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Über den Tellerrand blicken: eine Redewendung, die seit den 1950er Jahren ihren Einzug in den deutschen Sprachschatz gefunden hat und uns dazu aufruft, neue Eindrücke zu gewinnen, offen für Neues und Ungewohntes zu sein und zu sehen, was andere Menschen andernorts machen. Dieses Mal im Blick von Thomas Philipp: die estnische Hauptstadt Tallinn. Mit circa 444.000 Einwohner*innen leben etwas mehr als doppelt so viele Menschen in Tallinn als in Linz. Die 80 Kilometer südlich von Helsinki an der Ostsee liegende Stadt hat seit der Jahrtausendwende immer wieder im innovationspolitischen Kontext auf sich aufmerksam gemacht. Weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist beispielsweise, dass 2003 die kostenlose VoIP-Software Skype hier entstanden ist und seit 2013 die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln für Einwohner*innen mit elektronischer Fahrkarte kostenlos ist. Als weitaus größte estnische Stadt bildete Tallinn in den vergangenen Jahrzehnten das Zentrum des wirtschaftlichen Aufschwungs im „baltischen Tigerstaat“. Dessen Kennzeichen: eine stark wirtschaftsliberale Agenda, der weitgehende Abbau von bürokratischen Hürden, niedrige
Unternehmenssteuern, konsequente Expansion von Exporten, zumeist starkes Wirtschaftswachstum bei niedriger Arbeitslosigkeit, gleichzeitig aber auch mitunter rigide Sparkurse im Gesundheits- und Sozialbereich sowie soziale Ungerechtigkeiten zwischen den gesellschaftlichen Schichten. In Tallinn selbst haben sich in diesem Umfeld in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreiche internationale Technologieunternehmen wie Ericsson, Nokia und Philips angesiedelt. Die Stadtregion wird manchmal auch als das europäische Silicon Valley bezeichnet und punktet immer wieder in entsprechenden Rankings, vor allem wenn es um Innovation, Digitalisierung und Entrepreneurship geht. Der Zuzug von jungen und gebildeten Menschen hat ein weitreichendes kreatives Milieu geschaffen und Tallinn zu den europäischen Städten mit der höchsten Anzahl an Start-upGründungen pro Kopf gemacht.
der öffentlichen Hand wie etwa das im Jänner 2017 gestartete Estonian Startup Visa, das es jungen Menschen ermöglicht, auch von außerhalb der EU nach Estland einzuwandern. Die relative Kleinheit des Landes mit circa 1,3 Millionen Einwohner*innen und Tallinn als verdichtetem Zentrum in der Mitte ermöglicht kurze Wege und schafft ein Klima einer kollegialen kreativen Community. Besonders förderlich für die Start-ups sind die einfachen und kostengünstigen Möglichkeiten einer Unternehmensgründung. Im Rahmen einer E-Residency kann online in nicht einmal drei Stunden ein internationales EU-Unternehmen gegründet und übers Internet unabhängig vom physischen Standort verwaltet werden. Seit dem Start des E-Residency-Programms im Dezember 2014 wurden so insgesamt mehr
Tallinn
Unternehmensgründung in drei Stunden Das dynamische Wachstum der Start-up-Szene in Tallinn wird von verschiedenen Faktoren begünstigt. Dazu zählen gezielte Maßnahmen
Anderswo:
Text: Thomas Philipp, Fotos: wall prints: Estonian Design Team, Tallin Old Town: Kaupo Kalda, e-residency: e-residency, Iseauto: TalTech, taltech campus: TalTech