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Die politische Ökonomie von Science 2.0 Schöne neue vernetzte Wissenschaftswelt? Bei den Netzwerken, die sich ­anschicken, die Publikationsweise und die Zusammenarbeit von Forschern zu revolutionieren, geht es zunächst und vor allem auch bloss um Daten – und um Profit. Tino Brömme Zwei hervorstechende Beispiele für Science 2.0 sind ResearchGate und Academia.edu, erstere das «Facebook für Wissenschaftler», gegründet 2008 in Berlin mit aktuell angeblich vier bis fünf Millionen Nutzern und täglich 10 000 neuen Mitgliedern, letztere mit elf Millionen Usern nach eigenen Angaben, eine SocialMedia-Webseite aus San Francisco, die sich das Ziel gesetzt hat, «wissenschaftliches Publizieren von Grund auf neu aufzubauen». Eine dritte grosse Webplattform – die neben Facebook und Twitter einer Nature-Umfrage zufolge inzwischen für viele zur Wissenschaftsroutine gehört – ist Mendeley mit drei Millionen deklarierten Nutzern, an der sich bereits die ersten Konzentrationssymptome der Branche zeigen: 2013 wurde das einstige Start-up von dem zweitgrössten Verlagshaus der Welt, Reed Elsevier, für eine Summe zwischen 69 und 100 Millionen Dollar (6595 Million CHF) aufgekauft. Jede dieser Internetfirmen versucht, den Wissenschaftsprozess neu aufzurollen, vom Beginn der Ideensuche über den ersten Entwurf, vom Forschungsprojekt bis hin zum Forschungsartikel – jedem Schritt sein digitaler Service. Der Politikwissenschafter Philip Mirowski von der University of Notre Dame in Indiana spricht zutreffend von einer «Taylorisierung» des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses, deren Ziel es ist, ihn zu kontrollieren und Teile davon zu automatisieren oder outzusourcen. Ein Beispiel sind Schreibagenturen, die Datenzusammenfassungen, Förderanträge und dergleichen kommerziell verfassen. Mirowski warnt vor den Auswirkungen auf die wissenschaftliche Gemeinschaft, wenn sie sich allzu arglos auf die verheis­ sungsvollen akademischen Social-Mediaund Publikationsangebote der allenthalben spriessenden Start-ups einlässt. Erst vor kurzem deckte er in seinem Buch «Science Mart» die Methoden der Forschungskommerzialisierung in den Verei-

nigten Staaten auf. Plastisch legt er die politische Ökonomie der Internet- und ITBranche bloss, deren Slogan von der «Offenen Wissenschaft» der Menschheit den grossen Sprung in die Wissensgesellschaft verspricht.

«Entdecke neue Mechanis­ men für Finanzierung, Koo­ peration, Feedback, Zitate und Anerkennung!

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Neue Finanzierungsregeln halten Einzug, das wissenschaftliche Personal wird austauschbarer: Sollte ein Projekt nicht mehr gewinnversprechend sein, kann seine Finanzierung eingestellt werden, die Forscher lassen sich flexibel woanders einsetzen. Was früher eine Person von Anfang bis Ende durchführte, wessen er oder sie sich möglicherweise viele Jahre oder ein Leben lang widmete, kann jetzt auf viele Personen verteilt werden und gehört auch nicht mehr nur einem oder einem kleinen Kollektiv, sondern ... ja wem?

Die grossen Verlagshäuser unter Beschuss

Wer über die meisten Forscherprofile und Daten verfügt, erhält auch Zugriff auf die grösste Begehrlichkeit: die H ­ onigtöpfe staatlicher Fördermittel. Die jüngste Schlagzeile: eine Plattform namens RIO, die verspricht «jeden Schritt des Forschungszyklus zu publizieren – Ideen, Methoden, Daten, Software oder Endresultate». Ihre Werbung lockt: «Entdecke neue Mechanismen für Finanzierung, Kooperation, Feedback, Zitate und Anerkennung!» Die neuen Player im Wissenschafts­ sektor greifen auch das bisherige Publi-­­ ka­tionsoligopol der grossen Verlags­häu­ ser an. Elsevier, Thomson Reuters, Wiley, Taylor & Francis und Springer Nature, die weltweit mehr als die Hälfte aller

L’économie politique de la science 2.0 Le monde de la science est-il devenu un bel et nouvel univers largement connecté? Derrière les réseaux (sociaux) qui prétendent révolutionner les modes de publication, d’intercom­mun­ ication, et de collaboration entre les chercheurs, il faut surtout bien voir simplement une manière de traiter les informations, et surtout une manière de faire du profit. C’est l’idée que défend Timo Brömme, journaliste spécialisé en politique des sciences et directeur de l’agence de presse ESNA European Higher Education News, à Berlin skwj-bulletin 2/15 | 3


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