Classmatterszine

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CLASS MATTERS!

**we are born happy 足 the rest is capitalism***





Das bisschen (Polit-)Arbeit macht sich von allein…? Wenn in (links-)politisch arbeitenden Kontexten über „Arbeit“

gesprochen wird, dann ist meist der erklärte Gegenentwurf zum „freien Leben“ gemeint: die Lohnarbeit. Der 9to5-Alptraum der um die 40 Stunden in der Woche klaut und in dem keine_r landen möchte. Was ist aber mit der ganzen Arbeit, die in Gruppen, Plena, VoKü´s, Orga-Teams, auf Bühnen und dahinter, in Lautis, hinter Tresen, an Mischpulten und vielem mehr geleistet wird? Dieser Text möchte die Sinnhaftigkeit dieser Arbeit gar nicht anzweifeln oder in Frage stellen, dass Polit-Arbeit auch konkrete Umverteilung von Privilegien bedeuten kann, aber aufzeigen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der unbezahlte Arbeit in Polit-Gruppen vorausgesetzt wird problematisch ist. Betsy Leondar Wright ist Autorin von „Class Matters, Cross-Class alliance building for Middle-Class Activists“. Für sie ist ein Selbstverständnis, das Bereitschaft zu ehrenamtlicher Arbeit voraussetzt und auch für alle Mitglieder einer Community für möglich hält, Teil einer „middle-class progressive culture“. Demnach ist die oben beschriebene, nicht bezahlte Arbeit an das Selbstverständnis, den Möglichkeiten und den Grundwerten von Mittelklasseaktivist_innen angepasst. Für sie ist diese Haltung resultierend aus einer (progressiven) Mittelklasse-Sozialisation, in der ehrenamtliche Arbeit zum „guten Ton“ gehört und auch dementsprechend mit sozialer Anerkennung – innerhalb der eigenen Klasse – honoriert wird.


Nicht

bezahlte

Arbeit

leisten

zu

können

soll

hier

nicht

problematisiert werden – das Problem ist die Selbstverständlichkeit, mit der vorausgesetzt wird, dass sich alle Mitglieder einer Community diese Arbeit – im wahrsten Sinne des Wortes – leisten können. In den wenigsten Gruppen werden die materiellen Möglichkeiten der einzelnen Gruppenmitglieder reflektiert oder Umverteilungen in Erwägung gezogen. Im Gegenteil müssen sich Gruppenmitglieder, die auf Lohn-Arbeit angewiesen sind, rechtfertigen, dass sie sich von dieser Form von Arbeit die Zeit klauen lassen. In den wenigsten Fällen wird darüber geredet, wer sich über welche Kanäle finanziert und dadurch mehr oder weniger Möglichkeiten hat Zeit aufzubringen. In der Abwertung von Lohn-Arbeit gibt es Abstufungen. Die_der Grafiker_in mit Szene-Anbindung wird wahrscheinlich noch öfter in ihrer_seiner Rolle als Arbeitende_r adressiert werden, um Plakate, Flyer und Broschüren – selbstverständlich günstiger oder kostenfrei – zu entwerfen als Arbeiter_innen, die in weniger (szene-)verwertbaren Berufsgruppen ihren Lebensunterhalt verdienen. Angemessene Bezahlungen auch für Szene-Arbeit zu fordern würde wahrscheinlich höchste Irritationen auslösen. Stellen wir uns vor, beim nächsten Plenum würde bei der Diskussion um die unterbesetzten VoKü-Tresenschichten eine_r fordern, für die Anwesenheit äquivalent zu seinem_ihrem Job nach Stunden bezahlt zu werden, weil sie_er sie sich unbezahlte Tresenarbeit nicht leisten kann. Eine solche Forderung würde mehreres bedeuten. Zum einen würde sie auf provokante Art und Weise das oben beschriebene dominante Mittelklasse-Selbstverständnis angreifen. Einen gesellschaftlich unausgesprochenen Konsens aufbrechen, der sich auch in Polit-Gruppen fortsetzt: Dass über


Geld nicht gesprochen wird. Wer wie viel hat, wer sich was leisten kann, wer sich gerade so finanzieren kann und wer welche Jobs machen muss – oder sich aussuchen kann. Zum Anderen würde eine Praxis in Frage gestellt, in der meist weit mehr als in der Horror-Vision der 40-Stunden-Woche gearbeitet wird (oft in einem Klima gegenseitiger Erwartungshaltungen statt positiver Anerkennung von Leistungen) und eine – wenigstens materielle – Wertschätzung dieser Arbeit gefordert wird. Dass solche Forderungen nicht gestellt werden hat viele Gründe – einer der entscheidensten ist wohl der oben schon erwähnte: Dass über Geld und vor allem die damit verbundenen Privilegien nicht gesprochen wird. Dass Polit-Arbeit grundsätzlich als unbezahlte Arbeit vorausgesetzt wird und daraus strukturelle Ausschlüsse für Leute entstehen, die nicht über ausreichende materielle Ressourcen verfügen, um diese Arbeit überhaupt machen zu können – oder zu wollen.

Dass heißt nicht, dass es nicht Working-Class oder Poverty-Class Aktivist_innen gibt. Der schweigende Konsens, nach dem sich das bisschen Polit-Arbeit – wie der auf im Titel angespielte und von Johanna von Koczian besungene Haushalt – von alleine macht, schafft aber ein Klima, das eine Kritik an klassistischen Praxen erschwert bis verunmöglicht. Dass „Klasse“ als Diskriminierungskategorie – also Klassismus – so gut wie gar nicht thematisiert wird ist erstaunlich. Die Effekte dieser Diskriminierung werden – anders als bei anderen -ismen – im deutschsprachigen Raum kaum diskutiert. Während eine Suche nach „classism“ eine Fülle an englischen Informationen und Plattformen ergibt, scheint die Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum Ende der 1980er Jahre abzureißen.


Während Hannelore Bublitz und Gabriele Theling Anfang/Mitte der 1980er Jahre noch wütende Statements über ihre Erfahrungen als Arbeiter_innentöchter an Universitäten und den damit verbundenen Diskriminierungserfahrungen verfassten und diese auch in Form ihrer Abschlussarbeiten veröffentlichten, scheint diese Perspektive in den bewegten Folgejahren trotz starker politischer Bewegungen wenig bis gar nicht konsequent weiter thematisiert und ausgearbeitet worden zu sein

.

So erstaunt es nicht, dass sich klassistische Vorurteile, Praxen und Sprache auch in linkspolitisch arbeitenden Gruppen wieder finden. Wer denkt schon darüber nach, dass Zuschreibungen wie „prollig“ oder „Prolo“ eine Abwertung von Angehörigen der Arbeiter_innenklasse oder Unterschicht ist? Dass oft eine universitäre Bildung voraus gesetzt wird? Dass diese Bildung als „höhere Bildung“ bezeichnet wird? Dass es bei den wenigsten Events, Fortbildungen, etc. eine Outing-freie Staffelung in der Bezahlung gibt? Dass klassenspezifischer Habitus nicht ausreichend thematisiert wird? Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die Aufforderung darüber nachzudenken, dass es ein Privileg sein kann, unbezahlte Arbeit zu leisten ist als Impuls gedacht, diese Überlegungen (wieder) stärker in politische Praxen einzubinden und Mittelklasse-Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen.




We r od e r wa s i st h i e r e i g e n tl i ch K . M ü l l ? Das ist eine der Fragen, die ich mir immer wieder stellen muss. Nicht, weil ich denke, dass irgendwer Müll sein kann – sondern weil es offenbar normal ist, Leute als Müll wahrzunehmen, zu bezeichnen, sich über sie lustig zu machen und die darüber vorgenommene eigene Aufwertung schamlos zu präsentieren. „Geiler Trash!“ Das ist einer der Zweiwortsätze, die mir den Unterschied zwischen „denen“ und „mir“ oft schneller deutlich machen als mir lieb ist – gerade, wenn es sich um Freund_innen, Politgruppenmitglieder, Mitbewohner_innen oder Liebste geht. Wenn ich in meinem Umfeld fragen würde: „Sag mal, findest du Leute, die weniger materielle Mittel als Du zur Verfügung haben scheiße oder verachtenswert?“, würde ich wahrscheinlich angeschaut werden, als hätte ich gefragt, ob sie Sexismus, Rassismus oder ein anderes Herrschaftsverhältnis toll fänden. So gedreht wird eigentlich klar, dass das niemand sein kann – „Trash“. Und trotzdem ist es auch und gerade in (queeren) linken Szenen Normalität, dass das, was bei anderen Diskriminierungen – wenn schon nicht verstanden dann wenigstens – als No-Go gelten würde, für Klasse nicht gilt. Dabei wird Klassenhass so eindeutig über Kultur transportiert, dass ich mich immer wundere, warum – verdammte Scheiße noch mal – das so wenig Leuten auffällt. Dass ein Wort wie „Unterschichtsfernsehen“ so gar nicht in die Kritik, sondern als real existierendes Phänomen, mit der unhinterfragten Annahme, dass das das ist, „was die sehen wollen“ oder „wie die sind“, in linken Kreisen übernommen wird, macht mich fassungslos.


Das Feixen, die unverhohlene Arroganz und der Spaß auf Kosten anderer wird hier im großen Stil gefeiert. Nicht nur als zuschauende Konsument_innen, sondern auf der „Trash-Party“ mit der „Trash-Musik“ und dem „trashigen Outfit“. Ein Freund von mir (der es jetzt nicht mehr ist), fand es mal für eine Zeit superwitzig, sich in Trainingshose, weißem Feinrippunterhemd, Aldi-Tüte, aufgemaltem Oberlippenbart, VoKuHiLa-Perrücke und Dosenbier in der Hand als das zu inszenieren, was er sich als „Unterschicht“ oder „wie die leben“ vorstellte. Dass diese und weitere Situationen nicht darin enden, dass der Person gesagt wird, dass das extrem unwitzig, diskriminierend und arrogante Kackscheiße ist, sondern darin, dass meinereine sich meistens entweder sehr unbeliebt macht, weil sie den Spaß unterbricht und auf die Privilegien verweist, die mit einer solchen Inszenierung stabilisiert werden muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Das ist das perfide an einer legitimierten Diskriminierung – jede_r darf sich zur_m Expert_in_en darüber machen, wie „die“ leben, in ihre Leben eindringen und sich darüber lustig machen. Die Abwertung und das sich-abgrenzen von „Trash“ wird zur Rückversicherung der Upper- und MiddleClass für ihre eigene kulturelle und intellektuelle Überlegenheit. Wir leben in einer Gesellschaft, in der der strukturelle, systematische Zugriff auf Leute, denen materielle Mittel fehlen, legitimiert und moralisch salonfähig ist. Das fängt bei einer Gesetzgebung an, nach der zum Beispiel für alleinerziehende Mütter grundsätzlich (!) vorgesehen ist, einen Besuch vom Jugendamt zu bekommen. (Dass diese Praxis nicht in den reichen Stadtteilen umgesetzt wird ist wahrscheinlich schwer zu raten.) Zudem werden Mittel nicht zur freien Verfügung, sondern zweckgebunden vergeben – für Möbel, für Kleider, die


Miete etc. Leuten ohne Geld wird nicht zugetraut, dass sie mit Geld umgehen können – deshalb muss es rationiert werden. Der staatliche Erziehungsauftrag greift auf die Art zu leben, einzukaufen, sich zu kleiden, zu essen, zu wohnen etc. ungeniert zu und meint das zu dürfen. Diese direkte Erfahrung von Zugriff kenne ich nur aus Erzählungen von WorkingClass oder PovertyClass-Leuten – oder von mir selbst. Ich nenne diese Form von aufwachsen „im System“ sein. Damit meine ich keine große, verschwörerische Maschinerie, die einen Orwell-mäßig überwacht – aber ein Aufwachsen in Abhängigkeit von dem Gutdünken, der guten oder schlechten Laune, der Empathie oder Gesetzesauslegungen derjenigen, die einem Mittel zur Verfügung stellen – oder auch nicht. Ein Aufwachsen, dass dir nicht beibringt, dass dir etwas zusteht. In meinem Fall spreche ich von dem Aufwachsen mit einer alleinerziehenden Mutter, ein paar Geschwistern und der ewigen Abhängigkeit von Ämtern. Dass diese Mutter – also meine – auch innerhalb der Klassen, die wenig zur Verfügung haben als Angriffsfläche herhalten muss ist ein anderes Thema. (Warum sollte der Klassenhass nach unten vor der WorkingClass halt machen?) In einem Artikel über das Buch „Chavs: The Demonisation of the Working Class“* schreibt Linsey Hanley: „Middle-class hatred of working-class people – or, rather, a particular image of working-class people which some hold in their minds – is a different beast, saying more about the way in which the education system, especially, is structured to prevent most privileged students from ever having to confront their own averageness.“**


Dass es wenig witzig ist, sich mit der eigenen Durchschnittlichkeit zu beschäftigen leuchtet mir ein, es wäre mir aber meistens um einiges lieber. *“Chavs“ ist ein Begriff aus dem britischen Englisch, der übersetzbar ist mit „Proll“ **“Der Hass der Mittelklasse gegen die Arbeiter_innenklasse – oder besser eines bestimmten Bildes der Arbeiter_innnenklasse, das manche in ihren Köpfen haben – ist ein anderes Untier, das viel über die Art der Struktur eines Bidungssystems aussagt, das, im Besonderen, so strukturiert ist, dass es die am meisten privilegierten Studierenden davor bewahrt, sich mit ihrer eigenen Durchschnittlichkeit zu beschäftigen.“

Der ganze Artikel ist – auf englisch – nachzulesen unter: http://www.guardian.co.uk/books/2011 /jun/08/chavsdemonization-owen-jones-review


"....Alle meine GenossInnen schienen so viel mehr Geld zu haben als ich. Sie konnten es sich leisten, zu allen möglichen Treffen zu fahren, auch wenn sie am anderen Ende des Landes statt fanden. [...] Ich fragte meine GenossInnen, was ihre Eltern taten, um überleben zu können. Die Antworten waren erstaunlich. Es wimmelte nur so von PsychologInnen, ÄrztInnen und UnternehmerInnen ­ ein Genosse entstammte sogar dem Adel. Später verschwanden sie alle in Universitäten und wurden ProferssorInnen oder gründeten ihre eigenen Unternehmen. Genau wie ihre Eltern." Birgitta Hyttinen "Erinnerungen aus Karelien"


Erste. ? Eine Sache, die mir schon länger auf die Nerven geht, ist das ständige appellieren an den Leistungswillen sozial marginalisierter Gruppen. Nicht nur, dass immer wieder suggeriert wird: Strengt Euch doch mal ein wenig an; — es gibt auch noch Organisationen, die sich als „von unten“ verkaufen (!) und in´s gleiche Horn tuten. Gerade wieder erlebt bei einer Comic-Ausstellung, die eigentlich empowernd sein soll und am End größtenteils bei der Mär vom AusnahmeKIND an der ach so tollen und erstrebenswerten Uni landet. Mit anwesend: Eine Organisation von und für ArbeiterKINDER (ich HASSE! HASSE! HASSE! es derart paternalistisch [bevormundend] angeredet zu werden!), im hauseigenen Merchandise (in diesem Fall: ein T-Shirt). Dazu dacht ich mir: Comics kann ich auch – mach ich ´nen eigenen. (Hab ich auch J. versprochen – Grüße und Küsse.)




I am not aK Vorab: Ich zitiere in diesem Text verletzende Zuschreibungen. Dies wird einer der persönlicheren Texte. Einer, auf den ich nix hören will. Deshalb hab ich die Kommentare gleich mal deaktiviert. Mir ist auch klar, dass das einer der denkbar ungünstigsten Momente ist, diesen Text ´raus zu hauen, aber dieser Text gährt, so holperig, wie er daher kommt, schon seit einem Jahr vor sich hin – und vielleicht kommt es ein wenig unsolidarisch daher, aber je öfter ich „Sl*t“ irgendwo lese, desto dringender wird mein Wunsch, etwas los zu werden. In Diskussionen um den Sl*tWalk im vergangenen Jahr habe ich gemerkt, dass ich das nicht will. Nicht kann. Mich als „Sl*t“ bezeichnen. Bezeichnen lassen. Es gibt für mich Worte und Beschimpfungen, an denen so viele biographische Verletzungen hängen, dass ich sie mir nicht positiv aneignen will. Michelle Tea beschreibt im Vorwort zu „Without a net – the female experience of growing up working class“ ein Gespräch mit einem Freund. In diesem Gespräch stellen sie fest, dass weiblich sozialisierte Menschen aus der Working/Poverty-Class anderen Zuschreibungen ausgesetzt waren als männlich sozialisierte; er könne sich wohl nicht vorstellen, wie es sei aufzuwachsen und aufgrund von Armut als dreckig, dumm und promiskuitiv* angesehen zu werden. Dass Arbeiter_innen eine „abweichende“ Sexualität zugeschrieben wird, stellt auch Heike Weinbach fest. Die Sexualität der Arbeiter_innen gelte als „ „obszön“, „frühreif“, „schmutzig“, „auf Spannungsabfuhr ausgerichtet“ und „auf das Geschlechtliche reduziert““. Einen Höhepunkt an klassistischen Zuschreibung einer – angeblich – ungezügelten Sexualität der so genannten


„Unterschicht“ produzierte der Stern 2008. In einer Studie wurde dieser „sexuelle Verwahrlosung“ attestiert. Diese Studie hat mich schon damals maßlos empört, weil es – klar – DIESE Leute waren, deren Privatleben durch staatliche Abhängigkeitsstrukturen ohnehin schon ständig invasiert werden. Die sich am wenigsten zur Wehr setzen würden, wenn ein Kamerateam in ihre Wohnzimmer latscht und sie zur Belustigung oder zum Entsetzen der pseudo-empörten Bürger_innen zum Pornokonsumverhalten ihrer Kinder befragt – oder diese gleich mit vor die Kamera zerrt. Die gleiche Situation in einem Villenviertel hätte diverse Übergriffsklagen und Gerichtsverfahren zur Folge. Nicht aber hier. Die Grenzverletzungen gelten gegenüber materiell schlecht gestellten Leuten als legitim. Und die Schlüsse, die aus den Beobachtungen gezogen gelten als fix: Arm = „sexuell verwahrlost“. Die Feststellungen darüber, wie „die“ mit ihrer Sexualität umgehen sind endlos. „Die“ bin in dem Fall auch ich. Und die Ladies, mit denen ich aufgewachsen bin. Die aus dem geschlossenen Heim mussten sich – um überhaupt in ihrer Freizeit aus dem Haus gehen zu dürfen – eine Dreimonatsspritze verpassen lassen. Als könnten sie keine eigene Entscheidung über Verhütung treffen. Oder als würden sie umgehend schwanger werden, sobald sie die Straße vor dem Heim betreten. In dem offenen Heim, in dem ich gelebt habe war das etwas weniger rigoros. Mir wurde immerhin noch zugetraut – die aber trotzdem obligatorische Pille – selbstständig einzunehmen. Dass sich in einem solchen Klima sexualisierter Zuschreibungen solidarische Strukturen entwickeln könnten – daran war nicht zu denken. Das penible bis panische Beobachten unserer Sexualität übertrug sich auf unseren Umgang miteinander. Endete in Mobbing, Übergriffen und starken Abgrenzungsbedürfnissen gegenüber einem „Schl*mp*“-sein. In den Mädchengruppen, deren Teil ich war oder die


ich selber angeleitet habe, gab es darum erbitterte Diskussionen. Ich erinnere mich an erbitterte Diskussionen, in denen ich „Laura Palmer“ (eine damals bekannte Jugendbuchfigur) pädagogisch wertvoll gegen eine Stigmatisierung als „Schl*mp*“ zu verteidigen versuchte. Was darin endete, dass ich – weniger pädagogisch wertvoll – verletzt und wütend meine Pädagog_innenrolle kompetenzbefreit über den Haufen warf – und die Mädchen anschrie, dass ich diese Bezeichnung in dem abwertenden Ton in meiner Nähe nie wieder hören wollte. Es brauchte ein paar Wochen der Erklärung, persönlichem Geschichten erzählen und emotionaler Aufräumarbeiten, bis wir wieder miteinander reden konnten. Damals hatte ich kein Wort für kollektive Zuschreibungen oder eine Idee von der Struktur, die diese Zuschreibungen produziert – ich hatte nur Wut. Und Verletzung. Und ich wollte mich und „meine“ Ladies gegen diese Zuschreibungen verteidigen. Diesen Impuls habe ich immer noch. Ich verstehe die Praxis, in der sich Negativbezeichnungen angeeignet werden, um sie umzukehren. Diese Praxis hat für mich Grenzen. Eine Grenze, an der die Frage aufkommt, wer sich diesen Begriff überhaupt wann und wie positiv aneignet/aneignen kann. Wie schon oben gesagt: Ich kann es nicht. Und ich werde es nicht. Und die meisten meiner Ladies – wahrscheinlich auch nicht. *als promiskuitiv werden Menschen – überwiegend weiblich sozialisierte – bezeichnet, die „häufig wechselnde Geschlechtspartner_innen“ haben.





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