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MODIGLIANI

Amedeo Modigliani, „Jeanne Hébuterne mit Hut und Halskette“, Paris 1917 (Privatsammlung)

©IMAGESELECT/ALAMY/HISTORY & ART COLLECTION

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AMEDEO MODIGLIANI

Geniale Kunst und Selbstzerstörung

Sein kurzes Leben stand im Zeichen von Kunst, Alkohol und Drogen. Der Bildhauer und Maler Amedeo Modigliani (1884-1920) aus Livorno war zu Beginn des 20. Jh. eine legendäre Figur in der Pariser Kunstszene. Heute erzielen seine Arbeiten astronomische Beträge. 2023 wird Modiglianis Leben von Johnny Depp und Al Pacino verfilmt.

TEXT RONALD KUIPERS

Im Sommer des Jahres 1884 liegt Eugenia Modigliani schnaufend im Bett. Nicht aufgrund der Hitze, sondern wegen der Wehen, welche die Geburt ihres vierten

Kindes ankündigen. Die Umstände sind alles andere als ideal. Eugenias

Ehemann Flaminio, ein Holz- und Steinkohlehändler, hat einige falsche Entscheidungen getroffen und musste Konkurs anmelden. Der Gerichtsvollzieher hat bereits alle Möbel in der reizvollen Wohnung beschlagnahmt. Zum Glück aber existiert eine alte Regelung, laut der das Bett einer Schwangeren (und alles, was darauf liegt) nicht mitgenommen werden darf. Dies nutzt die Familie

Modigliani geschickt aus: Sie stapeln all ihre Kostbarkeiten auf dem Bett der ächzenden Eugenia. So geschieht es, dass Amedeo am 12. Juli 1884 inmitten von teuren Kleidern,

Uhren, Schmuck und einem Service zur Welt kommt. Seine Mutter betrachtet die bizarre Situation als schlechtes Vorzeichen. Sie fürchtet, ihr Amedeo könnte ein schweres Leben vor sich haben.

Dedo

Der junge Amedeo, der auf dem Kosenamen Dedo hört, ist ein kleiner Hitzkopf, womit er in der jüdisch-italienischen Familie Modigliani nicht weiter auffällt. Unter den vielen Neffen, Nichten, Onkels und Tanten ist geistige Instabilität eher Regel als Ausnahme, wobei die Bandbreite von Suizid bis Verfolgungswahn reicht. Amedeo hat wenig Kontakt zu seinem Vater Flaminio (der oft auf Geschäftsreise ist), dafür ist er häufig mit Großvater Issac unterwegs, der bei der Familie lebt. Isaac leidet regelmäßig unter Nervenzusammenbrüchen, doch er ist sehr belesen und spricht sechs Sprachen. Amedeo hängt an Isaacs Lippen, wenn dieser über Kunst und Geschichte spricht, weshalb ihn seine Freunde fortan als den „Professor“ bezeichnen. Mit 14 bekommt Amedeo Typhus und hohes Fieber. Er fantasiert tagelang von intensive Farben. Als er genesen ist, beginnt er wie ein Besessener zu zeichnen und zu malen. Mutter Eugenia, selbst kunstbeflissen, ist davon überzeugt, dass das hohe Fieber Amedeos künstlerische Ader zum Leben erweckt hat. „Dedo macht nicht anderes als malen. Jeden Tag, den ganzen Tag über. Mit enormer Begeisterung!“ Da Amedeo auf der Schule nicht mehr viel leistet und sie weiß, dass ihn eine Karriere als Kaufmann oder Techniker todunglücklich machen würde, schickt Eugenia ihn beim Maler Guglielmo Micheli, einem Schüler von Großmeister Giovanni Fattori, in die Lehre. In Michelis Studio lernt Amedeo alle Aspekte der Malerei kennen. Von der Aktmalerei bis zur Arbeit unter freiem Himmel, von der Abbildung obskurer Gassen in Livorno bis zu Landschaften. Ein reicher Onkel ermöglicht Amadeo das weitere Studium an der Accademia di Belle Arti di >

Venezia, wo er in der reichen Malertradition der Lagunenstadt geschult wird. Im fernen Venedig entdeckt er außerhalb des Einflussbereichs seiner Familie ein Bohemienleben, das sich größtenteils in Kneipen und Bordellen abspielt - aufgeputscht von Hasch, Ether und Kokain. Das schmeckt nach mehr.

Grüne Fee

1906, als er 22 ist, bricht Amadeo nach Paris auf, jener Stadt in der jeder Künstler, der etwas auf sich hält, entdeckt werden möchte. Als das Geld, das ihm seine Mutter mitgegeben hatte, nach einigen Wochen aufgebraucht ist, schlagen Hunger, Kälte und Einsamkeit unbarmherzig zu. Amedeo trottet in den Künstlervierteln Montmartre und Montparnasse von der einen feuchten, von Ratten bewohnten Hütte zur nächsten. Häufig verschwindet er mit seinem spärlichen Hab und Gut wie ein Dieb in der Nacht kurz bevor er die Miete zahlen muss. Als „Bezahlung“ hinterlässt er Zeichnungen oder Skizzen. Bei Restaurants versucht er so, an Essen

©IMAGESELECT/ FINE ART IMAGES Amedeo Modigliani in seinem Studio, circa. 1915. zu kommen, doch fast niemand nimmt seine Werke als Bezahlung an. Mutter Eugenia schickt ihm regelmäßig Geld. Doch anstelle von Lebensmitteln kauft er hierfür meist Drogen: Hasch und Ether um sein Elend zu vergessen, Kokain um fokussiert zu bleiben und bis tief in die Nacht zeichnen zu können. In den Pariser Künstlerkneipen erarbeitet er sich schnell den Ruf eines Säufers mit einer Vorliebe für „die grüne Fee“ Absinth (mit über 50 Prozent Alkohol!). Aufkommende Talente wie Picasso, Diego Rivera und Landsleute wie Boccioni und Severini nehmen ihn nicht ernst, doch sie schätzen ihn als Stimmungskanone und – wenn er grad Geld hat – als Rundenschmeißer. Nach einiger Zeit beschließt Amedeo, das Ruder herum zu reißen. Er hat genug von der Malerei, vom mühsamen Mischen der Pigmenten, dem Gefummel mit Tuben und der Anfälligkeit der Leinwände. Auch ist er die Diskussionen über den „Stil der Zukunft“ leid: Der eine Künstler schwört auf den Expressionismus, der andere auf Kubismus und der nächste auf Futurismus. Amedeo will seinem eigenen Weg folgen. Er will Bildhauer werden. Dabei denkt er nicht an kleine Büsten, sondern an Monumente von kolossalen Ausmaßen, die für die Ewigkeit bestimmt sind.

Ausgemergelt

Amedeo bettelt auf Baustellen um Steinblöcke, erhält diese aber nur selten. Daher schleicht er nachts um Lücken in den Zäunen im Bau befindlicher Metrostationen, um sich heimlich des Materials zu bemächtigen. Die Köpfe, die Amedeo nun mit Engelsgeduld meißelt, sind häufig inspiriert von afrikanischen Masken oder Statuen aus Ägypten und Ozeanien: Kräftige, oft lang gezogene oder gar ovale

©ADOBE STOCK „Liegender Akt“, Paris 1917 (Privatsammlung). Dieses Gemälde verursachte in Paris Aufruhr, weil es anstößig sei. 2015 wurde es bei Christie’s für über 170 Millionen Dollar versteigert.

Modigliani macht Skulpturen aus Farbe. Mit seiner warmen Farbpalette beruft er sich auf Großmeister wie Tizian und Carpaccio

Köpfe, die auf rundlichen Nacken ruhen. Nützliche Tipps erhält er von seinem rumänischen Kollegen (und ehemaligen Schäfer) Brancusi, der schon länger nach der „absoluten Form“ sucht. Für seine Obsession, ein erfolgreicher Bildhauer zu werden, zahlt Amadeo einen hohen Preis. Gelang es ihm dank seines charakteristischen Hutes, roten Schals und Cordjackets trotz seiner Armut jahrelang gepflegt auszusehen, so beginnt er nun zu verlottern. Eines Tages trifft ein Freund ihn bewusstlos in seinem Studio an, ausgemergelt und ungepflegt. Der Freund sammelt Geld, damit Amedeo zu seiner Mutter nach Livorno reisen kann, um dort zu Kräften zu kommen. Mutter Eugenia ist erschrocken, als sie ihren Sohn nach vielen Jahren wiedersieht. Wo ist der hübsche junge Mann geblieben, der einst mit so vielen Träumen nach Paris gegangen ist, um ein berühmter Künstler zu werden? Stattdessen sieht sie einen abgemagerten Clochard vor sich, mit fahler Haut, schlechten Zähnen und ohne Haarschnitt. Seine zerrissene Hose hängt an einer Kordel um die mageren Hüften. Amedeo lässt sich eine Weile von seiner Mutter verwöhnen, doch sobald er sich stark genug fühlt, kehrt er nach Paris zurück. Dort muss er feststellen, dass seine schlechte Gesundheit eine weitere Karriere als Bildhauer unmöglich macht. Das Schlagen und Schleifen von Stein verursacht eine Menge Staub, weshalb sich der in jungen Jahren an Tuberkulose erkrankte Amadeo bei jedem Arbeitsvorgang die Lungen aus dem Leib hustet. 1914 schmeißt er den Beitel endgültig hin und kehrt er zur Malerei zurück. Stilistisch aber baut er dabei auf seinem bildhauerischem Werk auf, indem er Porträts mit plastischen Flächen anfertigt, deren dunkle Umrandung sie scharf vom Hintergrund absetzt. Ein Kritiker bemerkt: „Modigliani macht Skulpturen aus Farbe“. Mit seiner warmen Farbpalette beruft sich Amedeo auf Großmeister wie Tizian und Carpaccio, die er während seines Studiums kennengelernt hat. Sein Stil kommt immer besser an, auch >

Amedeos bescheidene Erfolge rufen bei ihm den Druck hervor, mehr und schneller zu malen. Er kann nur noch mit Schnapsflaschen in Reichweite arbeiten

dank des Einsatzes seines Agenten Leopold Zborowski. Seine Gemälde hängen nun in einigen Galerien, die wahrhaftig Bilder verkaufen. Lumpensammler

Vom Erlös kauft Amedeo in einer Anwandlung einen teuren Anzug, mit dem er durch Paris stolziert. Noch am selben Abend aber betrinkt er sich dermaßen, dass er sprichwörtlich in der Gosse landet; sein Anzug ist ruiniert. Dies aber ist nicht der einzige Aufruhr, den er verursacht. So kennt er nicht die geringste Scham bei der Abbildung seiner Nacktmodelle. 1917 platziert er fünf Nackte gegenüber einer Polizeiwache. Die Beamten beenden diese Darbietung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Amedeos bescheidene Erfolge rufen bei ihm den Druck hervor, mehr und schneller zu malen, was wiederum seine Abhängigkeit von Drogen, Nikotin und Alkohol ver schlimmert. Er kann nur noch arbeiten, wenn sich mehrere Flaschen Schnaps in Reichweite befinden. Ein Journalist scherzt in diesem Zusammenhang, dass Modiglianis berühmte „Schwanenhälse“ vielleicht deshalb entstanden sind, weil er seine Modelle immer durch den gebogenen Hals einer Absinthflasche gesehen hat. Alkohol und Drogen hinterlassen derweil ihre Spuren. Der einst so höfliche und verlegene Amedeo wird zu einem sarkastischen und verbitterten Lumpensammler, der ohne Grund Freunde beleidigt und beschimpft. In Kneipen sucht er Streit mit anderen Künstlern. Sogar dem alternden Maler Renoir gegenüber verhält er sich unhöflich. Als dieser bei einer zufälligen Begegnung erklärt, stolz auf die wohlgeformten,

©IMAGESELECT/ALAMY/ MAIDUN COLLECTION „Porträt eines rothaarigen Mädchens„ (wahrscheinlich Modiglianis Freundin Jeanne Hébuterne), Paris 1918 (Privatsammlung) „Porträt des Malers Chaim Soutine“, Paris 1917 (Washington, National Gallery of Art)

ONLINE 1 ©IMAGESELECT/GRANGER/F

rosige Gesäße zu sein, die er so häufig malt, antwortet Amedeo schroff: „Ich mag keine Hintern.“ Auch seiner eigenen Arbeit gegenüber wird Amedeo immer kritischer. Er arbeitet manisch bis tief in die Nacht, doch wenn ihm das Ergebnis nicht zusagt, zögert er nicht, eine Zeichnung oder ein Gemälde in einem Anflug von Raserei zu zerreißen. Auch die Beziehungen, die Amedeo mit einigen seiner weiblichen Modelle hat (und die dem Vernehmen nach einige uneheliche Kinder zur Folge haben) enden stetes in Streit, Handgemengen oder Tränen.

Ein Kind der Sterne

Als Amedeo 1917 die 14 Jahre jüngere Pariser Kunststudentin Jeanne Hébuterne trifft, scheint Ruhe in sein Leben einzukehren. Jeanne, die aus dem bürgerlichen Milieu stammt, ist vom Bohemien Modigliani tief beeindruckt und unterstützt ihn, wo sie kann. Ein Jahr darauf bekommt Jeanne zur großen Freude des stolzen Amedeo ein Töchterchen. Doch Amedeos destruktives Verhalten gewinnt bald wieder Oberwasser. Wieder macht er bis tief in die Nacht die Kneipen von Paris unsicher. Er beginnt immer heftiger zu röcheln. Als er auch noch Blut hustet, weiß er dass er zum zweiten Mal Tuberkulose hat. Dennoch geht er so lange weiter aus, bis sein geschwächter Körper ihm dies nicht mehr gestattet. Ende 1919 trifft ein Freund Amedeo in seinem eiskalten Studio an. Vor Fieber schwitzend liegt er im Bett, während Jeanne neben ihm sitzt, hochschwanger mit ihrem zweiten Kind. Um sie herum liegen leere Weinflaschen und offene Sardinen büchsen auf dem Boden. Sardinen sind das einzige, was Amedeo zu diesem Zeitpunkt noch verträgt. Als Amedeo ins Koma fällt, wird er eilig ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte können ihm nicht mehr helfen, die TBC-Bakterien haben seine Hirnhaut angegriffen. Er stirbt am 24. Januar 1920 im Alter von 35 Jahren. Jeanne verfällt in einen Schock. Da ihre Familie fürchtet, dass sie sich etwas antun könnte, beschließt ihr Bruder, auf sie aufzupassen.

„Kopf mit Karyatiden“, (Museo all’Aperto, Bilotti )

Doch als er am Morgen wegdämmert, sieht Jeanne ihre Chance: Sie öffnet das Fenster der elterlichen Wohnung im fünften Stock eines Pariser Appartmentkomplexes und stürzt sich rücklings in die Tiefe. Weder sie noch ihr ungeborenes Kind überleben den Sturz. Amedeo wird auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise beerdigt, wo einige Jahre später auch Jeanne beigesetzt wird. Amedeos Agent Zborowski schreibt der Familie Modigliani: „Er war der talentierteste Künstler unserer Zeit, ein Kind der Sterne, für das die Wirklichkeit nicht existiert.“ Bald darauf schießen die Preise für Amedeos Werke förmlich in die Höhe. •

TIPP

©IMAGESELECT/ALAMY/REALYEASYSTAR/VINCENZO CAROLEO

Geburtshaus

2023 wird Amedeos bewegtes Pariser Bohemienleben von Johnny Depp (Regie) und Al Pacino (Produzent) verfilmt. Wer schon vorher mehr über Amedeos Werk und Leben wissen möchte, kann in Livorno (nach Absprache) sein Geburtshaus besuchen. casanatalemodigliani.it

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