CRITICA Issue I/ 2016

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CRITICA ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE UND KUNSTTHEORIE

IK IT R K ST N U K

mit Beiträgen von Sandra Danicke | Ludwig Seyfarth Małgorzata Bogaczyk-Vormayr | Danièle Perrier

ISSN: 2192-3213 I/ 2016



EDITORIAL Liebe Leserinnen, liebe Leser, In dieser Ausgabe von CRITICA widmen wir uns dem Thema Kunstkritik. Der noch nicht all zu lange verstorbene Kunsthistoriker Jean-Christoph Amman äußerte sich über diese einmal folgendermaßen: „Es gibt keine Kritik mehr, es gibt nur noch Information und weil die Kritik fehlt, ist der Künstler heute unglaublich allein.“ Tatsächlich hat sich die Kunst durch Globalisierung, Digitalisierung und Kapitalisierung zunehmend verändert, die gern gesehene Diversität und Ausdifferenziertheit der verschiedenen Kunstformen hat auf der anderen Seite bei Künstlern wie Kritikern eine mehr oder weniger bewußte Art der Hilflosigkeit geprägt, da gerade Vielfalt in Zugang und Interpretation einer kriterialen oder generalisierenden Rede fast schon den Mund verbietet. Die Kritik hat heute einen schweren Stand, das gilt im Allgemeinen wie für die Kunstkritik im Besonderen, als kategorischer Richter ist sie antiquiert, als beschreibende Journaille manchmal fast schon in empörender Weise bis zur Unverständlichkeit verflüssigt.

Wo steht die Kunstkritik heute, wo sollte sie vielleicht stehen, inwiefern ist sie überhaupt noch relevant, wo und wie entfaltet sie ihre tatsächlichen Potentiale für das zeitgenössische Geschehen und unseren Umgang mit den Arbeiten dieser Zeit als auch der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte? Die versammelten Essays und Interviews versuchen auf diese Fragen Antworten zu formulieren. Ergänzt werden die Beiträge diesmal durch eine kunstkritische Rezension zum wiedereröffneten Neubau des Museum Basel sowie durch die Kollektion relevanter internationaler Publikationen zum Thema und die Vorstellung der Schriftenreihe „Schriften zur Kunstkritik“ getragen vom internationalen Kunstkritikerverband (Deutsche Sektion). Wir hoffen mit dieser Ausgabe einen guten Einblick in die Kunstkritik und ihre Rolle geben zu können und Anreize für eine intensivierte kunstkritische Auseinandersetzung zu bieten.


INHALT

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Auch so kann Kitsch aussehen. Anmerkungen zur Kunstkritik heute von Ludwig Seyfarth

Was ist Kunstkritik? Ein Interview mit der Kritikerin 12 Danièle Perrier

Was ist Kunstkritik? Ein Interview mit der Kritikerin 22 Sandra Danicke

Art Brut ausder Sicht der Alteritätsforschung 26 von Małgorzata Bogaczyk-Vormayr

Wenn sich Avandgarde und Tradition treffen Eine Besprechung 46 von Danièle Perrier

BÜCHER KUNST KRITIK Schriften zur Kunstkritik

56

Gesammelte Literatur Kunstkritik

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Titelbild: Fjodor Grinuk


AUCH SO KANN KITSCH AUSSEHEN Anmerkungen zur Kunstkritik heute von Ludwig Seyfarth „Art criticism is massively produced, and massively ignored.“, schrieb der amerikanische Kunsthistoriker und Kritiker James Elkins im Jahre 2003. „Art criticism was once passionate, polemical and judgmental: now critics are more often interested in ambiguity, neutrality, and nuanced description.“1 Klagen über den Niedergang der Kunstkritik hört man häufig. Aber ist sie überhaupt noch gefragt? Wo sind die mutigen, kampfbereiten Männer wie Clement Greenberg, der als Kritiker die amerikanische ungegenständliche Kunst der 1950er und 1960er Jahre wesentlich mit durchsetzte? Kunstkritiker führen heute, verglichen mit anderen Akteuren des Kunstbetriebs wie bekannten Kuratoren, Galeristen oder vor allem Sammlern, eher ein Schattendasein. Kaum ein Kritikername ist über Fachkreise hinaus bekannt. Prominentere, einflussreiche Kunstvermittler sind in der Regel keine Kritiker. Hans-Ulrich Obrist führt unzählige Interviews mit Künstlern und anderen Personen des Kunstbetriebs, aber schreibt so gut wie nichts. Und Nicolas Bourriaud, der unter dem Schlagwort „Re1  James Elkins, What Happened to Art Criticism? Chicago 2003, S. 4 / Klappentext.

lationale Ästhetik“ eine grundsätzliche These dazu lieferte, was die seit den 1990er Jahren entstehende Kunst von früheren Kunstformen grundsätzlich unterscheidet, wäre ohne seine auch institutionell eingebundenen kuratorischen Tätigkeiten und öffentlichen Auftritte kaum zu einem einflussreichen Meinungsführer im heutigen Kunstgeschehen geworden. Ich kann mich nicht erinnern, in meinem Leben je jemanden getroffen zu haben, der schon immer den Berufswunsch des Kunstkritikers hatte. Dieser wird auch kaum genährt. Die spätere Brotlosigkeit scheint noch vorprogrammierter als beim zumindest in Ausnahmefällen zu Geld und Ruhm führenden Künstlerdasein. Es gibt auch so gut wie keine dezidierten Ausbildungsstätten für Kunstkritik, weder an kunsthistorischen Instituten noch an Kunsthochschulen. Zu den wenigen Ausnahmen gehört das „Institut für Kunstkritik“ an der Frankfurter Städelschule, das von Isabelle Graw geleitet wird, der Mitbegründerin und Herausgeberin von „Texte zur Kunst“. In die Kunstkritik rutscht man irgendwie hinein, während man beispielsweise Kunst studiert und


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merkt, dass man doch besser schreiben als zeich-

servativer Kritik.

nen kann. Oder als Kunsthistoriker, der gelegent-

3. Kulturkritik, die Kunst und die Bildwelt der Populärkultur mitei-

liche Erholung vom mühseligen Zusammenklau-

nander mengt, wobei Kunstkritik nur ein Gewürz in einem viel-

ben von Zitaten in muffigen Bibliotheksräumen

fältigen Gericht ist.

sucht. Auch Literaturwissenschaftler, Historiker oder Politologen landen auf manchmal verschlun-

4. Die konservative Wertepredigt, in der der Autor mahnend darlegt, wie Kunst zu sein habe.

genen oder durch Zufälle bedingten Wegen in der

5. Der philosophische Essay, in dem der Autor darlegt, inwieweit

Kunstkritik. Den verzweigten Wegen der Herkunft

Kunst bestimmten philosophischen Konzepten entspricht oder

entspricht das nur sehr unscharf umrissene Be-

von ihnen abweicht.

rufsbild. „Kunstkritiker“ ist mehr oder weniger ein

6. Die beschreibende Kunstkritik, nach einer Untersuchung der

Sammelbegriff für alle Autoren, die jenseits des

Columbia University die in den USA beliebteste. Ihr Ziel ist

rein akademischen Betriebes über Kunst schrei-

es, enthusiastisch, aber nicht wertend zu sein, und den Lesern

ben.

eine Vorstellung von Kunstwerken zu vermitteln, die sie vielleicht nicht vor Ort sehen werden.

Welche Formen von Kunstkritik gibt es überhaupt? In seinem schon eingangs zitierten, 2003 erschie-

7. Die poetische Kunstkritik, bei der es vor allem auf die Art des Schreibens selbst ankommt.

nenen Essay What Happened to Art Criticism? unterscheidet James Elkins, Chair of art history, theory,

Die Kategorien könnte man auch anders untertei-

and criticism an der School of the Art Institute of

len. In Deutschland existieren nicht die gleichen

Chicago, sieben Formen der Kunstkritik, die aber

Gewichtungen wie in den USA, doch die eher de-

keineswegs alle scharf voneinander abzugrenzen

skriptive Herangehensweise ist ­ vor allem Tages-

sind:

geschäft der Zeitungskritik – auch hierzulande

1. Der Katalogtext, wie er in der Regel im Auftrag von Galerien in

am verbreitetsten. Da könnte man dann auch die

Auftrag gegeben wird. Aber kann man Kritik nennen, was eher

Unterscheidung zwischen Kunstkritik und Kunst-

eine Lobrede ist? Aber wenn es keine Kunstkritik ist, was dann?

journalismus machen, die ich hier jedoch nicht

2. Die akademische Abhandlung, die mit philosophischen und

6

weiter verfolge.

kulturellen Referenzen gespickt ist, von Bachtin und Buber bis

Wenn Kunstkritiker auch Texte für Ausstellungs-

Benjamin und Bourdieu. Sie ist die gängige Zielscheibe kon-

kataloge schreiben, Ausstellungen kuratieren oder


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durch andere Aktivitäten ihr Geld „im“ Kunstbe-

Das erste Beispiel ist eine Kritik, die Robert Hughes

trieb verdienen, liegt es nahe, dass sie nicht unbe-

(1938-2012), seit 1970 Kunstkritiker der New Yorker

dingt sehr kritisch über Aktivitäten von Personen

Wochenzeitschrift Time Magazine, 1982 über Andy

und Institutionen schreiben, von denen sie Aufträ-

Warhol schrieb.

ge bekommen oder sich welche versprechen. Die

Hughes, der ebenso scharfzüngig wie geschmack-

Doppelrolle(n), die viele Kritiker im Kunstbetrieb

lich konservativ war, hielt Warhol für maßlos

einnehmen, könnte man als hinderlich für eine

überschätzt. Bedeutung und Tiefsinn werde vie-

unabhängige Kunstkritik ansehen. Andererseits

len seiner Werke von außen angedichtet, und seine

können fast nur Kritiker/innen, die fest bei einer

Bedeutung liege vor allem darin, dass er „der erste

Redaktion angestellt sind, von Rezensions- und an-

amerikanische Künstler (war), für dessen Karriere

deren journalistischen Aufträgen leben. Ansonsten

Publicity unabdingbar war.“2

ist man auch auf andere Tätigkeiten angewiesen.

Hughes mag Warhol nicht und macht auch keinen

Zudem existieren für Kritiker so gut wie keine

Hehl daraus. Aber statt Warhols vermeintlicher

Stipendien und andere Förderungen. Der einzige

Oberflächlichkeit konservative Maßstäbe entge-

Preis, den es derzeit in Deutschland für Kunstkritik

genzuhalten, die seine Suppendosen oder Marilyns

gibt, wurde von der Arbeitsgemeinschaft deutscher

nicht erfüllen, geht Hughes seine Kritik von der Po-

Kunstvereine ins Leben gerufen und wird seit 1999

pularität Warhols her an, die er auf raffinierte Wei-

jährlich auf der Kunstmesse Art Cologne verliehen.

se relativiert:

Er ist mit 5000 Euro dotiert, was nicht heisst, dass

„Dass Warhol ein berühmter Künstler ist, ist ein

es immer so bleibt, und ist auch schon mal ausge-

Gemeinplatz. Doch welcher Art von Berühmtheit

setzt worden. Ausgezeichnet werden ausschließ-

erfreut er sich? Wenn der berühmteste Maler Ame-

lich freie Kritikerinnen und Kritiker, keine fest an-

rikas Andrew Wyeth ist und der zweitberühmteste

gestellten Redakteure.

LeRoy Neiman (Hugh Hefners Hofmaler, Erfinder des Playboy-Bunnies und Zeichner von Football-

Ich möchte nun zwei Beispiele von Kunstkritik

stars für CBS) dann kommt Warhol an dritter Stelle.

vorstellen, deren Qualität ich unabhängig davon

Wyeth: weil sein Werk zwar durch Nostalgie ver-

bewerte, ob ich der in der Kritik vorgetragenen Meinung zustimme.

2  Robert Hughes, Denn ich bin nichts, wenn ich nicht lästern darf. Kritische Anmerkungen zu Kunst, Künstlern und Kunstmarkt, München 1993, S. 324.

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klärte, doch in realen Gegenständen konkretisierte

senpublikum hat sich je bei seinen Arbeiten wohl

simple Rechtschaffenheit suggeriert, in der Milli-

gefühlt. Die Leute denken , jemand, der keine be-

onen von Leuten das verlorengegangene Mark der

sonderen Vorlieben hat und auf alles mit demsel-

amerikanischen Geschichte sehen. Neiman: weil

ben „Äh, wow, toll“ reagiert, müsse wohl etwas

Millionen von Leuten Sportprogramme schauen,

hohl sein.“3

Playboy lesen und jedes oberflächliche Geschmiere schlucken, solange es nur von ein paar klar erkenn-

Anstatt seine Abneigung gegen Warhol konserva-

baren straffen Möpsen geschmückt wird. Aber

tiv zu begründen, dreht Hughes die Argumentati-

Warhol? Wie groß ist das Publikum, das sein Werk

on dahin, dass Warhols Streben nach Popularität

mag oder es gar aus erster Hand kennt? Groß. Und

an eine zwangsläufige Grenze stößt, weil er keine

es wird immer größer: aber nicht so groß wie das

konservativen Werte befriedigt. Und wenn wirkli-

von Wyeth oder Neiman.

che Popularität und Konservatismus einander be-

Für die meisten Leute, die seinen Namen kennen,

dingen, legt Hughes letztlich nahe, dass der seiner

ist es ein Name, der mit einer fernen Museumskul-

Meinung nach vor allem nach Publicity und Promi-

tur überliefert wurde und mit einem einprägsamen

nenz strebende Warhol eigentlich ein Konservati-

Gesicht verbunden ist: ein gefeuerter Lateinlehrer

ver ist.

mit einer bleichen Kunsthaarperücke, der Mann, der Suppendosen malt und die vielen Filmstars

Hughes war ein geschickter Rhetoriker, manchmal

kennt.“ Doch Warhol sei nie ein wirklich populärer

ein wenig Moralist und Mahner, aber kein Didakti-

Maler gewesen, denn das setze voraus, „dass man

ker. In diesem Gewand tritt der rund 30 Jahre jün-

als ein gewöhnlicher (und somit beispielhafter)

gere Hanno Rauterberg, Kunstredakteur der ZEIT,

Mensch gesehen wird, der außergewöhnliche Din-

immer dann auf, wenn er gegen die vermeintliche

ge hervorbringen kann.

Beliebigkeit und Kriterienlosigkeit bei der Beurtei-

Warhols öffentliche Rolle in den letzten zwanzig

lung zeitgenössischer Kunst zu Felde zieht. So ver-

Jahren war das genaue Gegenteil: eine abnorme

öffentlichte er jüngst ein Buch, das sich der „Ethik

Gestalt (wortkarg, homosexuell, außerordentlich

der Ästhetik“ widmet. 2007 versuchte er mit „Auch

präsent, doch undurchsichtig und ein wenig feind-

das ist Kunst?! Eine Qualitätsprüfung“ auch einem

selig), der das Triviale preist (...) Doch kein Mas-

8

3  Ebd,. S. 320 f.


CRITICA I/ 2016

breiteren Publikum Kriterien zu vermitteln, mit

Wer sich selbst schon einmal gefragt hat, ob die

denen es selbst erfolgreich eine Qualitätsprüfung

suggestive Kunst des Angedeuteten, mit der Tuy-

vornehmen könne.

mans zu einem der weltweit erfolgreichsten Maler

Aber wie geht der Autor selbst vor, wenn er die

wurde, vielleicht doch mehr bedeutungsschwan-

Qualität von Kunst zu bestimmen sucht? Ich zitiere

ger denn wirklich bedeutungsvoll ist, mag sich

eine Passage, in der es um die Gefahr des Abglei-

zunächst freuen, die eigene Ahnung so vehement

tens von Kunst in Kitsch geht: „...nicht nur Über-

niedergeschrieben zu lesen. Aber wenn es die ge-

deutlichkeit (...), auch allzu große Undeutlichkeit

nerelle Absicht des Buches ist, die Leser zu eigenen

erweist sich leicht als Kitsch. Der belgische Maler

Qualitätsmaßstäben zu erziehen, bleibt die Frage:

Luc Tuymans zum Beispiel, von vielen als Ausnah-

Welche nachvollziehbaren Kriterien liefert Rauter-

mekünstler gefeiert, malt oft trübe Bilder, wie ne-

berg hier denn? Hätte er nicht wenigstens an einem

belverhangen sehen sie aus.

Beispiel beschreiben müssen, wie Tuymans z. B.

Gern belässt es Tuymans bei Andeutungen, beim

mit einer Bildvorlage umgeht und wie es zu der Un-

Unbestimmten: Kanarienvogel und Blumentopf,

deutlichkeit kommt, die Rauterberg anprangert?

ein finsterer Herr mit Sonnenbrille und die Kreu-

Und kann Undeutlichkeit nicht auch ein positiver

zigung Christi, das Banale wie das Gewaltige, alles

Wert sein und wie ließe sich das von Tuymans’ Vor-

verschwimmt im Ungefähren. Er hat auch die Gas-

gehen abgrenzen? Geht dem Autor hier nicht doch

kammer eines Konzentrationslagers gemalt oder

die Lust durch, einen ungeliebten Künstler in die

Albert Speer, den Architekten des Führers, beim

Pfanne zu hauen, und lässt ihn seine didaktischen

Skilaufen. Das scheint seine Ernsthaftigkeit zu be-

Absichten vergessen?

zeugen, viele unterstellen seiner Kunst eine tiefere Absicht. Doch gerade weil Tuymans seine Motive

Wenn man Tuymans Kitsch unterstellt, heißt das,

fast ausnahmslos in eine Sphäre der Unbestimmt-

den Gefühlen, die suggeriert werden, nicht zu trau-

heit überführt, wird die Vagheit zur Masche. Seine

en. Kann aber dieses Problem nicht auch bei einer

Bilder raunen, sie laden ein zu wohligem Schauder,

Kunst auftreten, bei der man sich kaum trauen wür-

jeder darf in sie hineinprojizieren was er möchte.

de, den Begriff „Kitsch“ in den Mund zu nehmen?

Auch so kann Kitsch aussehen.“4

Das Anliegen der mexikanischen Künstlerin Teresa

4  Hanno Rauterberg, Und das ist Kunst?! Eine Qualitätsprüfung, Frankfurt am Main 2007, S. 189.

Margolles, auf die hohe Kriminalität und Mordrate

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in ihrer Heimat Mexiko mit künstlerischen Mit-

die Tatsache, dass die echt aussehenden Gegen-

teln hinzuweisen, ist prinzipiell zu begrüßen und

stände, die wir bei Fischli & Weiss nur aus gewisser

an der Ernsthaftigkeit der Absicht muss man nicht

Distanz sehen dürfen, aus Polyurethan sind. Viel-

zweifeln.

leicht sind Margolles’ so existentialistisch daher-

Margolles arbeitet mit Substanzen wie Blut oder

kommende Werke solch schalkhaftem Umgang mit

Fett, das von Leichen stammt, oder Wasser, mit

dem musealen „Bitte nicht berühren“ viel näher als

dem tote Körper im Leichenschauhaus gewaschen

es der Künstlerin wohl selbst recht wäre.

worden sind. So hat sie 2011 vierzig in Erde und

Diese Herangehensweise an Margolles’ sehr ernst-

Körperflüssigkeiten getränkte Stoffe an das Mu-

haftes und sich mit tragischen Tatsachen befassen-

seum Fridericianum in Kassel gehängt und durch

des Werk mag unangemessen und vielleicht sogar

Einfluss der Witterung ‚bluten’ lassen.

geschmacklos erscheinen. Aber Grenzen in Frage

Die Wirkung von Margolles’ Werken beruht dar-

zu stellen, vor allem moralische, sollte einer Kritik,

auf, dass das verwendete Marerial ein „Authenti-

die sich darum bemüht, nahe an der Kunst zu sein,

zitätsversprechen“ enthält, wie es Monika Wagner

nicht nur gestattet sein, sondern es sollte von ihr

in ihrem Buch Das Material der Kunst im Werk vie-

gefordert werden.

ler heutiger Künstler ausmacht. Dies gilt auch für

Eine solche Kritik, zu der ich mich selbst bekenne,

Joseph Beuys’ Umgang mit dem Material Fett oder

zieht eine Kunst, die sich auch auf gefühlsmäßige

die mit dem Blut von Tieren entstandenen Schütt-

Ambivalenzen einlässt, meist einer Kunst vor, die

bilder von Hermann Nitsch, an die einige Werke

dazu tendiert, vorgefaßte moralische oder politi-

von Margolles äußerlich erinnern.

sche Ansichten zu illustrieren. Und so möchte ich

Das Problem bei Teresa Margolles ist allerdings,

in den Ruf nach einer heute zu selten gewordenen

dass eine scheinbar unmittelbar dem Schrecken

Kunstkritik, die möglichst eindeutig wertend und

des Realen verbundene Kunst ihre Wirkung auf

auf unterhaltsame Weise polemisch ist, nur bedingt

einer Bedeutungskonstitution aufbaut. Dass das

einstimmen. Ich schließe mit einer Abwandlung

Fett wirklich von Leichen stammt, mögen wir der

des Eingangszitat von James Elkins: Damit sie wir-

Künstlerin ja gerne glauben und es mag ja auch

kungsvoll ist, sollte Kunstkritik leidenschaftlich,

nachweislich so sein. Als Betrachter können wir es

polemisch und wertend sein (wie die Kunst selbst),

aber nicht nachprüfen, ähnlich wie beispielsweise

aber erst dann, wenn sie dabei das Ambivalente

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CRITICA I/ 2016

und die Präzision der Beschreibung nicht aus dem

ambitioniert kommentiert werden.“6 Aber dass

Auge verliert, ist sie wirklich gut (und das trifft auf

man es immer noch kann, zeigt Ullrich mit seinem

die Kunst selbst genauso zu).

Buch ja selbst auf. Und so lesen wir seine Zukunfts-

Aber wird solch eine Kunst und Kunstkritik in

prognose weniger als Kassandraruf, der das Ende

Zukunft noch gefragt sein? In seinem kürzlich er-

der Kunstkritik voraussagt, denn als Aufforderung

schienenen Buch Siegerkunst untersucht Wolfgang

dazu, genau das, was zu verschwinden droht, jetzt

Ullrich die im aktuellen Kunstbetrieb deutlich er-

erst recht zu tun.

kennbare Entwicklung zu einer Art Refeudalisierung. „Siegerkünstler“ arbeiten bevorzugt für eine kleine, reiche Sammlerklientel, die zu den Gewinnern der heutigen neoliberalen Verhältnisse gehört. Für die oft aufwändige Produktion ihrer Werke unterhalten sie Studios und Werkstätten mit bis

Z ur P erson

Ludwig Seyfarth ist freier Autor und Kurator, er lebt in Berlin. 2007 erhielt er den ADKV-Art Cologne Preis für Kunstkritik.

zu Hunderten von Mitarbeitern, was an den Atelierbetrieb eines Peter Paul Rubens denken lässt. „Da Siegerkunst sich über einen Preis definiert, geht es auch darum, wer diesen bezahlt. Das unterscheidet Siegerkunst von Museumskunst, die dem Staat und damit der Allgemeinheit gehört.“5 Demzufolge „zählt“ das durch das Ausgeben hoher Geldsummen gefällte Urteil von Sammlern mehr als das von Fachleuten wie Museumskuratoren oder erst recht von Kunstkritikern, deren Arbeit tendenziell obsolet wird: „Es wird nicht weniger Kunst geschaffen als bisher, aber das, was neu entsteht, wird nicht mehr so sorgfältig beobachtet und nicht mehr so

5  Wolfgang Ullrich, Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust, Berlin 2016. S. 21.

6  Ebd. S. 144.

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WAS IST KUNSTKRITIK? Ein Interview mit Dr. Danièle Perrier REDAKTION: Was versteht man eigentlich unter

len. Es geht darum, die Stellung eines Kunstwerks,

Kunstkritik?

welcher Art auch immer, Bild, Musik, Literatur,

PERRIER: Kritik allgemein bedeutet die Fähig-

Performance, Video, Film, Installation etc. oder

keit zu unterscheiden, begründet über ein System,

einer Kunstrichtung im Rahmen des Zeitgesche-

Sachverhalte oder Kunst zu urteilen. Das setzt vo-

hens zu beurteilen, festzustellen inwiefern es sich

raus, dass es Kriterien der Beurteilung gibt. Diese

in einer bestimmten Richtung mitbewegt oder im

wiederum sind historisch bedingt und wandeln

Gegenteil entschieden dagegen opponiert, sich

sich im Laufe der Jahrhunderte. Sie hängen von

durch Innovation und Andersartigkeit absondert

der Wandlung der Gesellschaften und der Schwer-

und neue Kriterien festsetzt. Nicht nur die Litera-

punkte, die sie setzen, ab und zugleich nehmen sie

tur setzt Kriterien für neue Gesellschaftsformen,

auch Einfluss auf deren Veränderung. Man denke

sondern auch die Bildende Kunst und Performance.

beispielsweise an Jean-Jacques Rousseau und sei-

Man denke an die Fluxus-Bewegung, die Kunst und

nen Contrat social, indem er als Erster die Souverä-

Leben verbinden wollte, an Hans Haacke, Chris-

nität dem Volk zuspricht und somit der erste Philo-

toph Schlingensief und Occupy, die Politik und Ge-

soph ist, der den, von der Revolution eingeleiteten,

sellschaft heftig in Frage stellen, an Andy Warhol,

Demokratieprozess einläutet. Kritik setzt Wissen

Damien Hirst und Jeff Koons, welche die Konsum-

voraus und die Fähigkeit einen bestimmten Sach-

gesellschaft anprangern und an Robert Smythson,

verhalt auf individuelle Weise zu interpretieren.

Donald Judd und Daniel Buren, die unterschiedli-

Subjektivität ist also der Kritik inhärent.

che Denkmodelle entwickelt und über neue Kunst-

Übertragen auf die Kunstkritik heißt das, dass der

und Lebensideale reflektiert haben und diese teil-

Kunstkritiker über die Entwicklung des Kunstge-

weise mitgeprägt haben.

schehens bestens informiert sein muss, um über die

Kunstkritik hat viele Ausdrucksweisen, je nach-

notwendigen Kriterien zu verfügen, ein Kunstwerk

dem wofür sie schreibt. Sie kann spontan, bissig

oder eine Kunstrichtung differenziert zu beurtei-

und humorvoll auf das Objekt der Betrachtung re-


CRITICA I/ 2016

agieren und/ oder das Ergebnis einer tiefen Aus-

ist die Frage, wo Kritik anfängt und wo Geisteswis-

einandersetzung mit der Materie sein. Länge und

senschaft aufhört, aufgeworfen.

Form hängen davon ab, ob sie für eine Tages- oder Wochenzeitung, eine Fachzeitschrift, einen Kata-

REDAKTION: Worin besteht die Aufgabe eines

log oder ein Magazin arbeiten oder ob für Online-

Kunstkritikers?

Formate geschrieben wird. Die Tageszeitung hat

PERRIER: Egal für welches Medium ein Kritiker

die Mission zu informieren und will zunächst ei-

schreibt, er muss sich an dem Lesepublikum des

nen spontanen ersten Eindruck auf der Basis von

Mediums für das er schreibt orientieren. Das heißt

Fakten vermitteln. Schlagzeilen, die sich leicht ein-

nicht, dass er sich anbiedern muss und seine Ge-

prägen, Zahlen, Ziele sowie Erfolg oder Misserfolg

danken anpassen soll – ganz im Gegenteil, sein

sind ausschlaggebende Faktoren. Je gehobener das

Standpunkt ist wesentlich für die Urteilsbildung

Niveau der internationalen Tages- und Wochen-

der Leser. Es hat lediglich mit der Form, sozusa-

presse, desto höher der Anspruch Fakten diffe-

gen mit der Verpackung seiner Gedanken zu tun.

renzierter zu interpretieren, zu hinterfragen und

Anders als in der Wissenschaft muss der Kritiker

mit Randinformationen zu beleuchten. Magazine

auch die Begabung eines Autors besitzen, der sei-

hingegen, sind meistens darauf ausgelegt, das Inte-

ne Leser in Atem hält. Im Idealfall hat er ein brei-

resse eines breiteren, interessierten Publikums zu

tes, fundiertes Wissen, eine schnelle Urteilskraft,

erreichen und in den Online Social Media sind die

eine hervorragende und abwechslungsreiche Aus-

Informationen mit einer Aufforderung zu Diskus-

druckweise. Er schöpft aus seinem Erfahrungs-

sionen konzipiert. Bei Fachzeitschriften wie Texte

schatz und beurteilt mit gebührender Distanz das,

zur Kunst und Lettre International sind eher fundiert

was er mit feurigem Interesse verfolgt. Je mehr ein

recherchierte, kritische Essays die Regel. Oft wer-

Kritiker in die Materie eingelesen ist und wenig be-

den Fachleute eingeladen, Forscher, die sich auf ein

kannte Fakten berücksichtigen kann, desto leben-

Gebiet spezialisiert haben und einen analytischen,

diger und aufschlussreicher ist seine Kritik. Wie

aktuellen Wissensstand vermitteln. Auf diesem

auch immer sie ausfällt – positiv, negativ, nuanciert

Niveau sind in der Bildenden Kunst auch Buchpub-

– sie ist immer das Resultat einer persönlichen,

likationen, die sich philosophisch mit einer Kunst-

argumentierten Meinung. In diesem Sinne gibt es

richtung auseinandersetzen, zu erwähnen. Damit

nicht die Kritik, sondern eine Vielfalt subjektiver

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CRITICA I/ 2016

Kritiken und dementsprechend auch Unterschiede

Auch für den Kunstwissenschaftler ist die Reflexi-

in der Qualität.

on der Kunst im aktuellen Kontext wesentlich – er ist sogar die Treibkraft, um nochmals über schon

REDAKTION:

Wie

wird

man

Kunstkritiker

Abgehandeltes zu schreiben. Die beiden Methoden

(Schließlich handelt es sich nicht um einen eigetra-

unterscheiden sich jedoch in der Herangehenswei-

genen Lehrberuf)?

se, der Thematik und dem Ziel. Kunstgeschichte

PERRIER: Für einen Kunstkritiker gibt es kein vor-

nimmt stärker Bezug auf das Interpretieren von

geschriebenes Studium. Manche werden als Kul-

Fakten, resultiert aus einer auf Geschichte und Ent-

tur-Journalisten ausgebildet, andere als Kulturwis-

wicklung basierenden Recherche, die sich manch-

senschaftler, noch andere als Kunsthistoriker und

mal über Jahre hin zieht. Sie bleibt näher am Ob-

Philosophen. Manche sind an Hochschulen tätig,

jekt und die Relevanz des aktuellen Kontexts ist

zahlreiche Kunstkritiker sind zugleich Kuratoren

ebenfalls auf die neue Interpretation des Objekts

und Autoren, andere schreiben ausschließlich für

selbst bezogen. Die Kunstkritik ist interpretativer,

die Presse. In diesem Interview geht es hauptsäch-

vielleicht auch kreativer und darf auch subjektiver

lich um Letztere. Kunstkritik als journalistische

sein. Übrigens kann ein und dieselbe Person bei

Tätigkeit berichtet über aktuelle Themen: der Bau

entsprechender Qualifizierung durchaus sowohl

eines Museums als Architektur im Dienste der

als Kunstkritiker und als auch als Wissenschaftler

Kunst, eine Ausstellung im Hinblick auf die Wahl

schreiben.

der Kunstwerke und ihrer Präsentation, eine Auktion und die Art Basel im Hinblick auf Erfolg, Bien-

REDAKTION: Wie würden Sie die Lage der Kunst-

nalen als Trendsetter etc… Die Beurteilung betrifft

kritik in unserer heutigen Kunst- und Kulturland-

nicht nur das Werk, sondern deren Inszenierung.

schaft beschreiben?

Unter Inszenierung verstehe ich die gewollte In-

Nimmt die Kunstkritik angesichts allseits prak-

tention, die eine Präsentation begründet, der Be-

tizierter monetären Tendenzen überhaupt noch

zug zum Raum, die Auswahl der Werke, eventuelle

eine relevante Position auf dem Kunstmarkt und

begleitende Musik, die Implikation des Publikums

für dessen gesamte Protagonisten ein?

und vor allem die Relevanz im aktuellen Kontext,

PERRIER: Wenn ich heute die internationale Ta-

kurzum alles, was den Gesamteindruck bestimmt.

gespresse aufrufe, dann finde ich durchaus inter-

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CRITICA I/ 2016

essante Kunstbesprechungen zu einer Vielfalt von

auszugleichen, andere stellen einen Teil der Infor-

Ausstellungen, Architekturen, Künstlern, Events

mationen ohne Gegenleistung zur Verfügung und

und über den Kunstmarkt. Dennoch wird immer

bieten manche Artikel gegen Entgelt.

weniger Raum für kritische Berichte bereitgestellt.

Der monetäre Einbruch scheint weniger das In-

Das mag mit den veränderten Lesegewohnheiten

formationsvolumen zu beeinflussen als die Be-

zusammenhängen, denn immer mehr Leser su-

reitschaft der Zeitungsverlage fachspezifische

chen Informationen im Netz. Neben Nachrichten

Kunstkritiker fix einzustellen. Zum Beispiel hat

stellen derzeit viele internationale Zeitungen einen

der Mannheimer Morgen während der Elternzeit-

wesentlichen Teil ihrer Informationen und Berich-

Beurlaubung seiner Kunstkritikerin befunden,

te entgeltlos im Netz zur Verfügung. Dort findet

dass er keine Experten mehr, sondern nur noch Ge-

man sofort weitere, damit verbundene Artikel. Ein

neralisten braucht. Eine solche, leider verbreitete

besonderer Reiz der Netzkultur mag sein, dass der

Haltung, setzt einerseits die zur Freelance Tätigkeit

Leser hier Kommentare abgeben kann, seine Zu-

gezwungenen Kunstkritiker unter Druck, anderer-

stimmung, seinen Unmut, sein Unverständnis. Das

seits ist diese Entscheidung seitens von Zeitungen

entspricht dem Verhalten einer Mediengeneration,

gewiss nicht im Sinne der Qualität und es hat Kon-

die gewohnt ist in Facebook und Twitter Gefallen

sequenzen auf den Inhalt. Faktisch werden in der

und Missfallen zu äußern, Fotos auf Instagram zu

deutschen Presse fast nur noch Großereignisse be-

posten und mit anderen zu teilen.

sprochen – Christos Installation auf dem Iseo See,

Was auch immer der Grund für die Umstellung auf

Michel Houellebecqs Fotoausstellung im Palais de

e-paper sein mag, sie hat zur Wirkung, dass im-

Tokyo und seine Beteiligung an der Manifesta in

mer weniger Firmen Anzeigen in den Printmedi-

Zürich, die Ausstellung Edouard Manets in Ham-

en schalten und somit die monetäre Situation der

burg und noch das Kulturgutschutzgesetz – jetzt,

Verlage immer prekärer wird. Manche versuchen

wo das Kind sozusagen in den Brunnen gefallen ist.

dies durch den Verkauf der elektronischen Zeitung

In den Vordergrund treten immer wieder sensati-

faktisch zum gleichen Preis wie die Printversion1

onsträchtige Meldungen vom Kunstmarkt – besondere Verkaufserfolge bei Auktionen oder die letz-

1  Laut einer Umfrage vom Digitalverband Bitcom sind 36 % der Anwender bereit für Nachrichten und andere Inhalte im Netz Geld auszugeben. (Rhein-Zeitung online, Die Zahlungsbereitschaft für Online-Nachrichten steigt, 22.06.2016 Ein zusätzlicher Reiz mag

ten Trends auf der Art Basel und ihrer zahlreichen sein, dass hier Kommentare abgegeben werden können. Der Leser kann also reagieren,

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CRITICA I/ 2016

Ableger. Das heißt, dass die Kritik den Erfolg der

REDAKTION: Tendenziell ist man in unserer heu-

Kunst hypt. Der Kunstmarkt wird somit von ihr

tigen Welt dem Begriff endgültiger Kriterien und

getragen. Kritik im Sinne einer hinterfragenden

Maßstäbe eher kritisch gegenüber eingestellt.

Auseinandersetzung des Kunstmarkts, die viel-

Das gilt natürlich auch für die Kunst. Aber was be-

leicht Veränderungen bedingen würde, ist mir in

deutet dies für die Kunstkritik, welchen Kriterien

der Presse nicht bekannt.

darf oder sollte sie sich heute noch bedienen?

Was ebenfalls in der internationalen Presse fehlt,

PERRIER: Sie haben vollkommen Recht. In seinem

sind Besprechungen von kleinen Institutionen,

Vortrag Unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeit-

Offspaces und innovativen Galerien, die das Wag-

alter der Kritik – Critique, crise, cri hat Jean-Luc Nancy2

nis eingehen Künstler zu zeigen, die noch nicht

die Entwicklung des kritischen Denkens in seiner

Hype sind. Man kann von Glück sprechen, wenn

Entwicklung von Kant bis Lyotard analysiert. Er

diese im Lokalblatt und in den verschiedenen

kommt zum Schluss, dass das Problem unseres

Kunstzeitungen, die in Museen und Galerien zur

Zeitalters in Bezug auf Kritik der Mangel an bestim-

freien Entnahme liegen, Erwähnung finden. Dabei

menden Kriterien ist. Während das 20. Jahrhun-

handelt sich in der Regel um Meldungen, welche die

dert als Jahrhundert der Manifeste in die Geschich-

gelieferten Pressetexte nur geringfügig abwandeln

te eingehen wird, verebbt diese Form des Postulats

und wenn Kritik erfolgt, dann auf eine rein emoti-

einer Abgrenzung gegen frühere Kunstformen

onale Art. So wird die Allgemeinheit sehr einseitig

und zugleich als Maßstab für neue Kriterien in den

informiert, mit Artikeln, die mit dem Strom flie-

1980er Jahren. Mit der documenta X von Catheri-

ßen, und anderen, die nur die Top-Ereignisse fei-

ne David im Jahr 1997 wird erstmals bewusst, dass

ern. Kunstkritik – gute wie schlechte – übt nach

Kunst sich nicht nur in Europa und Nordamerika

wie vor eine relevante Rolle in der Wahrnehmung

abspielt, sondern zeitgleich und ebenso interessant

der kulturellen Ereignisse und damit des Zeitge-

auch in Süd- und Mittelamerika. Der Titel ihrer do-

schehens in der Kunst aus. Sie ist meinungsbildend

cumenta Politics weist zudem auf die Bedeutung der

für die Allgemeinheit und voll verantwortlich für

Kunst im Zwiegespräch mit der politischen Situa-

das, was sie säht. Diese Form von Kunstkritik ist allerdings irrelevant für die Künstler selbst im Sinne einer Reibung und Aufforderung zum Denken.

16

2  Jean-Luc Nancy, Unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeitalter der Kritik – Critique, crise, cri (Übersetzung Esther von der Osten, Vortrag im Rahmen des Symposiums Was ist Kritik?, NBK Berlin, gehalten am 28. Januar, HAU Hebbel am Ufer , HAU I Der Vortrag wird vom NBK publiziert werden.


CRITICA I/ 2016

tion der verschiedenen Länder hin, ja sie ist selbst

sich neu erfinden, wenn sie sich Gehör verschaffen

politisch. Hinzu kommt, dass hier erstmals auf die

will.

wesentliche Rolle des bewegten Bildes (Film und Video) in der Kunst des 20. Jahrhunderts hinge-

REDAKTION: Wie ehrlich ist die Kunstkritik von

wiesen wurde. Okwi Enzewor mit der documenta

heute? Tendiert die kommerzialisierte Kunstkri-

11 erweiterte das Blickfeld der Kunst, indem er auch

tik vielleicht dazu nur noch eine Art Gefälligkeit

Afrika und mit Carolyn Christov-Bakargiev Asien

am Subjekt (Künstler und der eigenen Person) zu

einschloss. Im Zeitalter des Internets ist die Kunst

werden? Geschrieben wird quasi nur über das was

globalisiert, nicht in dem Sinne, dass alle das Glei-

ohnehin gefällt oder über befreundete Künstler/

che machen, sondern dass durch das Internet alle

innen?

über alle und alles wissen können. Genau in dieser

PERRIER: Der Kunstmarkt könnte ohne die Kunst-

globalisierten Blickbetrachtung liegt die Schwie-

kritik gar nicht in der Form florieren und umge-

rigkeit, heute allgemein gültige Kriterien für die

kehrt etabliert er auch ihre Kunstkritiker. Es exis-

Kunst zu entwickeln. Das führt zwangsweise dazu,

tiert eine Wechselwirkung zwischen den beiden.

dass es nicht mehr nur eine maßgebende Tendenz

Nicht umsonst engagieren große Galerien nam-

zu einem bestimmten Zeitpunkt gibt, sondern eine

hafte Kunstkritiker für ihre Pressetexte. Das geht

Vielzahl an parallelen Kunstrichtungen. Auch die

Hand in Hand mit einer Kritik, die sich in erster

Tatsache, dass Künstler sich verstärkt in Ballungs-

Linie auf Events und renommierte Künstler fokus-

zentren aufhalten – Berlin ist das beste Beispiel da-

siert. Wenn ein Kunstkritiker beauftragt wird über

für – und dadurch dort multikulturelle Kunstzellen

eine Ausstellung zu schreiben, dann bestimmt dies

entstehen, führt zu einer gleichzeitigen Wahrneh-

den Blickwinkel und es kann sich nur um positive

mung unterschiedlicher Kunstauffassungen. Unser

Kritik handeln. Ob es sich um Gefälligkeiten han-

Zeitalter steht unter dem Symbol der Pluralität, der

delt, kann ich nicht beantworten. Das hängt von der

Diversität und mir scheint auch einer intensivier-

Integrität des Kritikers ab. Wahr ist, dass man in

ten Politisierung der Kunst. In diesem Wust an In-

der Regel lieber über Künstler urteilt, für die man

formationen und Tendenzen muss die Kunstkritik

sich interessiert. Problematisch erscheint mir, dass

sich den Weg zu neuen Kriterien bahnen, sie muss

viele Texte keinen Tiefgang haben, nicht historisch fundiert sind und keine Analyse bieten und dann

17


CRITICA I/ 2016

auch noch unkritisch von der Presse übernom-

und Kritikern im Spiel, oder auch Feindschaften.

men werden. Wenn Kunstkritiker Kunstideologien

Der Standpunkt, den man vertrat, war immer ve-

schaffen und bestimmte Künstler und Kunstwerke

hement verteidigt und ehrlich. Auch heute sind

zu einem bestimmten Zeitpunkt im Kunstsystem

Kritiker und Künstler ebenfalls oft befreundet. Was

als ›Kunst‹ kommunizieren, heißt es noch lange

sich geändert hat, ist, dass die Kunst der Postmo-

nicht, dass diese die Zeit überstehen. Jean-Philippe

derne nichts mehr mit „Materialfortschritt“ zu tun

Domecq entlarvt in seinem Buch die Mechanis-

hat. Harry Lehmann beschreibt es so: „…, die avan-

men, die zur Meinungsbildung führen und sich im

cierte Kunst ist heute ästhetisch und konzeptionell

Rückblick als überaltert erweisen.3

zugleich, sie ist werkhaft und prozessual, und sie entsteht sowohl in alten als auch in neuen Medien.“4

REDAKTION: Denken Sie die Kunstkritik von

Das bedeutet für die Kunstkritik, dass auch sie

heute unterscheidet sich in ihrer Ehrlichkeit und

nicht mehr auf die ihr bisher geläufigen Kriterien

eigenen Kritikfähigkeit von früheren Formen der

zurückgreifen kann. Eigentlich kann Kunstkritik

Kunstkritik?

in diesem Kontext nur noch in einem Gespräch mit

PERRIER: Ich denke nicht, dass es prinzipiell eine

dem Künstler entstehen.

Frage der Ehrlichkeit ist, sondern eine Frage der Diskursivität. Dort, wo klare künstlerische Bot-

REDAKTION: Gibt es eine Kritik der Kunstkritik?

schaften entstehen, gibt es resolute Verfechter des

Einen Ort an dem so etwas verhandelt wird? Gibt

pro et contra. Pierre Restany war eine zentrale

es ein Ethos des Kunstkritikers?

Figur für die Entstehung des Nouveau Réalisme. Er

PERRIER: Es gibt schon lange eine reflexive Kunst-

war der Wortträger dieser Künstlergruppe und sie

kritik, die sich selbst und ihre unterschiedlichen

waren gemeinsam miteinander verschweißt. Er

Erscheinungsformen untersucht. Zu den bekann-

hat ihre Aktionen begleitet, vielleicht auch ange-

testen Kritikern der Kunstkritik gehört James El-

regt und sie bekannt gemacht. Später hat Germano

kins, der schon 2003 sein Buch What happened to

Celant in Italien den Begriff der Transavanguardia

art criticism? publizierte und seither immer wieder

kreiert und die Künstler bekannt gemacht. Immer

adäquate Ausdrucksformen der Kunstkritik in un-

wieder waren Freundschaften zwischen Künstlern

serem Zeitalter auslotet. Auch der bereits genannte

3  Jean-Philippe Domecq, La comédie de la critique, 30 ans d’art contemporain, Agora Pokett 2015

4  Zitiert aus Harry Lehmann, Zehn Thesen zur Kunstkritik, in: Autonome Kunstkritik, Berlin, Kadmos 2012, S. 13

18


CRITICA I/ 2016

Jean Luc Nancy gehört zu den Prominenten Philo-

REDAKTION: Wie reflexiv und bedacht geht eine

sophen, die Mechanismen der Kritik untersuchen.

Kunstkritikerin wie Sie, die auch Vorstandsmit-

Heute mehr denn je stellt sich die Kritik selbst in

glied der AICA – der internationalen Vereinigung

Frage und wagt neue Experimente. Es wird viel da-

der Kunstkritiker – ist, mit ihrer eigenen Kritikfä-

rüber geschrieben und wie verbreitet das Interesse

higkeit um?

an Kunstkritik ist beweist das Kunstforum, welches

PERRIER: Das kommt auf die Aufgabe an. Wenn ich

2015 ein ganzes Heft dem Thema widmete. Auf ei-

über einen Künstler schreibe, ist es mir wichtig, mir

ner anderen Ebene haben der NBK Berlin und die

selbst ein Bild seiner Werke machen zu können, sie

Zürcher Hochschule der Künste ein gemeinsames

also kommentarlos zu sehen. Es geht mir um den

Symposium zum Thema Was ist Kritik? ausgerichtet

spontanen persönlichen Eindruck. Ich bin also zu-

und die Situation aus der Perspektive der Philoso-

nächst mit meinem Grundwissen und dem Kunst-

phie, der Kunstgeschichte und der Kunst analy-

werk alleine. Dann erst führe ich das Gespräch mit

siert. Derzeit plant Ellen Wagner, ein junges AICA

dem Künstler, versuche in seine Gedankenwelt ein-

Mitglied, ein Symposium zum Thema Newsflash

zudringen, mehr aus seiner Motivation und auch

Kunstkritik? das von der HFG Offenbach getragen im

aus seiner Biografie zu erfahren. Erst danach lese

Frankfurter Kunstverein stattfinden wird – übri-

ich bereits existierende Texte und spreche mit Per-

gens mit der Unterstützung der AICA Deutschland.

sonen, die sich gut auskennen. Nur selten schrei-

Die AICA Deutschland wird voraussichtlich das

be ich über Künstler, deren Arbeit ich nicht schon

von Sabine Maria Schmidt konzipierte Kurz-Sym-

lange verfolge. Bei Themen wie Was ist Kritik? lasse

posium Zensur und Selbstzensur im Kunstbetrieb an-

ich mich zunächst von der Fragestellung leiten und

lässlich der Mitgliederversammlung veranstalten.

versuche mich so intensiv wie möglich vorzuberei-

Übrigens befasst sich AICA International in ihren

ten. Der Besuch eines Symposiums oder die Lektü-

jährlichen Kongressen ständig mit dieser Frage.

re eines Buches geben den Impuls zur weiteren Re-

Im letzten Jahr hat AICA London, gemeinsam mit

cherche. Die Auswahl der Lektüre schmiedet mein

Culture+Conflict, Royal College of Art, London einen

Denken. Ich bin sozusagen eine kritisch reflektier-

Kongress zum Thema Who cares? Value, veneration

te Synthese der Standpunkte Anderer und meiner

and criticality veranstaltet und hervorragende Kriti-

eigenen Erfahrung. Nicht meine Meinung im Sinne

ker eingeladen.

von Vorlieben und Bauchgefühl sind wichtig – die

19


CRITICA I/ 2016

sind nur Impuls gebend für die Recherche – son-

als Duo zur gemeinsamen künstlerischen Leitung

dern mein erarbeiteter Standpunkt. Es ist mir auch

einer Institution entschlossen, wie Jean-Paul Felley

bewusst, dass ein Standpunkt wiederlegbar ist und

und Olivier Kaeser im Centre Culturel Suisse de Pa-

ich selbst möglicherweise im Laufe der Zeit zu an-

ris. So gesehen ist es nur eine logische Konsequenz,

deren Schlussfolgerungen kommen kann. Denn,

dass sich auch Kritiker zusammenschließen und

„[n]ur im Strom kann man gegen ihn schwimmen“5,

gemeinsam schreiben. Der Vorteil bei der Dividu-

d.h. dass wir mit unserer Zeit gehen müssen und

alität ist, dass schon in der Entstehungsphase eines

unsere Gedanken stets revidieren und aktualisie-

Artikels ein Austausch stattfindet, welcher die Er-

ren müssen.

weiterung des eigenen Blickfeldes ermöglicht. Es kann also, gerade in solchen noch selten beschrit-

REDAKTION: Wo sehen Sie die Zukunft der

tenen Wegen, eine Alternative zur Einzelkritik

Kunstkritik? Was sagen Sie zu neuen Entwicklun-

stecken, die es selbstverständlich weiterhin geben

gen innerhalb der Kunstkritik also zum Beispiel zu

wird.

Themen wie Dividualität und Crowd Criticism?

Das Internet hat das Kommunikationsverhalten der

PERRIER: Unsere Zeit wird durch zwei Faktoren

Menschheit extrem verändert und beschleunigt.

bestimmt: Die Demokratie und das Internet. Mai 68

Jeder hat Zugriff zu Informationen und kommuni-

hat die alten patriarchalischen Strukturen, die die

ziert weltweit mit Gleichgesinnten in Realzeit. Da-

Gesellschaft bis dahin bestimmten, aufgeweicht

durch hat der Mensch als Kollektiv eine neue Macht

und den Weg zu mehr Demokratie geöffnet, zu

gewonnen. Das Internet befähigt die Menschheit

flacheren Strukturen. An der Universität wurde

zur (weltweiten) Mitsprache. Crowd Criticism ist

damals die Drittelparität lautstark gefordert und

eine schlüssige Folge dieser Vernetzungsmöglich-

weitgehend auch eingeführt, in der Kunst sah man

keit und dem Wunsch, nicht nur für eine Elite zu

die ersten Künstlerpaare und Künstlerkollektive.

schreiben, sondern sich an jeden, der Interesse hat,

Marina und Ulay Abramovic, Fischli/Weiß, Gene-

zu wenden und ihn auch zu Wort kommen lassen.

ral Idea, die Gorilla Girls sind nur ein paar Beispie-

Crowd criticism wie auch Dividualität sind charak-

le. Es dauerte etwas länger bis sich Kunsthistoriker

teristische Erscheinungen in Umbruchszeiten, die

5  Martin Seel, Theorien, Frankfurt a. M. 2009, S. 117 von Marcus Steinweg zitiert, Symposium Was ist Kritik?, NBK Berlin, 6. Februar 2016

20

nach kreativen Ausdrucksformen und Inhalten suchen. In einer Zeit, in der Künstler Kuratoren sind


CRITICA I/ 2016

und Kuratoren für sich den Anspruch erheben, mit ihren Texten und Ausstellungstechniken neben dem Künstler gleichwertig kreativ zu sein, kann ich mir vorstellen, dass eine zeitgenössische Kritik, die das Denken und Wirken von Künstlern beeinflussen möchte, an dieser Stelle ansetzen sollte.

Z ur P erson

Dr. Danièle Perrier arbeitet hängige

als

unab-

Kuratorin,

Kunstkritikerin und Kunstberaterin. Von 2004 bis 2012 war sie geschäftsführende künstlerische Leiterin am Künstlerhaus Schloß Balmoral sowie von 1999 bis 2004 Geschäftsführerin des Künstlerhauses. Zuvor leitete sie das Ludwig Museum im Deutschherrenhaus, Koblenz. Perrier ist in einer Vielzahl von Gremien vertreten, u.a. ist sie Vizepräsidentin der AICA Deutschland, dem internationalen Kunstkritikerverband. Perrier schreibt regelmäßig für CRITICA.

21


WAS IST KUNSTKITIK ? Ein Interview mit Dr. Sandra Danicke REDAKTION: Was verstehen Sie unter Kunstkri-

REDAKTION: Nimmt die Kunstkritik angesichts

tik und worin denken Sie, besteht die Aufgabe ei-

allseits

nes Kunstkritikers? Inwiefern verstehen Sie sich

überhaupt noch eine relevante Position auf dem

als Kunstkritikerin und wie wurden Sie Kunstkri-

Kunstmarkt und für dessen gesamte Protagonis-

tikerin (Schließlich handelt es sich nicht um einen

ten ein?

eingetragenen Lehrberuf)?

DANICKE: Es gehört nicht zu den Aufgaben von

DANICKE: Bei Kunstkritik geht es für mich in ers-

Kunstkritikern, Argumente für höhere oder nied-

ter Linie um die Vermittlung von Kunst. Kunstkri-

rigere Erlöse zu liefern.

praktizierter

monetären

Tendenzen

tiker machen Vorschläge, wie man sich Werken nähern kann; sie analysieren ein Werk in seiner Zeit

REDAKTION: Tendentiell ist man in unserer heu-

und seinem Kontext. Idealerweise kommen sie da-

tigen Welt dem Begriff endgültiger Kriterien und

bei ohne den genretypischen Jargon aus.

Masstäbe eher kritisch gegenüber eingestellt.

Wie ich Kunstkritikerin wurde? Ich habe Kunst-

Das gilt natürlich auch für die Kunst. Aber was be-

geschichte studiert und bereits während des Stu-

deutet dies für die Kunstkritik, welchen Kriterien

diums als Journalistin gearbeitet. Da lag der Beruf

darf oder sollte sie sich heute noch bedienen?

der Kunstkritikerin auf der Hand.

DANICKE: Es gibt durchaus gültige Kriterien und Maßstäbe für ein gelungenes Kunstwerk: Etwa,

REDAKTION: Wie würden Sie die Lage der Kunst-

dass der Künstler eine überzeugende Form für

kritik in unserer heutigen Kunst- und Kulturland-

einen relevanten Inhalt gefunden hat. Dass sein

schaft beschreiben?

Werk eine ungewohnte, den Fokus verschiebende

DANICKE: Kunstkritiken haben einen Einfluss da-

Betrachtungsweise anbietet. Kunst sollte uns etwas

rauf, was ausgestellt wird und was nicht – anders

Frappierendes über den Zustand des Menschen

als Blogs zum Beispiel.

in seiner Zeit mitteilen. Natürlich kann man im Einzelfall darüber streiten, auf welche Werke dies


CRITICA I/ 2016

zutrifft. Kunstkritik kann kein endgültiges Urteil

DANICKE: Nein.

liefern, sollte aber einen fundierten Beitrag zur REDAKTION: Gibt es eine Kritik der Kunstkri-

Diskussion leisten.

tik? Einen Ort an dem so etwas verhandelt wird? REDAKTION: Wie ehrlich kann die Kunstkritik

Gibt es ein Ethos des Kunstkritikers? Wie reflexiv

von heute sein? Tendiert kommerzialisierte Kunst-

und bedacht geht eine Kunstkritikerin wie Sie, die

kritik dazu nur noch eine Art Gefälligkeit am Sub-

für die Frankfurter Rundschau, als Rhein-Main-

jekt (Künstler und der eigenen Person) zu werden?

Korrespondentin für das Kunstmagazin Art, für

Geschrieben wird demnach nur über das was oh-

die Zeit und weitere Kunstmagazine arbeitet und

nehin gefällt oder über befreundete Künstler/in-

Autorin des Buches „Kunst versteht keine Sau...“

nen?

ist, mit ihrer eigenen Kritikfähigkeit um? Hat sich

DANICKE: Sofern der Kunstkritiker von seinem

diese durch Ihre unterschiedlichen beruflichen Po-

Beruf leben muss, handelt es sich wohl um kom-

sitionen geändert?

merzialisierte

Ernstzunehmende

DANICKE: Eine Kritik der Kritik kommt am ehes-

Kunstkritiker sind in ihrem Urteil jedoch trotzdem

ten dadurch zustande, dass andere Kritiker anders

weitgehend frei (wenn sie nicht gerade den Auf-

urteilen und man sich und seine Kriterien dadurch

trag haben, einen Katalogtext zu schreiben). Was

hin und wieder selbst hinterfragt. Eine Ausstel-

nicht heißen soll, dass sie keine Vorlieben hätten.

lungs- oder Werkbesprechung ist ja niemals in

Dass vorwiegend über Werke oder Künstler/innen

Stein gemeißelt. Vor allem dann nicht, wenn man

geschrieben wird, die der Kritiker mag, entspricht

für eine Tageszeitung aktuell berichten muss und

meines Erachtens nicht den Tatsachen. Richtig ist,

zwischen Presserundgang und Redaktionsschluss

dass handfeste (negative) Kritiken selten sind. Das

nur zwei Stunden Zeit sind. Wenn man allerdings

waren sie allerdings immer.

für ein monatlich erscheinendes Fachmagazin ar-

Kunstkritik.

beitet, sollte der Text schon Hand und Fuß haben. REDAKTION: Denken Sie die Kunstkritik von

Meine Kritikfähigkeit ändert sich übrigens tat-

heute unterscheidet sich in dieser Hinsicht, in ih-

sächlich – das hat aber kaum etwas mit meinem je-

rer Neutralität und eigenen Kritikfähigkeit, von

weiligen Auftraggeber zu tun, sondern damit, dass

früheren Formen der Kunstkritik?

ich täglich dazu lerne.

23


CRITICA I/ 2016

REDAKTION: Wo sehen Sie die Zukunft der Kunstkritik? Was sagen Sie zu neuen Entwicklungen innerhalb der Kunstkritik also zum Beispiel zu Themen wie Dividualität und Crowd Criticism?

DANICKE: Seltsamerweise wird immer mal wieder so getan, als sei Kunst ein Feld, in dem jeder, der das möchte, zum Experten taugt. Kunst ist keine Quizshow, in der der Publikumsjoker die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Antwort erhöht. Das wäre übrigens auch dann nicht der Fall, wenn im Publikum nur ausgewiesene Kunstkritiker säßen. Eine gelungene Kunstkritik vertritt eine dezidierte Meinung, die sich der Kritiker auf der Basis von Erfahrung und solidem Wissen gebildet hat; sie sollte sich nicht im Für und Wider divergierender Ansichten verzetteln. Ich denke nicht, dass sich daran in Zukunft etwas ändern wird.

Z ur P erson

Sandra Danicke ist Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin und Autorin. Seit 2002 ist Sandra Danicke Rhein-Main-Korrespondentin für das Kunstmagazin art mit Sitz in Frankfurt. Danicke publiziert daneben in der Zeit, der Süddeutschen Zeitung und weiteren Kunstmagazinen. 2012 erschien ihr Buch Kunst versteht keine Sau...: Mysteriöses, Kurioses und Rätselhaftes in der modernen Kunst bei Belser, Köln.

24


Gabriel Cornelius von Max, 1840-1915, Monkeys as Judges of Art, 1889


ART BRUT AUS DER SICHT DER ALTERITÄTSFORSCHUNG von Małgorzata Bogaczyk-Vormayr

Den Künstlern Erich Prager und Gerhard Maurer gewidmet

Der hier präsentierte Aufsatz soll einen Einblick

ses weitgefächerten Themenspektrums, das die Art

in meine Forschung zur Art Brut geben, in welcher

Brut eröffnet, hat mich natürlich die folgende und

die Ansätze aus der Kunstphilosophie, der Sozial-

grundsätzliche Frage beschäftigt: Sind die Ateli-

ethik, der Resilienzforschung wie auch der Alteri-

ers und auch die kunsttherapeutischen Werkstät-

tätsforschung eingebracht und untersucht werden.1

ten der Sozialeinrichtungen Orte der Künste, der

Aus diesen Disziplinen kommt der Apparat meiner

Selbstentfaltung und Etablierung eines Künstlers

Arbeit – die Theorien, die Begrifflichkeit, der Wis-

oder eher nur Schutz- und Anerkennungsorte eines

sensstand. Das Thema der Untersuchung ist die Art

Klienten?

Brut. Die Inhalte dieser Untersuchung sind die Ar-

Ich werde hier diese Frage meiner Erfahrung gemäß

beitsprozesse der Künstlerinnen und Künstler –

beantworten und vorschlagen, diese Fragestellung

deren Ursprünge, Umstände und Verläufe – sowie

als ein neues Reflexionsfeld innerhalb der Alteri-

die Kunstwerke selbst: die Kunstwerke, zu denen

tätsforschung anzuerkennen. Im ersten Teil meines

ich eine kunstphilosophische Analyse vorlege. Un-

Aufsatzes versuche ich eine Begriffsklärung der

ter den vielen Fragestellungen und angesichts die-

Alterität, während ich mich im zweiten und dritten

1  Dieser Aufsatz entstand als Ergänzung zu meinem Vortrag im Rahmen der Tagung „Kunst und Inklusion“, welche ich gemeinsam mit Prof. Otto Neumaier am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg im November 2015 veranstaltet habe. Otto Neumaier war der Betreuer meines Forschungsprojektes zur Art Brut – an dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei ihm dafür bedanken. Ein Dank geht auch an meine Arbeitskollegin am Zentrum, Elisabeth Kapferer, sowie an das Betreuungspersonal der Lebenshilfe Salzburg, Werkstätte in der Eichstraße, und von Pro Mente-Tauernhof in Salzburg.

Teil den Werken von zwei österreichischen Künstlern widme: Erich Prager und Gerhard Maurer: 1. Erich Prager (geb. 1956) interviewte ich im Jahr 2015. Ich bin in meiner Methodik zur Erforschung der Art Brut stark von den Arbeiten Leo Navratils (e.g. Navratil 1965; 1976; 1999) beeinflusst. Als


CRITICA I/ 2016

ich das Werk Erich Pragers kennenlernte, teilte ich

schen und sonderpädagogischen Komponenten

Navratils Überzeugung, dass die psychische/geisti-

solcher Betrachtungen wird das eigentliche Thema

ge Erkrankung ein entscheidender Punkt innerhalb

nicht berücksichtigt bzw. sogar manipuliert: das

der Lebens- und Arbeitsgeschichte eines Art Brut-

Künstlerische selbst, d.h. die Kunstwerke, die in ihrer

Künstlers sei. Dies trifft auf Erich Prager zu.

Qualität und Bedeutsamkeit eigentlich keine bio-

2. Die Arbeitsprozesse von Gerhard Maurer (geb.

graphische Erklärung bzw. Ergänzung – also keine

1958) beobachte ich seit Herbst 2011. Ich würde

Verteidigung oder Begründung – benötigen sollen.2

wahrscheinlich seine Werke für jede Art Brut-Aus-

Jedoch: Der Arbeitsprozess, der sich in einem ge-

stellung vorschlagen, dennoch würde ich ihn ganz

schützten Atelier (Nervenklinik, Sozialeinrichtung

unverkürzt als „Künstler“ bezeichnen. Warum si-

etc.) vollzieht und dadurch auf spezifische Weise

cherlich nicht als Outsider, warum nicht als „Künst-

von der Gestaltung und der Wirkung dieser Ar-

ler mit Beeinträchtigung“ usw., wird im Folgenden

beitsstätte in großem Maße abhängt, muss in einer

aufgezeigt werden.

Untersuchung zur Art Brut zweifellos thematisiert

Einleitung: Das Kunstwerk und sein Schöpfer

Die zwei in diesem Aufsatz präsentierten Berichte über Art Brut-Künstler werden in ihrer Auffassung (selbst in der Sprache meiner Narration) sowie in ihren Aussagen (d.h. in meiner wissenschaftlichen Positionierung) aufzeigen, dass die Untersuchung von Art Brut-Werken folgende zwei Aspekte berücksichtigen muss: das Werk und den Arbeitsprozess. Ich teile die Kritik an einer Theorie der Art Brut, die sich prinzipiell und beinahe ausschließlich auf das Biographische bezieht – diese Herangehensweise etablierte sich vor allem unter den amerikanischen Kunsttherapeuten und Kunsthistorikern. Unter den medizinischen, sozialethi-

werden. Die teilweise heftig geführte Diskussion zwischen Kunsttherapeuten und Kunsthistorikern bezieht sich auf eben diese zwei als voneinander unabhängig angesehenen Modelle: die Person bzw. das Werk im Visier der Betrachtung. Beide Betrachtungsweisen scheinen eine (Selbst)-Beschränkung zu sein, unternommen im Dienste der eigenen Disziplin. In einer der Fachdiskussionen stellte mir die Kuratorin eines renommierten österreichischen Museums folgende Frage: „Welche Bedeutung hat diese ganze persönliche Geschichte? [Hospitalisierung, Tätigkeit in der Kunstwerkstätte der Ner-

2  Eine gelungene Balance zwischen der medizinischen – psychiatrischen und heilpädagogischen – und der kunsthistorischen Auffassung der Art Burt sowie Outsider Art präsentiert Georg Theunissen (e.g. 2007, 2010).

27


CRITICA I/ 2016

venklinik, Einflüsse der Kunsttherapeuten und des

schaftsatelier arbeitet bzw. an einer Kunsttherapie

Pflegepersonals – Anm. der Autorin] Wenn wir ein

teilnimmt.

Gemälde von Vermeer betrachten, fragen wir doch

Aus der Begegnung mit Künstlern und in der Be-

auch nicht nach seiner Biographie! Er ist tot und

trachtung der jeweiligen Arbeitsprozesse entwi-

man könnte ihn nichts fragen, was er selbst zu sei-

ckelt sich natürlich die Narration, in der ein wis-

nen Bildern denkt.“ Man ist versucht, diese Worte

senschaftlicher Bericht bzw. Beitrag entstehen

als unangebracht abzutun. Die Überzeugung je-

wird. Somit wird man, obwohl die komparatisti-

doch, welche daraus – wenn auch nicht ganz deut-

sche und transdisziplinäre Methodik meine ge-

lich – spricht, deckt sich mit meiner eigenen Auf-

samte Arbeit dominiert, in den zwei präsentierten

fassung: Das Kunstwerk spricht für sich selbst. Die erste

Berichten zwei unterschiedliche Schwerpunkte er-

Begegnung findet mit dem Kunstwerk statt, und

kennen – im Bericht zu Gerhard Maurer ist es der

somit ist das Kunstwerk das vorrangige und we-

Künstler selbst und im Bericht zu Erich Prager ist

sentliche Betrachtungsthema. Tatsächlich ist nur

es mehr dessen Werk.

dieses Produkt, welches keine ergänzenden – ob biographischen oder auch wissenschaftlich-theo-

Teil I: Über die Alterität

retischen – Fußnoten benötigt, ein Kunstwerk. Und

Die philosophische Anthropologie vermittelt einen

doch beeinflussen die Kuratoren das Verständnis

neutralen Begriff der Alterität bzw. der Anders-

der Museumsbesucher für so etwas wie das Ge-

heit (wissenschaftliche Termini sind keine Aufru-

samtwerk oder den künstlerischen Weg der einzelnen

fe oder Botschaften): Alterität ist ein Merkmal des

Künstlerinnen und Künstler. Die Künstler sind

menschlichen Wesens. Der Mensch ist einerseits

bei Vernissagen anwesend, sie geben Interviews,

in seiner Zugehörigkeit zur Menschheit und ande-

erzählen Anekdoten aus ihrem Atelier, von ihren

rerseits in seiner ontologischen – körperlichen wie

Projekten, Reisen, von den sie prägenden Begeg-

geistig-seelischen – Getrenntheit zu betrachten:

nungen. Soll man dies als unnötig betrachten? Es

als Menschenwesen insgesamt zusammengehörig,

scheint allerdings auf deren künstlerische Arbeit

ist doch jeder einzelne Mensch von jedem anderen

weniger Einfluss zu nehmen als die Tatsache, dass

getrennt. Für die philosophisch-anthropologische

ein Künstler z.B. psychisch krank ist, unter einer

Auffassung der Alterität gilt eine metaphysische/

starken Medikation steht oder in einem Gemein-

ontologische sowie eine erkenntnistheoretische

28


CRITICA I/ 2016

Dimension: die Getrenntheit ist ein ontologischer

sche Wahrnehmung der Alterität mit hinein. Umso

Zustand; die Selbsterkenntnis entspringt unter an-

bemerkenswerter ist es, dass genau hier unsere

derem aus dem Gewahrwerden des Eigenen und

Stimme vonnöten wäre – hier wäre Platz für die

des Anderen – die Feststellung der Grenzen zwi-

Stellungnahmen seitens der Künstler und künst-

schen Ich und Du, aber doch auch das Erleben der

lerischen Leiter der Ateliers in zahlreichen Sozi-

Spiegelung meines Selbst im Anderen. Kurz ge-

aleinrichtungen, für die Stellungnahmen von Art

sagt: Ohne die Erfahrung des Anderen gibt es keine

Brut-Sammlern und Verehrern einzelner Art Brut-

Selbsterkenntnis.

Künstler (denn: Wie könnte jemand die Art Brut

Der sozialethische Begriff der Alterität bezieht sich

insgesamt verehren? Alle Künstler? Mit allen ihren

ganz ähnlich auf eine Ambivalenz der Andersheit,

unterschiedlichen Techniken und Themen? Worin

ist demgegenüber jedoch mit einem erzieheri-

besteht dann die Verehrung, das wahre Interesse?

schen, moralisierenden Ton gefärbt: Die Alterität

Aus dem Art Brut-Begriff?).

soll positiv bewertet werden – schön gedacht! Was geschieht aber weiter? Die Dichotomie des Eigenen

Die Kunst kennt keine Behinderung – die körper-

und des Anderen wird nicht mehr als eine jeden

lichen oder geistigen Einschränkungen verhindern

betreffende angesehen, sondern das Anderssein

vieles, aber sie verhindern nicht das Talent selbst.

bedeutet einen Zustand, ein Schicksal der Ande-

Und aber umgekehrt: Eine Erkrankung bedeu-

ren – nicht meiner selbst. Dieses Schicksal hätte

tet keine Einzigartigkeit, sie kann sich mit ihrem

ich sogar vielleicht, mit etwas weniger Glück, unter

Schatten – mit Schmerz, Zweifel, mit widrigen Le-

anderen Umständen usw. mit den sog. Anderen tei-

bensumständen – auf die Einzigartigkeit, auf die

len können. Also aus einem Erleichterungsgefühl

Besonderheit legen und diese dadurch verdecken,

kommt eigentlich eine laute Botschaft der Inklusi-

sie kann aber auch ein Impuls sein, um das Einzig-

on. Der Andere wird in seiner Andersheit gewür-

artige erst ans Licht zu bringen. So wenig Kreati-

digt – aus ethischen und sozialen Gründen –, aber

vität von der Bildung oder vom sozialen Status ab-

die Andersheit wird mit ihm nicht gerne geteilt.

hängt, so wenig wird durch beste Gesundheit oder

Die sozialethischen Ansätze sind nicht unbedingt

Berufserfolge die Gabe eines außergewöhnlichen

frei von einem gewissen Protektionismus, und ge-

Talentes garantiert.

nau diesen tragen sie in die gesellschaftlich-politi-

29


CRITICA I/ 2016

Es wird oftmals von der Outsider Art und der sog.

und zu überschreiten. Gerhard Maurer und Erich

Außenseiter-Kunst gesprochen, wenn man sich

Prager – wie auch vielen anderen – gelingt dies,

bemüht, mit dem „Phänomen“ zurechtzukommen,

und diese Tatsache bringt uns zum Nachdenken:

dass künstlerisch nicht ausgebildete Menschen

Ist eine Kunst ohne diese Erfahrung der Andersheit

mit schweren psychischen Beeinträchtigungen,

möglich? Ist Kunst eine Bewegung ins Innere? Eine

Menschen mit Lernbeeinträchtigung, Kunstwerke

Bewegung zu den eigenen Grenzen? Ist die Erfah-

schaffen, die uns zum Staunen bringen, und noch

rung der eigenen Andersheit nicht eine universell

mehr: Kunstwerke, in welchen wir eine Aussage

menschliche? Das Einzige, was Gerhard Maurer als

finden, mit der wir uns identifizieren, für die wir

Künstler definiert, ist sein Talent, mithilfe dessen

selbst jedoch nicht die Ausdrucksmittel gefunden

sein Inneres nach außen drängt – aus seinen Wer-

haben. Man hindert sich daran... wenn man keine

ken spricht seine Persönlichkeit, und diese ist nie

Begabung in sich wachrufen kann und wenn es kei-

beeinträchtigt oder behindert.

ne Rahmenbedingungen dafür gibt, dieser Bega-

Kreativität geht jedoch Hand in Hand mit der

bung nachzugehen. Das ist die einzig zulässige Zä-

Selbstentfaltung und der Wirksamkeit – und für

sur einer künstlerischen Qualität: das Talent. Und

diese muss ein Freiraum geschaffen werden, es

dieses steht jenseits einer medizinisch diagnos-

muss einen gesellschaftlichen und institutionellen

tizierten Behinderung. „Talent“ ist hier auch kein

Rahmen geben, der Unterstützung, Anerkennung

rein psychologischer, sondern, viel breiter gedacht,

und Vermittlung bieten kann. Dies ist die Aufgabe

ein anthropologischer Begriff: Das Bedürfnis, eine

von kunsttherapeutischen Ateliers und von Kunst-

Aussage treffen zu können über die eigenen Gefüh-

werkstätten in Sozialeinrichtungen – und diese

le und Ideen, das Bedürfnis nach Selbstentfaltung

Orte sind die Antwort auf die Frage einer mögli-

ist ein menschliches Grundbedürfnis, aber nicht

chen Entfaltung von Kreativität, Talent und Wirk-

alle sind imstande, dem Eigenen zu einer Lesbar-

samkeit.

keit zu verhelfen und gleichzeitig die Unabhän-

Kein Art Brut-Künstler betrachtet sich als Außen-

gigkeit, die Außengewöhnlichkeit des Gezeigten

seiter. Fast immer steht das Malen, das Zeichnen

zu bewahren. Man will das Erfahrene und das uns

im Mittelpunkt seines oder ihres Daseins (eine be-

Bestimmende in die Außenwelt tragen, man ist

rühmte Ausnahme ist z.B. Oswald Tschirtner). Die

versucht, die eigenen Außenseiten zu erforschen

soziale Andersheit ist ein Begriff aus unserem – ich

30


CRITICA I/ 2016

würde hier sagen: beeinträchtigten – Sprachge-

Portraits in Kohle, Bleistift, Öl, Acryl sowie Aqua-

brauch. Eine Selbstbezeichnung als Outsider wäre

relle.

für einen Künstler, der sich einen eigenen Platz

Seine neuesten Arbeiten, die im Jahr 2015 entstan-

in der Kunstwelt verschaffen will, einerseits eine

den, überraschen den Betrachter und rufen gleich-

Übersteigerung seines Egos, andererseits wäre da-

zeitig ein Gefühl der Geborgenheit hervor: Man

mit wahrscheinlich die Wahrung der eigenen Un-

erkennt sofort Gerhard Maurers Strich, das Cha-

abhängigkeit gegenüber der Kunstkritik und dem

rakteristische eines Künstlers, aber man ist von

Kunstmarkt gewährleistet. Für einen Künstler mit

seinen Bildern immer wieder aufs Neue überrascht,

psychischer Beeinträchtigung, wie auch einfach für

bewegt – durch ihre Intensität, d.h. durch Fragilität

jeden Menschen mit einer für ihn selbst spürbaren

und Stärke.

Beeinträchtigung (z.B. einer stark ausgeprägten

Bevor ich Gerhard Maurer kennenlernte und ihm

persönlichen Unsicherheit), wäre diese Bezeich-

beim Zeichnen zugeschaut habe, dachte ich, dass

nung ein überraschender Stich.

der kurze, fragile Strich seiner Werke den Ursprung in Gerhards Beeinträchtigung hätte – ein gründli-

Teil II: Gerhard Maurer – die Hand des Künstlers

cher Irrtum. Maurer sitzt aufgrund von zerebra-

Was sagt eigentlich die Bezeichnung „Künstler mit

len Lähmungen in einem Rollstuhl, Pinsel oder

Beeinträchtigung“ aus? Jean Dubuffet betonte, dass

Stift werden ihm von jemand anderem in seine

es keine Kunst der Geisteskranken gebe, so wie z.B.

verkrampfte Hand gegeben, aber wenn das schon

auch keine Kunst der Kniekranken existiere (Du-

geschehen ist, ist jede körperliche und geistige Be-

buffet 1991, 94). Die rohe Kunst bezeichne das Wahre,

grenzung des sog. Betroffenen keinerlei Begren-

Innerliche, das völlig unabhängig von Stilen, von

zung für den Künstler. Seine Hand ist eine sichere

Vorgaben der jeweiligen Epoche etc., zu einem Aus-

– das berührt und fasziniert angesichts der körper-

druck finde. Gerhard Maurer hat seinen Arbeits-

lichen Mühe und der geistigen Anspannung, die er

platz in der Werkstätte der Lebenshilfe Salzburg.

in seine Arbeit investiert. Ein junger Zivildiener,

Im Alter von 16 Jahren begann er zu zeichnen, als

der in der Werkstätte der Lebenshilfe tätig ist, sagte

30-Jähriger war ihm die Breite seiner Themen, sei-

zu mir: „Es fasziniert mich, dass es nur Hunderte

ner Technik und seiner Materialien bewusst – seit-

von Strichen sind. Nur Striche, aber es ist ein Bild!“

dem entstanden Hunderte von Landschaften und

Nur Farbe, nur Fläche, nur Striche, nur Wort, nur

31


CRITICA I/ 2016

Bewegung, nur Instrument, nur Klang – aber eine

Der Zauber entsteht also aus der Einzigartigkeit –

in sich unabhängige Ganzheit, eine Aussage, eine

sie ist die Stärke des Künstlers – oder besser gesagt:

wirkende Präsenz, und vor allem: die Einzigartig-

Sie entsteht daraus, dass das sog. Schwache bewahrt

keit. Der schon erwähnte Jean Dubuffet fordert die

wird. Die optimierende Produktivität ohne Platz

Künstler in seiner Schrift Die Malerei in der Falle ma-

für Müdigkeit oder Unfähigkeit, ohne Verständnis

nifestmäßig auf: „Alle Fehlstellen und Mängel las-

für einen Fehler ist Sache des konsumdominierten

sen!“ (Dubuffet 1991, 32). Die Kunst bedeutet keine

Marktes, aber nicht der Kunst. Die genannten Un-

Perfektion und bedarf auch keiner Verbesserung;

regelmäßigkeiten, die sog. Störungen – wie etwa

das Unvollkommene, sogar das Schwache, das Feh-

der fragile Strich in Gerhard Maurers Grafiken, der

lerhafte ist die Sprache des Menschen und somit

zigfach multipliziert wird (wie vergleichsweise bei

der Kunst – eher etwas Unsicheres anstatt der Ge-

den Pointillisten des 20. Jahrhunderts), um ein Ge-

wissheit. Die Hand des Künstlers ist nach Dubuffet

sicht aus der weißen Fläche des Papiers entstehen

eine „sprechende Hand“:

zu lassen – sind die Sprache des Künstlers, seine

„Je deutlicher die Hand des Künstlers sich in einem Werk

Unterschrift.

bemerkbar macht, desto entsprechender, menschlicher und

Gerhard Maurers sprachliche Kommunikation ist

mitteilsamer ist es. […] Man soll den Menschen und seine

stark eingeschränkt (Gründe dafür sind laut Diag-

Schwächen und Unbeholfenheiten bis in die kleinsten Details

nose u.a. Verzögerung der Sprachentwicklung und

eines Bildes spüren. Eine Linie zum Beispiel, die eigentlich

angeborene Schwerhörigkeit), aber die Intensität

gerade sein sollte, gerät etwas zittrig (weil die Hand zittert),

der Kommunikation, welche sich durch das gezeig-

hat Unterbrechungen (weil der Pinsel über kleine Unregelmäs-

te Interesse an seinem Werk entwickelt, widerlegt

sigkeiten oder Körnchen auf der Malfläche hüpfte) und fällt

die Auffassung, dass das Wort das allerwichtigste

zum Ende hin ab (weil der Arm des Malers ermüdet ist). […]

Sprachmedium sei. Wenn man Maurer bei seiner

Solche Störungen gibt es unzählige in einem Bild. Sie sind für

Arbeit zusieht, entwickelt sich im Betrachtenden

den Zauber eines Bildes sehr wichtig. Gerade sie bestimmen

eine besondere Aufmerksamkeit für den Schaffen-

oft, wie die Töne, die Schatten und die Lichter verteilt sind.“

sprozess, d.h. für das künstlerische Werk noch in

(Dubuffet 1991, 40, 34)

der Entstehung, man könnte sagen: noch in der Bewegung, aber auch für die Entfaltung einer Person, für die sichtbare Wirksamkeit eines Selbst.

32


CRITICA I/ 2016

Maurer ist sich seiner Arbeit und deren Wirksam-

(hier fehlt also ein kunsttherapeutisch geschultes

keit völlig bewusst, deswegen sind meine Begeg-

Personal): die Intervention der Betreuungsperso-

nungen mit ihm auf seine Arbeit fokussiert – er sucht bei einem Besucher seines kleinen Ateliers (so nenne ich seinen Arbeitsplatz, den er schon seit vielen Jahren am Fenster der Werkstätte hat, mit Blick in den Hof des Lebenshilfe-Hauses) kein Interesse für seine Beeinträchtigung. Er benötigt für beinahe jede alltägliche Tätigkeit die Assistenz der anderen – beim Aufstehen, im Bad, am Küchentisch, beim Verlassen des Hauses, bei einer Untersuchung usw. Wenn aber seine Arbeitsmaterialien auf der am Rollstuhl befestigten Arbeitsfläche schon bereitstehen, erwartet Gerhard keine andere Aufmerksamkeit als einzig für seine Arbeit. Oft sehe ich seine Müdigkeit oder Unzufriedenheit – wie sie wohl jeder im Arbeitsalltag erlebt.

Abb 1

Manchmal bekommt er einen Muskelkrampf und

nen beschränkt sich allein darauf; (2) das selbstän-

ich muss mich zurückziehen, wenn der Künstler

dige Arbeiten in der Werkstätte der Lebenshilfe

eine kurze Rastpause zum Zwecke der Krampflin-

– ohne Vorlage; (3) die Teilnahme an einem Künst-

derung braucht. Er bewahrt dabei aber immer eine

lersymposium – das Verlassen der alltäglichen Um-

völlige Gelassenheit – er verhält sich konsequent

gebung einer Sozialeinrichtung, der Austausch mit

wie jeder, der es gestattet, dass man seine Arbeit

anderen Künstlern sowie die eigene konzentrierte

beobachtet und dokumentiert.

Arbeit in einem künstlerischen Umfeld. Ich möchte

Für Gerhard Maurer gibt es drei unterschiedliche

mich auf diese drei Arbeitsimpulse und somit auf

Impulse für seine Arbeit: (1) das Zeichnen bzw. Ma-

die Ergebnisse solcher Arbeitsprozesse beziehen.

len nach Vorlage – in der Werkstätte der Lebenshil-

Ad 1: Das Zeichnen nach Vorlage – nach Motiven in

fe wird die Vorlage vom Pflegepersonal angeboten

Bildbänden, Museumskatalogen, Kunstkalendern,

33


CRITICA I/ 2016

Reisebänden etc. – ist eine Bestandsmethode in der

Strichen des Künstlers. Ein beeindruckendes Bei-

kunsttherapeutischen Arbeit, es ist ein zusätzli-

spiel: Das afrikanische Gesicht des Mädchens mit

ches, weniger ein mitentscheidendes „Heilmittel“

dem Perlenohrring – Gerhard Maurer wäre tat-

(gelegentlich dient es als Mittel zur Beruhigung, oft

sächlich kein guter Kopist. Die banalsten Aufträge,

als ein durchaus angebrachtes Konzentrations- und

wie etwa ein 1-Euro-Poster aus der Mona Lisa oder

Ausdauer-Training, manchmal jedoch ist es auch

Botticellis Venus, aus Vermeer oder Rembrandt,

ein Mittel zur Persönlichkeitsentfaltung). Daraus

Picasso oder Chagall usw. zu entwerfen, hätte er

entstehen, wenn nicht eben schlechte, so doch ein-

sicherlich aufgegeben. Eine solche Beschäftigung

fach uninteressante Arbeiten – und so findet man

wäre für ihn zu eng, fremd und irritierend. Das

unter den Werken von Gerhard Maurer naturalis-

breite, dunkle Gesicht der jungen Frau (es ist eine

tische Landschaften, typische Salzburg-Ansichten

Bleistiftzeichnung, das Gesicht ist weiß, eine weiße

wie auf Postkarten. Was ich jedoch bei dieser Ar-

Fläche, aber es wirkt dennoch dunkel, afrikanisch)

beit nach Vorlage fasziniert beobachten konnte, ist

vermittelt etwas Animalisches; sie ist keine brave,

der Umstand, dass Gerhard Maurer lediglich bana-

modellierte Schönheit, sondern etwas Wildes, Unberührtes. Ihr Blick ist provokant, aber in dieser Provokation spiegelt sich Verängstigung und Unsicherheit. Ist sie eine Sklavin? Will sie sich etwa nicht vor den betrachtenden Augen auf ein Objekt reduzieren lassen? Sie ist sicherlich kein Mädchen aus dem Schaffen von Vermeer, ihr Schicksal ist ein anderes. Sie posiert vor einer völlig anderen Le-

Abb 2

benskulisse – und diese erscheint im Portrait von

le Berglandschaften als Vorlage akzeptierte und je-

Maurer auf so beeindruckende Weise.3

dem anderen Vorlagemotiv gewissermaßen auf natürliche Weise, gänzlich intuitiv und „unbewusst“ im Sinne von nicht reflektiert, einen Widerstand entgegenbrachte. Hier sind wir beim Kern der sog. rohen Kunst: Die Vorlage verschwindet unter den

34

3  Wiederum muss man Jean Dubuffet recht geben, der treffend bemerkte: „Will man ein Bild kopieren, kollidiert man mit der Schwierigkeit, seine Störungen zu wiederholen. Denn es ist unmöglich, sie geplant und vorsätzlich in ihrer Spontaneität als Störungen und, was noch dazukommt, an derselben Stelle wie im Original zu reproduzieren. […] Daher kommt es, dass das Kopieren so enttäuschend und überflüssig ist. Ein Bild zu kopieren ist so ähnlich wie etwas Handgeschriebenes, eine Unterschrift oder eine Paraphe zu kopieren. […]


CRITICA I/ 2016

Ad 2: Die Arbeiten, die von Maurer in der Werkstätte entstehen und in denen man keine Spuren von etwaigen Vorlagen finden kann, sind künstlerisch die besten, sind eine Bestätigung dafür, dass wir uns hier nicht in einer Sozialeinrichtung, sondern in einem Künstleratelier befinden. Gerhard Maurers wahre Passion ist die Zeichnung, leider jedoch wird er in der Werkstätte immer wieder dazu „ermutigt“,

Abb. 3

sich mit der Aquarelltechnik auseinanderzusetzen. Aus meiner Sicht sind seine interessantesten Ar-

Behinderung) beeinflussen seine Arbeitsprozesse

beiten die Portraits und die Akte mit Bleistift. Und

sehr stark. Für Maurer ist somit jede Teilnahme an

auch hier meine ich mit Dubuffet: Die Einzigartig-

einem Workshop oder Symposium von größter Be-

keit ist die Stärke des Künstlers und macht auch

deutung. Er wird von den österreichischen Künst-

sein Kunstwerk stark – roh, stark in seiner Wirkung.

lerkollegen, mit denen er auf einem Symposium

Diese Einzigartigkeit als Aussage, als Sichtweise ei-

kooperiert, auch in der Werkstätte der Lebenshilfe

nes Künstlers, und gleichzeitig als eine Bewahrung

besucht. So entstand z.B. das sehr gelungene Port-

der Schwäche kommt in der Zeichnung „Der wahre

rät (2009?) des Salzburger Künstlers Erich Gruber

Mensch“ (Abb.1; 20154; im Besitz der Autorin) zum

in eben diesem von mir bereits erwähnten fragi-

Ausdruck.

len Strich. Aus einem fragilen Strich entstehen in

Ad 3: Als Klient der Lebenshilfe bekommt Gerhard

Vervielfachung auch wunderbare Bleistift-Land-

Maurer die bestmögliche Unterstützung, jedoch als

schaften von Erich Gruber. Hier kommen wir auf

Künstler ist er dort vereinsamt – diese Einsamkeit

die Rechtfertigung einer biografischen Untersu-

und Abgrenzung, seine Abwesenheit in den künst-

chung zu einem Künstler (nicht nur zu einem Art

lerischen Kreisen (rein aufgrund der körperlichen

Brut-Künstler) zu sprechen: Aufgrund der schon

und so kommt das Bild zum Schluss ganz anders heraus, vielleicht hat es sogar ein ganz anderes Thema.“ (Dubuffet 1991, 36-37) 4  Der Titel der Zeichnung stammt von Gerhard Maurer. Auf meine Frage: „Eine Figur, ein Mensch?“, antwortete er: „Ein wahrer Mensch“ (Interview, 20.09.2015; eigene Materialien). Ich bedanke mich bei dem Künstler für die Zusage, dessen Zeichnungen abbilden zu dürfen.

bestehenden Katalogisierung und Beschreibung der Arbeiten von Maurer darf ich feststellen, dass der für ihn charakteristische Strich seine eigene Ausdrucksform ist, nicht eine von Erich Gruber

35


CRITICA I/ 2016

übernommene. Es gibt mehrere Portraits aus der

erster Linie die Antwort auf die Frage, die ihn dazu

Zeit vor der Begegnung mit Gruber, die bereits

brachte. Er lässt keine Frage unbeantwortet – er be-

denselben Strichduktus aufweisen. Gerhard Mau-

müht sich immer, auf jede im Gespräch entwickelte

rer kopiert nicht Erich Gruber und Gruber kopiert

Frage einzugehen, er verzichtet nicht darauf, wenn

nicht Maurer, sondern wir haben es hier mit einer

wir uns nicht sofort verstehen, sondern er holt tief

gelegentlichen Kooperation, einem „Gespräch“ zu

Atem und bemüht sich, eine Antwort zu formu-

tun, das zwischen professionellen Künstlern statt-

lieren, oder er bittet ohne Zögern seine Betreuer

findet und keinerlei Rechtfertigung braucht. Ein

um eine mediatorisch-übersetzerische Hilfe. Die

gutes und greifbares Beispiel dafür ist das hier ab-

Zusammenarbeit mit Gerhard Maurer kann eines

gebildete Blatt: Es sind einfach beiläufige Entwürfe,

stark verdeutlichen: Die inneren Kräfte, wie u.a. die

ein Skizzenblatt, das sich die zwei Künstler teilen

Begabung und die künstlerische Souveränität, sind

– auf der einen Seite das Gruber-Porträt von Mau-

etwas Angeborenes und Natürliches, sie brauchen

rer (Abb. 2; „Porträt von Erich Gruber“, undatiert;

aber einen guten Ort, an dem der Künstler sie üben

im Besitz von G. Maurer) und auf der Rückseite der

und wirken lassen kann. Die Werkstätte der Le-

von Gruber gezeichnete Kopf.

benshilfe bildet für Gerhard Maurer einen solchen Ort, der gleichermaßen von der ihm angebotenen

Zum Resümee dieser meiner das Biographische

Assistenz wie auch von seiner Selbstwirksamkeit

berücksichtigenden Analyse: Gerhard Maurer ist,

geprägt ist.

als Person, ein Künstler der Widerstandsfähigkeit. Seine resiliente Kraft erscheint jedoch nicht als

Teil III: Erich Prager – ein stiller Protest

etwas Heldenhaftes, sondern als eine Selbstver-

Eine Tuschezeichnung von Erich Prager: Zwei gro-

ständlichkeit. „Ob ich das kann“, antwortet er auf

ße Figuren kehren einander den Rücken zu. Sie

meine Frage, wie es dazu gekommen sei, dass er an

sind eher geschlechtslos, eben nur Figuren, obwohl

den Special Olympics im Jahre 1999 teilgenommen

mit sichtbaren Augen, mit einem fassbaren Ge-

habe. Es war seine Neugier – er wollte wissen, ob

sicht, doch mit keinem wahrnehmbaren Blick und

er das überhaupt könne. Er konnte es und gewann

keinem Gesichtsausdruck. Sie sind mit wenigen,

nicht nur eine Goldmedaille im Kugelstoßen und

einfachen und sicheren Linien zu Papier gebracht.

eine Silbermedaille im Rollstuhlslalom, sondern in

Die Figuren unterscheiden sich nur dadurch, dass

36


CRITICA I/ 2016

eine der beiden Flügel hat – Engelsflügel, denke ich.

er-Erfahrung, kommt er von sich aus zu sprechen.

Was ich jetzt nicht auf dem Blatt Papier, sondern in

Das zweite Thema: die Vervielfachung, oder anders

der Zeichnung sehe: der Engel kehrt dem Menschen

gesagt: die Masse, als ein ständiges Motiv in seinen

(oder sogar: der Menschheit?) den Rücken zu (Abb.

Zeichnungen – diese Frage kommt von mir. Die Re-

3; o.T., undatiert; im Besitz der Autorin5).

flexion, mit der ich Erich Prager verlasse, kann man mit drei Stichworten umschreiben: Souveränität –

Mit dieser Beschreibung richtete ich mich an Erich

Besinnung – stiller Protest.

Prager, schon in unserem ersten Gespräch. Ich versuchte, diese Zeichnung, die mich verfolgt, diese

Zum Ersten: Erich Prager ist der einzige Art Brut-

Aussage über den Menschen, in seine, des Künst-

Künstler, dem ich begegnet bin, der von sich aus

lers, Erinnerung zu rufen. Es gelang mir jedoch

über die Zusammenarbeit mit seiner Kunstthera-

nicht: Erich Prager reagierte mit, ich würde sagen,

peutin spricht. Da Erich Prager nach mehrjähriger

gelassener Freude, mit einer ihn auszeichnenden

Tätigkeit im Atelier der Christian Doppler-Klinik in

ruhigen Höflichkeit – aber auch mit ein wenig Ver-

Salzburg jetzt nur mehr das Atelier der Salzburger

wunderung und sicherlich mit wenig Verständnis

Paracelsus Universität besucht, habe ich ihn nie in

dafür, dass sich jemand mit zwei von ihm gezeich-

seinem künstlerischen Arbeitsprozess erlebt, seine

neten Figuren so intensiv beschäftigt. „Ach wirk-

Arbeiten also nur durch Sammlungen (der Salz-

lich? So?“, meinte er zurückhaltend. Es hätte ei-

burger Galerie Altnöder kommt dabei ein großes

gentlich zu ihm gepasst, wenn er sich entschuldigt

Verdienst zu) kennengelernt und ihn selbst in der

hätte: Das habe er wirklich nicht gewollt, dass sein

Wohneinrichtung von Pro Mente Salzburg regel-

Bild mich verfolge! Ich verliere aber nicht den Mut,

mäßig besucht. Will man etwas über seine Werke,

oder: ich bin von dem Bild so beeinflusst, dass ich

über seine Zeichenthemen erfahren, so muss man

im nächsten Gespräch wieder darauf zu sprechen

ihn gezielt danach fragen. Und wenn man so eine

komme. Und daraus entwickeln sich zwei weitere

Frage zu seiner Atelier-Erfahrung stellt, beginnt er

Gesprächsthemen und ein Thema meiner weiteren

nicht von sich als Künstler zu sprechen, nicht vom

Reflexion, nachdem mein Besuch bei Prager schon

Atelier als Ort seiner Tätigkeit oder sogar Zugehö-

beendet war. Auf das erste Thema, d.h. seine Ateli-

rigkeit (was er allerdings im weiteren Verlauf des

5  Ich bedanke mich bei Erich Prager für die Zusage zur Publikation seiner Zeichnungen.

Gesprächs bestätigen wird), sondern er erzählt von

37


CRITICA I/ 2016

den Personen, die ihn begleitet haben, er spricht

Meinung gibt es zwei Fragen an einen Künstler, die

sofort – mit beeindruckender Dankbarkeit – von

am wichtigsten sind, und auch zwei Antworten, mit

seiner Kunsttherapeutin Margret Fischbacher. Ich

welchen die Souveränität eines Künstlers zum Aus-

zitiere wörtlich: „Die Hälfte ist ihr Verdienst.“ Ich

druck kommt: „Warum schaffst Du etwas? (hier:

habe bereits angesprochen, welches Spannungs-

Warum zeichnest Du?); Warum gibst Du das Schaf-

feld zwischen therapeutischen und künstlerischen

fen auf?“ Und es kann sein, dass es – auf eine ganz

Fragen und Problemen in Bezug auf ein geschütztes

natürliche Art und Weise – die gleiche Antwort auf

Atelier existiert: Inwieweit beeinflussen die Thera-

diese beiden Fragen gibt. Die Antwort liegt in einem

peuten und die künstlerischen Leiter des Ateliers

„Ich“, d.h. in einem handelnden, bewussten Subjekt

die Art Brut-Künstler? Inwieweit geschieht dies

verankert. Wenn die künstlerische Beschäftigung

aufgrund der Medikation? Und weiter, wie bereits

tatsächlich aus einem innersten Bedürfnis kam, ist

in Bezug auf Gerhard Maurer erwähnt: Inwieweit

eine Ich-Aussage ein Ausgangs- und zugleich ein

werden die Künstler von professionellen Künstlern

Endpunkt. Derart souveräne Entscheidungen eines

beeinflusst? Diese suchen ja doch immer wieder

Künstlers benötigen keinen Therapeuten, keinen

Kontakt zu Art Brut-Künstlern, um sich von ihnen

künstlerischen Begleiter. Auf meine Frage: „War-

Anregungen zu holen. Erich Prager ist ein Künst-

um begannen Sie zu zeichnen?“ antwortet Prager:

ler, der die therapeutische Assistenz genossen hat,

„Weil ich etwas ausdrücken wollte. Es schien mir

er bekam künstlerische Unterstützung nicht durch

ein Mittel dafür zu sein“6. Ich wollte ausdrücken,

irgendeine Direktive von außen, sondern durch Zu-

mir kommen keine Gedanken mehr. Das ist die Ent-

wendung, Anerkennung und Schutz. Diese Erfah-

scheidungsfähigkeit – eine kognitive, eine persön-

rung tritt in seinen Erinnerungen und in seinem

liche und eine künstlerische.

Bericht zutage. Es ist diese große Arbeit, welche das Atelier für ihn geleistet hat, nämlich dass man für

Erich Prager ist ein Künstler der Besinnung. Ich

ihn mittels Vertrautheit einen Freiraum zur Selbst-

möchte jetzt kurz auf eine Unterscheidung hin-

entfaltung geschaffen hat.

weisen, die innerhalb der modernen deutschen

Auf die Frage, warum er eigentlich nicht mehr tätig sei, antwortet Prager sofort, ohne zu zögern: „Mir sind dann keine Themen mehr eingefallen.“ Meiner

38

6  Die mit Erich Prager geführten Interviews sind Tonaufnahmen und dienen mir bis dato als Arbeitsmaterialien, jedoch wird das gesamte Material dieser Gespräche 2016 im Tagungsband „Interdisziplinäre Perspektiven der Art Brut“, hrsg. von M. Bogaczyk-Vormayt u. Otto Neumaier, publiziert.


CRITICA I/ 2016

Philosophie sehr präsent war, als Philosophen wie

Der stille Protest, das stille Erinnern, die leise

u.a. Martin Heidegger (Heidegger 1956, 12-13) sich

Stimme einer kraftvollen Sprache – die Stimme ei-

stark der Rezeption der griechischen Philosophie

nes Künstlers. Davon handelt die Geschichte, wel-

widmeten. Dort wird eine Differenzierung zwi-

che ich aus der erwähnten, freilich titellosen Zeich-

schen dem sog. rechnenden und dem besinnlichen

nung von Prager lese. (Ich erfahre diese Geschichte

Denken unternommen. Diese Gegenüberstellung

aus dem Bild, weil dieses, wie jedes Kunstwerk, mir

kommt aus der altgriechischen Philosophie: Das

eine Erfahrung, viel mehr eben als nur eine opti-

rechnende Denken kalkuliert, es hält nie still,

sche Wahrnehmung, anbietet). Mehr noch: Dieses

sucht nach schnellen Möglichkeiten und Erfolgen.

Bild fordert uns auf (ich empfinde es so: es fordert

Dabei aber – als ein ökonomisch rechnendes Den-

mich als seine Betrachterin auf), über die Getrennt-

ken – will es sich ständig wiederholen, damit ihm

heit des Menschen (wiederum) nachzudenken. Wir

die Mühe um das Neue – kurz gesagt: um neue Kon-

sind vom Göttlichen getrennt – es ist unser onto-

zepte, um neue, frische Gedanken – erspart bleibt.

logischer/anthropologischer Zustand, oder viel-

Das rechnende Denken, wenn auch schnell und er-

leicht doch nur unsere Entscheidung? Was heißt

folgreich, ist dennoch rückschrittlich. Der wahre Fortschritt, ein sinnvolles Weiterkommen, muss in der Tat dem besinnlichen Denken zuerkannt werden – in der Besinnung hetzt man nicht von einer Chance, von einer Idee, zur anderen, und in der Besinnung bleibt man aber auch nicht stehen. Aus der Besinnung kommt sozusagen immer das Original, die Besinnung reproduziert nicht. Und die Besin-

Abb. 4

nung, würde ich sagen, hat eine kraftvolle Sprache,

hier eigentlich „das Göttliche“? Mit Bestimmtheit

die dennoch keine laute Stimme als besonderen Ef-

nichts Religiöses, nichts im gewohnten, instituti-

fekt braucht. Es kann beispielsweise ein stiller Pro-

onellen Sinne. Es steht eher für das Gute, für unser

test sein.

Gerechtigkeitsgefühl – so würde ich diese Zeichnung lesen. Steht es für die Wertschätzung unserer Nächsten, vielleicht für unser Gewissen? Immer

39


CRITICA I/ 2016

wieder, wenn ich dieses Bild betrachte, ändert sich

dass es eine überlegte Struktur ist. Wie entsteht

meine Perspektive: Dreht sich der Engel von uns

diese Masse, die er zeichnet? Ist es eine Vervielfa-

weg? Werden wir verlassen? Oder: Nicht der Engel

chung von Einem? Oder ist es nicht doch vielmehr

– die Vollkommenheit – dreht dem Menschen den

eine Menge von Individuen? „Ich weiß nicht, ich

Rücken zu, sondern der Mensch entfernt sich von

bin mir nicht sicher, ich müsste jede Zeichnung

der Möglichkeit zur Vervollkommnung. Es verbirgt

jetzt sehen“ – meinte Prager, wenn er danach von

sich darin keine Belehrung, dafür ist der Ausdruck

mir gefragt wurde. Ist es tatsächlich die Botschaft

des Bildes zu intelligent, zu subtil, und: zu ironisch,

des Kollektivs, des Gemeinsamen? Es sind diese

selbstironisch vielleicht – aber mit einer Leichtig-

Fragen, die durch die Zeichnungen in mir wach-

keit, ohne ironische Aggression. Denn: Wer soll

gerufen werden – und in ihrer Weisheit und Ironie

wen belehren? Der Künstler hat einen scharfen

dürfen sie (sollen sie?) unbeantwortet bleiben. Bei

Blick nach außen und nach innen. In unserer Ge-

der Betrachtung seiner Bilder begleitet mich aber

trenntheit und in unserer Einsamkeit in der Welt

der Künstler – das Gespräch mit ihm ist keine Er-

entfernen wir uns noch weiter voneinander – was

gänzung oder Untermauerung des Kunstwerkes,

für eine Ironie! Darin besteht der stille Protest: In

sondern eine Ergänzung meiner Betrachtung. Kei-

Selbstbetrachtung auch die anderen zu betrachten

ne notwendige, aber eine mögliche, mir geschenkte.

– mit Ironie sowie einer gewissen Zärtlichkeit –, sich selbst und die anderen auf unsere Befindlich-

Bei jedem Treffen mit Erich Prager sprechen wir

keit aufmerksam zu machen.

über Friedrich Nietzsche, der für Prager zu den

Ferdinand Altnöder schrieb einmal, dass die Bilder

wichtigsten Autoren gehört. Ich frage ihn nach sei-

von Prager „hochkomplexe und erstaunlich klar

ner Auffassung des Begriffes „Übermensch“ und

strukturierte Aussagen“ (Altnöder 2003, 24) seien.

bekomme als vorläufige Antwort nur ein Wort:

Seine Tuschezeichnungen stellen oft eine Menge

„Gewissen“. Prager denkt kurz nach, um dann zu

von Menschen oder von Tieren dar – eine Masse

ergänzen: Der Mensch müsse nach einer Verbes-

also, ein Zuviel, könnte man vielleicht sagen (Abb.

serung, nach mehr Wissen, nach mehr Selbster-

4, o.T., undatiert, vermutlich Anfang der 2000er-

kenntnis streben. Prager ist der Meinung, dass ein

Jahre; im Besitz der Autorin). Und trotzdem teile

Mensch – verstanden als Individuum, als Persön-

ich diese Überzeugung von Ferdinand Altnöder,

lichkeit – sich zu einem Übermenschen, das heißt

40


CRITICA I/ 2016

also: zum moralisch Besseren entwickeln kön-

nen möchte – sie leitet sich aus der Kritik an den Re-

ne. Das Individuum könne die Grenzen der herr-

gelvorschriften einer Gesellschaft ab. Der Begriff

schenden Masse überschreiten. Und hier wäre der

der „Gesellschaft“ bezeichnet hier – bei Nietzsche

Platz für den Gewissensbegriff. Ich finde es von

wie auch bei Prager – eine oppressive Struktur, das

größter Bedeutung, dass Prager nicht eine rein

institutionalisierte Leben innerhalb der Familie,

künstlerische Auffassung des Übermenschen vor-

der sozialen Klasse, der Religion usw., also alles

geschlagen hat (nach Nietzsche können wir unse-

andere als jene Gemeinschaft, von welcher Prager

re Beschränktheit vor allem mithilfe der Kunst

spricht: Gemeinschaft im Sinne eines Kollektivs.

überwinden), sondern eine ethische: Der Mensch

Auch in seinem Verständnis für die Rechte und Be-

steigt über seine eigenen (egoistischen) Grenzen –

dürfnisse des Individuums steht Prager Nietzsche

er entwickelt sein Gewissen, er verändert dieses.

sehr nahe: Die Kräfte des Individuums, unsere we-

Das Individuum werde durch die Masse – von de-

sentlichen Merkmale, die uns zu kritischen, krea-

ren Regeln, Gesetzen, aber auch nur Meinungen,

tiven, mutigen, also auch moralischen – sich selbst

Vorurteilen etc. – beschränkt, stimmt der Künstler

erforschenden und das eigene Ich ehrlich erfassen-

zu, aber die Entfernung bzw. die völlige Befreiung

den – Wesen ausmachen, müssen wir vor der Zer-

von den anderen – was man so oft als den Typus

störung durch Indoktrination, vor dem Kleingeist

eines künstlerischen Weges ansieht – sei nicht die

und Opportunismus der anderen schützen.

Aussage seiner Bilder. Zwei Wörter werden von mir nach jedem Gespräch mit Prager notiert: „Gewis-

Ich teile die Überzeugung von Erich Prager in seiner

sen“ und „Kollektiv“.

Reflexion zu Nietzsches Diagnose des Gesellschaftlichen. Als Ethikerin habe ich ein einziges Credo,

Prager vertritt somit eine Auffassung vom Gewis-

welches von Nietzsche zwar nicht ausdrücklich

sen, welche ich als eine nietzscheanische7 bezeich-

formuliert wurde, aber das ich auch als nietzsche-

7  Hierin beziehe ich mich auf die Moralphilosophie von Friedrich Nietzsche, insbesondere auf seine Schrift Zur Genealogie der Moral. Mein Thema hier ist allerdings nicht die Analyse von Nietzsches Werk und noch weniger der sozialpolitische Missbrauch und die tatsächliche Verfälschung seiner Aussagen zur Zeit des Nationalsozialismus. Ich übergehe diese historischen Hintergründe und beziehe mich auf Nietzsche so, wie es ein Philosoph oder ein Künstler – wie eben auch Erich Prager – tut, d.h. auf den philosophischen Text selbst.

anisches, d.h. von Nietzsche gelerntes, bezeichnen würde: Die Moral und das Moralisieren sind die Gegenpole einer ethischen Haltung. Die Moral bedeutet kein Moralisieren, also keine Belehrung, und das Moralisieren ist nichts Moralisches, son-

41


CRITICA I/ 2016

dern stellt einen Gewaltakt dar, einen Angriff. Es

biger und Schuldner haben (Nietzsche 1997, 69). Die

ist eine abgehobene Betrachtung des Menschen –

Festigung des Zusammenhangs von Schuld und

eine strafende und ausgrenzende Haltung, in der

Schmerz führt dazu, dass der Mensch als Individu-

man sich keine Mühe gibt, sich mit den Schwächen,

um eine „Erklärung“ für jedes von ihm erlebte Leid

den Fehlern oder auch mit Verbrechen des Men-

bekommt. Diese Erklärung kommt aus einer äuße-

schen tatsächlich auseinanderzusetzen. Nietzsche

ren Regelung. Ergibt sich jedoch der Mensch lan-

ist der größte Kritiker eines solchen „Gewissens“,

ge genug diesem Schuldgefühl, wird er selbst von

und ich würde ihn sogar einen Philosophen des Ge-

seiner Schuld zutiefst überzeugt sein, die in seinem

wissens nennen. In seiner Gewissenskritik zeigt er

– stets schlechten – Gewissen besteht. Eine ewige

auf, wie das (moralisierende) Motiv des Gewissens

oder immer wieder erneuerte bzw. immer wieder

in ein Konstrukt der Gewalt einfließt: man erinnert

andere Schuld – u.a. die Verpflichtungen gegenüber

den Menschen dauerhaft an seine (mehr oder we-

der Gesellschaft – bringt das Individuum dazu, auf

niger reale bzw. imaginäre) Schuld, man definiert

seinen kritischen Sinn, auf seine Selbsterforschung

ihn als ein schuldiges Wesen. Nietzsche zeigt auf,

und Ehrlichkeit, auf seine Kreativität und seine

wie der christliche Schuld-Begriff aus dem mate-

freie ethische Entwicklung zu verzichten. Eben

riellen Schulden-Begriff historisch abzuleiten sei,

diese ethische Botschaft lese ich aus den Zeich-

der in der Strafe (z.B. der körperlichen Strafe, also

nungen von Erich Prager: Der von der Masse bzw.

dem Schmerz) das Äquivalent zum Schaden (z.B.

von der Institution unterdrückte Mensch ist nicht

einem verlorenen Besitz, einer Beleidigung) sieht.

mehr imstande, sein Gewissen weiter zu entwi-

Die gesellschaftlichen Hauptstrukturen, d.h. die

ckeln. Dieses Gewissen soll von seinen kognitiven

Beziehungen zwischen dem Individuum und der

und moralischen Fähigkeiten abgeleitet werden, es

Gesellschaft („Gesellschaft“ bedeutet hier auch

soll eine Selbstprüfung seines Willens sein.

eine Institution, den Staat8) können also den Cha-

Ein von seinem Gewissen geleiteter Mensch ent-

rakter eines Vertragsverhältnisses zwischen Gläu-

scheidet sich für die Besinnung – aus welcher er zu einem stillen, gewaltlosen, aber wirksamen Protest

8  Bemerkenswert, dass Dubuffet in seiner Kritik an der herrschenden Kultur einen Vergleich der Kulturwelt mit der Kirche als institutionalisierter Religion sowie weiter mit den staatlichen Gewaltstrukturen unternahm, wodurch schließlich die Kultur „nur ein Schwindel im Dienste des staatlichen Dirigismus“ wäre (Dubuffet 1992, 8-10).

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kommt. Und erneut: Der stille Protest ist die leise Stimme einer kraftvollen Sprache. Die künstleri-


CRITICA I/ 2016

sche Aussage von Erich Prager ist ein stiller Protest

diese geraten tatsächlich zu oft in eine Sackgasse

seines Gewissens.

oder, wie Dubuffet schreibt: in eine Falle.

Schlusswort: Die rohe Schönheit

Genau diese Unterscheidung Dubuffets von Art

Die Gegenüberstellung von Art Culturel und Art

Culturel und Art Brut soll man sich jedoch heute

Burt, die Dubuffet der Kunstszene anlastete, scheint

wieder in Erinnerung rufen. Sie scheint ein wenig

heute noch immer die beste Analyse zu sein, um

in Vergessenheit geraten zu sein – v.a. nach den

eine souveräne und sinnvolle Kunsttheorie und

Schriften von Leo Navratil, die doch viel eher psy-

Kunstkritik (also keine Massenproduktion von

chiatrisch als kunstphilosophisch geprägt waren,

Texten, sondern Besinnung, Reflexion) zu betrei-

und nach all der medizinischen und kunstthera-

ben sowie die Bedeutsamkeit des Art Brut-Begrif-

peutischen Professionalisierung des Diskurses

fes aufzuzeigen. Man könnte doch fragen, wenn,

zur Art Brut. Dementgegen ist die Unterscheidung,

nach meinen Worten, die Kunst nie behindert ist

welche Dubuffet vorgeschlagen hat, kunsttheore-

und wenn der große Zauber eines Kunstwerkes in

tisch und kunstphilosophisch zeitlos. Deswegen

seiner Einzigartigkeit besteht und – schließlich –

sah er sich selbst als Vertreter der Art Brut, jener

wenn die Kunst insgesamt in ihrer Alterität auf-

Kunst also, die etwas „ganz und gar Individuelles“

gefasst und anerkannt wird, ob nicht Begriffe wie

ist (Dubuffet 1992, 11), die keiner gesellschaftlichen

„Art Brut“ oder „Outsider Art“ tatsächlich längst

Funktion und keinen (kultur-)theoretischen Krite-

als obsolet anzusehen seien? Also: Schluss endlich

rien dient. Der Begriff Art Culturel dagegen steht

mit dem sogenannten Ghetto der Art Brut! (vgl.

für jede künstlerische Produktivität und die ge-

Studinger 2007, 82-83) Ich plädiere für das Ende

samte zeitgenössische materielle Kultur, die aus-

jener Fachdebatte rund um Definitions-Grenzen

schließlich nach den äußeren Bedürfnissen der Ge-

und strenge Unterscheidungen von Art Brut, Out-

sellschaft (und somit des Kunstmarktes) entsteht,

sider Art, Nichtprofessionelle Kunst usw. Schluss

mit dem Preis, auf tatsächliche Kreativität, Innova-

mit nicht gerade hilfreichen Kompromissen in Be-

tion und somit Unabhängigkeit zu verzichten9. Die-

zeichnungen wie „Kunst von Innen“ (z.B. Bäumer 2007), „Starke Kunst“ (z.B. Theunissen 2010) oder „Weltenwandler“ (z.B. Weinhart et Hollein 2010) –

9  Die bittere Aussage diesbezüglich formulierte Dubuffet schon im Jahre 1945, als er die Wiedererneuerung der Kunstwelt in der ersten Nachkriegszeit beobachtete: „Die gewöhnliche Kunst tritt pompös in den Salons und Galerien auf, sie geht nur vor den Augen der meisten durch und erhält den Namen Kunst, weil sie alles an-

43


CRITICA I/ 2016

se Kulturwelt schließt das Exzentrische aus, und

Diese Suche des Menschen ist die Offenheit der

Kreativität degradiert man hierbei zu einer sich in

menschlichen Natur auf das Schöne hin. Diese Suche

Wiederholung erschöpfenden Produktivität, man

führt in den Bereich der rohen Kunst. Das Schöne

versucht sich in einer die Mehrheit befriedigenden

bedeutet in diesem Kontext nichts „Schöngeistiges“

Mitte, in welcher keinerlei Einzigartigkeit überra-

(nichts für „Schöngeister“, wie Dubuffet formuliert),

schen wird. Mit trauriger Ironie schreibt Dubuffet:

sondern alles, was mit der Schönheit der Klarheit

„Die Kultur ist hervorragend, wenn es gilt, Talente

wie auch mit der Schönheit des Zerfalls, mit der

zu behindern“ (ebd., 29). Er sagt aber auch Folgen-

Schönheit des Einmaligen oder des Alltäglichen,

des:

mit der Schönheit der Strukturierung und der Ord-

„Wir Menschen begeistern uns für die Werke unserer Mit-

nungsvernichtung, mit der für jemanden sichtbaren

menschen und suchen darin begierig nach den Spuren der

und erlebten Schönheit erfüllt ist. Die Schönheit ist

Ereignisse, die sich dauernd vor unseren Augen abspielen,

roh.

und der Dinge, nach denen wir täglich greifen, und nach dem, was uns das ganze Leben lang bei jedem Schritt begegnet. Das kann ein zerrissenes Plakat sein, ein blinkendes Stück

L iter atur

Blech, ein rostiges Eisen, ein verdreckter Weg, ein geteerter

Altnöder, Ferdinand, Erich Prager: Kommunizierende

Kanaldeckel. Ein tannengrün bemaltes Schaufenster, ein bun-

Schnittstellen, in: A.Husslein-Arco (Hg.), „art brut »vor

tes Firmenschild, ein vom Regen verwaschener Kreidespruch

ort«“ [Ausstellungskatalog, Museum der Moderne – Ru-

an einer Wand, eine Farbe, die man auf der Strasse gesehen

pertinum], Salzburg 2003, S.24.

hat, und Spuren, Streifen von irgend etwas, Zufälligkeiten,

Bader, Alfred et Navratil, Leo, Zwischen Wahn und Wirk-

eben alles, was unsere Wohnungen und Städte füllt. All das

lichkeit: Kunst – Psychose – Krativität,Verlag C.J. Buch-

soll der Maler aufzeichnen, festhalten, sich zu eigen machen

er, Luzern – Frankfurt am Main 1976.

und in seinen Werken verarbeiten – sogar wenn er einen Apfel malt.“ (Dubuffet 1991, 41-42) dere ausschließt. Sie erscheint uns von ärmlichem Inhalt, der sich auf ewige Wiederholungen und Imitationen beschränkt und dessen schöpferischer Anteil fast gegen Null geht. Wir halten sie für ein parasitäres Surrogat, das die künstlerische Schöpfung nachäfft, ohne sie zu vollbringen, indem sie die Wörter in zufälliger Ordnung und nach sinnlosen theoretischen Systemen ersetzt.“ (Krajewski 2004, 246)

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Bäumer, Angelica (Hg.), Kunst von Innen. Art Brut in Austria, Holzhausen, Wien 2007. Dubuffet, Jean, Die Malerei in der Falle. Antikulturelle Positionen (Schriften, Bd. I), hrsg. v. A. Franzke, übers. von E. Kronjäger, Verlag Gachnang &Springer, Bern – Berlin 1991.


CRITICA I/ 2016

Dubuffet, Jean, Wider eine vergiftende Kultur (Schriften,

Theunissen, Georg et Schubert, Michael, Starke Kunst von

Bd. II), hrsg. v. A. Franzke, übers. von E. Kronjäger, Ver-

Autisten und Savants. Über außergewöhnliche Bild-

lag Gachnang &Springer, Bern – Berlin 1992.

werke, Kunsttherapie und Kunstunterricht, Lambertus

Heidegger, Martin, Gelassenheit, Neske, Pfullingen 1956.

Verlag, Freiburg/Br. 2010.

Hollein, Martin et Weinhart, Martina, Weltenwandler/ World Transformers, [Ausstellungskatalog: Schirn Kunsthalle Frankfurt], Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010.

Z ur P erson

Die Autorin ist Assistenzprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Posen, Polen. Ihr

Krajewski, Michael, Jean Dubuffet. Studien zu seinem Frühwerk und zur Vorgeschichte der Art brut [Dissertation, Friedrich Wilhelm Universität Bonn], Der Andere Verlag, Osnabrück 2004.

Forschungsschwerpunkt liegt in der praktischen Philosophie und umfasst die Bereiche Philosophie der Antike, Phänomenologie, Sozialethik und Kunstphilosophie.

Navratil, Leo, Schizophrenie und Kunst, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1965. Navratil, Leo, Art brut und Psychiatrie. Gugging 1946-1986, Verlag Christian Brandstätter, Wien – München 1999. Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral http:// www.nietzschesource.org/#eKGWB/GM

[Zugriff:

10.01.2016] Studinger, Eva, Außenseiter und Innenwelt, in: Theunissen, Georg (Hg.), Außenseiter-Kunst. Außergewöhnliche Bildnereien von Menschen mit intellektuellen und psychischen Behinderungen, Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2007, S. 67-84. Theunissen, Georg (Hg.), Außenseiter-Kunst. Außergewöhnliche Bildnereien von Menschen mit intellektuellen und psychischen Behinderungen, Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2007.

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WENN SICH AVANTGARDE UND TRADITION TREFFEN Der Neubau des Kunstmuseum Basel von Danièle Perrier Die „Weltstadt im Kleinformat“, wie sich Basel-

Trotzdem wurde der Platz im Hauptbau zu eng,

Stadt mit ihren drei Gemeinden und rund 220.000

denn der klassizistische, vierflügelige Bau mit

Einwohnern selbst bezeichnet, in der sich Tradi-

seinem Atrium war von den damaligen Architek-

tion und Moderne paaren, kann der langen Liste

ten nur für Sammlungsbestände konzipiert.1 Das

seiner Museumseinrichtungen – Kunstmuseum,

hatte zur Konsequenz, dass die Sammlung immer

Museum der Gegenwartskunst, Tinguely Museum,

wieder zugunsten temporärer Ausstellungen wei-

Schaulager, Fondation Beyeler, Kunsthalle, um nur

chen musste. Hinzu kommt, dass die Sammlung

die prominentesten Einrichtungen für Moderne

einen enormen Zuwachs an Werken aus der zwei-

und Gegenwartskunst zu nennen – einen Neubau

ten Hälfte des 20. und dem 21. Jahrhundert erhalten

dazu addieren. Es ist kein selbstständiges Museum,

hat. Somit beherbergt das Kunstmuseum Basel eine

sondern ein Erweiterungsneubau des Kunstmu-

Sammlung, die vom 15. Jahrhundert bis in die Ge-

seums Basel. Nach dem Bau des Museums für Ge-

genwart reicht. Neben Gemälden, Skulpturen, Ins-

genwartskunst – heute zu Kunstmuseum | Gegen-

tallationen und Videos beherbergt das Kupferstich-

wart umgetauft – im St. Alban-Tal, welches 1980 als

kabinett 300.000 Werke auf Papier – Zeichnungen,

erster öffentlicher Ausstellungsbau in Europa aus-

Aquarelle und Druckgraphiken. Neben dem Bedarf

schließlich der zeitgenössischen Kunstproduktion

an Ausstellungsflächen wurden nun auch Depo-

und –praxis gewidmet wurde, ist es die dritte bauliche Erweiterung, sieht man von der Auslagerung des Kunsthistorischen Seminars und der Kunsthistorischen Bibliothek ab, die seit 2007 im LaurenzBau der anschließenden ehemaligen Nationalbank untergebracht sind.

1  Die Bestände des Kunstmuseums gehen teilweise auf den Basler Sammler Basilius Amerbach (1533-1591), dessen Vater Bonifacius, der mit Erasmus von Rotterdam und Hans Holbein befreundet war, zurück. 1661 erwarb Johann R. Wettstein die Sammlung für 9.000 Taler und schenkte sie der Stadt Basel. Das sogenannte „Amerbach-Kabinett“ war somit die erste Sammlung im Besitz des städtischen Gemeinwesens. Seither ist die Sammlung kontinuierlich gewachsen und wechselte oft den Standort, bis der Hauptbau des heutigen Kunstmuseums zwischen 1931-36 von den Architekten Paul Bonatz und Rudolf Christ erbaut wurde.


CRITICA I/ 2016

träume notwendig. Bei der Planung des Neubaus

Christ & Gantenbein das ursprüngliche Stadtbild

wurde daher ausdrücklich spezifiziert, dass sich

wieder hergerichtet, denn bis 1878 stand am Ende

die neuen Ausstellungsräume und Depoträumlich-

der Rittergasse der St. Alban Schwibbogen, also das

keiten für alle Bereiche der vielfältigen Sammlung

Tor der inneren Stadtmauer. Vom Bankverein aus

eignen müssen.

greift er die Flucht des Hauptbaus des Kunstmuse-

Von den 200 Architekten, die am Wettbewerb teil-

ums auf und leitet, durch den erwähnten Knick, in

genommen haben, darunter fünf Pritzker-Preis-

die Biegung zur Wettsteinbrücke hinüber. Somit

träger, erhielt das Basler Architektenbüro Christ &

nimmt er die Straße in sich auf und bildet, an die-

Gantenbein den Zuschlag, als wäre der Kleinneffe

sem sehr belebten Straßen-Carrefour einen klei-

von Rudolf Christ Garant für die Verbindung von

nen Vorplatz, eine Einladung die asymmetrisch

Tradition und Moderne, auf die Basel mit Recht so

gesetzte Eingangstür – besser gesagt, das Portal

stolz ist. Man kann ihr zur Wahl der Architekten

aus feuerverzinktem Stahl zu betreten, das umso imposanter wirkt als es die einzige Öffnung der Frontseite ist. So sehr der Neubau majestätisch für sich selbst steht, so ist er konzeptuell auch als Geschwisterbau des Haupthauses konzipiert. Beide Häuser bilden ein Paar auf Augenhöhe. Das drückt sich zum Bei-

Das erweiterte Kunstmuseum Basel mit Neubau (links) und Hauptbau (rechts), Kustmuseum Basel, Foto: Julian Salinas

spiel darin aus, dass sich der Neubau in die Flucht des Altbaus einzeichnet. Die beiden Gebäude, deren Traufen gleich hoch sind, passen sich der Firsthöhe

durchaus gratulieren, denn der Neubau bereichert

der umgebenden Häuser an. Die Seitenflanken des

das Stadtbild um ein Juwel.

Neubaus bilden den natürlichen Abschluss der St.

Kommt man von der Rittergasse, also von der Alt-

Alban Vorstadt und der Dufourstrasse, wobei seine

stadt, steht der Neubau da, ein Blickfang, mächtig

eingekerbte Stirnseite das Aufeinandertreffen der

und kompakt, wie ein mittelalterliches Tor, das mit

beiden Straßen betont. Wie in den Proportionen

seinem Knick in der Mitte einladend wirkt und

ist der Neubau auch farblich auf die Fassade des

den Blick auf alles andere verschließt. Somit haben

Kunstmuseums abgestimmt. Die dänischen Back-

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CRITICA I/ 2016

steine variieren im Farbton von beige bis grau und

der elegante und leichte Baukörper der Stirnseite

greifen somit den Farbenwechsel des Kalksteins

zu einem monumentalen, offenen Buch.

vom Hauptbau auf, bei dem die grauen Streifen sich

Während die Außenansicht des neuen Museums-

markant vom beigen Grundton absetzen und eine

trakts auf eine innovative Art und Weise mit dem

horizontale Gliederung bilden. Beim Neubau ist es

existierenden Bau reagiert und trotz der Geschlos-

die Verwendung von nur vier Zentimeter hohen

senheit seiner Struktur eine unerwartete Leichtig-

Backsteinen und der Schatten, der durch die tie-

keit aufweist, ist im Inneren die Anlehnung am Alt-

fer gelegenen Fugen verursacht wird, die für eine

bau evidenter und auch konservativer. Auch wenn

horizontale Gliederung sorgen. Hinzu kommt der

der Neubau über einen eigenen Eingang verfügt,

Farbenwechsel – abgestuftes grau für die Sockel-

findet der eigentliche Zugang über den Hauptbau

zone und wieder für den Fries. Im Katalog ist von

statt. Von dessen Eingangsbereich führt eine lange

„Wasserstrichziegeln“ die Rede, was den Effekt

Treppe in die Tiefe, von wo aus ein unterirdischer

von Hand gestrichelten Linien sehr gut beschreibt.

Gang zum Nebentrakt führt. Die Treppe bildet

Wenn der Bau in seiner Materialität den Akzent

nicht nur faktisch, sondern auch durch ihre Gestal-

auf handwerklich Gefertigtes und damit auf Tra-

tung eine Verbindung zwischen Alt- und Neubau.

dition setzt, so bringen die Accessoires eine reso-

Ihre Monumentalität, die Verwendung von Mar-

lut zeitgenössische Konnotation: Die Türen und die

mor für Boden und Brüstung sowie der Kratzputz

Fenster, die, wie in alten Stadtpalais mit klappba-

für die Wände sind an den Baustil des alten Bau-

ren Fensterläden bei Bedarf geschlossen werden

trakts angelehnt. Jedoch ersetzt ein kühler Grau-

können, sind aus feuerverzinktem Stahl und sind

ton das Beige, wie in allen Verbindungsanlagen des

reine industrielle Produkte. Innovativ ist auch die

Neubaus. An der Stirnwand als einziger Blickfang,

Hinterlegung von LED-Streifen in den Hohlkehlen

die Neonspirale von Bruce Naumann The true artist

der Backsteine, die den Fries zum Glimmern brin-

helps the world by revealing mystic truths, ein Inkunabel

gen. Die variable Einstellung der einzelnen LEDs

der Basler Sammlung.

erlaubt außerdem den Fries als Schriftband für die

Der sehr breite Verbindungstrakt unterhalb der

Ankündigung der Ausstellung zu nutzen. Derzeit

Straße, in dem nur zwei imposante Skulpturen aus-

liest man Sculpture on the Move. So verwandelt sich

gestellt sind, lässt eine sehr großzügige Präsentation vermuten, denn hier und in der anschließenden

48


CRITICA I/ 2016

Empfangshalle verfügt jedes Werk über viel Raum

erverzinktem Stahl besonders betont wird. Es ist,

und kann sowohl mit seinen Nachbarn als auch für

als hätten die Architekten ihre Fantasie besonders

sich selbst betrachtet werden. Auf der schwarzen

in den Fluren und Verbindungswegen ausgelebt,

Stirnwand ist das Werk von Sol Lewitt Wall dra-

wobei immer nobles Material auf Brutalistisches

wing #304: all combinations of six white geometric figures

und industrielle Produkte trifft, womit genau der

(outlines) superimposed in pairs on a black wall, 1977 ein-

gewollte Effekt zwischen Kunstpalast und Kunst-

graviert. Die zugleich analytische und spielerische

container erwirkt wird.

Auseinandersetzung des Werks mit den Grundfor-

Dies gilt auch für die Ausstellungsflächen, aller-

men der Geometrie liest sich wie eine Anleitung

dings mit anderen Akzentuierungen. Wir haben

zur multifunktionellen Nutzung dieser Halle für

keinen White Cube vor Augen, sondern eine klar

Filmpräsentationen, Performances, Konzerte, Vor-

strukturierte Innenarchitektur mit unterschied-

träge oder einfach für Empfänge. Von da aus ge-

lich großen Räumen, eine reine Architektur als

langt man zur Treppenanlage, die hinsichtlich Ma-

Rezeptakulum der Kunst, wobei auch hier vie-

terial- und Farbenwahl identisch ist mit der eben

le kleine Details sehr interessant gelöst sind. Die

beschriebenen Eingangstreppe; allerdings windet

Wände des Betonbaus sind mit einer zehn Zen-

sie sich kurvig um die eigene Achse und spart auf

timeter dicken Gipsschicht überzogen. Das hat

diese Weise Platz. Trotzdem wirkt sie überwälti-

zur Wirkung, dass die Türzargen mit dem grauen

gend monumental, zu monumental. Dafür gewährt

Kratzputz – die eigentliche Wand – nicht vor, son-

sie von überall her spannende Einblicke in die

dern zurückspringen, als wollten sie sich zurück-

Übergänge der verschiedenen Stockwerke. Sie setzt

nehmen und nur die räumliche Begrenzung zum

zweifelsohne einen starken architektonischen – ja

anderen Raum öffnen.Überflüssig wirkt die graue,

skulpturalen – und farblichen Akzent zwischen

in den Boden eingelassene Marmorschwelle. Wäh-

den beiden Bauflügeln in der Verlängerung der St.

rend die makellos weißen Wände die Neutralität

Alban Vorstadt und der Dufourstrasse, in denen die

des White Cubes aufgreifen, sorgen die Decken für

Ausstellungsräume untergebracht sind. Auch der

ideale Lichtverhältnisse. Ob Oberlichtfenster wie

Lifttrakt ist in Grau gehalten, wobei hier die „Con-

im Dachgeschoss, oder Kunstlicht, das gelegentlich

tainer Komponente“ wie die Architekten selbst

durch den Lichteinfall von Fenstern ergänzt wird,

sagen, durch die Verkleidung der Wände mit feu-

überall sind die Decken aus grauem Sichtbeton und

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CRITICA I/ 2016

mit rippenartigen Elementen versehen, in denen

sätzlichen Materialien zwischen Palast und Kunst-

die Beleuchtungskörper – lineare LEDs – einge-

container oszilliert.

bettet sind. Durch diese farbliche Absetzung und

Es war eine Vorgabe des Museumdirektors, dass die

die Ausrichtung der Lichtquelle nach unten, wird

Ausstellungsräume des Neubaus sich sowohl für

der Raum mit Licht durchflutet. Nirgends gibt es

alte Kunst als auch für zeitgenössische Installatio-

Spots, nirgends Stellwände, die den Raum begren-

nen und Videos eignen müssen, denn der Hauptbau

zen. Zu den markanten Bauelementen gehört der

bleibt der Präsentation der Sammlung vorbehalten,

Boden aus sogenanntem Industrieparkett – geöltes

bis auf die Ausstellungen des Kupferstichkabinetts,

Eichenholz dessen Fugen mit Holzzement gefüllt

in denen parallel zur Skulpturenausstellung Zeich-

sind. Sowohl der Boden mit seinem warmen, gelb-

nungen und Druckgrafiken von Barnett Newman

lichen Ton, als auch die in grau gehaltenen Decken

gezeigt werden. Um der Anforderung gerecht zu

und die verzinkten Türen und Fenster, verleihen

werden, planten die Architekten unterschiedlich

dem Raum eine starke Wirkung, welche durch die

zugeschnittene, eher kleine Räume. Im ersten und

schon im Treppenhaus erwähnte Wahl von gegen-

zweiten Stock sind in jedem der beiden Bautrakts jeweils vier verschiedenartig große, miteinander verbundene Räume eingebettet, während im Erdgeschoss eine große Ausstellungshalle die gesamte Fläche des einen Blocks einnimmt. Im Untergeschoss ist dieser Bereich zweigeteilt. An sich erlaubt die Anordnung der Ausstellungsräume in den beiden, durch Lift und Treppenzugang geteilten, Baublocks die freie Wahl des Parcours, was für eine individuelle Begegnung mit der Kunst von Vorteil ist. In manchen Räumen gibt es Sitzgelegenheiten für eine besinnliche Betrachtung. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Neubau eine neue Form von Klassizismus einführt, der

Kunstmuseum Basel | Neubau, Kunstmuseum Basel, Foto: Stefano Graziani

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in den Verbindungtrakten nobel, imposant und


CRITICA I/ 2016

in Anlehnung an den Hauptbau sehr monumen-

dann abstrakt und objekthaft mit Max Bill, Eduar-

tal wirkt und in den Ausstellungsräumen bis auf

do Chillida und David Smith wird. Mit Constantin

den dominanten Boden zurückhaltender ist. Es ist

Brancusi verlässt die Skulptur ihren Podest, um bei

allerdings die Frage, warum hier, wie in so vielen

Alexander Calder schwerelos im Raum zu schwe-

anderen neuen Museen, immer wieder so viel Platz

ben und bei Jean Tinguely den Raum dynamisch zu

für Treppenhäuser und Gehwege statt für Kunst

erobern. Von da aus ist es nicht mehr weit zur Ein-

eingeplant wird.

beziehung des Besuchers in das Kunstwerk wie bei

Als Eröffnungsausstellung des Neubaus und zu-

Allan Kaprow oder der Performance von Yvonne

gleich seiner Abschiedsausstellung hat der Direk-

Rainer mit skulpturalen Elementen von Carl An-

tor des Kunstmuseums Basel, Bernhard Mendes

dre. Man freut sich selten gesehene, aber ents-

Bürgi, als Antwort auf seine Antrittsausstellung

cheidende Werke wie Piero Manzonis Corpo d’aria,

Painting on the Move im Jahr 2002 nun Sculpture on the

das an Munaris Aktion Far vedere l’aria erinnert

Move 1946-2016 kuratiert. Seiner Aussage nach kon-

und hier der Konzeptkunst eine skulpturale Form

zentriert sie sich auf Scharnierwerke, welche die

gibt, zu sehen. Auf die Auseinandersetzung mit

Entwicklung der Skulptur entscheidend geprägt

der für den Menschen unverzichtbaren Luft von

haben. Die Ausstellung ist chronologisch aufge-

Manzoni, antwortet Dieter Roth mit verwesenden

baut und auf zwei Orte verteilt. Die Werke von der

Lebensmitteln als Zeichen der Vergänglichkeit und

Nachkriegszeit bis zu den 1990er Jahren sind im

mit Living Sculptures traten die Künstler Gilbert &

Neubau untergebracht, die zeitgenössische Kunst

George selbst als lebende Skulpturen auf den Po-

im Kunstmuseum | Gegenwart. Geschickt werden

dest (in skulpturaler Nachbildung). Interessant ist

die reichen Bestände des Museums mit internati-

auch die Gegenüberstellung der berühmten White

onalen Leihgaben zu einem sehr unterschiedlich

Brillo Boxes von Andy Warhol, die Paul Thek für

beleuchteten Bild der Skulptur der Nachkriegszeit

Meat Piece with Warhol Brillo Box zum Reliquiar für

bis heute zusammengefasst.

das Trompe-l’oeil eines blutigen Stück Fleischs um-

Es erzählt die Geschichte der Befreiung der Skulp-

funktioniert. Immer wieder stehen sich kontrast-

tur von der organischen Form, die zuerst abstra-

reich abstrakte Positionen zB. John Chamberlains

hierend, wie bei Hans Arp, Alberto Giacometti,

Exciter White Shadow und figurative Installationen

Pablo Picasso, Henry Moore, Louise Bourgeois,

gegenüber z.B. Paul Theks Dwarf Parade oder Olden-

51


CRITICA I/ 2016

burgs Pop ‘artige Einzelanfertigungen wie The Store,

Povera ergänzt, neben den schon erwähnten Mi-

Mario Merz‘ Iglu Acqua scivola (iglu di vetro) – ein-

chelangelo Pistoletto, Mario Merz.

deutig ein Verweis auf humane Präsenz und Natur

In der großen Halle im Erdgeschoss sind die

– und Michelangelo Pistolettos Metrocubo d‘infinito,

achtziger Jahre durch Skulpturen von nur zehn

dessen bespiegelte Innenseiten einen unendlichen

namhaften Künstlern vertreten, neben den be-

geometrischen Raum schaffen und die noch mit der

reits erwähnten Ray Charles, Katarina Fritsch,

Gegenüberstellung der amorphen Fiberglasgebilde

Isa Genzken, Felix Gonzales-Torres, Mike Kelley,

von Eva Hesse und Bruce Naumanns Square, Trian-

Martin Kippenberger, Jeff Koons und Franz West.

gle, Circle auf architektonische Elemente verweisen.

Diese vereinzelten Positionen allein geben allerd-

Man bedauert allerdings die vollkommene Absenz

ings kaum wirklich ein Bild der 1980er Jahre, umso

der französischen Künstler: Yves Kleins Chèque de

weniger als Franz Wests Passtücke als Erweiter-

sensibilité hätte wunderbar zu Manzonis Corpo d’aria

ungselemente des Körpers kunstgeschichtlich für

gepasst, Césars Kompressionen – hydraulisch zer-

die 1960er Jahre relevant waren. Hier hätte ein

quetschte Autos – hätten eine radikale Alternative

Werk, wie etwa seine 1989 entstandene Installation,

zu John Chamberlains aus Autotrash konstruierte

die den Besucher einbindet, Treten Sie bitte hinter dem

Skulpturen geboten und Toni Grands Aale in Kun-

Paravent, entkleiden Sie sich und legen das Gewand auf den

stharz hätten im Erdgeschoss neben Robert Gober

Sessel. Bleiben Sie circa fünf Minuten so und verhalten Sie

und Peter Fischli / David Weiss eine weitere Aus-

sich nach eigenem Ermessen. Um nicht gestört zu werden,

einandersetzung zwischen Natur und Künstlich-

wenden Sie sich bitte vorher an den Saalwächter. Er wird

keit, Mensch und Tier als Ware beigetragen. Es

andere Besucher darauf hinweisen, dass dieses Objekt be-

ist durchaus verständlich, dass ein Kurator seine

setzt ist, und sie fernhalten besser gepasst. Auch Erwin

eigene Sichtweise der Kunst vertritt, dennoch er-

Wurm mit seinen One Minute Sculptures und Paul

staunt es, dass faktisch alle Künstler eines Landes

McCarthy hätten die getroffene Auswahl um die

ausgeblendet werden. Die Minimal Art, bei der das

Rückeroberung des Körpers und der Künstlichkeit

Kunstmuseum für Donald Judd, Walter de Maria,

angenehm erweitert. Was ist mit Kiefer und seinen

Carl Andre, Richard Serra, Bruce Naumann auf die

postatomaren Bleiskulpturen und Toni Cragg mit

eigenen Bestände zurückgreifen kann, ist sehr gut

seinen Skulpturen aus Zivilisationsmüll, was mit

vertreten und durch wichtige Exemplare der Arte

Bill Woodrow, Richard Deacon, Anish Kapoor?

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CRITICA I/ 2016

Die neuesten, teils noch experimentellen Positionen

Tiravanija und Rachel Whiteread, die alle auf ihre

der 1990er Jahre bis heute sind im Kunstmuseum |

Weise die Skulptur als Ausdruck gesellschaftlicher

Gegenwart ausgestellt. Als Pate für diesen Teil steht

Lebensformen und sozialer Beziehungen auffas-

Joseph Beuys, der schon unter Franz Meyer in den

sen, meist als Installationen, die auf den Leben-

1970er Jahren angekauft wurde und als Vaterfigur

sraum verweisen.

der Demokratisierung der Kunst mit all seinen Fol-

Gesamthaft betrachtet ist die Ausstellung Sculp-

gen angesehen werden kann. Ein Bindeglied in die

ture on the Move durchaus interessant, besonders

Gegenwartskunst bildet die spöttische Figur von

auch im Hinblick darauf wie eine Sammlung, in

Maurizio Cattelan, deren Titel La rivoluzione siamo

Kombination mit Leihgaben, den Ausgangspunkt

noi auf Beuys anspielt. Nur ist die Revolution auch

für temporäre Ausstellungen bilden kann. Erwäh-

beim Künstler zum Erliegen gekommen: er hängt

nenswert ist der handliche Katalog mit fundierten

erschlafft in Beuys‘ Anzug am Kleiderbügel.

Beiträgen und einer guten Dokumentation der ein-

Im Empfangsbereich stehen Werke von Absalon,

zelnen Werke. Übrigens bietet der alphabetische

Damien Hirst, Sarah Lucas, Gabriel Orozco, Rirkrit

Online-Katalog die Grundinformationen zu den Sammlungsbeständen und ist ein wertvolles Wissenschaftsinstrumentum. Die Präsentation der Ausstellung folgt dem chronologischen Prinzip, was vom inhaltlichen verständlich ist und auch gut ablesbar, allerdings vom Raumzuschnitt bei weitem nicht optimal ist. Im obersten Stockwerk sind die Werke der Moderne meistens kleineren Formats sehr diversifiziert präsentiert. Neben dem schon eingangs erwähnten weichen Licht, spielt die Varietät der Sockel und Podeste und auch die lockere Aufstellung für die angenehme Wahrnehmung der Werke eine entscheidende Rolle. Die Bodenskulpturen sind auf

Maurizio Cattelan, La rivoluzione siamo noi, Foto: D. Perrier

weiße Sockel gruppiert, kleinere werden zudem

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CRITICA I/ 2016

auf individuelle Postamente gestellt, die sie in ide-

gepasst, sei es im Obergeschoss oder alternativ in

aler Höhe präsentieren. Andere Podeste lehnen wie

den Räumen des Untergeschosses statt der Foto-

Brüstungen an der Wand, so dass man die darauf

grafien von Bernd und Hilla Becher und von John

positionierten Werke im Gehen wahrnimmt. Die

Baldessari. Bei aller Wertschätzung dieser exzel-

größeren stehen frei im Raum. Manchmal ergibt

lenten Fotokünstler sind sie für das Verständnis der

sich ein wunderschöner Durchblick ins nächste

Skulpturenausstellung nicht unbedingt notwendig.

Zimmer wie mit Australia, 1951 von David Smith.

Es war allerdings eine Entscheidung des Direktors

Auch Objekte und Fotografien, die an der Wand

Teile der Sammlung in die temporäre Ausstellung

hängen, wirken in der wohnlichen Atmosphäre des

einzuschreiben, denn im ersten Stock ergänzt eine

Neubaus sehr gut. Die locker aufgestellten Skulptu-

Auswahl von Bildern der Sammlung die Skulptu-

ren der Pop’ Art finden sich in dieser räumlichen

renausstellung. Sie wurden so ausgewählt, dass

Atmosphäre zurecht, obwohl das Industrieparkett

sie das Verständnis der Skulpturenausstellung auf

mit seinen – derzeit noch sehr hellen – Fugen schon

vielschichtige Art und Weise ergänzen; manche

dominant wirkt. Problematisch ist die Präsentation

durch ihre Auseinandersetzung mit dem Raum,

der Minimal Art. Während Carl Andre und Beuys

andere mit der Auflösung der Grenzen zwischen

mindestens genug Platz haben, sind in anderen

Bild und Raum oder zwischen Bild und Skulp-

Sälen Werke der Minimal Art viel zu eng anein-

tur oder noch, weil sie eine weitere Facette einer

ander gestellt. Das trifft im Saal mit Richard Long,

künstlerischen Tendenz zeigen. Ein ganzer Raum

Mario Merz, Michelangelo Pistoletto und anderen

ist Barnett Newman gewidmet, der die Ausstellung

Werken sowie bei jenem mit Eva Hesse und Bru-

seiner Papierarbeiten im Kupferstichkabinett auf

ce Naumann zu. Abgesehen davon, dass man sich

angenehme Weise ergänzt. Theoretisch hätte man

spätestens hier nach dem schlichten eingefärbten

die gesamte Ausstellung im Neubau unterbringen

Betonboden des Gegenwartsmuseums sehnt, war-

können, doch die Entscheidung, die neuesten Posi-

um hat man diese Werke, die viel Platz brauchen,

tionen im ehemaligen Industriegebäude des Kunst-

nicht in der großen Halle im Erdgeschoss unterge-

museum | Gegenwart auszustellen war richtig und

bracht, wo die zehn Einzelobjekte der 1980er Jah-

ermöglichte auf ganz andere Art und Weise das Zu-

re ziemlich beziehungslos und verloren dastehen.

sammenspiel von Architektur und Skulptur, zum

Diese hätten in kleinere Räume wesentlich besser

Beispiel bei Oscar Tuazon.

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Zuletzt verdient das außerordentliche Engagement der Basler Bürger ein Lob, ohne welches der Erweiterungsbau des Kunstmuseums nicht möglich gewesen wäre. Damit erhält das Kunstmuseum eine ganz andere Positionierung innerhalb der Basler und der internationalen Kunstszene. Im konkreten Fall hat Maja Oehri, Präsidentin der Laurenz-Stiftung, dem Bauherr, also dem Kanton Basel-Stadt, die Kaufsumme von 30 Millionen für das Grundstück „Burghof“, auf dem der Neubau gebaut wurde, geschenkt. Sie hat auch eine 50%-Beteiligung an der Finanzierung aus privater Hand garantiert. Aus der gelungenen Private-Public Partnerschaft standen somit insgesamt 130 Millionen für den Neubau und Umbau des Haupthauses zur Verfügung. Das Budget wurde strikt eingehalten, was selten genug ist, um es lobend zu erwähnen. Eine Schweizer Tugend? Die Bauarbeiten haben insgesamt dreieinhalb Jahre gedauert und das Kunstmuseum blieb ein ganzes Jahr wegen Sanierungsmaßnahmen geschlossen. Eintausend Mitarbeiter haben daran gearbeitet, so dass es am Wochenende vom 15./16. April eröffnet werden konnte. Im September wird Josef Helfenstein die Nachfolge von Mendes Bürgi antreten. Vielleicht gelingt es ihm, auch die Sammlung im restaurierten Altbau auf ganz neue Weise zu präsentieren. Viel Glück!

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BÜCHER KUNST KRITIK

Fund Gurlitt - Fall Kunstkritik Andreas Hüneke Die Reihe Schriften zur Kunstkritik ist eine Edition der deutschen Sektion des Internationalen Kunstkritikerverbandes (AICA). Sie wurde 1993 von Walter Vitt begründet und umfasst bis ins vergangene Jahr 25 Bände. Band 26 soll noch 2016 erscheinen. Jeder Band ist auf 48 Seiten begrenzt, ist sozusagen eine „Nachmittagslektüre“. Die Reihe soll betont als Alternativprogramm zu den Großkatalogen einer bestimmten Ausstellungs-Praxis der Gegenwart begriffen werden. Als Autorinnen und Autoren werden bevorzugt Mitglieder der deutschen AICA-Sektion eingeladen. Die Themenstellung entspricht dem aktuellen Diskurs in der Kunstkritik. Die Bände widmen sich der Rezeption eines kunstkritischen Themas, also behandeln etwa das Presse-Echo auf die documenta oder das Versagen der Medien auf den Fall Gurlitt. Wenn sie sich mit einer Künstlerin, einem Künstler, einer Kunstrichtung beschäftigen, dann geht es nicht um Kunst-Analysen oder die Herausstellung der Bedeutung bestimmter Künstler oder Kunstrichtungen, sondern wie das kunstkritische Handwerk damit umgeht, um dessen Qualität oder dessen Versagen. Besonderen Wert wird auf die Ausstattung der kleinen Hefte gelegt. Für die Cover entwirft der Maler Lienhard von Monkiewitsch Vignetten, die sich stets neu aus den drei Formen Quadrat, Parallelogramm und Rechteck zusammenfinden. Jedes AICA-Mitglied erhält ein Exemplar als Jahresgabe. Die Bände sind aber auch über den Buchhandel zu beziehen oder direkt bei der AICA unter edition@aica.de zu bestellten.


C. Demand, Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte, zuKlampen 2003.

D. Kuspit, The End of Art, Cambridge University Press 2005.

S. Danicke, Kunst interessiert doch keine Sau, belser 2011.

T. Barrett, Criticizing Art, Mac Graw Hill 1999.

H. Lehmann, Autonome Kunstkritik, Kadmos 2012.

W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, alle drei Fassungen, Hofenberg 2015.

J. P. Domecq, Comdédie de la critique, pocket 2015.

S. Lüddemann, Kunstkritik als Kommunikation, DTV 2004.

N. Caroll, On Criticism, Routledge 2009.

R. Hughes, Nothing if not critical, Penguin (1990) 1992.

W. Ullrich, Siegerkunst, Wagenbach 2016.



IM PR ESSU M H ERA U S G EB ERI N Dr. Julia-Constance Dissel C H EF REDA K T I O N Ferdinand Schwieger Julia-Constance Dissel REDA K T I O N Maria Rudolf Claudia Gaida Sandra Mann LEKTORAT Maria Rudolf REDAKTIONSASSISTENZ Luisa Döderlein B EI TRA G END E Ludwig Seyfarth Danièle Perrier Sandra Danicke INTERVIEWS von Sandra Mann Julia-C. Dissel

GESTALTUNG BASISLAYOUT European School of Design, Frankfurt Ferdinand Schwieger VERKAUF Direktvertrieb Printausgabe: 8€ (DE)/ 10SFR (CH) E-Book (open-access): critica-zpk.net bestellung@critica-zpk.net REDAKTIONS- & VERWALTUNGSSITZ CRITICA–ZPK Postfach 14 64 63490 Seligenstadt COPYRIGHT CRITICA–ZPK 2016, die Autoren und Künstler, wenn nicht anders im Inhalt angegeben Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ISSN 2192-3213 www.critica-zpk.net



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