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HEXEN AM LAGO MAGGIORE

Die schöne Hexe aus Novara

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Attraktive, kluge und frei denkende Frauen hatten im Piemont lange einen schweren Stand. 1610 landete die 20-jährige Antonia als Hexe auf dem Scheiterhaufen. Sie war das letzte Opfer des Bischofs von Novara, der in den Frauen eine Gefahr für die bestehende Ordnung sah. Eine Spurensuche in einer zauberhaften Umgebung.

Unten: Paola Todeschino Vassalli. Rechts: Croveo, Novara, Hexenschild im Piemont W er sich Novara bei Dunkelheit nähert, staunt schon von Weitem über einen hell erleuchteten Turm. Bei genauerem Hinsehen entpuppt er sich als eine Basilika mit Kuppelturm. Mehrere Säulenetagen, die sich nach oben hin verjüngen, treiben ihn auf die erstaunliche Höhe von 121 Metern. Mit Zauberei hat die Statik der Basilika San Gaudenzio nichts zu tun, vielmehr verdankt sie ihre Existenz der glänzenden Ingenieursleistung von Alessandro Antonelli (1798-1888), der zu den ehrgeizigsten Architekten seiner Zeit gehörte. Der Baumeister besaß zudem die geheimnisvolle und nützliche Gabe, dem Stadtrat von Novara immer mehr Geld abzuringen, um den Sakralbau nach seinen Vorstellungen zu vollenden. Einzigartig solle er werden, versprach er den Steuerzahlern von damals. Seither sorgt der Turm mal für staunende und dann wieder fragende Blicke. Angekettet

Neuerdings können Besucher den Turm sogar besteigen, da sich im Inneren der Kuppel eine Treppe hinauf windet. Als ginge es um die Absolvierung einer anspruchsvollen Gratwanderungen, rüsten wir uns mit Gurt, Helm und Karabiner. Einmal oben, öffnet sich ein famoser Blick, der an klaren Tagen bis zum zweithöchsten Gipfel der Alpen reicht, dem Monte Rosa. Das ist heute nicht der Fall, doch immerhin können wir die leuchtend grünen Reisfelder erkennen, die sich nahe der 100.000-Einwohnerstadt Novara ausbreiten. Diese Felder, auf denen der weltweit begehrte Arborio-Reis gedeiht, waren einst die Kulisse für ein düsteres Kapitel der piemontesischen Geschichte, das seinen Ursprung in Novara hatte. Gut 13 Kilometer westlich der Stadt liegt auch die Heimat von Sebastiano Vassalli, der inmitten der Reisfelder einen kleinen Bauernhof mit einem hübschen Obstgarten bewohnte. Der Schriftsteller (19412015) mag in weiten Teilen der Welt unbekannt sein, in Italien ist er eine Berühmtheit, der in seinem Todesjahr gar für den Literaturnobelpreis nominiert war. Hauptgrund für seine Popularität ist der Roman „La Chimera“, der auf Deutsch unter dem Titel „Die Hexe aus Novara“ erschien.

Bildhübscher Sündenbock

Das Buch basiert auf der wahren Geschichte des Findelkinds Antonia, die in einem Kloster in Novara aufwächst, um etwa 1600 im Alter von zehn Jahren wie eine Sklavin verkauft zu werden. Zunächst hat das Mädchen Glück, denn eine Bau-

Diese Felder, auf denen der weltweit begehrte Arborio-Reis gedeiht, waren einst Kulisse eines düsteren Kapitels der piemontesischen Geschichte

ernfamilie nimmt sie wie eine Tochter auf. So bleibt ihr das Schicksal der Wanderarbeiter erspart, die unter erbärmlichen Bedingungen in den Feldern schuften, um Italien mit Reis zu versorgen. Schon früh fällt Antonia durch ihr Engagement für die Arbeiter auf. Je älter sie wird, desto aufgeschlossener und schöner wird sie. Als ein Maler sie als Modell für ein Kirchenfresko auswählt, muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, sich auf eine Stufe mit einer Madonna zu stellen. Dann erhält ein neuer Bischof Einzug in Novara, der das Volk für Untertanen hält und die Menschen förmlich dazu zwingt, die Messe zu besuchen und stets höhere Abgaben zu leisten. Auch schürt der Geistliche bewusst �ngste in der ungebildeten Bevölkerung; Freigeister wie die überall beliebte Antonia sind ihm ein Dorn im Auge. Als die junge Frau schließlich auch noch mit einem Protestanten auf Durchreise anbandelt, verbannt er sie aus der Kirche. Fortan macht er Antonia für Krankheit, Tod und alles Unglück verantwortlich, das den Menschen der Region widerfährt. Die junge Frau wird dämonisiert und trotz der Fürsprache von Familie und Freunden zur Hexe erklärt. 1610 ist sie die letzte Frau, die in Novara auf dem Scheiterhaufen umgebracht wird.

Wieder zum Leben erweckt

Der Schriftsteller Sebastiano Vasselli hat die Geschichte auf zugleich packende und abstoßende Weise aufgezeichnet. Seine Witwe, Paola Todeschino Vassalli, erzählt auf dem Hof wie er bei der Recherche für ein anderes Buch auf Antonias Schicksal gestoßen war. In der Folge hat er immer weiter in historischen Quellen recherchiert. Das in weiten Teilen streng katholische Italien mag dankbar gewesen sein, dass dieses düstere Kapitel weitgehend in Vergessenheit geraten war. Doch Vassalli war fest entschlossen, es zu rekonstruieren. 1990 erschien „La Chimera“ und erregte internationales Aufsehen. In Italien >

Sebastiano Vassali, Die Hexe aus Novara, zurzeit nur gebraucht erhältlich

TIPPS

SEHEN & TUN • Cascina Marangana

Das Haus des Schriftstellers Sebastiano Vassalli ist auf Anfrage öffentlich zugänglich. Kontakt über das Tourismusbüro (www.turismonovara.it). Mittelfristig soll es zu einem Museum umgebaut werden. wurde der Roman sogar in den Schulkanon aufgenommen. Laut Paola Todeschino hat ihr Mann sein Ziel erreicht: „Sebastiano war davon überzeugt, dass Literatur Leben retten kann. Auch posthum.“ So ist das Schicksal der Antonia im heutigen Piemont weithin bekannt. Auch in einem umwerfend schönen Restaurant stoßen wir auf sie. Das Pane Amore Poderia serviert in den Sommermonaten in einem umgebauten Stall köstliche Regionalküche wie ein Risotto mit Gorgonzolasoße und Lavendel. Während unser Blick auf fünf nebeneinander errichtete Gotteshäuser fällt, die wie Babuschkas immer größer werden, weht uns ein angenehmer Wind um die Ohren. Wir staunen nicht schlecht, als uns hier ein Wein namens „La Chimera“ serviert wird. Winzer Roccolo Bellini keltert ihn an den Hängen des Dorfes Mezzomerico aus Nebbiolo-Trauben. Der Wein mit dem klingenden Namen bleibt nicht der einzige Hinweis auf die Hexe und vermeintlich übersinnliche Kräfte.

Hexenwerk!

Auf dem Weg in Richtung Norden begegnen wir immer wieder Phänomenen, für die übersinnliche Kräfte verantwortlich gemacht wurden. Doch auch der Katholizismus hat vielerorts sehenswerte Spuren hinterlassen. In Oleggio etwa die Basilica di San Michele. Die romanische Kirche geht auf das 11. Jh. zurück und begeistert mit gut erhaltenen Freskos. Weiter nördlich bei der Ortschaft GatticoVeruno stoßen wir in einem Wäldchen auf einen enormen Findling: 8 mal 3,5 m misst der fünf Meter Brocken. In der frühen Neu-

Alltag am Ortasee.

Wir staunen nicht schlecht, als uns hier ein Wein namens „La Chimera“ serviert wird. Er bleibt nicht der einzige Hinweis auf die Hexe“

zeit konnte man sich nicht erklären, wie er hierher gekommen war. Von der Eiszeit und den Kräften der Gletscher wussten sie nichts. So kursierte auch hier eine Theorie: Hexenwerk! Langsam nähern wir uns dem Lago d’Orta. Der kleinste der großen italienischen Alpenseen ist von solch betörender Schönheit, dass sich hier wohl niemand über den Verdacht der Hexerei wundern würde. Dessen ungeachtet, schlendern wir direkt am Ufer über einen befestigten Weg und beobachten ein paar Urlauber, die sich auf Luftmatratzen und kleinen Bötchen treiben lassen. Zu Lande sehen wir eine atemberaubende Villa neben der anderen. Der italienische Geldadel weiß eben schon lange, wo es sich gut leben lässt. Bald entdecken wir einen venezianisch anmutenden Bau mit karmesinroter Fassade. Es ist die Villa CurioniMazzetti, die sich in Privatbesitz befindet. Wie Einheimische uns anvertrauen, war der Bau einst ein Hotel. Lange davor hat sich auch hier Unerklärliches abgespielt: Von außen unsichtbar, geht die Villa in eine >

Sommerliche Gerichte im La Darbia.

TIPPS

ESSEN & TRINKEN • Pane Amore Poderia

Schönes Restaurant mit schattigen Plätzen unter freiem Himmel und hervorragendem Risotto. Dazu ein guter Feinkostladen. Vicolo della Chiesa, 4, Casalbeltrame, paneamorepoderia.it

• Tavoli in Salumeria Moroni

Einfaches Lokal mit lokalen Wurst- und Schinkensorten sowie anderen Leckereien. Via degli Avogadro 5b, Novara, Tel. +39 388 474 7093

TIPPS

ESSEN & TRINKEN • Biscottificio Camporelli

Historische Keksfabrik in Novara. Vicolo Monte Ariolo, 3, Novara, camporelli1852.it

• Il Roccolo di Mezzomerico

Weingut, das aus NebbioloTrauben den „La Chimera“ herstellt. Via Volta, Mezzomerico, ilroccolovini.it Grotte über, wo einst die Stoßzähne eines Wals gefunden wurden. Es bedarf wohl keiner weiteren Erklärung, welche Kräfte dafür verantwortlich gemacht wurden. Betörend schön

Unumstrittener Blickfang ist das am Ostufer des Sees gelegene Orta San Giulio. Mit seinen verschlungenen Gassen und den farbenfrohen Häusern an der großzügigen Piazza sieht das Dorf aus wie gemalt. Als würde das nicht genügen, baut sich in Sichtweite eine Insel auf. Kleine Boote mit kernigen Kapitänen bringen Besucher auf das Eiland. Eine Legende besagt, dass die Isola San Giulio ein gefährliches Schlangennest war, bevor sie von Siedlern christianisiert wurde. Uns zieht es tiefer in die Berge. Vorbei am Nationalpark della Val Grande steuern wir das OssolaTal an, das an zwei Seiten von den Schweizer Alpen eingerahmt wird. Eine entlegene Region

„Mit dem jährlichen Hexenfest wollen wir das Negative wegnehmen, mit dem unsere Kultur belastet ist.“

des Piemont, wo Novara bis heute weit weg zu sein scheint und der Einfluss des Bistums stets gering war. Croveo liegt auf knapp 900 Metern, weshalb es hier auch im Hochsommer spürbar kühler als in der Ebene ist. Im Dorf begegnen wir Kletterern, die es von Frankreich und Spanien aus hierher verschlagen hat. Abgesehen von den hektisch bimmelnden Glocken einer Kirche aber geht es sehr bedächtig zu. Als wir uns in die von kleinen Steinhäusern mit winzigen Fenstern flankierten Gassen vorwagen, wähnen wir uns in einem archaischen Ort. Vor einer Kapelle treffen wir Luise, die uns von der düstersten Zeit des Dorfes berichtet: Zwischen 1609 und 1611 wurden hier in einem aufsehenerregendem Prozess 21 Frauen und zehn Männer der Hexerei bezichtigt. Es waren vor allem Leute, die sich mit der heilenden Kraft von Bergkräutern auskannten. Katholische Inquisitoren aus Novara allerdings witterten Ungemach. Da das OssolaTal ganz in der Nähe zur Schweiz liegt, pflegten die Bewohner einen regen Austausch mit den Helvetiern. Diese aber waren schon damals calvinistische Protestanten – und somit war der Teufel nah! Für die Katholiken, erklärt Luise, war das Anlass hart durchzugreifen: Die Angeklagten wurden wegen Hexerei zu langen Haftstrafen verurteilt, zehn von ihnen starben im Gefängnis. Heilende Kräfte

Es hat lange gedauert, bis sich Croveo und die umliegenden Dörfer von der Vergangenheit emanzipiert hatten. Seit 2015 gibt es ein jährliches Hexenfest: „Damit“, so Luise, „wollen wir das Negative wegnehmen, mit dem ein Teil unserer Kultur belastet ist.“ Wie das aussehen kann, zeigen sechs Frauen, die sich in der Kooperative Erba Böna zusammengeschlossen haben. Gemeinsam wecken sie das Erbe ihrer >

Links: Elegant gekleidete Dame am Ufer des Lago Maggiore. Diese Seite im Uhrzeigersinn: Wappen auf dem Landgut von Sebastiano Vassali; der Kuppelturm von Novara; Madonna in der Kirche von Cavandone.

TIPPS

ESSEN & TRINKEN • La Darbia

Prächtiges Feinschmeckerlokal mit eigenem Gemüsegarten hoch über dem Lago d’Orta. Via per Miasino, Vacciago, ladarbia.com

• Locanda Lo Scoiatollo

Volkstümliches Lokal auf einem Platz im Bergdorf Villette. Spezialität: Risotto mit Blaubeeren und Pasta mit Steinpilzen. Piazza Emma Brindicci Bonzani, 7, Villette, locandaloscoiattolo.it

SEHEN & TUN • Cupola di San Gaudenzio

Die Kuppel der Kathedrale von Novara kann über Treppen bestiegen werden. Hierzu ist eine spezielle Ausrüstung erforderlich, die Besucher vor Ort bekommen. Via Gaudenzio Ferrari, 13, Novara, Freitag bis Sonntag von März bis November, € 15, kalata.it

• Consorzio Erba Böna

Ladenlokal der BergkräuterKooperative bei Crodo. Località Verampio, 20, Crodo, erbabonavco.it

Im Uhrzeigersinn: Der Markt von Orta San Giulio; „moderne Hexen“ bei Erba Böna; Aperitivo im La Darbia.

TIPPS

SEHEN & TUN • Tones Teatro Natura

Freilufttheater in einem ehemaligen Steinbruch im Ossola-Tal. Via Valle Formazza, Oira, tonesteatronatura.com

ÜBERNACHTEN • Hotel Cavour

Stadthotel in bester Lage zur Erkundung von Novara. Via S. Francesco D'Assisi, 6, Novara, hotelcavournovara.com

• Hotel Belvedere

Schönes Hotel in den Bergen bei Croveo mit modernen Zimmern und herrlichem Fernblick. Frazione Mozzio, 37, Crodo, belvederemozzio.it

INFORMATIONEN

• turismonovara.it • visitossola.it • lagodorta.piemonte.it • visit-lakemaggiore.com

„Früher hätten wir auch als Hexen gegolten“. Heute ist der biozertifizierte Betrieb ein florierendes Unternehmen

Vorfahren zu neuem Leben, indem sie auf den Bergwiesen in großem Stile Heilkräuter sammeln. Laut Vittorina Prina ist Johanniskraut als natürliches Antidepressivum heute besonders gefragt. Malve wirke gegen Malaisen aller Art: „Das haben wir von unseren Omas gegen Zahnschmerzen bekommen.“ Auch Enzian, Eisenkraut und andere Gewächse verarbeiten die Kräuterfrauen zu Tees, Bonbons, Schnäpsen und Seife. „Früher“, sagt Vittorina, „hätten auch wir als Hexen gegolten“. Heute ist der biozertifizierte Betrieb ein florierendes Unternehmen. Am Abend haben wir noch eine Verabredung mit Antonia, der vermeintlichen Hexe aus Novara. Ihre Geschichte ist unter dem Titel „The Witches Seed“ zu einem langen Musikstück geworden und wird an diesem Abend im Tones Teatro Natura uraufgeführt. Der ehemalige Steinbruch scheint eine perfekte Kulisse für das Stück, das aus der Feder zweier Rockstars stammt: Stewart Copeland, Schlagzeuger von The Police, und Chrissie Hynde, Sängerin der Pretenders. Doch als Oper angekündigt, entpuppt sich das Werk als sperriges Musical mit einem Hang zum Kitsch. Aber die Lichtprojektionen auf dem Gestein wissen zu gefallen. Antonia hätte Besseres verdient. Es bleibt der Trost, dass der Schriftsteller Sebastiano Vassallo der „Hexe“ ein Leben nach dem Tod verliehen hat. •

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