crescendo 6/2012, Premium Ausgabe Oktober/November 2012

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h ö r e n & s e h e n

Tanz

Jiři Kylián

Die Mondprinzessin Fernöstlich inspirierte meditative und westlich virtuose Tanz-Bewegung, magisches Licht und geometrisches Schattenspiel, sanfte japanische Flöten, höfisch-herbe Gagaku-Musik und wilde Rhythmusgebung aus traditionellen Kodo-Trommeln und zeitgenössischem Schlagwerk – so gelingt Modern-Dance-Meister Jiří Kylián, Komponist Maki Ishii und Bühnen-Licht-Designer Michael Simon eine subtile szenische Umsetzung des alten japanischen Märchens „Kaguyahime“. Diese „Mondprinzessin“, als Kind von ihren Eltern auf der Erde ausgesetzt und bei ihrem Ziehvater, einem Bambussammler, zur geheimnisvollen Schönheit herangewachsen, provoziert ungewollt die Werbung von Edelleuten und König und letztlich tödliche Auseinandersetzungen. Wer sich Zeit nimmt für diese Mond-ErdeTanzmetaphorik zwischen der in extrem verlangsamter Bewegung versunkenen Mondfrau, den leidenschaftlichen Bewerbern und den folkloristisch dörflichen und kämpferischen Szenen, wird von Kylián und dem Nederlands Dans Theater fasziniert sein. GRA

Jiří Kylián: „Kaguyahime – The Moon Princess“ Nederlands Dans Theater, The Circle Percussion Ensemble (Arthaus) Thierry Malandain

Foto: Olivier Houeix

Magifique! Thierry Malandain, seit 1998 unermüdlich für sein Malandain Ballet Biarritz kreierend, vertanzte 2009 für sein „Magifique“ die Tschaikowsky-Orchestersuiten zu „Dornröschen“, „Schwanensee“ und „Nußknacker“. Im Making-of-Teil der DVD möchte der Choreograph sein Ballett als Spiegelung von Assoziationen zu Kindheit und Erwachsenenalter (eines Tänzers?) gesehen haben. Gewiss arbeitet er mit viel beturnten Exercice-Stangen und das Tanzgeschehen illusionistisch verdoppelnden Ballett-Spiegeln. Hie und da blitzen wohl auch Anklänge an die betreffenden Ballett-Versionen von Marius Petipa auf: „Die vier kleinen Schwäne“ als skurriles Männer-Quartett oder die charakteristischen Schwanen-Arme. Aber insgesamt erlebt man den „Dreiteiler“ eher als abstrakte Szenenfolge in einem durchgehend zwar akrobatisch überhöhten, aber bei Malandains begrenztem neoklassischmodernem Vokabular doch relativ monotonen Stil – der immerhin von seinem bewundernswert homogenen Ensemble wohltrainiert-ästhetisch präsentiert wird. GRA

Thierry Malandain: „Magifique – Tchaikovsky Suites“, Malandain Ballet Biarritz (Arthaus)

Jiři Kylián

Schwarz-Weiß-Denke In seinen „Black & White Ballets“ von 1995-97 für das exquisite Nederlands Dans Theater erweist sich Jiří Kylián als ganz großer Tanzschöpfer. Phänomenal seine Schritt- und Bewegungsvielfalt. Packend seine Pas de deux und trois mit immer andersartigen Hebefiguren, Griffen und bizarren Körper-Zusammenwachsungen („Sweet Dreams“). Aufregend phrasiert der oft weit in den Raum explodierende Tanz. Spannend aber auch, wenn eine Gruppe von Tänzern synchron auf jeweils begrenzter Tanzfläche nur skulptural agiert („Falling Angels“). Variiert und interessant seine Musikwahl zwischen Bach und Webern, Mozart und Steve Reich. Ebenso seine szenischen Ideen: Er lässt Männer bei komplexer Bewegung mit Fechtdegen tanzen („Petite Mort“) und bewegt Kostüme theatral hintersinnig als leere Menschenhüllen („No more Play“). Dabei ergeben sich, von oben gesehen, faszinierende geometrische Schwarz-Weiß-Bilder. Und das beste: Kylián erzählt nie – und doch sind seine Stücke dynamisch-emotional aufgeladen, mal albtraumhaft düster („Sarabande“), mal berstend vor skurrilem Humor („Six Dances“). – Ein Juwel. GRA

Neue Welten Komponistenportrait: Boris Tishchenko

Symphoniker der göttlichen Komödie Es gibt heute keinen Klassiker des 20. Jahrhunderts, dem solche konstante weltweite Begeisterung entgegenschlägt wie Dmitri Schostakowitsch. Doch was kommt danach? Schostakowitsch hatte zwei Lieblingsschüler: Mieczysław Weinberg und Boris Tishchenko. Weinberg wird allmählich international die überfällige Würdigung zuteil. Doch wer kennt Tishchenko, der zusammen mit Sergei Slonimsky zur führenden Kompositions- (und Lehrer-) Persönlichkeit der sogenannten Leningrader Schule heranreifte? Beide haben das russische symphonische Schaffen nach Schostakowitsch in großartiger und singulärer Weise bereichert und geprägt, mit eminenter Originalität, Kraft, Können und Fruchtbarkeit. Boris Tishchenko wurde 1939 in Leningrad geboren, wo er zeit seines Lebens wirkte und 2010 (nunmehr wieder St. Petersburg) starb. Er steht für ein symphonisch organisches Entwickeln und Formen. Die modernen Klangmittel, die Dissonanzen und massiven orchestralen Effekte sind, wie auch bei Slonimsky, Ausdrucksmittel innerer Prozesse und kein sensualistischer Selbstzweck eines sich produzierenden Individuums: „Echte Musik erscheint immer, als wäre sie gleichsam aus sich selbst heraus, ohne fremde Hilfe, entstanden. […] So spiegelt die Musik – und darin kommt sie wissenschaftlichen Erkenntnissen nahe – bestimmte objektive Gesetze wieder.“ (Tishchenko 1971) Endlich ist nun eine größere Zahl von Einspielungen seiner Werke hier erhältlich: Einige seiner Symphonien, darunter der fulminante Zyklus seiner fünf Symphonien zu Dantes ‚Divina commedia’, die 6 Streichquartette, Klaviersonaten etc.. Alles ist aus dem Erleben großen Zusammenhangs heraus verknüpft und hat die suggestive Anmutung geradezu filmisch konkreter Handlungsverläufe. Tishchenkos Sprache ist, bei aller Komplexität der Prozesse und der Details, im Grunde schlagend einfach und direkt, wie schon bei Schostakowitsch und Weinberg jedermann unmittelbar zugänglich, doch verliert er sich nie in Klischees und Langatmigkeiten, alles folgt dem Momentum oftmals zum Zerreißen gespannter Emphase. Ein Meister von zeitloser Größe. Christoph Schlüren Boris Tshchenko: „Dante Symphonies“ (alle erschienen bei Northern Flowers)

Jiři Kylián: „Black & White Ballets“, Nederlands Dans Theater (Arthaus) 43


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