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Profil Das unabhängige Nachrichtenmagazin Österreichs Wien, am 20.07.2020, Nr: 30, 51x/Jahr, Seite: 32-35 Druckauflage: 49 072, Größe: 93,94%, easyAPQ: _ Auftr.: 8420, Clip: 13014282, SB: Ischgl
„Ich habe mich mit österreichischen Bundeskanzlern in Massenschlägereien verwickelt“
Jean-Claude Juncker, ehemaliger Präsident der EUKommission, über die Chancen der Krise, die neue Rolle Österreichs bei den „sparsamen Vier“ und das Scheitern der Mitgliedstaaten in der Flüchtlingspolitik.
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bstand halten, das fällt Jean-Claude Jun-
cker schwer. Als Präsident der Europäischen Kommission herzte er Regierungs-
chefs, küsste Glatzen und begrüßte den einen oder anderen mit einem Klaps auf den Hinterkopf. Im vergangenen November endete seine Amtszeit, doch Juncker sitzt auch an diesem grauen Mittwochnachmittag im Berlaymont in Brüssel. Der Luxemburger empfängt in seinem Büro im achten Stock des Hauptquartiers der EU-Kommission.
rofil: Herr Juncker, in Ihrer Amtszeit als Präsident der EU-Kommission fielen Sie unter anderem durch Ihre herzlichen Begrüßungsgesten auf. Wann haben Sie, abgesehen von Ihrer Familie, das letzte Mal jemanden umarmt oder geküsst? Juncker: Unabhängig davon, dass Teile dieser Auskunft unter der Rubrik Amtsgeheimnis einzuordnen sind: schon lange nicht mehr. Ich vermisse das sehr. Ich mag Menschen. Sie zu berühren, zu herzen – die, die ich mag, manchmal auch andere – das ist für mich der direkte Weg zu ihnen. Ich habe heute Mittag mit einigen Kommissaren gegessen und musste sie begrüßen, wie man das in Asien macht. profil: Es geht auch mit dem Ellenbogen. Juncker: Wenn mir jemand seinen Ellenbogen unter die Nase reibt, dann wehre ich den ab! Diese Zeit ist nicht meine Zeit, weil die Körpersprache wegfällt. Wer nicht mit dem Körper redet, der redet nur halb. Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist. Ob es jemals vorbei sein wird, weiß man noch nicht. In den 75 Tagen, in denen wir in Luxemburg eingesperrt waren – ich war in 45 Jahren noch nie so viel mit meiner Frau zusammen, es ging trotzdem gut –, kam ich mir vor wie jemand, der nicht zeigen konnte, was er zeigen wollte. Ich habe das Haus kaum verlassen, denn die Luxemburger erkennen mich trotz Maske. Zuerst dachte ich: Eine schöne Zeit, kein Schwein kennt mich, und doch: Sie stürzten auf mich zu. Aber ich wusste: Genau das darfst du jetzt nicht. Du darfst Menschen, die dich liebevoll begrüßen, aber auch nicht zurückweisen. profil: Was haben Sie stattdessen getan? Juncker: Ich habe gesagt: Stopp. Ich war ein überzeugter Maskenträger. Ich habe mich an die Empfehlung der Regierung gehalten und bin nicht ohne
32 profil 30 • 19. Juli 2020
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