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Schwerpunkt

«Was wir wirklich brauchen und was nicht» Erwerbstätig und arm – für viele Alleinerziehende harte Realität. Das Budget reicht nur fürs Nötigste, bei unvorhergesehenen Kosten ist guter Rat teuer. Livia Roth* und ihr Sohn Luca* geben Einblick in ihren Alltag, der von Geldknappheit, aber auch von grossen kleinen Freuden geprägt ist. Text: Ursula Binggeli Bilder: Conradin Frei

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n Monaten, in denen sich die Geldprobleme zuspitzen, ist Livia Roth* jeweils froh, dass ihr Sohn am Schüler-Mittagstisch täglich eine warme Mahlzeit bekommt. Denn so reicht am Abend hin und wieder auch ein Teller Cornflakes. In solchen Phasen sagt sie sich jeweils: «Nichts währt ewig» – auch die harten Zeiten nicht. Selbst der schlimmste Monat hat höchstens 31 Tage, und wenn Ende Monat der Lohn eintrifft, ist der aktuelle Engpass vorbei.

Die Kunst, mit wenig Geld auszukommen Rechnen muss Livia Roth aber rund ums Jahr: Ihr monatliches Einkommen beträgt knapp 3 500 Franken. Seit zehn Jahren lebt sie mit ihrem Sohn Luca* alleine. Die 32-Jährige hat neben der Kinderbetreuung immer gearbeitet, zuerst 30 Prozent, dann mehr. Die ersten Jahre stockte die Sozialhilfe das Einkommen aufs Existenzminimum auf.

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Vor längerer Zeit hat Livia Roth, die heute 70 Prozent arbeitet, sich von der staatlichen Unterstützung ablösen können. Sie beherrscht die Kunst, mit wenig Geld auszukommen, mittlerweile so gut, dass sie ihre wirtschaftliche Situation im Alltag manchmal einfach ausblenden kann. Im Normalfall, wenn nichts Aussergewöhnliches eintrete, funktioniere ihr Budget, sagt sie. Livia Roth hat ein gutes Auge für Aktionen und Schnäppchen – sei es im Lebensmittelgeschäft oder im Kleiderladen. Und wenn sie unbedingt etwas haben möchte, das nicht wirklich notwendig ist, wartet sie mit Kaufen jeweils noch ein bisschen zu. «Denn ich habe gemerkt, dass manche Wünsche schon zwei Wochen später nicht mehr relevant sind.»

Hohes Armutsrisiko für alleinerziehende Mütter Livia Roths Einkommen bewegt sich an der vom Bundesamt für Statistik definierten Armutsgren-

ze. Damit ist sie bei weitem nicht alleine. Mehr als ein Drittel der Armutsbetroffenen in der Schweiz sind Familien, wobei Alleinerziehende überdurchschnittlich vertreten sind. Mehr als vier Fünftel von Letzteren sind Frauen. Insgesamt müssen rund 130 000 Personen in der Schweiz trotz Erwerbsarbeit mit so wenig Geld über die Runden kommen, dass sie als arm gelten. Das Bundesamt für Statistik hält auf seiner Website dazu fest: «Ein grosser Teil der Alleinerziehenden gerät in wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil Erwerbsarbeit und Betreuung der Kinder die Kräfte und Möglichkeiten einer Person übersteigen.» Auch Livia Roth hat sich schon überlegt, ihr 70-Prozent-Pensum aufzustocken oder einen Zusatzjob zu suchen, dem sie abends nachgehen könnte. Aber: «Auch wenn Luca nun schon zwölf ist, möchte ich doch weiterhin Zeit für ihn haben und ihn am Abend nicht alleine daheim lassen. Zudem fehlt mir

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