisen des Leibes. Schopenhauer hatte den Leib im Zusammenhang von "Schmerz" und "Wollust" als "identisch" mit dem Begriff "Wille" 135 beschrieben. Der Begriff "Wille" bezeichnet hier freilich nicht mehr die souveräne Absicht des Menschen oder eines Gottes, sondern "Affekt, Leidenschaft, bewegter Gemützszustand"136 und Geschlechtlichkeit 137. Nietzsche folgt Schopenhauers Gleichsetzung in der Fortsetzung des Aphorismus: "man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo `Wirkungen` anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt - und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist" (JGB V 54). Nietzsche bringt damit den Begriff des "Willens" mit dem der "Kraft" zusammen. Er bezeichnet an anderer Stelle die ganze Welt als ein "Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß" (NF XI 610 f). Es herrscht in der Welt demnach nichts "als Kraft überall" (ebd). Diese Welt ist selbst ein "Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und `Vieles`, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Widerkehr" (ebd). Dieses "Kraftkontinuum" befindet sich in ewiger Wandlung, ständig im Prozeß des Werdens begriffen (NF XI 556f; XIII 34f). In dieser Weise muss man "das Maaß der Kraft als Größe als fest" (NF XI 537), "ihr Wesen aber [als] flüssig" (ebd) verstehen. Da diese Kraft kein substantielles "Wesen" hat, kann die "Weltbewegung" auch keinen "Zielzustand" haben (NF XIII 34; XI 556). Es gibt nichts Außerweltliches, das die Bewegung verursacht haben könnte, ihr liegt keine Absicht zu Grunde, sie weicht auch keiner Absicht aus. Es gibt auch nichts, woraufhin sie sich teleologisch entwickeln könnte, ein "Zustand" als "Wesen" des Weltgeschehens kann nicht ausgemacht werden. Die Welt ist unendlich, insofern alles "Seiende" im Fluß begriffen ist - sie ist andererseits endlich, insofern das Gleiche wiederkehrt, das heißt: der Wandlungsprozeß durchläuft Stufen, die ein Ende setzen können und dann Wiederholungen fordern. Das "Selbe" allerdings bleibt individuell, unwiederholbar und vergänglich. Die Äußerungen der Kraft verlaufen also nicht linear und unendlich: "die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden - wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff `Kraft` unverträglich. Also - fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit" (NF XI 557), im Sinne einer sich als identisch wiederholenden semantischen Entität. Exkurs: Technik im 19. Jahrhundert Es versteht sich, dass Nietzsches Gedankenwelt nicht nur in einer geisteswissenschaftlichen Tradition zu suchen ist. Man kann sicher sagen, dass das technologische Problem des 18./19. Jahrhunderts in der Erforschung "Kraft" bestand. Das Wissen der beginnenden Moderne orientierte sich insbesondere an dem Problem der Krafterzeugung und der Bändigung und Regulation, die unabdingbar für die Nutzung der Kraft innerhalb der industriellen Produktion war. Ohne diese zeitgenössische Technologie hätte Nietzsche seine Apologie der Kraft nicht verfassen können. Für die Zeitgenossen des mechanistischen Zeitalters - und zwar sowohl für die empirischen wie auch für den ideellen Rationalismus hätte es sich von allein verboten, einen solchen Diskurs zu führen. Zwar hat man auch zu dieser Zeit das Problem der Kraft reflektiert, aber es galt - im Gegensatz zur Physik der Mechanik - als göttliches Geheimnis, in das kein Mensch dringen könnte. In Fortschreibung der Probleme der Mechanik in den vorausgehenden Jahrhunderten lagen die entscheidenden technischen Neuerungen des Zeitalters Nietzsches in der Entwicklung der Dampfmaschinen und der elektrischen Maschinen von Experimentierapparaturen hin zu industriellen Werkzeugen . Die Erfindung der Dampfmaschine durch den Grubeningenieur Thomas Newcomen und den Militärtechniker Thomas Savery Ende des 17. Jahrhunderts wird durch James Watt Mitte des 18. Jahrhunderts mit einer ausgefeilten Regelungstechnik versehen. Diese Entwicklung führte schließlich zur kommerziellen Nutzung in Schiffahrt, Eisenbahn und Maschinenbau: George Stephenson entwickelte die Lokomotive, die in Gestalt der Locomotion (1825) und der Rocket (1830) für Rekorde sorgte; der Eisenbahningenieur Isambard K. Brunel baute Mitte des 18. Jahrhunderts die ersten erfolgreichen Ozeandampfer. James Nasmyth, ein Student Henry Maudslays, des "Vaters des Werkzeugmaschinenbaus", gelang 1834 die Entwicklung des steamhammer, des Dampfhammers, der die Grundlage für die industrielle Revolution bereitete. Im Katalogtext zur Weltausstellung 1851 wurde begeistert auf die Regulationsmöglichkeit der Kraft verwiesen: Nicht nur besitze der Dampfhammer kollossale Stoßkraft, er sei auch im Stande eine Eierschale bloß anzubrechen. Neben dieser Maschinentechnik, die Kraft aus Verbrennungs- und Verdampfungsprozessen gewann, machte die Schopenhauer: WV § 18 Schopenhauer: WV § 51 137 Schopenhauer: WV § 60 135 136


77 Elektrotechnologie ein weiteres Moment der Krafterzeugung und -regulation aus: 1869 verwandelte Aristide Bergès die Energie des Wassers mit Hilfe einer Turbine in Elektrizität; 1871 konnte Zénobe Gramme der Pariser Akademie der Wissenschaften seinen Dynamo präsentieren, der die Erzeugung von Gleichstrom ermöglichte. Ein Jahr nach der ersten Weltausstellung für Elektrizität in Paris, gelang es den Ingenieuren Deprez und von Miller, 1882, eine Ladung von 1343 Volt über die 53 Kilometer von Mießbach bis München zu leiten. Nietzsche hatte seine Produktion unterdessen einstellen müssen, die Kraft war verbraucht. Komplementär zu der Krafttechnologie entwickelte sich die Wissenschaft der Physiologie, die Schopenhauer als den Gipfel aller Wissenschaft von der Natur bezeichnet hatte. Gewiss waren Probleme der Physiologie (schon mit der aristotelischen Charakterisierung der Vorsokratiker als "Physiologen") Thema philosophischer und medizinischer Betrachtungen, zum Schwerpunkt wissenschaftlicher Forschung wurden sie jedoch erst mit Johannes Müllers "Handbuch der Physiologie des Menschen" von 1833-1837. Im Gegensatz zum Fortschritt der Anatomie, die sich an der mechanistischen Technik und Physik orientierte, galt die Galensche Medizin innerhalb der Physiologie noch weit bis ins 19. Jahrhundert. Die physikalisch-technische Dynamik und die Erforschung der Energie liefernden Stoffwechselprozesse gehören als zeitgenössische Forschungsbetriebe zum Kraftproblem zusammen. Was die Literatur anbelangt, so findet man nicht mehr diese mechanistischen "Res-extensa-Automaten" des Descartes, wie sie in E.T.A. Hoffmanns Figur der Olympia ihren letzten Niederschlag fanden. Es ist nicht mehr der mechanische Maschinenmensch, es ist nunmehr der Kraftmensch diejenige literarische Figur, die sich vermittelt über Nietzsches dynamistische Affektentheorie und seinen "jenseitsmäßigen" Übermenschen bis in die Zeit des Faschismus des beginnenden 20. Jahrhunderts hält. Auf der Seite der Frauenfiguren hat sich Hoffmanns Olympia zu Wagners Walküren gemausert. Die Walküre ist kein Automat mehr, sie ist ein Kraftwesen, das dem Mann in nichts nachsteht. Den Begriff der Kraft ergänzt Nietzsche um die folgende Bestimmung: "es muss ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als `Willen zur Macht`, d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht" (NF XI 563). Nietzsche kommt hier wieder auf den Vorrang dessen zu sprechen, was er "innere Welt" nennt. Diese "innere Welt" bezeichnet die organische Welt, das Leben. Wir stehen hier wieder vor dem gleichen Problem wie oben, als es um die Beschreibung der Begriffe Affekte, Triebe usw. ging. Nietzsche gibt sich jedenfalls alle Mühe, mit dem Begriff "Leben" keine obskure, metaphysische Größe einzuführen. Dieser Begriff bezeichnet nur das Potential, Energie abzugeben oder sich zuzuführen; es zeichnet sich nach Nietzsche dadurch aus, seine angesammelte "Kraft auslassen" (JGB V 27) zu wollen. Das Prinzip des Haushaltens freilich, das für jede Kraft-Theorie unabdingbar sein muss, unterliegt bei Nietzsche keiner nennenswerten Betrachtung. Die Kraft ist einfach da und als solche gleichsam unverwüstlich. Dem Prinzip des Lebens unterliegen die vegetable und die animale Welt (NF XI 563), und in diesen Welten spielt das Problem der Erzeugung der Kraft eine Rolle. Insofern ein Individuum lebt, folgt es dieser Weise des Lebenswillens. Dem Gedanken des fortlaufenden Wechsels von Kraftzunahme und -abnahme im Dienste des unersättlichen Verlangens seine Kraft auszulassen, entspricht ein Wille "zur beständigen Schöpfung oder zur Verwandlung oder zur Selbst-Überwältigung" (NF XI 538). "Schöpfung" ist hier nicht im Sinne eines ursprünglichen Neuentstehens zu verstehen, sondern eben im Sinne von "Verwandlung", Werden, Fluß, Veränderung. In diesem Sinn ist also das "Leben selbst (...) Wille zur Macht" (JGB V 27). Überträgt Nietzsche nun die Gesetze der vegetablen und animalen Welten auf die mentale (NF XI 565), so sollte auch die Kraft auf mentaler Ebene in ähnlicher Weise erzeugt werden müssen, wie dies auf der Ebene der vegetablen und animalen Welt der Fall ist. Wenn "es gelänge unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären - nämlich des Willens zur Macht [...] -; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es ist ein Problem - fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, , alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht" (JGB V 55). Wir werden das Problem der Ernährung auf mentaler Ebene unten genauer beschreiben. Nietzsche schreibt hier von einer Grundform des Willens, nicht von einem wesenhaften, inhaltlich bestimmbaren Zustand eines "Seins". Es gibt nun eine Beziehung dieses Begriffs der "Form" zu dem Begriff des Maßes der "Kraft als Größe", das als "fest" und nicht als dem Fluß des Wandels unterworfen, beschrieben wurde. Mit dieser "Kraft" als "Wille zur Macht" in ihren "ungeheuren Jahren der Wiederkehr" ereignet sich ein "Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs" (NF XI 611). Nietzsche fährt fort in einem Stil, den heutige Ohren wahrscheinlich als etwas umständlich empfinden: "sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkehren muss, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt -: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste, dieß mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, - wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Räthsel? ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? - Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem ! Und ihr selbst seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem" (ebd). Dieser Aphorismus Nietzsches beschreibt die Welt als einen Machtstrom, der einem gleichbleibendem Wandel unterliegt. Daraus folgt, dass man "nichts Seiendes überhaupt zulassen" darf (NF XIII 35), "weil dann das Werden seinen Wert verliert" (ebd.). Es gibt so keine


78 dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist "das Seiende" erst von uns hineingelegt, (aus praktischen, nützlichen und perspektivischen Gründen)" (NF XIII 36). Unbestritten erweist es sich als nützlich, von "Atomen und Monaden" (ebd.) zu reden, so ist es in den "exakten Wissenschaften" auf notwendiger Basis nützlich, Größen zu benennen, mit denen es möglich ist zu rechnen. Auch Nietzsche selbst schreibt manchmal von "Kraftatomen": NF XI 560), bevorzugte aber später den Ausdruck "Quantum" für die "Grundelemente" seiner Überlegungen. Er wollte damit die Implikation eines ursächlichen "Seienden" vermeiden. Dieses "Quantum Macht" im Gegensatz zum "Atom" ist eine Umschreibung eines kleinsten, überall vorkommenden Elementes, das innerhalb der "Wiederkunft des Gleichen" das jenige ausmacht, das in seiner Zusammensetzung Wandlungsprozesse durchläuft, selber aber gleich bleibt. Als Gleiches ermöglicht es die Wiederkehr des Gleichen in syntaktischen Strukturen. Nur insofern sich die Elementekonstellationen wiederholend variieren, gibt es auch kein Entkommen aus der Wiederkehr des Gleichen. Würden immer neue semantische Einheiten eines "Selben" entstehen, so gäbe es keine Wiederkehr, sondern nur eine kontinuierlich fortlaufende Linie, bei der jede Wiederholung auf einem Zufall beruhen würde. Bleiben die Elemente aber gleich , so wie die Buchstaben einer Gammatik, so sind zwar unter semantischen Gesichtspunkten so unendlich viele Welten möglich, wie man mit Hilfe der gleichen Buchstaben Romane schreiben könnte, aber die Strukturen bleiben die gleichen. Diese Quanten haben also Teil am "Werden, insofern nichts darin den Charakter des `Seins` hat" (NF XIII 36), und so betrachtet, erweist sich auch der "Wille zur Macht" als nichtsubstanziale Vielheit, er darf nicht als, alles Geschehen hinreichend erklärende Ursache verdinglicht werden. Damit wäre nur die Bewegung der okzidentalen Metaphysik wiederholt, allem Geschehen eine Ursache bzw. ein erstes Prinzip zu unterlegen. Nach Nietzsche gibt es nur "Willens-Punktationen, die (...) ihre Macht mehren oder verlieren" (NF XIII 36). Es werden alle "Welt-Auslegungen Symptom eines herrschenden Triebes" (NF VII 256). Damit ist klar gemacht, dass jeder Untersuchungsgegenstand des Denkens von einem Vorverständnis geleitet wird, das sich "unterhalb" des Bewußt vorstellenden Denkens immer schon eingestellt hat. Im folgenden wird sich zeigen, dass nicht nur das lebensweltliche Denken von einem solchen Vorverständnis geleitet wird, sondern auch das dichterische und sogar das logische. Nietzsches Versuch, das Geschehen als "Wille zur Macht" zu deuten ist deshalb eben "nur" der "Versuch einer neuen Auslegung allen Geschehens" (NF XI 619) und somit auch nur eine interpretierende Perspektive, deren Durchführung allerdings konsistent verläuft. In diesem Sinne ist die Welt "flüssig" und "`unendlich` geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst" (FW III 627). Im lebenden Organismus gliedert sich der absolute, bedeutungslose Kraftstrom in Machtquanten, die sich zu organisierten Vielheiten zusammenschließen, dabei aber "im Fluß" bleiben, da die Vielheiten selbst nicht fixiert und "fest" sind. Innerhalb ihrer herrscht eine hierarchische Ordnung, die die in sich "flüssige" Vielheit, zur zusammenhängenden Ganzheit strukturiert (ebd.) Sie kommt dadurch zustande, dass sich Quanten voneinander absetzen und gliedern, also durch Differenzen getrennt werden, in Opposition zueinander treten und Relationen ausbilden. Da aber nun die "reine" Kraft den Vorrang vor den Quanten hat; deshalb hat die Differentialität, also das, was die Differenzen zwischen den Quanten ausmacht - eben die Kraft der Bewegung Vorrang vor der Quantifizierung. Wäre das Umgekehrte der Fall, hätten die Quanten Vorrang vor dem Kraftstrom, so könnte der Verdacht naheliegen, dass einer hintergründigen Substanzialisierung die Tore geöffnet würden. Dieser dauernde Kraft- oder Energiefluß "molekularer" Machtstrukturen innerhalb eines zum geschlossenen Regelkreis organisierten Organismus, wird von diesem selbst aufgrund von Affekten interpretiert (NF X 150). Affekte (und Leidenschaften) sind freilich ihrerseits schon qualitative Interpretationen des tieferen Quantitätsgeschehens. Interpretationen, die sich aus den Hierarchien der Machtquanten, die sich immer wieder, aufgrund ihres fließenden Charakters, umstrukturieren, bestimmen (vgl. NF XIII 257-262). Die beständige Fluktuation der Machtquanten führt dazu, dass nicht jeder Reiz zu jeder Zeit mit demselben Affekt belegt wird. Erfahrung, Gewohnheit and andere Dispositionen mögen eine Rolle bei den Interpretationsvorgängen spielen, deren onto- und phylogenetische Wandelbarkeit eine Rolle spielt. Die Menge möglicher Affekte macht ihrerseits das Repertoire unserer Vorstellungsbedingungen aus. Die singulären Affekte, die zu untersuchen eine Sache der empirischen Psychologie ist, lassen sich ihrerseits in den Begriffsrahmen von Lust- und Unlustgefühlen fassen (NF VII 632). "Lust" gibt für die Interpretation von Machtgewinn und Machterweiterung die Grundlage ab (NF XIII 254, 260f); sie ist somit Ausdruck der Lebenssteigerung (NF XIII 592). Diese Begriffe von "Machtgewinn", "Machterweiterung" und "Lebenssteigerung" sind Kategorien, die man nicht im sozialen Sinn mißverstehen darf. So wie nach Kant schon die Unterordnung eines Gegenstandes des Intellekts unter einen Begriff oder ein Prinzip Lust verschafft 138, so ist auch der Nietzschesche Lustbegriff zu verstehen. Man mag dies als einen relativ ärmlichen Lustbegriff der viktorianischen Epoche ansehen, aber darum geht es nicht. Die Lust, wie Nietzsche sie formuliert, ist Index eines "sich erfüllt habenden" Begehrens, das gar nicht genitalistisch zu verstehen ist. Nietzsches Leidenschaft der Leibesphilosophie entspricht als Bejahung des Leibes vielleicht einer viel grundsätzlichern Verneinung als der Schopenhauerschen. Vielleicht liegt das Begehren des "Körpers" ja gerade darin, sich in dieser seiner Transformation hin zum "Leib" selbst abzuschaffen?! Was ist dies für eine Lust, von der auch Kant spricht, wenn sie nicht eine Beglaubigung darstellt. Deshalb haben wir sie als Index des "Sicherfüllt-habens" bezeichnet. Die Lust ereignet sich, wenn das Entscheidende bereits passiert ist; dies sagt 138

*Kant: KU XXXVIIf


79 Nietzsche selber, wenn er von quantitativen Strukturen, qualitativen Affekten und schließlich von dem allgemeinen Rahmen der Lust und Unlust handelt. Doch fahren wir zunächst fort mit Nietzsches Beschreibung des Problemzusammenhangs. Als "Wille zur Macht" steht das "Leben" im Zeichen der "Erhaltung der animalischen Grundfunktionen (NF XIII 40), deren Intensität das einfachste Raster der Lusterfahrung abgibt. In einem durchaus ähnlichen Sinn führt Hegel in der "Phänomenologie des Geistes" gegen diejenigen, die sich, wenn sie von Wahrheit sprechen, auf die allgemeine Erfahrung berufen, "das Praktische" 139 ins Feld. Er bezieht sich dabei auf Ceres und Bacchus, die römische Version des Dionysos. In dieser Hinsicht könne allen, die die "Gewissheit der Realität der sinnlichen Gegenstände" behaupten, gesagt werden, "dass sie in die unterste Schule der Weisheit, nämlich in die alten Eleusischen Mysterien der Ceres und des Bacchus zurückzuweisen sind und das Geheimnis des Essens des Brotes und des Trinkens des Weines erst zu lernen haben"140. Nach Hegel bezeichnet dies eine niedere Stufe der "Erfahrung des Bewußtseins", auf der sich die animale Welt befände. Es würden die äußeren Dinge im "Wissen" um ihre Nichtigkeit einfach verzehrt. Die dem "Bewußtsein" entgegengesetzten Dinge, verleibe sich dieses, ohne Rücksicht auf deren Bestand ein. So sei aber auch sein eigener Bestand gefährdet, denn wenn der Bestand der Dinge der Erfahrung aufgebraucht ist, wäre es selbst dem Untergang geweiht. Nach Nietzsche verfährt das Leben im allgemeinen nach diesem primitiven Grundmuster: "Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängen anderer Formen, Einverleibung und mindestens mildestens Ausbeutung (...), weil das Leben Wille zur Macht ist" (JGB V 207). In dieser Weise ist die Ernährung im Sinne von Einverleibung die Artikulation des Willens zur Macht bzw. des Lebens. Die Erhaltung der "animalen Grundfunktionen" ist damit die Basis aller Äußerungen des Lebens. Der Prozeß der Einverleibung ist mit einem Zuwachs an Macht und Lustgefühl verbunden. Nietzsches Lustbegriff, den er auf animalische Funktionen zurückführt, seine Gefühl-, Trieb- und Instinktbegriffe siedeln sich genau in diesem nicht eben unkriegerischen Feld der Einverleibungen und Überwältigungen. Das von Instinkten motivierte Handeln der Menschen wird nach Nietzsche diesen Gesetzen der "Einverleibung" bestimmt (M III 118ff; FW III 382f). In diesem Sinne, schreibt Nietzsche, gleiche auch der "Geist am meisten noch einem Magen" (JGB V 168). Nietzsche, der dieses Motiv von Kant, der davon schreibt, dass auch der "Verstand" sich etwas "einverleibt" 141, übernommen haben mag, folgert aus der "Einverleibung" im animalen Bereich, eine "Einverseelung" im mentalen Bereich (GM2 V 291), deren "Logik" es weiter nachzufolgen gilt. (Neben der Nahrungsaufnahme, gehört auch das Sich-Sperren gegen weitere "Nahrung" zu den Steigerungsmitteln des Lebens, vgl. JGB V 167f §330; GM2 V 291 §1.) "Erkenntnis" vollzieht sich als "Einverseelung" nach dem gleichen "Verfahren" wie die Einverleibung im Dienste des Lebens. "Eine Vielheit von Kräften, verbunden durch einen gemeinsamen Ernährungs-Vorgang (...). Der Mensch ist eine wiederstrebende Kraft: in Hinsicht auf alle anderen Kräfte sein Mittel, sich zu ernähren und die Dinge sich anzueignen, ist, sie in "Formen" und Rhytmen zu bringen: das Begreifen zuerst nur Schaffen der "Dinge". Erkenntniß ein Mittel der Ernährung." (NF X 24 §14; 650). Die Hierarchiestruktur der Machtquanten steht damit "unter der Gunst und Ungunst der Umstände (der Ernährung -)" (NF XIII 36). So wird, innerhalb der Metaphorik der Verdauuung und Ernährung, eine Interpretation, hinsichtlich der potentiell unendlichen Interpretierbarkeit, zu einer Frage des "Geschmacks" (FW II 433). 142 Aristoteles bezeichnet die Kraft und das Wirkungsgeschehen zwischen zwei Elementen, das auf einen ersten Beweger zurückführbar ist, als wesentlich. Bis zu Descartes und Spinoza sind Ruhe und Bewegung Attribute bzw. Modi des Substanzialen. Erst Leibniz bezeichnet die entelechetische Kraft als das Konstituens der Monade. Den Zusammenhang der Kräfteverhältnisse kann Leibniz jedoch - da er die Monade als substantielle, fensterlose Seelensubstanz nimmt - nicht erklären. Um diesen Widerspruch zwischen Sein und Werden zu klären, muss er zu einem "deus ex machina" und dessen Praestabilierung ausweichen. Kant denkt mit seinem Begriff der Verknüpfungs- und "Relationswelt", die uns allein im Gegensatz zur Materie bekannt sei, schon in der Denkrichtung Nietzsches. Die Vorstellungs-Kraft erinnert an die Verwendung des Begriffes der Einbildungskraft bei Kant, der die eigentliche Synthese des Mannigfaltigen als eine der Grundbedingungen von Erkenntnissen bedeutet. Nietzsches Subjektbegriff folgt seiner Bestimmung des Willens zur Macht als Kraft. Das Subjekt muss nach Nietzsche als mit dem "Mittelpunkt des Systems sich beständig verschiebend" gedacht werden (NF XII 391). Es ist eine Operationsgröße, die sich einer speziellen Artikulation von Kraft im Sinne des Willens zur Macht artikuliert. Diese Kraftsetzung selber ist aber nach Nietzsche nicht etwas nachträglich *Hegel: PdG 87 *Hegel: PdG 87 141 Kant: KrV, B101 142 Einzelne ausgewählte Beispiele zur Verwendung der Metaphorik der Verdauung seien ungeordnet anfügt: JGB V 186 §244, 193 §250, 218 §263, 231 §282; GM V 256 Vorrede §8, GM2 V 291f §1, 302f §7, GM3, V 377 §16, 407f §26; EH VI 271 (weise §5), 279ff (klug §1), 302f (Bücher §3); NF VII 113 (5.80), 115 (5.83); NF IX 599 (12.134); NF X 407 (12.34, 37, 39); NF XIII 43 (11.93, 345), 67f (11.145), 478 (15.118), 564 (20.85) etc. 139 140


80 entwickeltes Subjektives, sondern das konstitutive Grundelement der Welt (ebd.). Die Kraft hat dabei in der angesprochenen Weise Vorrang vor dem Atom. Sie stellt das dar, was sich zwischen den "Dingen", die es als feste nicht gibt, ereignet, und diese, die selbst auch nur in werdender Bewegung sind, mitkonstituiert. Dieser Vorgang - und hier finden sich bereits Gedanken, die mit Derridas Philosophie der "différance" berühmt werden sollten - hat als differentielles Moment den Vorrang vor der Identität: "Da seid ihr, Freunde! - Weh, doch ich bin's nicht, Zu dem ihr wolltet? Ihr zögert, staunt - ach, dass ihr lieber grollet! Ich - bins's nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht? Und was ich bin, euch Freunden - bin ich's nicht? Ein Andrer ward ich? Und mir selber fremd? Mir selbst entsprungen?" (JGB, V 241).


81 Es gibt hier zwei Zeitvektoren: es gibt eine rückwärts laufende Zeit. Sonst könnte es kein Gedächtnis geben. Wenn Freud sagt, der Traum kenne keine Zeit, so kann damit nur gemeint sein, dass er nicht eine Zeit kennt, sondern viele. (Veralterter Zeitbegriff) Ö-----------------------Ì ° Ö->-IIÚ---Ì ° ° Ö---À ° ° °<--Ì ° °00° IS ° ° SI °11° ° Û-->° ° ° û---ì ° ° Û---ÙSS-<-ì ° Û-----------------------ì 11=SI (=111,101) +++, --10=SS (=110,100) ++-, --+ 00=IS (=000,010) +-+, -+01=II (=001,011) -++, +-{1} und {0} haben jeweils eine abweichende Bedeutung je nachdem, ob sie am Anfang {x i} oder am Ende {x j} der zweistelligen Zustandsform stehen. {1}={x i} bedeutet Stabilität gegenüber positiver Abweichung, {1}={x j} bedeutet Instabilität gegenüber negativer Abweichung. {0}={x i} bedeutet Instabilität gegenüber positiver Abweichung, {0}={x j} bedeutet Stabilität gegenüber negativer Abweichung. Das folgende Schema zeigt eine beliebige Serie von Zustandsfolgen (Zeile 5) nach den vorgegebenen Gesetzen: Die ersten drei Zeilen ergeben vertikal die Zustandsformen aus N 3, deren dazugehöriger Buchstabe in Zeile 6 angegeben ist. Auf der Abszisse sind die zugehörigen Stabilitätsverhältnisse eingetragen. Ö----------------------------------------------------------------Ì °° ° °° ° °° 1 1 1 0 1 0 1 1 0 0 0 ° °° 1 1 0 1 0 1 1 0 0 0 1 ° °° 1 0 1 0 1 1 0 0 0 1 1 ° ° û--SI---SI---SS---II---SS---II---SI---SS---IS---IS---II---SI-->° ° ° 11 11 10 01 10 01 11 10 00 00 01 11 ° °° A B A G A D B B G D D ° Û----------------------------------------------------------------ì A A B D B D A B G G D A Ö-----------------------------------------Ì ° si si si si ° ° Ö-Ú-Ì Ö-Ú-Ì Ö-Ú-Ì Ö-Ú-Ì ° °+ °X° ° °X° ° ° °X° ° °X° ° ° û-é-À û-é-À û-é-À û-é-À ° °- ° °X° °X° ° °X° ° ° °X° ° ° Û-Ù-ì Û-Ù-ì Û-Ù-ì Û-Ù-ì ° ° ° ° (SI) (SS) (IS) (II) ° Û-----------------------------------------ì Ö----------------------------------------Ì ° 1 0 1 0 1 0 1 0 ° ° Ö -Ú -Ì Ö -Ú -Ì Ö -Ú -Ì Ö -Ú -Ì ° °1 °11° ° °11° ° ° °10° ° °10° ° ° û -é -À û- é -À û -é -À û -é -À ° °0 ° °00° °01° ° °01° ° ° °00° ° ° Û -Ù -ì Û -Ù -ì Û -Ù -ì Û -Ù -ì ° ° ° ° (SI) (SS) (IS) (II) ° Û----------------------------------------ì N2 A-G/10 A-D/1) a-a' Ich A

D-B/)( B-G/(0 S


82 11 als S, 00 als I 1100 1111 0011 B-B A-A D-D 1100 als 110-100 N3 B-B B-A D-B (( (1 )( (0

0000 G-G B-G

7. Grammatik und ihre Überwindung Wenn Nietzsche fürchtet: "wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben..." (GD, VI 78) denn sie involviert einen "physiko-theologischen" Aberglauben, der nach einem Täter sucht - so verlangt er von der Philosophie, dass dies für sie nicht in der gleichen Weise gilt wie für's "`Volk`" (NF, XI 630). Die Philosophie habe ihren "Apfel der Erkenntniß" (NF, XI 633) anderswo zu pflücken. Auch wenn die "Welt, die uns etwas angeht" (JGB V 54) eine Erfindung ist, muss dazu nicht ein Erfinder hinzugedichtet werden (ebd.). Mit Ironie (Zynismus, Satire, Humor) gegenüber den grammatischen Kategorien darf man sich und diese durchaus in Frage stellen: "Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben?" (ebd.). Was heißt das? Da diese Erhebung auch wieder innerhalb grammatischer Strukturen geschieht, kann sie sich nicht mehr als Form der Revolution gerieren. In einer späteren Schrift heißt es: "man muss vorwärts (...) Schritt für Schritt weiter in der décadence (- dies ist meine Definition des modernen `Fortschritts`...). Man kann diese Entwicklung hemmen und durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht" (GD VI 144). Es zeigt sich hier tatsächlich, dass sich auch bei Nietzsche eine "ideologiekritische Methode mit bewährtem Schematismus" (Holz) nicht verankern lässt. Im post-strukturalistischen Philosophieren wurde dieses Motiv wiederholt aufgegriffen. Bei Deleuze/Guattari heißt es: "Man kann (...) in der Deterritorialisierung nie weit genug gehen (...): noch mehr Perversion, noch mehr Artefakt! Bis die Welt so künstlich werde, dass die Bewegung der Deterritorialisierung notwendig selbst eine neue Erde schaffen muss"1. "Deterritorialisierung" kann hier mit "Auflösung von Einheiten zu Vielheiten" übersetzt werden. (Deleuze übersetzt auch den Begriff der "Nicht-Festgestelltheit" bei Nietzsche mit "Deterritorialisiertheit" 2) Dieser Prozeß entspricht nicht dem herkömmlichen Revolutionsmodell, das durch "Umkehrung" der herrschenden Verhältnisse die "natürlichen" wiederherzustellen im Stande zu sein glaubt. Sämtliche Teleologie, die vorgibt "die" Wahrheit erlangen zu können, fehlt hier. Im Bereich praktischen Philosophierens entfällt dadurch die Utopie einer "besseren Welt". Das "Geheimnis der Leere, unberechenbare Stärke der Implosion (im Gegensatz zu unserer Vorstellung der revolutionären Explosion)" 3. Der Gegenbegriff zur "explosiven" Revolution ist hier der der "Implosion". Der Begriff "Implosion" setzt ebenfalls den Begriff der "Bejahung" Nietzsches voraus, d.h. Gegebenes wird bejaht und weiter getrieben, bis es sich "überwindet" und in "Experimenten" sich neue "Perspektiven" zeigen. In Bezug auf das "Lachen" (JGB, V 54; Za, IV pass.) als Vollzug der "Ironie" heißt das, wenn es auf den Willen zur Macht abgebildet wird: Den Willen zur Macht galt es als nicht-substantielle Vielheit zu begreifen. Daraus folgt, dass es "Macht" als "Wesen" nicht gibt, "sie ist nur ein perspektivistischer Simulationsraum" (Baudrillard, ebd.), und diesen "kann die Parodie, die Umkehrung der Zeichen oder ihre Übersteigerung, (...) tiefer treffen als irgendein Machtverhältnis" 4. Dieses "Lachen" kann sehr "kalt" sein, denn "ein Irrthum wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt - es erfriert..." (EH VI 323). So verstanden ist das "Lachen" eine philosophische Kunst, die gelernt sein will. Dies berührt nun den einzigen Punkt in dem Nietzsche der Moral das Wort redet. Zunächst gilt vom philosophischen Ironiker, dass ihm Selbstzucht eine Tugend sein muss. "Es mag zur Erziehung des wirklichen Philosphen nötig sein, dass er selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat, auf welchen seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie, stehen bleiben, - stehen bleiben müssen; er muss selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Rätselrather und Moralist und Seher und "freier Geist" und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu können. Aber dies Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe: diese Aufgabe will etwas Anderes, - sie verlangt, dass er Werthe schaffe" (JGB V 144). Dieses "Schaffen" erklärt sich nach Nietzsche aus dem "Wille zur Macht" (JGB V 145), es ist, als Fähigkeit, nur mittels Selbstzucht zu erwerben. Diese besteht darin erstens alles zu wollen und zweitens: "nicht wieder zurückwollen in Das, was uns als überlebt und morsch gilt" (M III 16). Nur in diesem Punkt glaubt Nietzsche von sich, dass er Moralist sei. Doch dies ist ein Sonderfall, der sich am individuellen Horizont des Einzelnen abträgt - und so nicht mehr im engen Sinn unter die Moralkritik fällt.

Deleuze/Guattari: AÖ 415; vgl. Guattari: SW 86ff Deleuze: D 144 3 Baudrillard: OF 69 4 Baudrillard: 70 1 2


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Literaturliste


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Inhalt Vorwort..........................................................................................................................................................................................2 1. Kritik der logischen Subjektivität (Kant, Nietzsche)............................................................................................................3 1.1. Urteil....................................................................................................................................................................................7 1.2. Logik...................................................................................................................................................................................10 1.3. Kausalität...........................................................................................................................................................................16 1.4. Substanz..............................................................................................................................................................................19 1.5. Subjekt................................................................................................................................................................................22 1.6. Prädikat..............................................................................................................................................................................26 1.7. Objekt.................................................................................................................................................................................27 2. Kritik der psychologischen Subjektivität (Nietzsche, Lacan).............................................................................................31 3. Kritik der Intersubjektivität..................................................................................................................................................42 3.1. Verständlichkeit und Vereinheitlichung............................................................................................................................42 3.2. Begriff und Kategorie........................................................................................................................................................42 4. Kritik der reflexiven Subjektivität........................................................................................................................................52 5. Kritik der genealogischen Subjektivität...............................................................................................................................56 5.1. Kant und die Praxis...........................................................................................................................................................56 5.2. Anthropologische Grammatik............................................................................................................................................63 6. Nietzsches Entwurf eines Systems der Macht......................................................................................................................65 6.1. Zur philologischen Geschichte des "Willens zur Macht"..................................................................................................65 6.2. Macht, Sprache, Automat..................................................................................................................................................65 7. Grammatik und ihre Überwindung.......................................................................................................................................82 Literaturliste...............................................................................................................................................................................83 Inhalt............................................................................................................................................................................................84


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