Impulse 2020-2

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THEMA

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Kürzlich hörte ich den zugegeben etwas flachen christlichen Witz: „Alle sprechen über die Wunder Jesu, aber niemand spricht über das Wunder, dass Jesus als Mann in seinen 30ern 12 enge Freunde hatte.“ Hinter dem Lacher steckt ein ernster Kern. Unsere Gesellschaft feiert Werte wie Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstständigkeit. Besonders Männlichkeit wird in unserer stark individuell geprägten Kultur mit Ungebundenheit verknüpft: stoisches Ertragen, kein Zeigen von Emotionen oder Verletzlichkeit. Männer sollen unabhängig und selbstständig sein. Anders „dürfen“ Männer sich fast nur gegenüber ihren Frauen zeigen. Vielleicht tragen genau diese Grundeinstellungen gegenüber dem Leben dazu bei, dass Einsamkeit wie ein Krebs in unserer Gesellschaft wuchert. Wir können Hunderte von Kontakten in unserem Adressbuch gespeichert haben, aber trotzdem niemanden, der uns anruft, wenn es uns schlecht geht. 231 Freunde stehen auf Facebook, aber niemand steht spontan vor der Tür und überrascht uns mit seinem Besuch. 42 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 65 Jahren und sogar 60 Prozent der Amerikaner geben laut Umfragen an, dass sie sich oft einsam fühlen. Wir treffen uns mit weniger Menschen und auch seltener. Zwischen 1985 und 2011 fiel in den USA die durchschnittliche Anzahl enger Freunde von drei auf zwei pro Person. Wie kann es sein, dass wir vernetzter sind, als es die Menschheit jemals zuvor war, und trotzdem eine Epidemie der Einsamkeit um sich greift? Warum fühlen wir uns verlassen, wenn doch Freunde und Familie im Prinzip immer nur einen swipe auf dem Display entfernt sind? Und wie schaffen wir es, den Teufelskreis von Einsamkeit zu durchbrechen, wenn wir mitten in ihrem Morast stecken?

Eine unausweichliche Erfahrung im Leben Kurzfristige, vorübergehende Einsamkeit kennt wohl jeder: Zwei von drei Deutschen fühlen sich mehr oder weniger einsam. Wir sitzen z. B. alleine beim Mittagessen, weil in der Kantine

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am Tisch der Kollegen kein Platz mehr frei ist. Wir ziehen in eine neue Stadt. Oder am Wochenende hat niemand Zeit. Diese Erfahrung an sich ist unausweichlich und sie wird sehr individuell erfahren und erlebt: Einsam ist, wer sich einsam fühlt. Die Psychologie definiert Einsamkeit als Verlassensein, Isolation und Verlorenheit. Aber nicht nur das Ohne-soziale-BezügeSein macht einsam, sondern auch, wenn Beziehungen Tiefgang und Kontaktfläche verloren haben. Einsame fühlen sich häufig nicht mehr benötigt und getrennt vom Sinn des Lebens. So misst die „UCLA Loneliness Scale” Einsamkeit z. B. anhand von Aussagen wie: „Ich fühle mich ausgegrenzt“, „Meine sozialen Beziehungen sind oberflächlich“, oder: „Es sind Menschen um mich herum, aber nicht bei mir“. Problematisch wird Einsamkeit, wenn sie zum Dauerzustand, also chronisch, wird. Dem geht oftmals ein schleichender Entfremdungsprozess voraus – gewollt (wir ziehen bewusst in eine neue Stadt) oder ungewollt (wir erkranken und können nicht mehr am normalen Leben teilhaben). In der chronischen Einsamkeit nehmen Gefühle von Ausgrenzung, Ungeliebtsein und Unverstandensein immer mehr zu. Es entstehen innere Leere und großes seelisches Leid.

Quer durch die Gesellschaft Dabei scheint es völlig gleichgültig zu sein, in welcher Lebensphase man sich befindet, wie viele Freunde der Freundeskreis umfasst und wie dick das Bankkonto ist: Einsamkeit kann jeden treffen. Häufig zieht Einsamkeit schleichend ein. Das Freunde-Karussell dreht sich, Menschen kommen und gehen, die gemeinsame Vergangenheit rückt in immer weitere Ferne und neue Erlebnisse teilt man nicht mehr. Da ist natürlich die schon fast klischeehafte alte Frau, die erkrankt und körperlich immer immobiler wird. Sie schämt sich ihrer Hilfsbedürftigkeit, ist ihrem Sohn aber auch ein bisschen gram (und wird es immer mehr), weil er sie so selten besucht. Ihr Mann ist schon lange verstorben und ihre Freund-


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