abzuleiten. In den drei Versus-Stücken wird dies fortgeführt, indem den solistischen Streichern der Einspielungen jeweils ein Blasinstrument hinzugefügt wird. Der Gegenüberstellung beider Instrumente liegt ein kontrapunktischer Gedanke zu Grunde und dies – zumindest in Versus I – verbunden mit der Absicht, eine ‚Meta‘-Melodielinie hörbar zu machen. Versus II und III weisen stattdessen eine dialogartige Struktur zweier miteinander verflochtener Stimmen auf. Zwischen 1983 und 1986 erschienen zudem drei Stücke für Flöte – Grund (1983), Ludi Concertati I (1985) und Aura (1986). Trotz verbindender Elemente in diesen Stücken rechnet der Komponist Ludi Concertati I nicht zum Zyklus 2. Die Stücke Chessed I-IV sind für überaus unterschiedliche Besetzungen komponiert. In Chessed I für 16 Instrumente bezieht sich Nunes auf einige Ideen der Kabbala, insbesondere aus dem Buch Zohar, auf Ideen des Talmuds und auf Schriften des Philosophen Gershom Sholem. ‚Chessed‘ (gesprochen: Hesed) bedeutet ‚Segnung, Gnade, Liebe oder Erbarmen Gottes‘ und ist die vierte Sephira der zehn Sphären göttlicher Emanationen des kabbalistischen Lebensbaumes. Ohne eine musikalisch direkte Umsetzung beziehen sich die Chessed-Stücke also auf heilige, jüdische Texte – schließlich arbeitete der Komponist zeitgleich auch an seinem monumentalen Tif’ereth. Neben ‘Chesed’ ist ‚Tif’ereth’ (Schönheit, Herrlichkeit) eine der Sphären zweiter Ordnung des Sephirot-Lebensbaumes – gemäß der Ordnung der Schöpfung. Tif’ereth für sechs Solisten, sechs Orchestergruppen und zwei Dirigenten (1978-1985) gehört zu den wichtigsten Werken in Nunes‘ Schaffen. Die Orchestergruppen und Solisten sind hier um das Publikum herum angeordnet und ermöglichen die Entfaltung verräumlichter Antiphonien, reguliert durch das Prinzip eines ‚rhythmischen Paars‘. Trotz aller inhaltlichen und klanglichen Unterschiede steht Tif’ereth in der Tradition räumlich gestalteter Werke wie Gruppen (1955-57) und Carré (1959-60) von Stockhausen. Mit Wandlungen (1986) und Duktus (1987) folgen zwei große, überaus dynamische Ensemblestücke. Das erste erkundet einen ‚Cantus Firmus‘ in Form von fünf Passacaglien, wobei die dritte als Sonata a tre separat aufführbar ist. Duktus ist für sieben Gruppen von je drei Musikern komponiert und beschäftigt sich mit den Möglichkeiten konstanter Variation eines kontinuierlichen, melodischen Flusses, der aus einer Abfolge von ‚Melodien‘ und ‚Episoden‘ geformt wird. Die räumliche Disposition und Verräumlichung einzelner Schallquellen ist eine Konstante im gesamten Schaffen von Nunes und findet einen vorläufigen Höhepunkt in Lichtung I-III (1988-2007) für Ensemble und Live-Elektronik. Komponiert am Ircam Paris in enger Zusammenarbeit mit Eric Daubresse, kommt nun Live-Elektronik umfassend und in vielfältiger Weise zum Einsatz. Dabei beruht sie auf denselben kompositorischen Prinzipien wie der Instrumentalpart. So ergeben sich dichte, kontrapunktische Beziehungen zwischen der instrumentalen und elektronisch verräumlichten Konzeption der Musik, die unaufhörlich ganz unterschiedliche Hörlandschaften evoziert. Die Bewegung der Töne im Raum zielt aber nicht auf die akustische Vermittlung geometrischer Figuren ab, sondern auf die verfeinerte Gestaltung einer plastischen Raumqualität: Es geht nicht um Figuren, sondern um Kon-Figurationen.
4. Monumente der Verräumlichung: Parallel zum Zyklus 2 komponierte Werke (1982-2002) Ab 1982 entstanden zahlreiche Werke unabhängig von den beiden Zyklen. Sie können allerdings Elemente oder Passagen aus vorherigen Stücken enthalten, die den Zyklen angehören (wie dies explizit in Quodlibet der Fall ist), doch folgt ihr Aufbau nicht deren streng lexikalischen oder grammatikalischen Regeln. Nach Voyage du corps, 73 Oeldorf 75 II und Minnesang folgt mit Vislumbre (1986) Nunes‘ viertes Stück für Chor a cappella. Das lexikalische und phonetische Potential des zugrunde liegenden Gedichts von Mário de Sá-Carneiro wird hier durch sechs unterschiedliche Lesungen erkundet, wozu der Text auf verschiedene Ebenen aufgeteilt wird, und Phoneme und Wörter eingehend untersucht werden. Auf diese Weise eröffnet sich ein Universum bisher ungekannter Klangfülle und großen Beziehungsreichtums. Clivages (1987-88) für sechs Schlagzeuger geht von rhythmischen Figuren aus, die auf Minnesang zurückgehen. Sie verleihen dem musikalischen Fluss eine charakteristische, diskursivsprachliche Qualität durch die unterschwellige Präsenz von Vokalen, Konsonanten, Silben und Wörtern. 1991 wurde Nunes durch den portugiesischen Präsidenten Mário Soares zum ‚Comendador da Ordem Militar de Sant’Iago da Espada‘ ernannt. Außerdem erfolgte in diesem Jahr die Uraufführung von Quodlibet für sechs Schlagzeuger, 28 Instrumente, Orchester und zwei Dirigenten (1990-91), die international auf großes Interesse stieß. Wurden Fragmente anderer Werke bereits extensiv in Ruf eingearbeitet, so treibt Quodlibet diese Tendenz auf die Spitze. Es ist eine subjektive Versenkung in die Mäander der eigenen Kreativität, eine Konfrontation mit der eigenen Person. Von einer Collage im strengen Sinn kann man nicht sprechen, denn alle aus anderen Werken entnommenen Materialien erscheinen hinsichtlich der kompositorischen Details und der Instrumentierung in überarbeiteter Form. Die Musiker werden in einer Art ‚Raumtheater der Klänge‘ rund um das Publikum und auf die oberen Besucherränge verteilt. Über einen programmatischen Hintergrund der unzähligen ins Spiel gebrachten, musikalischen Assoziationen hat der Komponist bislang geschwiegen. Bekannt ist nur, dass er zuvor gewisse Passagen der zitierten Stücke einer kritischen Analyse unterzogen hatte, um in diesen unerforschte Potentiale aufzudecken. Quodlibet ist aber keine Manifestation einer Ästhetik des Fragmentarischen, sondern vielmehr ein gigantisches Mosaik, ein Kaleidoskop aus verschiedenen Zeiten, Räumen und musikalischen Inhalten: ein ständiges Spiel des Entstehens und Veränderns. Nur ein Jahr später, 1992, kam mit Machina Mundi für vier Solisten, gemischten Chor, Orchester und Tonband das nächste Großprojekt auf die Bühne. Der Auftrag erfolgte durch den portugiesischen Staat zum 500. Jahrestag der Entdeckungen portugiesischer Seefahrer. Auf der Grundlage des Nationalepos’ Os Lusíadas von Luís de Camões und des Gedichts Mensagem von Fernando Pessoa versuchte Nunes anhand umgestellter Sequenzen dieser Texte einen eigenen Diskurs zu konstruieren. Ziel hierbei war die Entwicklung einer neuen textlichen Kontinuität unabhängig von jener des Camões-Gedichts. Die Abfolge der Teile und die der Partitur immanente Dramaturgie suggerieren eine fast theatralische Konzeption der Musik, so dass man von einem Quasi-Oratorium oder einer Quasi-Oper sprechen könnte.
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