Zusammenfassung das Elend der Welt

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Zusammenfassung Das Elend der Welt

Abstract

Dieses Buch ist relativ spät in Bourdieus Leben entstanden und enthält qualitative Interviews mit auf den ersten Blick ganz normalen Leuten. Auf den zweiten Blick entpuppen sich die vielfältigen Probleme, mit denen diese Leute jeden Tag konfrontiert sind: Ausgrenzung, Einsamkeit, Gewalt, ungerechte Behandlung durch Arbeitgeber und Staat, familiäre Probleme, Probleme mit den Nachbarn, Vandalismus, Niedergang des Wohnviertels, schulische Schwierigkeiten... Der fallen gelassene Untertitel des Buches: „Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft“ bringt den Inhalt treffend auf den Punkt. Den Interviews werden auch reflexive Beiträge beigestellt. Von diesen ist der Abschnitt „Verstehen“ besonders hervorzuheben. Auch „Ortseffekte“ und „Aus der Sicht des Staates“ vermögen interessante Gedanken vorzubringen. Ich möchte mich in der folgenden Zusammenfassung auf die meiner Ansicht nach gelungensten und spannendsten Interviews beschränken: Narzissenweg, Eine deplatzierte Familie, Der Lauf der Dinge, Ein lebender Vorwurf, Der alte Arbeiter und die neue Fabrik, Ein verlorenes Leben, Ein verlorenes Paradies, Die Gewalt der Institution und Der Fluch. Von den reflexiven Beiträge möchte ich die oben angesprochenen zusammenfassen: Verstehen, Ortseffekte und Aus der Sicht des Staates.

Narzissenweg Die Protagonisten dieses Interviews sind M. Und Mme Leblond. Er arbeitet in der Fabrik, sie ist Hausfrau und verlässt ihr Haus kaum mehr. Das Gespräch dreht sich ums alltägliche Leben der beiden: zuerst um die Berufsaussichten der Kinder, dann um die Arbeitssituation und den Arbeitsmarkt im Allgemeinen. Schliesslich kommen die Leblonds auf die Nachbarschaft und die Probleme zu sprechen. Hauptsächlich stört sie der Lärm und der fehlende Kontakt. Man sagt sich „Guten Tag, Guten Abend“ und das war’s. Bourdieu schliesst den einleitenden Kommentar mit folgender Bemerkung: „Es geht darum, diese Zwangsläufigkeit der Unterbeschäftigung, die von den bevorzugten Opfern des schulischen Scheiterns und der Diskriminierung doppelt erfahren wird, zu bannen, wenn erreicht werden soll, dass die Strassen im Val Saint Martin eines Tages den Namen der Blumen verdienen, die ihnen, etwas voreilig, irgendein mit der ‚sozialen Stadtplanung‘ beauftragter Technokrat gegeben hat.“ M. Leblond ist um die Zukunft seiner beiden Kinder besorgt. Die älteste ist zwar Krankenschwester, aber die jüngere weiss noch nicht so genau, was sie machen will... vielleicht Kinderbetreuerin. Die Kollegen von M. Leblond möchten, dass ihre Kindern möglichst lang zur Schule, denn „solange ich auf der Schule bin, bin ich nicht arbeitslos.“ Das Problem sei, dass die Arbeitgeber junge Leute mit Erfrahrung möchten, so dass es die Älteren schwierig haben einen Job zu finden. Im Wohnquartiert ist das Problem, dass „hier alles dichtgemacht wird“ und es gibt immer weniger Kinder. In der Schule ist der Ausländeranteil hoch und die Leblonds beklagen sich über den Ramadan - sowohl in der Schule wie auch am Arbeitsplatz -, müssen aber eingestehen, dass fast nur noch die Älteren diesen Brauch zelebrieren. Den Grund, warum gewisse Leute Probleme machen, sieht Herr Leblond darin,


dass man die Leute einfach zusammensteckt und –pfercht. Trotzdem sei das Viertel nicht besonders gefährlich und wenn man selbstsicher auftrete habe man wenig zu befürchten. Besonders schwierig sei es aber für junge Lehrer, die von auswärts kommen. Zum Schluss sagt er, dass die jetzige Jugend im Gegensatz zu früher weniger politisch ist.

Eine deplatzierte Familie Die deplatzierte Familie stammt aus Algerien und lebt in einer Einfamilienhaussiedlung in Paris. Sie steht im Nachbarschaftszwist mit einer französischen Familie bzw. v. a. mit der Frau dieser Familie. Es geht um Kleinigkeiten wie die Katzen und den Lärm. Beim Treffen antworten v. a. die Tochter und der Sohn auf die Fragen des Interviewers, der Vater greift dagegen nur selbten ein, und zwar vorwiegend dann, wenn es um die Vergangenheit geht. „Sprachlich läuft es auf diese Art, aber die Augen sprechen eine andere Sprache, das ist Gift und Galle.“ Die Familie hält die Nachbarin für rassistisch und sieht darin das Problem. Besonders die Tochter betont, dass die Nachbarin neidisch sei, weil sie häufig viel Besuch empfangen hätten. „Es ist immer die gleiche Geschicht. Wenn man nicht sagen kann, dass die Nachbarschaft mit Arabern schlimm ist, weil sie dreckig sind, weil sie schlecht riechen, weil sie zuviel Lärm machen, weil bei ihnen immer zuviele Leute sind, selbst wenn man nichts von dem sagen kann, dann erfindet man was, es findet sich immer etwas...“ Am Schluss beschliesst der Vater das Gespräch auf ziemlich resignative Weise, wenn er sagt: „Denn eines muss man wissen, wir werden hier nicht weggehen! Denn in unserem Alter weiss man nicht wohin gehen...“ Die andere Seite der Story liefert die Nachbarin: Frau Meunier. Sie fühlt sich von den Nachbarn verarscht und im Viertel allein gelassen, gibt aber zu, dass sich die Zwistigkeiten um Nichtigkeiten drehen, die eigentlich kaum der Rede wert sind. „Wir jedoch, die wir schon seit 15 Jahren hier sind, wir sehen, wie sich das verschlechtert, Alles verschlechtert sich.“ Das Problem sieht sie auch darin, dass alle vom Viertel weggezogen sind und sie mittlerweile auf sich allein gestellt ist. „Man spürt diese Leck-mich-am-Arsch-Haltung überall und man darf nichts sagen.“ Am meisten nerven sie von den Nachbarn die Kinder. Sie findet, sie seien frech und respektlos. Am meisten regt sie das ständige Kommen und Gehen und der damit einhergehende Lärm bei ihren Nachbarn auf. Zudem hat sie Angst, dass es zu einem schlimmen Ende kommen könne, wenn der Streit eskaliert. Somit ist ein ständiges Abtasten und eine latente Feindschaft vorhanden. „Wenn es nur zwei oder drei andere Familien von der Sorte gäbe, hätte man nicht einmal mehr das Recht, das Haus zu verlassen. Und das alles wegen denen! Aus diesem Grund sage ich mir: Man muss etwas tun, bevor es zu spät ist.“

Der Lauf der Dinge Im Lauf der Dinge spricht Bourdieu mit zwei Jugendlichen, die gut befreundet sind: Ali, ein junger Beur und Francois, ein junger Franzosen. Beide teilen dieselben Probleme, Schwierigkeiten und die gleiche Sicht der Welt. Sie sind angepisst, weil es keine Verkehrsmittel gibt, keinen Bus auch kein Mofa. „Es gibt auch keinen Raum um sich zu treffen.“ Deshalb begehen sie manchmal Dummheiten. Sie verspüren ein Gefühl der Unabwendbarkeit, Hilflosigkeit und Unausweichlichkeit, das sie im Interview äussern können, sonst wohl nicht. „Da sie sich verstanden und akzeptiert fühlen, können sie mir eines ihrer wahren Gesichter offenbaren [...] Das Interview hat eine Ausnahmesituation


geschaffen, die es ihnen ermöglicht hat, das offenzulegen, was sie zweifellos häufiger und umfassender wären, wenn die Welt anders mit ihnen umginge.“ Zunächst bemerkt Ali, dass es in ihrem Quartier (einer im Norden Frankreichs gelegenen Stadt) keine Freizeitmöglichkeiten gibt. Ständig motzen die Anwohner und rufen die Polizei. „Nein, wir wissen nicht, wo wir hingehen sollen.“ Dann kommen die Interviewten auf die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Siedlungen zu sprechen. Häufig sind verschiedene Banden darin involviert. „Wir werden in unserer Siedlung ständig beschimpft.“ Bourdieu fragt die beiden nach ihrer Schulkarriere und nach ihren Zukunftsvorstellungen. „Ja, aber wenn wir gelernt hätten und so, also, dann hätten wir es auch geschafft. Ohne Probleme. Aber wir haben uns lieber amüsiert.“ Den Lehrern sei ihm Prinzip scheissegal, wenn es die Schüler nicht schaffen. Sie hätten Dummheiten gemacht, v. a. Sachen geklaut. Dann beschwert sich Ali über die Tatsache, dass er als Araber nicht in die Clubs kommt. Obwohl Francois rein könnte (er ist ja Franzose), tut er es nicht, um sich mit Ali zu solidarisieren. Die Türsteher bringen als Ausrede, man müsse Stammgast sein, um in den Club reinzukommen. „Ja, um Stammgast zu sein muss man doch schliesslich wenigstens einmal da hingehen.“ Selbst wenn sie mit Mädchen am Start sind, werden sie abgewiesen. „Na ja, wir schlagen und schon durch. Wir sind erwachsen, wir schlagen uns durch. Vor kurzem landete ich vor Gericht. Wegen einer Lehrerin.“ Die meisten Freunde der beiden haben keinen Job oder machen unbezahlte Praktika. Was sie bräuchten, um von den Dummheiten wegzukommen, sei ein Mädchen. „Ja, wenn man kein Transportmittel hat, keine Mäuse, wie kann man sich dann von der Stelle bewegen?“ Auch das Militär sei keine gute Alternative. In der Folge befragen sich die Jungs gegenseitig. „Umziehen, ja, das würde mir gefallen; aber ich werde das alles auch vermissen... Ja, aber schliesslich kommt viel von eurem Ärger daher, dass ihr in dieser Siedlung wohnt. Da liegt doch das Problem.“ Ali gibt zu, dass er nur stockend und abgehackt lesen kann, weil er nie geübt habe. Mit dem Hauswart haben sich die beiden gut verstanden. Er hat ihnen viel geholfen, u. a. ausgehen usw. „Er hat alle mit uns gemacht, Fussball gespielt... und mal einen Gefallen getan und so. Er hat uns mitgenommen, wohin wir wollten. Wenn wir ihn gefragt haben, hat er uns hingebracht... Er war der einzige, der die Jugendlichen verstanden hat.“ Die Siedlung in der die beiden wohnen (La Roseraie) hat so einen schlechten Ruf, dass sich die Mädchen, wenn die beiden ein Gespräch mit ihnen anfangen wollen, gleich abwenden und weggehen. „Sie halten uns für Verbrecher.“

Ein lebender Vorwurf In diesem Interview spricht Remi Lenoir mit André S., einem 35 Jahre alten Richter, verheiratet und Vater kleiner Kinder. „Das Bemerkenswerteste an den Äusserungen von André ist ohne Zweifel die vollständige Übereinstimmung seiner Vorstellung von der Justiz, die er einem unablässlich aufzudrängen versucht, mit der Repräsentation, die er von sich selbst entwirft.“ Ihm wohnt ein Gefühl des Unbehagens inne, wenn er von der Justiz spricht. Deshalb stellt er das Justizsystem ständig in Frage und ist davon enttäuscht. „Seine Enttäuschung ist umso grösser, als es ihm nicht möglich ist, den Glauben an die Notwendigkeit der Institution Justiz aufzugeben... Seine eigene soziale Rehabilitierung kann nur in Verbindung mit der Rehabilitierung dieser Instanz gelingen.“


André gefällt am Beruf des Richters die Vorstellung von Unabhängigkeit (keinen Chef), und dass man der Öffentlichkeit dient. „Kurzum, all das Gute, was die Institution der Rechtsprechung von ihren Prinzipien her zu bieten hat.“ Er gibt zu, dass er v. a. durch Lektüre (von Zeitungen und eines bestimmten Buches) zu dieser Auffassung gekommen ist. Als Richter habe man eine bestimmte Verantwortung. Anwalt hätter er nicht werden wollen, weil man dabei Dinge sagen müsse, die man nicht persönlich vertritt und weil es ständig ums Geld verdienen geht. André hält sich für einen sozialen Katholiken, er hat u. a. bei den Pfadfindern Zeit verbracht blablabla.... „Ich habe nicht verlangt, Karriere machen zu können, ich habe verlangt, dass man mich in Ruhe meinen Beruf ausüben lässt.“ So wollte man ihn schon wiederholt als Untersuchungsrichter rauswerfen und hat Druck gemacht, weil er kritisch gegenüber der Amtsspitze ist. Er fühlt sich berufen dazu Richter zu sein, gibt aber gleichzeitig zu, dass er viele in seinem Umfeld nicht dafür geeignet sieht. „Die Richter verschliessen sich der Debatte. Sie verschanzen sich, sie machen ihre Dinge unter sich aus, sie verstecken sich und sagen sich: ‚Wir werden uns doch damit nicht verrückt machen, wir fällen doch das Urteil‘.“ Auch die Solidarität und die Gewerkschaften stecken in der Krise. Es herrscht eine Diskrepanz zwischen dem, was gesagt wird und dem, was gemacht wird. Auch das Abhängigkeitsverhältnis der Polizeit gegenüber stört ihn: „Das heisst, um respektiert zu werden, muss ein Richter Verbündete bei der Polizei haben.“ Oft gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der Polizei und besonders mit der Staatsanwaltschaft feindlich. Sobald er die ungeschriebenen Gesetze der Kooperation übertritt, kommt es zu grossen Problemen: Man hindert ihn zu ermitteln, Fragen zu stellen, man verwehrt ihm die Einsicht in die Akten etc. „All das hat mich dazu gebracht, mir über die Wirklichkeit meiner Unabhängigkeit einerseits und den Sinn meiner Arbeit andererseits Fragen zu stellen.“ Vom Vollzugspersonal werde er dagegen immer sehr geschätzt. Auch die fehlende Überprüfung seiner Leistung schockiert ihn. „Und im Gegenteil, letztlich wurde ich aus dem Richterstand verbannt, ich wurde wirklich als schwarzes Schaf betrachtet.“ Er kommt zum Schluss, dass sich letzten Endes Aufrichtigkeit nicht auszahle. „Kurzum, was zählt, ist, dass man keine Wellen schlägt, dass man nicht über einen spricht, dass man keine Geschichten macht. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Rechtsprechung keine farblose Angelenheit sein darf, sie muss Ecken und Kanten haben.“ Erst wenn die Justiz unabhängig operieren kann, ist sie glaubwürdig. Auch die Gesetze machen bisweilen keinen Sinn und die Richterkollegen sind z. T. minimalistisch: „Kurzum, ich bekomme zur Zeit eine entsetzliche Menge fauler Kollegen mit. Wirklich, 50% der Richter in X versuchen, so wenig wie möglich zu arbeiten.“ Zudem seien sie nicht in ausreichendem Masse Risiken ausgesetzt. An der Polizei kritisiert er, dass es ihr oft an Einfühlungsvermögen fehle. „Ja, die Polizei kann sehr sehr gut sein, aber die Einstellung der Polizeit, kurzum, die ist oftmals ungenügend.“ Um ein gutes Urteil zu sprechen, müsse man ab und zu auch etwas wagen und überraschen. „Das zeigte, dass wir fähig waren, unsere Meinung zu revidieren. Sich in Frage zu stellen, die meschliche Seite in Betracht zu ziehen.“

Der alte Arbeiter und die neue Fabrik Dieses Interview mit Gerard und Christian, zwei Fabrikarbeitern bei Peugeot, wurde von Michel Pialoux geführt. Gerard und Christian kennen sich seit mehr als 20 Jahren. Es handelt sich aber um Fabrikkumpel und nicht um „Kumpel aus dem Viertel oder oder aus dem Dorf. Und dieser Unterschied ist bedeutend.“ Trotz seines bäuerlichen Habitus ist Gerard gewerkschaftlich aktiv und ein Roter. „Und Gérard hat tatsächlich den Ruf eines Roten, in der Fabrik wie auch ausserhalb.“


Obwohl das Gespräch eigentlich eher auf Gerards Fabrikerfahrung zu sprechen kommen wollte, geht es auch stark um sein Privatleben und seine Herkunft. Drei Hauptthemen bestimmen die Wortwechsel von Gérard und Christian: Zunahme der Härte der Arbeit am Band, Verfall des Berufsklimas in den Werkshallen und die immer grösser werdende Schwierigkeit bei der Ausübung gewerkschaftlicher Arbeit. „Was in diesem Interview in der Tat überrascht, ist vor allem anderen ein gewisser Ton, eine Mischung aus zurückgehaltener Wut beim Reden über die Gegenwart und einem etwas bitteren Humor, wenn es um die Vergangenheit geht.“ Insbesondere bei Gérard spürt der Interviewer eine Art Enttäuschung und Verletzung, die aus einer langen Geschichte resultiert. Heute sei die Arbeit in der Fabrik vollkommen durchstrukturiert, bemerkt Gérard zu Beginn des Gesprächs. Ständig werden Leistung und Zeit gemessen. Zudem gibt es viel mehr Auto Versionen als früher. Somit steigt insbesonder psychische Druck. Die neu Fertigungshalle sei in Sachen Arbeitsbedingungen und Betriebsklima noch schlimmer als da, wo sie jetzt arbeiteten. Neue gruppenbaiserte Arbeitsmethoden, die man in der Fabrik implementierern will, fordern z. B., dass die Gruppe über Urlaubstage und Verfügung entscheidet. Damit soll die Solidarität gesteigert werden. Früher hat unter den Arbeitern grössere Transparenz geherrscht, was die Löhne anbelangt. Man hat sich die Lohnzettel gegenseitig gezeigt und verglichen. Heute schaut jeder, dass er Prämien auf Vorschlag des Vorgesetzen abstauben kann, ohne damit bei den anderen aufzufallen. Auch die Gruppenprämien am Fliessband sorgen eher für Missgunst als für Solidarität, denn sobald einer die Leistung nicht bringen kann, ist er aussen vor. Bei den Prämien auf Vorschlag gibt es neben den Krankheitsausfällen, der Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit noch andere Gründe: Gerard hat 2 Jahre keinen Tag gefehlt und trotzdem keine Prämie gekriegt (wahrscheinlich, weil er gewerkschaftlich aktiv ist und an Streiks teilnimmt). Die Betriebsleitung versucht die Gruppen aufzubrechen und zu spalten und fordert gleichzeitig Loyalität von den Mitarbeitern, auch ausserhalb der Fabrik. „Ich träum von Peugeot, ich denk an Peugeot. Nachts träum ich von Peugeot.“ Anschliessend kommt man auf die Leiharbeiter zu sprechen (siehe dazu auch das vorhergehende Kapitel „Stammarbeitenehmer und befristet Beschäftigte“). Ihnen sei alles egal, auch dass die Arbeit hart ist. Von 3000 Leiharbeitern bei Peugeot haben nur 25 für den Streik gestimmt. „ Nein, das interessiert die nicht, es ist ihnen Wurst. Es ist bloss eine Durchgangsstation... es ist ihnen scheissegal, alles! Die leben nur so von einem Tag zum nächsten.“ Trotzdem sei das Verhältnis zu den Leiharbeitern gut, auch wenn es welche gäbe, die eingebildet wirken (den Walkman den ganzen Tag auf dem Kopf: „60% der Leiharbeiter haben so ein Ding auf dem Kopf“).

Ein verlorenes Leben Zweifellos einer der Höhepunkte des Bandes. Bourdieu spricht mit Henri F. Und Pierre L., zwei aktiven Landwirten, die einigermassen erfolgreich sind und beide im Alter von Ende 50. Beide haben mit Nachfolgeproblemen zu kämpfen, besonders Henri F., dessen Sohn sich nach anfänglich gegenteiliger Tendenz gegen den Hof des Vaters entschieden hat. Pierre L. ist im Dorf wohlbekannt und geschätzt, „besonders in der Siedlung, in der er persönlich jeden Tag die Milch abliefert.“ In beiden Fällen hat das Erbe die Rolle des Schicksals gespielt. „Mit Bitterkeit stellen sie fest, dass besser ausgestattete Erben in die Stadt gezogen sind und andere, weniger motivierte, auf Kosten ihres Hofes leben uns ihn so eines langsamen Todes sterben lassen, so dass er eines Tages mit ihnen zusammen verschwinden wird.“ Beide sind heute voller Enttäuschung und fühlen sich mehr als Angestellte eines Milchunternehmers denn als freie Bauern (siehe dazu den Abschnitt „Von der


endlichen Welt zum unendlichen Universum“ aus Junggesellenball). Beide sind auch stark vom Staat und dessen Subventionen abhängig. Etwas resignativ findet sich auch eine Sympathie gegenüber dem front national und dessen Gedankengut. „Und nie ist man der inneren Zerissenheit und der Gespaltenheit des Habitus dieser zu Leibeigenen ihres eigenen Erbes gewordenen Erben so nah wie dann, wenn sie dazu gezwungen sind, sich die Frage nach der Weitergabe des Erbes zu stellen.“ Der Sohn, der das Erbe des Vaters ausschlägt, begeht nach Bourdieu einen Vatermord. Er (der Sohn) erklärt „auch und vor allem das Werk seines Vaters, das Werk eines ganzen Lebens, für null und nichtig“ (deshalb auch der Titel des Kapitels: ein verlorenes Leben). Zuerst sagt Pierre L., dass die Zukunft der Landwirtschaft immer schwieriger werde und dass es häufig familiäre Probleme gebe. Viele Bauern finden keine Frau. „In zehn Jahren... da dürften sieben von zehn ledig sein.“ Ohne Frau sei es aber schwierig oder fast unmöglich einen Hof zu führen. „Mein Sohn hat gerade geheiratet, er lebt nicht mehr bei uns. Er ist zu ihrer Grossmutter gezogen. Das ist für mich eine Enttäuschung, eine sehr grosse Enttäuschung.“ (Henri F.) Ihm zufolge hätten Berufe ausserhalb der Landwirtschaft (Beamte, Arbeiter) zu viel Freizeit. Die Region, in der die Bauern leben, ist hügelig, schwer bewirtbar und benachteiligt. „Man findet keine Burschen von unserem Schlag mehr, die viele Jahre lang bereit wären, immer mehr zu arbeiten, um immer weniger zu verdienen.“ Das hat u. a. mit der Schulexpansion zu tun, aber auch mit dem Lebenswandel und den kostspieligen Maschinen. Henri F. findet, die Arbeitslosigkeit sei zu gut bezahlt. „Wenn alle Arbeitslosen den Mindestlohn verdienen würden, dann würden sie vielleicht Arbeit finden.“ Ebenfalls beklagt wird, dass die jungen Leute keine Verantwortung übernehmen möchten. Statt in den Urlaub zu fahren, kauft sich Henri F. lieber eine Maschine, die die Arbeit erleichtert. „Es ist gefährlich, wenn ein Vater seine Zeit verliert, weil er ... immer nur an seinen Sohn denkt, denn ein Sohn sieht die Dinge nicht wie sein Vater... Da gibt es ein Umfeld.“ (Pierre L.) Bourdieu hat dieses Gespräch bereits 1983 geführt. Es ging ihm darum, dass Leute, die er schon länger kannte, ihre Malaise zum Ausdruck bringen konnten. „Ich wollte eine Gesprächssituation, in der die befragte Person ausdrücklich von einem Interviewer konsultiert wird, den sie als kompetent ansieht, ihre Aussagen an die richtigen Stellen weiterzuleiten, und der es aus diesem Grund verdient, ernst genommen zu werden.“ Obwohl es ursprünglich darum gehen sollte, politische und öffentliche Probleme zur Sprache zu bringen, ging es doch mehrheitlich um Privates. „So muss ich also zugeben, dass ich erst, nachdem ich das Gespräch vollständig transkribiert und mich voll und ganz auf Henri F.s Logik eingelassen hatte, verstanden habe, was er mir da pausenlos sagte... Weil er es sich selbst nicht eingestehen konnte, hatte er mir, ohne es wirklich auszusprechen, mitgeteilt, dass ihn sein Sohn getöt hätte.“ Und: „Ein wirkliches Verstehen des auf tragischste Weise Intimen ist nur um den Preis eines Umwegs über das höchst Unpersönliche möglich, also die allgemeinen Mechanismen, hier die des Erbens, die sich nur offenbaren, wenn man sie im Gesamtzusammenhang einer gesellschaftlichen Lage betrachtet.“

Ein verlorenes Paradies Dieses Interview mit drei Gymnasiatinnen gehört ebenfalls zu den Höhepunkten des Bandes. Die Protagonistinnen sind Claire R., 15 Jahre alt, Muriel F. und die 18-jährige Nadine B. Erstere äussert sich im Gespräch am seltensten und ist erst seit drei Monaten im Verlaine-Gymnasium. Ihre Eltern haben einfache Berufe: Ihr Vater ist Arbeiter, ihre Mutter Krankenschwester. Dagegen gehören


Muriel und Nadine kulturell privilegierten Familien an. Sie (Claire) ist die einzige, die bei der Wahl des Abiturzuges das mathematisch-naturwissenschaftliche von vornerein ausgeschlossen hat. Sie empfindet, dass die anderen Zweige völlig entwertet sind, und führt einen nostalgischen Diskurs über das Collège, wo die Schüler enger zusammenhielten: „Aus dem Collège, da ging es zu wie in einer kleinen Familie.“ Muriel F. ist die Wortführerin und Schülersprecherin. Sie hat zwei Brüche in der Schulkarriere erlebt: Übergang von der nahen Grundschule zum grossen, grauen und kalten Collège und Wechsel zum Gymnasium mit seinem Primat des naturwissenschaftlichen Zweiges. Sie bemängelt, dass es vorteilhaft ist für ein literatur- oder geisteswissenschaftliches Studium ein naturwissenschaftliches Abi gemacht zu haben. Nadine B. hat die letzten beiden Schuljahre als sehr strapazierend empfunden. Sie möchte Fotografin werden, hat aber keine Lust das C- oder D-Abi zu machen: „Entweder du machst das C- oder D-Abitur oder du lässt es ganz sein.“ Sie musste eine Klasse wiederholen und kommt in der neuen Klasse nicht so gut zurecht. Ihr Fall ist durch den Verlust von Selbstachtung gekennzeichnet und sie war zeitweise völlig am Ende, wie sie sagt (Depression, Appetitlosigkeit, Selbstmordversuche). „Da die Lenkung qua Durchfallen später und weniger vereinzelt vonstatten geht, werden immer mehr Schüler, wie Claire, Muriel und Nadine in die Lage versetzt, die Bedingungen ihres Misserfolgs anzuprangern.“ Zu beginn des Gesprächs beschreiben die Schülerinnen ihr Collège und ihr Gymnasium. „Das ist eher eine Fabrik, kein Schulhaus mehr.“ Im Gymnasium sei’s noch schlimmer. Nadine sagt, dass sie unter ständigem Stress stehe und Beruhigungsmittel genommen habe. Der Königsweg ist ganz klar der naturwissenschaftliche Zweig. „Und das Ziel, das sie vorgeben, ist, dass jeder dort hin muss und es auch schaffen kann. Und die, die nicht mithalten können, haben halt Pech gehabt.“ Wenn man es nicht packt, solle man die Schuld bei sich selbst suchen. Somit entstehen bei den Schülern Schuldund Minderwertigkeitsgefühle. „Manchmal hat man den Eindruck, dass man kein Recht darauf hat, Fehler zu machen.“ Die Lehrer sind nicht sehr kooperativ, wenn es darum geht, auf die Sorgen und Nöte der einzelnen Schüler zu hören. Claire zufolge war es am Collège besser. Dort ging es zu wie in einer kleinen Familie. „Alle kannten sich. Die Lehrer wussten wer man war. Man hatte immer einen Lehrer hinter sich.“ In der zehnten Klasse lassen einem die Lehrer ihre Geringschätzung spüren, besonders, wenn man nicht den naturwissenschaftlichen Abschluss anstrebt. „Man schätzt vor allem die Naturwissenschaftlichen.“ Die besten Schüler werden sowieso fast ausschliesslich in den naturwissenschaftlichen Zweig gesteckt. Zudem herrsche das ganze Jahr über eine ständige Aggression. Bei Nadine hat das zu familiären Konflikten geführt. „Und die Eltern flippen aus... Die Diskussionen daheim drehten sich nur noch um die Schule!“ In den Klassen gibt es Gruppen und isolierte Leute und die Isolierten sind völlig am Ende. „Man bekommt den Eindruck, das nichts vorgesehen ist, um jemandem, der in einem bestimmten Moment in Schwierigkeiten kommt, helfen zu können.“ Diese Bemerkung des Interviewers beantwortet Nadine mit dem Satz: „Da herrscht in etwa das Recht des Stärkeren.“

Die Gewalt der Institution In diesem Interview sprechen Abdelmalek Sayad und Gabrielle Balazs mit dem Rektor Herr Ramus. Dieser hat mit Gewalt an der Schule und anderen schwerwiegenden Problemen zu kämpfen, versucht aber trotzdem so gut es eben geht einen normalen Schulbetrieb aufrecht zu erhalten.


„Es gibt Zeiten grosser Spannungen und dann wieder Zeiten, wo es ein bissschen ruhiger ist.“ So geht das Gespräch los. Häufig seien Angriffe mit Steinwürfen, die nicht sehr harmlos sind. Besonders im Winter, wenn es Schneeballschlachten gibt, geht es heiss zu und her. „Das waren keine Schneebälle, was die da geworfen haben, das waren Eisbrocken. So hart wie es nur ging, auch so stark zusammengepresst wie möglich, ich denn auch Verletzungen an der Kopfhaut und solche Sachen halt.“ Manchmal seien auch halbe Klassen und manchmal zwei Drittel der Schüler fehlend. „Wir hatten Klassen, wo von 25 nur 5 Schüler da waren.“ Wenn sich die Gewalt nicht mehr im College selbst abspielt, dann unmittelbar davor auf der Strasse. Das Drogenproblem sei nicht gravierend. Harte Drogen habe man an der Schule nicht gefunden und auch sonst keine schwerwiegenden Probleme. Rauchen wird strikt untersagt und unterbunden. „Aber die Schlägereien, davor hab ich Angst, davor hab ich Angst.“ Das Alter der Schüler in den Klassen gestaltet sich sehr variabel. Z. T. sind 11-Jährige mit 15- und 16-Jährigen in der gleichen Klasse. Zudem habe man ein Wiederaufleben der Gewalt gegenüber den Lehrern feststellen können. Wichtig sei, dass kleine Delikte, wie Sprayereien und Vermüllung aufgeräumt werden: „Ich beklag mich nicht, ich schlag mich dafür, dass es sauber ist.“ Das Verhältnis mit den Behörden gestaltet sich mühsam, weil es so unvorhersehbar ist. Er persönlich kriegt die Balance zwischen Beruf und Privatleben kaum mehr hin. Auch mit den Familien der Schüler sei es nicht immer einfach, v. a. weil man sie so selten sieht. Um das zu ändern, müssen die Familien die Zeugnisse persönlich in der Schule abholen, sie werden nicht mehr nach Hause geschickt. „Für den grössten Teil der Eltern verkörptert das Collège, die Schule, für die, die hingegangen sind, schulisches Versagen, und dann gibt es auch noch viele, besonders unter den maghrebinischen Frauen, die um die 40, 50 Jahre alt sind, die sind nie zur Schule gegangen, nie.“ Zwei Beispiele veranschaulichen die unterschiedlichen Erziehungsmethoden der Eltern. „Und die zwei Extremfälle, totale Unterwürfigkeit gegenüber der Institution und totale Aggressivität, für die Kinder läuft das letztendlich auf das gleiche hinaus.“ Für die Schüler ist die Schule oft ein Milieu von Zwängen. Die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern sind entweder gefühlvoll oder konfliktgeladen. „Das Problem kommt vom Zusammengedrängtsein von Problemfamilien, egal welcher sozialen Herkunft, letztlich auch welcher Rassen; darüber ist man ganz einer Meinung.“

Der Fluch Abdelmalek Sayad spricht mit Abbas, einem Immigranten aus Algerien. Dieser (Abbas, aber vielleicht auch Sayad) hat in der Familie den Ruf eines Weisen und Einzelgängers, der obwohl er nicht schulisch gebildet ist als gelehrt gilt. „Er ist ein ehemaliger Arbeiter eines grossen Industrieunternehmens im Grossraum Paris und heute Rentner.“ Abbas hat sich selbst erforscht und hinterfragt und präsentiert seine Ergebnisse jetzt im Gespräch. „Alles läuft schief... Man muss am Ende angelangt sein, jetzt wo alles vorbei ist, um festzustellen, dass alles schief gegangen ist, weil wir uns auf der ganzen Linie getäuscht haben.“ Schon ganz zu Beginn des Interviews deutet sich der Fluch an, den Abbas im Folgenden genauer erläutern wird. Er erzählt die Geschichte vom ersten Tag an. „Nicht die Äusserlichkeiten haben sich im Lauf der Zeit verändert, wir sind es. Unsere Sicht auf diese Dinge hat sich zwischenzeitlich geändert.“ Als Beispiel dienen die Wohbedingungen. Aber wie hat alles angefangen? Welches war der erste Tag? Es war der 17. November 1951. Abbas war der Familie schon länger mit dem Wunsch nach Frankreich zu gehen


auf den Ohren gelegen. Er war damals 21 Jahre alt und sprach mit seinem Vater vermittelt über Dritte. Es haben sich zwei Gruppen herausgebildet: „Die Anwälte meiner Sache ihm gegenüber und die Verteidiger seiner Position mir gegenüber.“ Das Tauziehen dauerte zwei Jahre. Dank einem Verwandten, einem Weisen, konnte er das Ringen gewinnen und ging nach Frankreich. Der Fluch bestand in den letzten Worten des Vaters, als Abbas in Begleitung des Weisen abreiste. „Nie im Leben habe ich gedacht, dass mir etwas derartiges passieren könnte. Geld aus Frankreich annehmen zu müssen! Mir ist das ein Frevel. Mir liegt daran, dass es alle wissen. Ich flehe dich an, behalte das Geld für dich, behalte es dort. Tue mir bitte den Gefallen, mehr noch als einen Gefallen, ich befehle es dir, verschone mich mit diesem Schmutz. Denn wenn du es mir schicken würdest, wüsste ich nichts damit anzufangen: weder um davon zu essen, noch um Feuer damit zu machen.“ Abbas Grossvater war der Jüngste der Familie und ein Gebildeter. Er wurde aber von der Familie benachteiligt und nicht als Erbe berücksichtigt, so dass sich Abbas‘ Vater als Bauer durchzuschlagen. „Jedenfalls waren sie gezwungen, von ihrer Hände Arbeit zu leben, obwohl sie darauf nicht vorbereitet gewesen waren.“ Da man immer auf moslemischem Boden gelebt hatte, war das Geld aus der Fremde, aus Frankreich für Abbas’ Vater verabscheuenswürdiges Geld. „Ich habe jedenfalls nach meiner Ankunft kein Geld geliehen, um es ihm zu schicken, wie das all die anderen machten, damals und auch heute noch... Ich kann sie immer noch hören, diese Worte des Abschieds. Sie verfolgen mich. Je mehr Zeit vergeht, desto tiefer prägt es sich mir ein.“ Laut Abbas hatte man zu der Zeit keine Wahl. Die Jüngeren – egal ob reich oder arm – überlegten sich nach Frankreich zu gehen. „Es war der einzige Weg zu beweisen, dass man endlich zum Mann geworden und nicht mehr ein Kind war.“ Abbas und seiner Familie war bewusst, dass Frankreich nicht das Paradies werden würde, ihm war sogar bewusst, dass es in mancher Hinsicht die Hölle ist. Hinzu kam die Angst vor dem Unbekannten und das Heimweh. „Wir haben uns zusammen durchgeschlagen, mit dem, was wir hatten. Wie man es in solchen Notfällen wohl immer macht. Von einem Tag auf den nächsten... Nein, nicht einmal das.“ Abbas empfindet sein Verhalten als eine Art Verrat. „Ja, ganz genau das ist es. Wir haben uns alle losgesagt, von uns selbst, von unseren Vorfahren, unserer Herkunft, von unserem Glauben. Wir sind vom Glauben abgefallen.“ Abbas findet es nicht so gut, wenn eine Moschee in der Fabrik eingerichtet wird und empfindet es als billige Abspeisung. Für ihn bedeutet Einwanderer zu sein eine doppelte Schande: die Schande hier zu sein und die Schande seine Herkunft verraten zu haben. „Das ist es, was ich die Schande des Auswanderers nenne, ob man will oder nicht, die Schmach sich selbst gegenüber, die Schmach für die Seinen, die Schmach für Algerien...“ Dann kommt das Gespräch auf die Lebensbedingungen und auf die Kinder zu sprechen. „Im Endeffekt haben wir uns sehr weit voneinander entfernt. Uns verbindet nur eins: Ich bin ihr Vater, ihre Mutter ist ihre Mutter, wir sind ihre Eltern, sie sind unsere Kinder... Wir leben in zwei verschiedenen Welten... Was den Rest angeht, so leben wir unter demselben Dach, aber das ist es auch schon.“ Er beklagt sich über die Faulheit seiner Söhne. Für die neue Generation ist die Arbeit nicht etwas für einem selbst, sondern ein Frondienst, deren man nicht würdig ist. „Die Arbeit, die sie finden können, und sie finden welche, das ist nicht mehr ihre Arbeit, das ist die Arbeit der anderen. Sie arbeiten für die anderen.“ Scheinbar arbeiten seine Söhne nur soviel wie nötig und nur wenn es ihnen gerade passt. „Die einen haben keine Arbeit, weil sie ihnen nicht passt, die anderen deswegen, weil sie keine finden.“ Die mittlerweile 35-jährige Tochter ist nach ihrer Schule im Alter von 16 ins Haus zurückgekehrt. „Es endete völlig entgegen dem, was ich damals gewollt habe... und entgegen dem, was ich mir heute noch wünsche, wenn uns die Zeit nicht überholt hätte, wenn sie uns nicht besiegt hätte, wenn uns die Zeit nicht gezwungen hätte, uns ihr zu unterwerfen, das Inakzeptable zu akzeptieren.“ Abbas wird


Frankreich nie als sein Land ansehen. Seine Tochter „hat das Haus verlassen, sie verdient ihren Lebensunterhalt, sie ist selbstverantwortlich.“ Am Schluss resümiert Abbas: „Die Einwanderung ist Schuld daran, wie man das so sagt.“

Verstehen Verstehen ist das Leitmotto des Bandes und deshalb auch das methodisch wichtigste Kapitel des Buches. Bourdieu stellt darin seine Konzeption eines guten Interviews dar. An den Büchern über Interviewtechniken kritisiert Bourdieu, dass sie sich noch immer an alte methodologische Prinzipien halten (Ideal der Standardisierung...). „Jedenfalls sscheint es mir, dass diesen Schriften etwas entgeht, was diejenigen Forscher immer gewusst und getan haben, die ihren Gegenstand mit grösstem Respekt behandelt haben und einen Blick hatten für die quasi unendlichen Subtilitäten der Strategien, die die gesellschaftlichen Akteure in ihrem gewöhnlichen Alltagsleben anwenden.“ Zunächst müsse man sich vergegenwärtigen, dass es sich bei der Befragungssituation trotz der Unterschiede zu anderen Situationen um eine soziale Situation handelt. Somit sind bereits in der Struktur der Befragungsbeziehung viele mögliche Verzerrungen angelegt. „Es geht darum, diese Verzerrungen zu erkennen und zu kontrollieren...“ Um eine gewaltfreie Kommunikation zu erreichen, sollte man versuchen, sich in die Lage des Befragten zu versetzen. „Es geht also darum, die Zensur zu begreifen, die bewirkt, dass bestimmte Dinge nicht gesagt werden, und die Beweggründe dafür zu erkennnen, dass andere betont werden.“ Da grundsätzlich der Interviewer die Situation bestimmt, ist die Interviewsituation von Asymmetrie geprägt. Deshalb sollte man die symbolische Gewalt, die in den Interviews wirksam ist, so weit wie möglich ausschalten. „Damit eine Befragungsbeziehung diesem idealen Schnittpunkt so nah wie möglich kommt, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein.“ Manchmal muss auch auf die Struktur der Beziehung geachtet werden, z. B. indem Interviewer gewählt werden, die zum Interviewten passen und indem Situationen der Nähe und Vertrautheit geschaffen werden. Für die Interviews im „Elend der Welt“ wurden deshalb Interviewpartner und Interviewer gewählt, die miteinander vertraut sind oder sich durch ähnliche Bedinungen auszeichnen. Der Dilthey’schen Trennung müsse man entgegenhalten, dass Verstehen und Erklären eine Einheit bilden. „Das heisst, der Interviewer hat nur dann eine gewisse Chance, seinem Gegenstand gerecht zu werden, wenn er ein enormes Wissen über ihn hat, welches er entweder im Laufe eines ganzen Forscherlebens oder, auf direktere Weise, im Laufe vorausgehender Gespräche mit dem Befragten selbst oder it Informanten angehäuft hat.“ Laut Bourdieu können Interviews als eine Art geistige Übung betrachtet werden, dank der man, wenn man es gut macht, zu einer Art geistiger Konversion kommen kann, zu einer Art intellektueller Liebe. „Entgegen dem, was eine in naiver Weise personalisierte Sichtweise der Einzigartigkeit der gesellschaftlichen Individuen glauben machen möchte, ist es vonnöten, die den situationsbedingten und im Rahmen einer punktuellen Interaktion hervorgebrachten Äusserungen immanenten Strukturen an die Oberfläche zu bringen, um auf das Wesentliche dessen, was die Idiosynkrasie eines jeden dieser jungen Mädchen ausmacht, sowie auf die ganz einzigartige Komplexität ihres Agierens und Reagieren zurückzukommen.“ Auch auf das Transkribieren der Interviews kommt Bourdieu zu sprechen. „Wir haben uns deshalb bemüht, dem Leser die nötigen Instrumente zu liefern, um den Äusserungen, die er lesen wird, jenen Blick entgegenbringen zu können, der dem Befragten gerecht wird, indem er ihm seinen Daseinsgrund und seine Notwendigkeit zurückgibt.“


Ortseffekte Das Kapitel dreht sich um die räumliche Dimension sozialer Ungleichheit und geht auf die Situation in den banlieues ein. Diese seien ganz wesentlich durch Abwesenheit gekennzeichnet. „Es ist ganz wesentlich die Abwesenheit des Staates und all dessen, was damit zusammenhängt: Polizei, Schule, Gesundheitsvorsorge, Vereine etc.“ Die soziologische Analyse erfordert deshalb, die Wechselbeziehungen zwischen sozialem Raum und physischem Raum anzuschauen. Während der Mensch immer orts- und körpergebunden ist und damit physisch in der Wirklichkeit vertreten, bildet sich der Sozialraum als Aneinanderreihung sozialer Positionen aus. „So bringt sich die Struktur des Sozialraums in den verschiedensten Kontexten in Gestalt räumlicher Oppositionen zum Ausdruck, wobei der bewohnte (bzw. angeeignete) Raum wie eine Art spontane Symbolisierung des Sozialraums funktioniert.“ Somit ist auch der physische Raum hierarchisiert und steht gleichsam in Homologie zum sozialen Raum. Allerdings handelt es sich um eine verwischte Homologie. „Ein Teil der Beharrungskraft der Strukturen des Sozialraums resultiert aus dem Umstand, dass sie sich ja in den physischen Raum einschreiben und nur um den Preis einer mühevollen Verpflanzung, eines Umzugs von Dingen, einer Entwurzelung bzw. Umsiedlung von Personen veränderbar sind.“ Die Felder überlagern sich gegenseitig. „Solche Gegensätze spiegeln eine regelrecht Symbolik der feinen Unterschiede wider.“ Gemeint sind damit Gegensätze zwischen noblen und deprivierten Quartieren und Orten. Die im physischen Raum objektivierten Gegensätze schlagen sich auch in den Wahrnehmungs- und Denkmustern nieder. „Genauer gesagt vollzieht sich die unmerkliche Einverleibung der Strukturen der Gesellschaftsordnung zweifellos zu einem guten Teil vermittelt durch andauernde und unzählige Male wiederholte Erfahrungen räumlicher Distanzen, in denen sich soziale Erfahrungen behaupten.“ Somit ist der Raum ein Ort der Macht, wobei die darin vorkommende symbolische Gewalt weitgehend unbemerkt bleibt. „Der Raum, oder besser, die Orte und Plätze des verdinglichten Sozialraums und die von ihnen vermittelten Profite sind selbst Gegenstand von Kämpfen.“ Der Kapitalbesitz entscheidet darüber, wer den Raum beherrschen kann. „Der Mangel an Kapital verstärkt die Erfahrung der Begrenztheit: er kettet an einen Ort.“ Die Mobilität stellt einen Indikator für das Kräftefeld und die Siege bzw. Niederlagen in den Kämpfen dar. Auch der Habitus findet sich im Raum wieder, so z. B. in den Wohnungen und den Passungen mit den Akteuren. „Wenn die Wohnung dazu beiträgt, Gewohnheiten zu stiften, so findet auch der Habitus mittels der von ihm nahegelegten mehr oder minder adäquaten Gebrauchsweisen im Habitat, im Wohnen seinen Niederschlag.“ Natürlich stehen auch die subtilsten Formen der Praxis in engem Zusammenhang mit der räumlichen Prägung. „All dies sind Züge, die dem Geburtsort sein besonderes Gewicht verleihen.“ Um Zugang zu den abgesperrten und symbolisch aufgeladenen Räumen zu erhalten, braucht es v. a. soziales Kapital. Bourdieu nennt dies den Club-Effekt. Dieser findet sich auch in Wohnvierteln wieder. Neben den individuellen Kämpfen um den (physischen) Raum gibt es auch kollektive Kämpfe. Hier spielt der Staat eine entscheidende Rolle, z. B. durch die Kreditpolitik und die Förderung von Eigenheimen (-> das ökonomische Feld, der Einzige und sein Eigenheim). „Der Staat verfügt dank seines massgeblichen Einflusses auf den Immobilienmarkt, aber auch auf Arbeitsmarkt und Schule, über eine immense Macht über den sozialen Raum.“


Die Abdankung des Staates Aus diesem Kapitel ist insbesonder der Abschnitt über die rechte und linke Hand des Staates relevant. Den Ausgangspunkt bilden erneut die sozialen Probleme in den banlieues. „So sitzt gewiss die Wahrheit dessen, was sich in den Problemvorstädten abspielt, nicht an diesen gewöhnlich übergangenen Orten, die doch hin und wieder im Vordergrund der Aktualität auftauchen.“ Vielmehr gälte es die politischen Programme unter die Lupe zu nehmen, die zum „sozialen Wohnungsbau“ geführt haben. Bourdieu zufolge haben politische Standpunkte, die mit dem Schlagwort des Neoliberalismus umschrieben werden könn(t)en den Diskurs über den Wohnungsbau angeregt. „Doch während die Unruhen von Vaulx-en-Velin oder der Mord von Saint-Florentin den Eröffnungsbeitrag der Nachrichtenmagazine im Fernsehen und den Aufmacher der Tagszeitungen abgeben, wer erinnert sich da noch an das Weissbuch zum sozialen Wohnungsbau, die Barre- oder Nora-Eveno-Kommissionen und all die Debatten über die Baubeihilfen oder die personenbezogenen Mietbeihilfen, die vor 15 Jahren die Regierungskreise unter Giscard d’Estaing und seinem Staatssekretär für Wohnungsbaufragen, Jacques Barrot, in Erregung versetzt haben?“ Bourdieu spricht von einer Zerstörung der Idee des öffentlichen Dienstes. Dann kommt er auf die Differenz zwischen der rechten und linken Hand des Staates zu sprechen. Die linke Hand sind kleine Beamte, Sozialarbeiter, Jugendrichter etc. „So wird begreiflich, dass die kleinen Beamten und insbesondere jene, die damit beauftragt sind, die sogenannten sozialen Funktionen zu erfüllen, das Gefühl haben, in Stich gelassen worden zu sein oder gar desavouiert zu werden.“ Diese Spaltung und die Schwächung der Gewerkschaften sorgen für ein neues Verständnis des Staates, das fragmentierter als das alte ist. „Dieser Umweg über den Staat und seine politischen Entscheidungen ist unerlässlich für das Verständnis dessen, was man heute vor Ort beobachtet...“ Die Jugendlichn in den Problemvierteln bezeichnet Bourdieu als „Schule der Subproletarier“. Ihnen fehlt es an fast allem: Arbeit, Freizeitbeschäftigungen, Konsumgütern etc. und ihnen ist eine Erfahrung des Scheiterns eigen. „Die Schule drängt sie zur Ablehnung der ihnen einzig zugänglichen Zukunft, ohne ihnen jedoch in irgendeiner Weise eine Garantie auf die Zukunft zu geben, welche sie doch zu versprechen scheint, auf die definitiv zu verzichten sie ihnen allerdings über schicksalshafte Wirkung ihrer Verdikte beibringt.“ Die Schwächung der linken Hand des Staates und der Gewerkschaften muss man verstehen und berücksichtigen, um die Lage der Jugendlichen nachvollziehen zu können. „Es wird ersichtlich, wie die Abdankung bzw. der Rückzug des Staates unerwartete Wirkungen verursacht hat, welche keinesfalls jemals gewünscht waren und von solcher Art sind, dass sei zeitweilig das harmonische Spiel der demokratischen Institutionen bedrohen können, wenn nicht die resolute Politik eines entschiedenen Staates tatsächlich die Mittel zur Umsetzung seiner Absichtserklärungen ergreift und im letzten Moment das Steuer herumwirft.“


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