Die bessere Kopie [Vortrag-Originalskript mit 'Nachtrag 2015']

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Die bessere Kopie oder

Der Klosterschüler und der Fotokopierer Rationales und Irrationales in der digitalen Archivierung

1 Einführung 1.1 Begrüssung Guten Tag meine Damen und Herren. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, sind ausgeschlafen, oder fühlen sich nach einem Kaffee mindenstens so? Ich frage, weil das, was nun kommt, z.T. doch schwere Kost ist und nach vielen Kürzungen, die der heutige Rahmen verlangte, ziemlich kompakt daher kommt. Auch wenn es, das sei versprochen, die eine oder andere Auflockerung geben wird.

1.2 Black Box Für viele ist die Konservierung digitaler Daten eine Blackbox. Sie füttern sie mit Daten Texten, Bildern, Videos - und hoffen, dass diese Daten, wenn in Zukunft einmal benötigt, wieder genau so aus der schwarzen Schachtel herauskommen wie sie hineingepackt worden sind. Wenn die Daten dann doch verschwunden sind (oder so scheinen) – und diese unangenehme Erfahrung haben bestimmt alle hier schon einmal gemacht - dann macht das diese Blackbox nur noch mysteriöser und suspekter. Nur zu gern stimmt man dann ein in ein allgemeines Wehklagen über die Misere heutiger (=digitaler) Datenhaltung und schüttet dabei oft das Kind mit dem Bade aus. D.h., die wirklich enormen und einmaligen Chancen der digitalen Datenhaltung werden dabei vergessen.

1.3 "analoge" Welt Projektion analog --> digital (Beisp. CD) Allerdings sind unsere Schwierigkeiten mit der digitalen Welt nur zu verständlich. Die Welt in der wir leben, die wir uns seit Kindsbeinen an zu „eigen“ gemacht haben, ist eine analoge. All unsere Sinne funktionieren analog. Wir kennen hundert Differenzierungen zw. hell und dunkel, laut und leise, süss und bitter und unsere Augen können, laut RALInstitut, 10 Mio. Farbnuancen unterscheiden! Die digitale Welt wird dagegen als etwas sehr Abstraktes wahrgenommen. Und das stimmt ja auch: Die Darstellung von Farben, Formen, Tönen als Abfolge von „Nullen“ und „Einsen“ ist eine hochgradige Abstraktion! Digitale Daten sind abstrakt. Zum Glück. Denn gerade dadurch sind sie den Gesetzen und Regeln unserer Welt nicht unterworfen. Und eines dieser Gesetze ist, das kennen Sie als Restauratorinnen und Restauratoren nur zu gut, dass alle Materie auf dieser Welt, einem Wandel und letztens dem Verfall unterliegt.

1.4 Ziele & Probleme der Konservierung Das Ziel der Konservierung aber ist, einen Gegenstand über einen theoretisch unbegrenzten Zeitraum so zu erhalten, wie er im Augenblick ist. Punkt. Die Realität ist, dass dieses Ziel nicht zu erreichen ist. Unsere Welt ist eine unvollkommene, alles Stoffliche ist einer ständigen Veränderung unterworfen. Der Fisch stinkt ungekühlt schon nach wenigen Stunden, die Zeitung vergilbt an der Sonne, unsere Erde verändert sich, im Kosmos entstehen und vergehen Sternbilder. Neben der „schleichenden“ Veränderung aller Materie gibt es aber noch die Katastrophen, die innert kürzester Zeit sehr viel verändern: Damals, weit zurück, der Big Bang, wenn wir die Optik näher stellen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Überschwemmung, Feuer, - und die vielen kleinen „Katastrophen“ des Alltags, die Tasse Kaffee, die über den Vertrag ausleert, das Notebook, das auf den Steinboden fällt und die Festplatte mit unseren Daten ins Nirvana schickt. Die bittere Realität ist: Wir können Veränderungsprozesse, den schleichenden Zerfall der Gegenstände bestenfalls verlangsamen, aber nie aufhalten. Chaos ist stärker als die © 2006/2015 Christian Nötzli, Hadlaubstrasse 35, CH-8044 Zürich


Ordnung! Aber vor dieser Erkenntnis wollen wir ja nicht resignieren. Die Frage ist, wie können wir über einen absehbaren Zeitraum Daten sicher und verlustfrei speichern? Es geht hier nicht um Wein oder Cognac, und überhaupt nichts aus unserer dinglichen, sinnlichen, analogen Welt, sondern um Daten, abstrakte, digitale Daten. Ich möchte Ihnen in den nächsten 25 Minuten näher bringen, in welcher Beziehung digitale Daten ein Sonderfall der Konservierung sind und welche besonderen Chancen und Risiken dieser Sonderfall birgt.

1.5 Inhalt. Was und was nicht. Also, was dürfen Sie von diesem Vortrag erwarten und was nicht. Zuerst, was NICHT: 

Ich werde mich nicht mit dem Vorgang der Digitalisierung analoger Daten beschäftigen und schon gar nicht mit dem Sinn und Nutzen einer Digitalisierung – das ist Glatteis!

Ich beschäftige mich auch nicht mit den chemischen und physikalischen Grundlagen, die bei Speicherung digitaler Daten zur Anwendung gelangen – was optische Datenträger anbelangt erfahren Sie dazu im gleich anschliessenden Referat von Frau Frohnert mehr.

Es geht auch nicht um die Rettung („Recovery“) von bereits verlorenen digitalen Daten (das wäre genug Stoff für ein eigenes Referat oder einen Workshop)

ich werde auch keine pfannenfertige Archivierungsstrategie liefern

keine Einführung in die digitale Datenwelt. Inhalt des Referats sind vielmehr:

 

die grundlegenden, also prinzipiellen Unterschiede analoger und digitaler Speicherung. die Erkenntnisse daraus können durchaus als Kriterien zum Erarbeiten einer Archivierungsstrategie dienen. Sie haben ausserdem allgemeine Gültigkeit – sind also nicht auf die heute aktuelle Generation von Datenträgern fixiert.

1.6 Moses/Gesetztafeln Ich beginne mit dem vermutlich ersten Daten-GAU der Menschheitsgeschichte: Und als er mit Mose auf dem Berg Sinai zu Ende geredet hatte, übergab er ihm die beiden Tafeln des Gesetzes; steinerne Tafeln, vom Finger Gottes beschrieben (2.Mose 31,18). Und dann passierte das, was wir hier in einer Hollywood-Dramatisierung sehen. Und als Mose sich dem Lager näherte und das Kalb und die Reigentänze sah, entbrannte sich sein Zorn und er warf die Tafeln aus der Hand und zerschmetterte sie unten am Berge. (2.Mose 32,19)... (Naja, vielleicht kommt das ja der einen oder dem andern im Saal irgendwie bekannt vor, wie da in mehr oder weniger heiligem Zorn wichtige Daten verloren gehen?) Jedenfalls steht Moses jetzt hilflos vor den Trümmern seines Zorns - denn offensichtlich hatte er kein Backup - was angesichts der Grösse und Schwere der Datenträger sicher verständlich ist. Nur Gott kann ihm da noch helfen, und Gott wäre nicht Gott, wenn ER das Malheur nicht beheben könnte: Und der Herr sprach zu Mose: Haue dir zwei steinerne Tafeln zurecht, wie die ersten waren; dann will ich auf die Tafeln die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen, welche du zerschmetterst hast (2.Mose 34,1). Gott hat offensichtlich sehr viel Wert auf Authentizität gelegt („wie die ersten waren“) und so stellt sich die Frage: war denn nun dieses zweite Tafelpaar eine Kopie des ersten, ein Replikat, ein Remake oder gar ein Klon? So oder so: Ein erstes Fazit, das wir ziehen können, könnte vielleicht lauten: Wenn du nicht auf ein Wunder Gottes oder einen billigen Filmtrick hoffen willst, dann mache lieber rechtzeitig ein Backup deiner wichtigen Daten.

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Richtig interessant wird unsere Geschichte aber erst, wenn wir sie weiter bis in die Gegenwart verfolgen. Obwohl der original Datenträger längst verschwunden ist, kennen wir den Inhalt heute immer noch, es sind die 10 Gebote, z.B. das 5.Gebot: Du sollst nicht töten. Dieser Inhalt ist heute noch so kristallklar und unverändert wie zu Zeiten Moses’. Du sollst nicht töten. Irgendwie hat es also der ideelle Inhalt der Steintafeln, unabhängig vom ursprünglichen und auch einer ganzen Reihe späterer Datenträger, geschafft, über mehrere tausend Jahre erhalten zu bleiben. Und zwar in seiner ganzen ursprünglichen Klarheit und Brillanz. Du sollst nicht töten. Da ist keine Patina dran, und wir finden auch unter dem Mikroskop kein Craquelé.

1.7 Quantensprung analog/digital Warum das so ist, das wollen wir uns nun ansehen. Soviel nehme ich voraus: es hat essenziell mit dem Unterschied zwischen analog und digital zu tun. Deshalb behaupte ich: zwischen analoger und digitaler Datenspeicherung ist ein Quantensprung, mehr, es ist ein eigentlicher Paradigmenwechsel.

1.8 Voraussetzung an Grundwissen Ich setze wenig an Grundwissen voraus: Dass die digitale Welt eine so genannt „binäre“ ist und lediglich aus zwei Zuständen besteht, gewöhnlich dargestellt als „Null“ und „Eins“. Das wär’s dann schon.

2 Sonderfall Schrift 2.1 Verallgemeinerung des Beisp. 10 Gebote Beim Blick zurück in die Geschichte stellen wir fest, dass uns praktisch alle Zeugnisse aus früheren Epochen nur fragmentarisch überliefert sind, seien das Alltagsgegenstände, Werkzeuge, Bilder oder Architektur. Mit einer einzigen Ausnahme: dem geschriebenen Wort. Viele Texte sind vollständig oder nahezu vollständig erhalten, etwa ganze Werke von Tacitus oder Plinius. Das geschriebene Wort nimmt in der Geschichte der Informationsüberlieferung offensichtlich eine Sonderstellung ein. Nun ja, wir müssen bei Texten auch deutlich unterscheiden zwischen Träger und Inhalt. Die originalen Träger alter Schriften sind ja häufig auch nicht mehr erhalten, oder nur fragmentarisch. Was uns in so bemerkenswerter, ja häufig originaler Qualität erhalten ist, das ist der Inhalt. Weshalb hat geschriebenes Wort ein derart langes Verfallsdatum?

2.1.1 Redundanz (3 Ebenen) Hier kommt ein erster Schlüsselbegriff ins Spiel: Redundanz. „Redundanz (v. lat. redundare – im überfluss vorhanden sein) bezeichnet in der Informationstheorie das mehrfache Vorhandensein ein und derselben Information.“ Eigentlich hoffe ich, dass diese Definition den meisten unter Ihnen redundant ist, d.h. schon vorher in ihrem Kopf vorhanden war. Wichtig ist die Verallgemeinerung: Etwas ist im Überfluss vorhanden. Das kann numerisch sein, dass also etwas in identischer Form mehrfach vorhanden ist, es kann aber auch sein, dass ein bestimmtes Merkmal oder eine bestimmte Qualität eines Objekts in mehr als notwendiger Menge vorhanden ist, z.B. Farbe oder Schärfe. Auch Grösse kann Redundanz bedeuten, dass kennen alle mit Sehproblemen. Und mit diesem Beispiel sind wir auch zurück bei unserer Frage: was macht Text so lange haltbar? Die Aufzeichnung von Text zeichnet sich durch hohe Redundanz auf mindestens drei (!) verschiedenen Ebenen aus: a) Wir achten beim Schreiben meist auf hohen Kontrast zw. Schrift und Hintergrund. Weisse Schrift auf weissem Grund, das mag gut sein, wenn der Inhalt „Top Secret“ sein soll, sonst achten wir aber besser auf einen hohen Kontrast. Und wenn der römische Steinmetz seine Lettern 6mm tief gemeisselt hat, dann lässt sich die Inschrift 2000 Jahre und viele saure Regen später halt besser entziffern, als wenn er nur 2mm tief gemeisselt hätte. Das ist banal und deckt sich mit unserer Alltagserfahrung. Ich halte fest: Hoher Kontrast bedeutet viel Redundanz im Sinn, dass Reserven da sind für Veränderungen. © 2006/2015 Christian Nötzli, Hadlaubstrasse 35, CH-8044 Zürich


b) Die Buchstaben, zumindest des lat. und griech. Alphabets, weisen als Symbole hohe Redundanz auf. Zwar nicht alle gleich viel. „I“ und „L“ z.B. etwas weniger als „G“ oder „S. Auch wenn grosse Bruchstücke fehlen, können wir die Buchstaben noch eindeutig identifizieren. c) Und nochmals eine Ebene höher stellen wir fest, dass auch Wörter hoch redundant sind. Viele Worte können wir mühelos erkennen, selbst wenn mehrere Buchstaben fehlen oder nicht mehr lesbar sind. Redundanz ist der eine Grund, dass geschriebene Worte so lange halten, aber es kann nicht der einzige sein. Die meisten Texte des Altertums sind uns ja so wenig auf dem originalen Träger erhalten, wie die 10 Gebote. Nein, sie sind kopiert worden, und immer wieder kopiert worden, häufig über viele Generationen. Die grosse Frage ist also: Wo zeigt sich der beim Kopieren unvermeidliche „Generationenverlust“? Wenn ich eine Buchseite über genügend viele Generationen fotokopiere, dann kommt irgendwann der Punkt, wo alle ursprünglich vorhandene Redundanz verbraucht und abgeschliffen ist, so dass ich den Text nicht mehr vollständig, entziffern kann. Und trotzdem sind uns Jahrtausende alte Texte wortgenau überliefert.

2.1.2 "Regeneratives" Kopierverhalten (Fotokopierer & Klosterschüler) Hier stossen wir nun auf ein zweites Merkmal, in dem sich geschriebenes Wort von andern Kulturzeugnissen unterscheidet: Worte sind Abstraktionen, Symbole, Stellvertreter. Sie sind ja nicht die Tusche auf dem Pergament. Sie sind nicht materiell, sondern eben etwas vom Träger losgelöstes, abstrahiertes ( lat. abstrahere = wegziehen, abziehen, loslösen). Was macht den entscheidenden Unterschied zur Fotokopie aus? Da müssen wir uns fragen: Wie sind Manuskripte in früheren Jahrhunderten kopiert worden? Jedenfalls nicht mit dem Fotokopierer. Und auch nicht von einem des Lesens unkundigen Malerlehrling. Sein Abschreiben, oder besser „Abmalen“ hätte nämlich dem fotokopieren entsprochen: ein analoges Übertragen von – im wörtlichen Sinn – „sinnlosen“ Formen. Wie der Fotokopierer, der, auf rein analoger Basis, Grauwert für Grauwert kopiert. Nicht Buchstaben und schon gar keine semantischen Bedeutungen. Auf diese Weise, analog, vererbt sich jeder Fehler und jede Abweichung. Per Zufall, aber wirklich nur per Zufall, kann’s einmal natürlich geschehen, dass ein bestehender Fehler durch einen neuen kompensiert wird. Anders beim Kopieren durch den gelehrten Klosterschüler (oder „Skriptor“). Hier sind Fehlererkennung und Fehlerkorrektur sozusagen system-immanente Bestandteile des Prozesses. Dadurch, dass der Skriptor die Tuschformen des Manuskripts zuerst als Buchstaben und dann als Worte nicht einfach optisch wahrnimmt, sondern in ihrer abstrakten, symbolischen Bedeutung erkennt, löst er sie vollständig von ihrer dinglichen Projektion und portiert sie auf einen sinngefüllten Abstraktionslayer (Ebene). Im Kopf des Skriptors ist nun eine virtuelle Kopie des Inhalts des Manuskripts. (Beachten Sie bitte, dass ich mit Absicht eine ganz neutrale, klare Schrift gewählt habe.) Und weil diese Kopie nur virtuell und abstrakt ist, deswegen kann sie auch, ohne den geringsten Abstrich, als 100% perfekt, bezeichnet werden, als identischer Klon. Und diesen 100%, identischen Klon verdinglicht der Skriptor nun wieder auf dem leeren Pergament. Und zwar, das ist nun sehr wichtig, mit komplett neuer, frischer Redundanz versehen – nämlich in schön und scharf gemalten Buchstaben in pechschwarzer Tusche auf neuem, möglichst hellem Pergament. Entstanden ist eine perfekte Kopie des ursprünglichen Textes, mit neuem Verfalldatum – hält wieder ein paar hundert Jahre. Das meine ich mit „regenerativem“ Kopierverhalten. (Als Nachtrag sei hier noch vermerkt, dass im Skriptorium tatsächlich eine strikte Arbeitsteilung herrschte zwischen dem der Schrift (und des Lateins resp. Griechisch) kundigen Skriptor und den Illustratoren, die die Verzierungen und allfällige Illuminationen anbrachten.)

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3 Prinzipien der digitalen Speicherung 3.1 Redundanz Bevor ich nun zum vielleicht wichtigsten Satz meines Referats komme, muss ich nachfragen, ob Ihnen allen der grundlegende Unterschied zwischen Fotokopierer und Klosterschüler resp. Skriptor klar ist? Wobei der Fotokopierer stellvertretend steht für sämtliche analogen Kopier- und Speicherverfahren wie Lithografie, Fotografie, Film, Mikrofilm, Tonband, Videoband, Schallplatte etc.

3.2 Fehlererkennung & Korrektur 3.3 "zero tolerance" Und jetzt kommt er also, der entscheidende Satz: Was ich hier mit dem Skriptor geschildert habe, sind die Prinzipien der digitalen Datenspeicherung und Kopie. Natürlich steckt im CD-Laufwerk kein Klosterschüler, der die Bytes beim Lesen und Kopieren mit Sinn füllt. Dann wären wir im Gebiet von künstlicher Intelligenz, neuronaler Netzwerke und „fuzzy logic“, und würden Sicherheit und Präzision einbüssen. Nein, diese Funktion, das Abstrahieren und nachfolgende Synthetisieren des Inhalts und seine Prüfung (und ggf. Ergänzung) auf volle Integrität, wird von ausgeklügelten und hochpräzisen mathematischen Algorithmen übernommen. Sie arbeiten, bildlich gesprochen, nicht auf Wort- oder Satzebene (also semantisch), sondern auf Buchstabenebene. Im Gegensatz zum Klosterschüler, der nach überzogener Vesper vielleicht mal einen schlechten Tag hat und einige Schreibfehler in die Kopie schleust, kennen diese Algorithmen weder schlechte Tage noch Gnade. Sie entdecken jeden Fehler. Und wenn er nicht mittels redundanter Daten, die z.B. beim Brennen auf CD und DVD über die ganze Disc verteilt werden, behoben werden kann, dann bricht der Leseoder Kopiervorgang gnadenlos ab. Diese „zero tolerance“-Politik kann ärgerlich und nervig sein, aber letztlich beschert sie uns das Ruhekissen für einen gesunden, sorgenfreien Schlaf. Denn wenn der digitale Kopiervorgang ohne Fehlermeldung endet, können wir absolut versichert sein, dass wir eben einen 100% digitalen Klon unserer Datei erstellt haben. Hier gibt es eine kleine, aber wichtige Einschränkung zu machen. Die aktuelle Aufzeichnungstechnologie für optische Datenträger (CD, DVD) erlaubt nicht ein quasi synchrones Schreiben und Lesen. D.h. der Datenträger kann erst nach abgeschlossenem Brennvorgang gelesen und auf Integrität kontrolliert werden. Brenn-Software bietet diese Überprüfung meist an – hier am Beispiel von „Nero“ gezeigt. Zurück: Der Umstand, dass wir von digitalen Medien jederzeit 100% perfekte Klons erstellen können löst nun eben das Paradigma vom unvermeidbaren Generationsverlust ab!

4 Praxis 4.1 Probleme Woran liegt es aber, dass wir in der Praxis immer wieder mit Datenverlusten konfrontiert sind und die Langzeitspeicherung digitaler Daten mit grosser Skepsis betrachten müssen? Ein guter Teil der Probleme liegt darin, dass wir digitale Daten auf eigentlich längst überholten, oder mindestens ausgereizten analogen Medien speichern. Ja es ist so, all unsere aktuellen Langzeitspeicher sind eigentlich analoge Medien. Der einzige Langzeitspeicher, dem ich – mit Einschränkungen – das Attribut „digital“ geben würde, ist die sogenannte Flash-ROM-Card, (wie in digitalen Fotoapparaten oder Smartphones eingesetzt) resp. die Memory-Sticks. Das wirkliche Gift ist aber das Tempo, in dem heute Technologiewandel stattfindet. Während frühere Medien über Jahrzehnte und Jahrhunderte sukzessive weiterentwickelt wurden, ist das heutige industrielle Credo (und das der Werbung) "Revolution". Was uns © 2006/2015 Christian Nötzli, Hadlaubstrasse 35, CH-8044 Zürich


Probleme macht, z.B. bei CD und DVD, das ist nicht deren Technik an sich, sondern deren Kinderkrankheiten. Und bevor die "Kinder" ausreifen, erwachsen werden, wartet schon eine neue Generation, noch in Windeln, darauf, auf die Konsumenten los gelassen zu werden. Es ist „Pampers-Ware“. Es glänzt an der Oberfläche, aber hüten Sie sich davor, nachzuschauen was darunter steckt.

4.2 Lösungsansatz Können wir aus dem Gesagten trotzdem ein Rezept für eine erfolgreiche digitale Datenhaltung ableiten? Ich habe anfangs gesagt, dass ich Ihnen keine pfannenfertige Archivierugnsstrategie anbieten kann, aber einen Lösungsansatz schon! Aus den zwei wichtigsten Merkmalen der digitalen Datenhaltung, nämlich a) dass Datenträger notorisch unzuverlässig sind und b) der wunderbaren Möglichkeit, digitale Daten beliebig oft klonen zu können, ergibt sich mit geradezu zwingender Stringenz als vielversprechende Archivierungsstrategie ein Prinzip, das unter dem Akronym "LOCKSS" läuft: Lots of copies keep stuff safe - also frei übersetzt "Viele Kopien sichern das Überleben".

4.3 LOCKSS und die Evolution (I) Interessanterweise ist LOCKSS genau das Prinzip, das sich in der Evolution als die erfolgreichste Strategie zur Sicherung des eigenen Erbguts erwiesen hat. Sie kennen die Geschichte von der Blume und der Biene und der Magerwiese. Es geht den Blumen darum, die eigene Erbinformation, die in Form tausender identischer Klone in den Pollen und Samen vorhanden ist, möglichst weit herum und flächendeckend zu verbreiten. Da jeder Pollen oder Samen die gleiche Erbinformation trägt, genügt es letztlich, wenn ein einziger erfolgreich ist, d.h. solange überlebt und sich entwickelt, dass er sich wieder reproduzieren kann. So ist es mit den 5 Kopien Ihrer Archiv-CD. 4 davon können verloren gehen, ob durch Feuer, überschwemmung oder chemischen Zerfall spielt keine Rolle, eine einzige erhaltene Disk reicht, um davon wieder eine beliebige Zahl neuer digitaler Klone zu ziehen. (Was der Buchdruck vor 500 Jahren zur Verbreitung (und indirekt dadurch zur Sicherung) des Wissens beigetragen hat, das ermöglichen die heutigen Speichermedien mit ALLEN Inhalten, sofern sie sich digital speichern lassen: die Verbreitung und Streuung in grosser Zahl.)

4.4 LOCKSS und die Evolution (II) Das Prinzip LOCKSS hat aber zwei Dimensionen: eine räumliche, synchrone, und eine entlang der Zeitachse. Das Erzeugen mehrerer Klone und deren geografische Verteilung ist deshalb nur die halbe Strategie. Weil die individuelle Kopie eine begrenzte Lebenszeit hat, stellt erst ein zeitlich gestaffeltes Kopieren entlang der Zeitachse die Weitergabe des Erbguts (resp. des Datei-Inhalts) über einen längeren Zeitraum sicher. Für unsere digitalen Daten bedeutet dies, dass wir sie kopieren müssen, solange der Datenträger noch intakt ist und so viel Redundanz aufweist, dass sich die Daten problemlos lesen lassen. Selbstverständlich muss auch ein funktionierendes Lesegerät mit einer aktuellen Schnittstelle vorhanden sein. Das mag trivial tönen, angesichts der immer schnelleren Produkte- und Technologie-Zyklen ist es aber ein ernsthaftes Kriterium. Das "Fire & Forget"-Prinzip heutiger Lenkwaffen kann also keineswegs auf die Datenhaltung umgemünzt werden. Das Gegenteil ist der Fall: Digitale Daten erfordern aktive Bewirtschaftung. Auch wenn einzelne Hersteller für ihre CDs und DVDs eine Haltbarkeit von 100 Jahren reklamieren, eine Garantie, und sei's nur für 5 Jahre, erhalten Sie meines Wissens von niemandem.

5 Die bessere Kopie Bevor ich zum Schlusswort komme, nun also doch noch die Erklärung für die „bessere“ Kopie. - und mit der schon bekannten Folie als Erinnerung werden Sie jetzt mühelos verstehen können, was es damit auf sich hat.

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Selbstverständlich bezieht sich die Aussage von der „besseren Kopie“ nicht auf den Inhalt, also Umfang und Vollständigkeit der digitalen Information. Hier wäre eine solche Aussage ja absurd. Aber die Aussage ist durchaus korrekt bezogen auf die Speicherung und die praktische Handhabung. Die Qualität eines Datenmediums setzt sich zusammen einerseits natürlich aus der digitalen Information, anderseits aber auch aus der Gesamtmenge und Organisation der Redundanz. Die Redundanz umschliesst und schützt die Information, quasi wie beim Auto Knautschzonen und Airbag die Insassen schützen. Diese Archivierungsqualität hat nichts, aber gar nichts zu tun mit der Generation. Ob „Original“, 10. oder 100. Generation spielt keine Rolle. In der Welt digitaler Daten ist der Begriff der „Generation“ obsolet. Die „Archivierungsqualität“ dagegen ist eine individuelle Eigenschaft einer jeden physischen Kopie. Jede Kopie, egal in welcher Generationsfolge, kann weniger oder mehr oder gleichviel Redundanz aufweisen wie ihr Original – Stichwort „Regeneratives Kopierverhalten“. Das ist nicht Theorie, ich spreche vom Alltag. Ein Beispiel. Sie legen eine CD oder DVD mit einem Film ein. Es dauert 15 Sekunden bis das Menu angezeigt wird. Der Film zeigt immer wieder Artifakte, und stockt immer wieder mal ganz. Sie kopieren das Medium (wohlverstanden ohne Fehlermeldung!), legen die Kopie ein, das Menu ist schon nach wenigen Sekunden da und der Film spielt einwandfrei ab. In diesem Fall ist die Kopie zweifellos „besser“ als das Original – sie hat nicht ein mehr an Informationen, aber diese sind offensichtlich leichter zugänglich. Hier aber ein „caveat“: Ihre selbstgebrannte Kopie einer Kauf-CD oder -DVD wird, als Folge von Technik und Material, fast nie die Archivierungsqualität des Originals aufweisen.

6 Schlusswort … und mein Schlusswort! Die selben zwei Prinzipien, die dafür gesorgt haben, dass wir die 10 Gebote heute noch kennen und die dafür verantwortlich sind, dass sich Erbinformationen über Tausende von Jahren von Generation zu Generation weiter gegeben haben, sind die entscheidenden Kriterien einer erfolgreichen digitalen Datenhaltung. Das eine Prinzip, die Möglichkeit des regenerierenden Kopierens (Klonens) über einen Abstraktionslayer, wohnt - quasi immanent - in den digitalen Daten. Hier brauchen Sie also gar nichts zu machen. Wenn SIE das zweite Kriterium, LOCKSS, konsequent umsetzen, - nehmen Sie zur Erinnerung dieses schöne Bild von der Pusteblume mit - dann garantiere ich Ihnen, das Ihre digitalen Daten die nächsten 100 Jahre überleben werden!

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7 Nachtrag 2015 Ich habe im Referat deutliche Bedenken geäussert bezgl. der Schnelllebigkeit neuer Speichertechnologien und der Haltbarkeit verschiedener Medien, namentlich der selbstbeschreibbaren optischen Datenträger (CD-R u. DVD-R, "R" steht für "recordable"). Die Entwicklung der vergangenen neun Jahre hat mir aber Optimismus zurückgegeben. Nicht dass ich CD-R (und noch viel weniger die DVD-R) als Langzeitspeicher empfehlen würde ─ nein, lassen Sie die Finger davon, sie würden diese, verzeihen Sie mir das Wortspiel, nur "verbrennen" ─ aber die selbstbeschreibbaren optischen Medien haben so sehr an Bedeutung verloren, dass sie mir heute fast in die Marginalität verdrängt scheinen. Die dritte Generation der optischen Datenträger, die Bluray-Disc, hat in ihrer selbst bespielbaren (also der –R Variante) sogar einen kompletten Fehlstart erlitten. Die Meldung, dass der renommierte jap. Rohling-Hersteller Taiyo Yuden seine Produktion optischer Datenträger per Ende 2015 komplett einstellt, ist ein deutliches Signal für die Ablösung dieser Technologie. Ich trauere den beschreibbaren optischen Discs keine Träne nach ─ zuviele davon habe ich in den vergangenen 20 Jahren wegen nicht mehr lesbarer Datenträger dieses Typs vergossen! Besonders erfreulich ist die Ablösung aber deswegen, weil sie nicht durch eine weitere neue Technologie passiert, sondern durch eine alte und etablierte: die Harddisk. Entgegen aller Unkenrufe hat sich diese in den vergangenen 9 Jahren kontinuierlich weiter entwickelt und bietet heute bei immer noch gleichen physischen Ausmassen wie in den 80er-Jahren eine solch schiere Datenmenge zu unschlagbar günstigem Preis, dass sie für die meisten Archivierungszwecke konkurrenzlos ist. Man muss sich das visualisieren: eine 8 TB-Harddisk für weniger als € 250 beherrbergt das Datenvolumen von rund 2000 vollbeschriebenen DVDs oder gar 10,000 CDs (ein über mannshoher resp. sogar 10m hoher Turm an Scheiben!). Viel schwerer ins Gewicht als der unschlagbar günstige Preis pro Gigabyte fallen aber der Komfort, der schnelle Zugriff und die Sicherheit der Harddiskspeicherung. Denn mit einem Knopfdruck und "über Nacht" ist nun das ganze Datenvolumen von 2000 DVDs geklont! Die Datenspeicherung hat in den letzten Jahren viel an Sicherheit wie Bequemlichkeit gewonnen. NAS (=Network Attached Storage) -Systeme mit automatischer Datenspiegelung "realtime" sind für den Privathaushalt erschwinglich geworden und schützen auch Daten, die permanent geupdated werden. Neben dem recht zuverlässigen Flashmemory in Form von Sticks und Cards ist heute vor allem aber eine komplett neue Form der Datenspeicherung omnipräsent: die "Clouds"! Diese können sowohl zur Datenübertragung wie zur –Langzeitspeicherung benutzt werden. Falls Sie mit Bedenken, dass Ihre Daten von irgendeinem Big Brother oder einer Big Sister mitgelesen werden, leben können, dann spricht kaum etwas gegen die Nutzung einer (oder besser: mehrerer) Clouds zur Archivierung Ihrer Daten. Denn damit delegieren Sie die Datenpflege an die besten Spezialisten auf diesem Gebiet, die mit Knowhow und teurer Hardware dafür sorgen, dass ihre Daten "a lifetime long" so abgeholt werden können, wie Sie hochgeladen wurden. Natürlich kommt kein Gratisangebot mit irgendeiner Garantie, aber die Anbieter, unter Ihnen die grössten Player der Branche, Google, Microsoft, Apple etc., haften mit ihrem Namen und Börsenwert dafür, dass kein Datengau passiert. Und für den worst case hilft Ihnen LOCKSS: schliesslich haben Sie Ihre Daten auf einer zweiten oder dritten Cloud abgelegt und noch einmal auf einer Harddisk in ihrem Schreibtisch. Sie gehen ihrer also höchstens verlustig bei einem wahrhaft apokalyptischen Weltuntergangsszenario ─ und gepriesen seien Ihr Mut und Ihre Gelassenheit, wenn Sie dann noch an Ihre Daten denken…

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